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zu 19.311 / 20.313 / 20.323 / 21.311 Standesinitiativen ZG. Politisches Mandat auch bei Mutterschaft.

Änderung der Bundesgesetzgebung BL. Teilnahme an Parlamentssitzungen während des Mutterschaftsurlaubs LU. Politikerinnen im Mutterschaftsurlaub BS. Wahrnehmung des Parlamentsmandates während des Mutterschaftsurlaubs Bericht der Staatspolitischen Kommission des Ständerates vom 30. März 2023 Stellungnahme des Bundesrates vom 24. Mai 2023

Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Staatspolitischen Kommission des Ständerates vom 30. März 20231 zu den Standesinitiativen der Kantone Zug, Basel-Landschaft, Luzern und Basel-Stadt (19.311 / 20.313 / 20.323 / 21.311) nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

24. Mai 2023

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Alain Berset Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Die Standesinitiativen Zug, Basel-Landschaft, Luzern und Basel-Stadt (19.311, 20.313, 20.323 und 21.311) verlangen eine Änderung der Bundesgesetzgebung, damit Frauen nach der Geburt eines Kindes auf allen föderalen Legislativebenen ihr politisches Mandat während des Mutterschaftsurlaubs wahrnehmen können, ohne dadurch den Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung zu verlieren.

Die Staatspolitische Kommission des Ständerates (SPK-S) gab den drei ersten Initiativen der Kantone Zug, Basel-Landschaft und Luzern an ihrer Sitzung vom 9. November 2020 mit 11 zu 1 Stimmen bei 1 Enthaltung Folge. Am 8. April 2022 gab die Kommission auch der Initiative des Kantons Basel-Stadt mit 11 zu 0 Stimmen bei 1 Enthaltung Folge. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK-N) stimmte diesen Beschlüssen an ihren Sitzungen vom 21. Januar 2021 und vom 30. Juni 2022 einstimmig (19.311, 20.313, 20.323) bzw. mit 13 zu 3 Stimmen bei 1 Enthaltung (21.311) zu.

An ihrer Sitzung vom 26. April 2021 entschied die SPK-S über das weitere Vorgehen.

Bereits im Rahmen der Vorprüfung wurde festgestellt, dass für die Umsetzung des Anliegens eine Änderung im Erwerbsersatzgesetz vom 25. September 19522 (EOG) vorzunehmen ist, damit die freiwillige Teilnahme an Ratssitzungen von Parlamenten auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene ­ unabhängig von einer allfälligen Entschädigung ­ nicht zur Beendigung des Anspruchs auf Mutterschaftsentschädigung führt. So erteilte die SPK-S ihrem Sekretariat und der Verwaltung den Auftrag, ihr einen Vorentwurf zu unterbreiten. Dieser Vorentwurf wurde mit der am 21. April 2021 eingereichten Initiative des Kantons Basel-Stadt ergänzt.

Am 22. August 2022 verabschiedete die SPK-S ihren Vorentwurf zuhanden der Vernehmlassung. Die SPK-S schickte zwei Varianten in die Vernehmlassung. Die Variante der Mehrheit sah vor, dass der Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung nicht mehr vorzeitig endet, wenn die Mutter während des Mutterschaftsurlaubs als Ratsmitglied an Ratssitzungen von Parlamenten auf Bundes-, Kantons- oder Gemeindeebene teilnimmt. Die Variante der Minderheit wollte diese Ausnahmeregelung nur für Rats- und Kommissionssitzungen einführen, an denen keine Stellvertretung vorgesehen ist.

Die Vernehmlassung dauerte bis zum 25. November 2022.

Die Vernehmlassungsergebnisse3 wurden der SPK-S
an ihrer Sitzung vom 21. Februar 2023 unterbreitet. Die SPK-S nahm zur Kenntnis, dass sich die Mehrheit der Teilnehmenden für die Vorlage ausspricht und das Anliegen der SPK-S teilt, wonach eine vom Volk gewählte Parlamentarierin die Möglichkeit haben muss, ihr politisches Mandat erfüllen zu können, ohne den Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung 2 3

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SR 834.1 Der Ergebnisbericht ist einsehbar unter: www.fedlex.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2022 > EDI.

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zu verlieren. Die Vernehmlassungsteilnehmenden unterstützten mehrheitlich die Variante der Mehrheit. Die Variante der Minderheit wurde in erster Linie deshalb nicht befürwortet, weil sie in der Umsetzung komplizierter ist. Einzelne Teilnehmende waren der Ansicht, dass die Mehrheits- und die Minderheitsvariante kombiniert werden sollten, d. h. dass die Ausnahmeregelung für die Teilnahme an Rats- und Kommissionssitzungen von Parlamenten auf Bundes-, Kantons- oder Gemeindeebene unabhängig von einer Stellvertretungsregelung gelten sollte.

Verschiedene Vernehmlassungsteilnehmende betonten, dass der Mutterschutz und der Mutterschaftsurlaub wichtige Errungenschaften sind und die Ausnahmeregelung nicht zu einer Aufweichung des Mutterschutzes führen darf. Aus diesem Grund müsse der Kreis der Berechtigten möglichst klein gehalten werden. Ausserdem müsse die Ausnahmeregelung ihren freiwilligen Charakter behalten und dürfe nicht zu einem Druck auf die Parlamentarierin führen, an Rats- und Kommissionssitzungen teilzunehmen. Andere Vernehmlassungsteilnehmende lehnten die Vorlage ab, weil damit der Mutterschutz aufgeweicht wird.

Gewisse Teilnehmende begrüssten zwar die Absicht, eine Lösung für Parlamentarierinnen zu finden, sprachen sich aber gegen die Vorlage aus, weil diese eine einseitige Privilegierung für Parlamentarierinnen darstelle oder weil sie die Einführung eines Stellvertretungssystem auf Bundesebene bevorzugen. Wiederum andere lehnten die Vorlage ab, weil sie mit den vorgeschlagenen Varianten nicht einverstanden waren.

Die SPK-S änderte den Erlassentwurf an ihrer Sitzung vom 21. Februar 2023, indem sie nun die Ausnahmeregelung für Rats- und Kommissionssitzungen, für die keine Stellvertretung vorgesehen ist, einführen will. Die SPK-S stimmte dem Erlassentwurf mit 8 zu 2 Stimmen bei 2 Enthaltungen zu und verabschiedete die Vorlage am 30. März 2023 zuhanden des Ständerats. Gleichzeitig stellte sie den Erlassentwurf und den Bericht dem Bundesrat zur Stellungnahme zu.4

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Stellungnahme des Bundesrates

2.1

Allgemeine Würdigung

Der Mutterschutz und die Mutterschaftsversicherung sind grosse Errungenschaften, mit denen sorgsam umgegangen werden muss. Der Schutz der Mutterschaft ist eine unverzichtbare Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft, die es zu wahren gilt.

Gleichzeitig erachtet der Bundesrat die Förderung familienfreundlicher Arbeitsbedingungen als wichtig und misst der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit einen hohen Stellenwert zu. Der Bundesrat ist sich bewusst, dass die aktuelle Regelung für Mütter, die ein politisches Mandat in der Legislative ausüben, nicht zweckmässig ist. Eine sozialversicherungsrechtliche Regelung sollte nicht dazu führen, dass junge Frauen von ihrem parlamentarischen Mandat zurücktreten oder sich gar nicht erst zur Wahl stellen. Mit der Vorlage wird die Vereinbarkeit von Mutterschaft und parlamentarischem Milizmandat gefördert und das schweizerische Milizsystem gestärkt, was

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der Bundesrat befürwortet. Denn das Milizsystem ist ein wichtiger Pfeiler der Demokratie und ein unverzichtbares Wesensmerkmal der Schweiz.

Der Bundesrat ist der Meinung, dass ein (Miliz-)Parlament die Bevölkerung widerspiegeln und alle ihre Interessen vertreten sollte. Die Parlamentarierin, die sich im Mutterschaftsurlaub befindet, sollte sich nicht sorgen müssen, dass ihre Abwesenheit die Stärkeverhältnisse im Parlament aus dem Gleichgewicht bringt. Aus diesem Grund erachtet der Bundesrat die Situation der Parlamentarierinnen als derart besonders, dass sie eine Ausnahmeregelung im EOG rechtfertigt. Die Parlamentarierinnen wurden vom Volk gewählt und sollten während des Mutterschaftsurlaubs nicht entscheiden müssen, ob sie weiterhin die Mutterschaftsentschädigung beziehen oder ob sie darauf verzichten und stattdessen ihren demokratischen Auftrag erfüllen. Sie sollten ihr parlamentarisches Mandat auch während des Mutterschaftsurlaubs erfüllen können, ohne auf die Mutterschaftsentschädigung verzichten zu müssen. Hinzu kommt, dass die Bundesgesetzgebung auf kantonaler und kommunaler Ebene in der Vergangenheit nicht einheitlich ausgelegt wurde. Die vorgeschlagene Ausnahmeregelung im EOG würde somit für alle Betroffenen zu Rechtssicherheit führen.

Die Vorlage entspricht ausserdem den Empfehlungen des UN-Ausschusses für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau. Nach der letzten Überprüfung der Umsetzung des UN-Übereinkommens vom 18. Dezember 19795 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau durch die Schweiz Ende 2022 forderte der UNAusschuss die Schweiz unter anderem auf, die Regelungen zur Vertretung während der Mutterschaft und zur Mutterschaftsentschädigung für Parlamentarierinnen auf allen Ebenen zu harmonisieren.6 Der Bundesrat spricht sich deshalb für eine Ausnahmeregelung im EOG aus. Die Ausnahmeregelung würde dem in Artikel 35a Absatz 3 des Arbeitsgesetzes vom 13. März 19647 geregelten achtwöchigen Arbeitsverbot nicht entgegenstehen, weil dieses für Parlamentarierinnen bei der Ausübung ihres politischen Mandats nicht gilt. Die Vorlage darf aber nicht zu einer generellen Aufweichung des Mutterschutzes für andere Branchen, Berufe oder Tätigkeiten führen. Ausserdem muss die Teilnahme an den Sitzungen auch für die betroffenen Parlamentarierinnen freiwillig bleiben, und es darf
kein Druck auf sie ausgeübt werden, an den Sitzungen teilzunehmen.

Der Bundesrat erachtet es als richtig und wichtig, dass die Ausnahmeregelung nicht auf die Exekutive oder die Judikative ausgeweitet wird. Die Tätigkeit in der Exekutive oder Judikative ist oftmals einem Arbeitsverhältnis sehr viel ähnlicher, als es die Parlamentstätigkeit ist. Mitglieder der Exekutive können sich mehrheitlich gegenseitig vertreten. Die Justizbehörden sind auch in Abwesenheit einer Richterin funktionsfähig. Ausserdem besteht kein Anspruch auf einen bestimmten Spruchkörper. Der Personenkreis, für den die Ausnahmeregelung gilt, muss so eng wie möglich gefasst werden, damit es nicht zu einer schleichenden Aufweichung des Mutterschutzes kommt.

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SR 0.108 Committee on the Elimination of Discrimination against Women, Concluding observations on the sixth periodic report of Switzerland, § 48.(d), 1. November 2022.

SR 822.11

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2.2

Würdigung der Kommissionsvorlage

2.2.1

Antrag der SPK-S

Die SPK-S schlägt vor, dass die Mutter ihren Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung künftig nicht mehr verliert, wenn sie während des Mutterschaftsurlaubs an Rats- und Kommissionssitzungen von Parlamenten auf Bundes-, Kantons- oder Gemeindeebene teilnimmt und für diese Sitzungen keine Stellvertretung vorgesehen ist.

2.2.2

Würdigung

Das Ziel der Standesinitiativen ­ die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Parlamentsmandat ­ wird mit der vorgeschlagenen Ausnahmeregelung erreicht. Sie führt zu einer einheitlichen Rechtsanwendung und damit zu Rechtssicherheit für die Betroffenen.

Die vorgeschlagene Änderung unterscheidet nicht nach Arbeit im Plenum oder einer Kommission, sondern orientiert sich daran, ob eine Stellvertretung möglich ist oder nicht. Die Möglichkeit der Stellvertretung ist für den Bundesrat eines der zentralen Elemente. Denn mit der Ausnahmeregelung soll erreicht werden, dass die Mutter ihren vom Volk erteilten Auftrag auch während des Mutterschaftsurlaub ausüben kann.

Das wird mit der vorgeschlagenen Änderung erreicht: Sofern für eine Rats- oder Kommissionssitzung keine Stellvertretung vorgesehen ist, kann die Mutter an der Sitzung teilnehmen, ohne den Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung zu verlieren; sofern jedoch eine Stellvertretung vorgesehen ist, kann sich die Mutter an der Sitzung vertreten lassen.

Ausserdem werden in den Kommissionen die inhaltlichen Verhandlungen geführt.

Deshalb ist es wichtig, dass die Parlamentarierin die Möglichkeit hat, ihre Meinung während des Mutterschaftsurlaubs auch in die Kommission einzubringen, indem sie entweder selber an der Sitzung teilnimmt oder sich vertreten lässt.

In Anbetracht der besonderen Situation von Parlamentarierinnen erachtet der Bundesrat es als gerechtfertigt, eine Ausnahmeregelung für diesen eng gefassten Personenkreis einzuführen. Aus diesen Gründen spricht sich der Bundesrat für die vorgeschlagene Ausnahmeregelung aus.

2.3

Finanzielle Auswirkungen auf die EO

Aktuell bestehen keine entsprechenden Daten und es kann keine effektive Schätzung zu den Kosten gemacht werden. Die Kosten dürften aber marginal sein, weil nur Mütter betroffen sind, die während des Mutterschaftsurlaubs ein parlamentarisches Mandat auf nationaler, kantonaler oder kommunaler Ebene ausüben.

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2.4

Finanzielle Auswirkungen auf den Bund und die Kantone

In Anbetracht der wenigen Mütter, die von der Ausnahmeregelung betroffen sein werden, wird die Änderung keine zusätzlichen Kosten für die Kantone und den Bund generieren.

Die Änderung wird Auswirkungen auf die administrativen Prozesse bei den Durchführungsstellen haben, weil diese kontrollieren müssen, ob die betroffene Mutter die Bestätigung, dass die Stellvertretung für die Sitzung nicht vorgesehen ist, eingereicht hat. Die Mehrbelastung dürfte jedoch marginal und mit den bestehenden personellen Ressourcen zu bewältigen sein.

2.5

Schlussfolgerung

Für den Bundesrat hat der Mutterschutz einen hohen Stellenwert. Er ist aber der Meinung, dass die Situation der Parlamentarierinnen als eine besondere betrachtet werden sollte. Die Ausnahmeregelung ermöglicht es Parlamentarierinnen, ihr politisches Mandat weiterzuführen, womit die vom Volk festgelegten Mehrheitsverhältnisse aufrechterhalten werden können. Das ermöglicht es ausserdem, das Milizsystem der Schweiz, das ein wesentlicher Pfeiler der Demokratie ist, zu stärken.

Aus diesem Grund spricht sich der Bundesrat für eine Ausnahmeregelung im EOG aus, damit Parlamentarierinnen auf allen föderalen Ebenen während des Mutterschaftsurlaubs an Rats- und Kommissionssitzungen, an denen keine Stellvertretung vorgesehen ist, teilnehmen können, ohne den Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung zu verlieren.

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Antrag des Bundesrates

Der Bundesrat beantragt Eintreten auf die Vorlage und Zustimmung zum Antrag der Kommission.

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