15.082 Botschaft zur Volksinitiative «Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen (Wiedergutmachungsinitiative)» und zum indirekten Gegenvorschlag (Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981) vom 4. Dezember 2015

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft beantragen wir Ihnen, die Volksinitiative «Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen (Wiedergutmachungsinitiative)» Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Initiative abzulehnen. Gleichzeitig unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, als indirekten Gegenvorschlag den Entwurf des Bundesgesetzes über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG) sowie den Entwurf eines Bundesbeschlusses über die Finanzierung der Solidaritätsbeiträge gemäss AFZFG.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

4. Dezember 2015

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Simonetta Sommaruga Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2015-2627

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Übersicht Den eidgenössischen Räten wird die Ablehnung der «Wiedergutmachungsinitiative» beantragt. Da der Bundesrat die Anliegen der Initiantinnen und Initianten weitgehend unterstützt, stellt er der Inititiative einen indirekten Gegenvorschlag in Form eines neuen Gesetzes entgegen, das die Mängel der Initiative vermeiden könnte und den Vorteil hätte, dass den Opfern viel rascher geholfen werden könnte als über den Umweg einer Verfassungsänderung.

Die Aufarbeitung der früheren fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen (FSZM) hat nach langen Jahren des Schweigens auch in der Schweiz begonnen. Es geht vor allem um das Schicksal von Kindern und Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen, die vor 1981 von solchen Massnahmen betroffen waren. Zu den Betroffenen zählen etwa Verdingkinder, Heimkinder, sogenannte «administrativ Versorgte» (Personen, die im Rahmen administrativer Massnahmen in geschlossene Anstalten, zum Teil sogar in Strafanstalten eingewiesen wurden), Personen, deren Reproduktionsrechte verletzt wurden (unter Zwang oder ohne Zustimmung erfolgte Abtreibungen, Sterilisierungen, Kastrationen), Zwangsadoptierte, Fahrende etc.

Ähnlich wie in zahlreichen anderen Ländern ist diese Problematik auch in der Schweiz zu einem aktuellen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Thema geworden. Das geschehene Unrecht und das immense Leid lasteten und lasten noch heute schwer auf den Opfern. Die Schweiz hat ein elementares Interesse daran, dieses düstere Kapitel ihrer Sozialgeschichte endlich umfassend aufzuarbeiten und die daraus gewonnenen Erkenntnisse einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen. Die Anerkennung begangenen Unrechts, der Wille zur Aufarbeitung der Vergangenheit und die Bereitschaft zur Entstigmatisierung, zur Aussöhnung sowie zur Solidariät mit den Opfern, auch in der Form von finanziellen Leistungen, sind Ausdruck der Stärke eines Gemeinwesens.

Ein überparteiliches Komitee hat in acht Monaten rund 110 000 Unterschriften für die Volksinitiative «Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen (Wiedergutmachungsinitiative)» gesammelt und eingereicht. Die am 12. Januar 2015 als zustande gekommen erklärte Initiative will eine Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen, eine umfassende
wissenschaftliche Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte sowie die Schaffung eines mit 500 Millionen Franken dotierten Fonds, aus dem finanzielle Wiedergutmachungsleistungen an unmittelbar und schwer von Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffene Personen erbracht werden sollen.

Der Bundesrat entschied bereits am 14. Januar 2015, der Volksinitiative einen indirekten Gegenvorschlag gegenüberzustellen. Er liess einen entsprechenden Gesetzesentwurf ausarbeiten, der im Sommer 2015 in die Vernehmlassung geschickt wurde. Der mit dieser Botschaft unterbreitete Entwurf zu einem Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 soll die Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts und des Leides

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ermöglichen, das den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 zugefügt worden ist. Sodann werden die Voraussetzungen für die Ausrichtung von finanziellen Leistungen geregelt. Vorgesehen ist insbesondere, den Opfern einen Solidaritätsbeitrag als Zeichen der Anerkennung des erlittenen Unrechts auszurichten. Hierzu soll ein Zahlungsrahmen im Umfang von 300 Millionen Franken bewilligt werden. Die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen sollen zudem wissenschaftlich umfassend untersucht und die Ergebnisse der Bevölkerung in geeigneter Weise vermittelt werden. Schliesslich sollen die Opfer und andere Betroffene bei der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte unterstützt werden. Hierfür werden insbesondere der Geltungsbereich des Opferhilfegesetzes präzisiert und teilweise erweitert sowie die administrative Aufbewahrung und die Archivierung der Akten (Bestandesschutz) und der Aktenzugang geregelt. Damit wird ein tragfähiges Fundament gelegt, das es den Opfern und der heutigen Gesellschaft gleichermassen erlaubt, dieses düstere Kapitel aufzuarbeiten.

Der Bundesrat beantragt den eidgenössischen Räten, die Wiedergutmachungsinitiative Volk und Ständen zur Ablehnung zu empfehlen. Gleichzeitig beantragt er, dem indirekten Gegenvorschlag zuzustimmen. Dieser ermöglicht es, den Opfern rascher und umfassender zu helfen.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1

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Ausgangslage 1.1 Vorgeschichte 1.2 Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen 1.3 Bericht des Runden Tisches und Soforthilfefonds 1.4 Rechtsvergleich 1.5 Wiedergutmachungsinitiative 1.6 Auftrag des Bundesrates Volksinitiative «Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen (Wiedergutmachungsinitiative)» 2.1 Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative 2.1.1 Wortlaut der Initiative 2.1.2 Zustandekommen, Behandlungsfristen und Formelles 2.1.3 Gültigkeit 2.2 Ziel und Inhalt der Initiative 2.3 Erläuterung und Auslegung des Initiativtextes 2.3.1 Wiedergutmachung für die Opfer 2.3.2 Wissenschaftliche Aufarbeitung 2.3.3 Öffentlichkeitsarbeit 2.3.4 Errichtung eines Fonds für finanzielle Leistungen zugunsten der Opfer 2.4 Würdigung der Initiative 2.4.1 Würdigung der Anliegen der Initiative 2.4.2 Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme 2.4.3 Vorzüge und Mängel der Initiative 2.4.4 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz 2.5 Schlussfolgerungen Indirekter Gegenvorschlag 3.1 Grundzüge der Vorlage 3.1.1 Zweck des neuen Gesetzes 3.1.2 Anerkennung des Unrechts 3.1.3 Solidaritätsbeitrag 3.1.4 Archivierung und Akteneinsicht 3.1.5 Beratung und Unterstützung durch kantonale Anlaufstellen 3.1.6 Öffentlichkeitsarbeit 3.1.7 Weitere Massnahmen

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3.2 3.3 3.4

3.5 3.6

1

2 3

Vernehmlassungsverfahren Erläuterungen zu einzelnen Artikeln Auswirkungen 3.4.1 Auswirkungen auf den Bund 3.4.1.1 Finanzielle Auswirkungen 3.4.1.2 Personelle Auswirkungen 3.4.2 Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden 3.4.3 Auswirkungen auf die Volkswirtschaft und die Gesellschaft Verhältnis zur Legislaturplanung Rechtliche Aspekte 3.6.1 Verfassungsmässigkeit und Vereinbarkeit mit völkerrechtlichen Verpflichtungen 3.6.2 Erlassform und Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen 3.6.3 Unterstellung unter die Ausgabenbremse

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Bundesbeschluss über die Volksinitiative «Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen (Wiedergutmachungsinitiative)» (Entwurf)

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Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (Entwurf)

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Bundesbeschluss über die Finanzierung der Solidaritätsbeiträge zugunsten von Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (Entwurf)

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Botschaft 1

Ausgangslage

1.1

Vorgeschichte

In der Schweiz wurden bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Zehntausende von Kindern und Jugendlichen in Heimen fremdplatziert, in landwirtschaftliche und gewerbliche Betriebe verdingt oder im Rahmen administrativer Massnahmen in geschlossene Anstalten, zum Teil sogar ohne Gerichtsbeschluss in Strafanstalten, eingewiesen. Sie erlebten dort oft physische und psychische Gewalt, wurden ausgenützt, misshandelt oder missbraucht. Frauen wurden unter Druck gesetzt, einer Abtreibung, einer Sterilisation oder einer Adoption ihres Kindes zuzustimmen. Einige der betroffenen Kinder und Jugendlichen stammten aus Familien von Fahrenden bzw. Jenischen. Es kam auch vor, dass an Kindern und Jugendlichen in Heimen Medikamentenversuche durchgeführt wurden.

Während Jahrzehnten fand das Thema in einer breiteren Öffentlichkeit kaum Beachtung, und die Opfer blieben mit ihrem Leid und ihren Anliegen weitgehend sich selbst überlassen. Die von Nationalrat Simon am 17. Juni 1999 eingereichte Motion (99.3297) «Die wahre Geschichte der Schweizer Waisen», welche eine unabhängige Untersuchungskommission zur Aufarbeitung von deren Schicksalen im 19. und 20. Jahrhundert forderte, wurde mit der Begründung, Fürsorgepolitik sei Sache der Kantone und Gemeinden, in ein Postulat umgewandelt. Das Postulat wurde im Juni 2003 abgeschrieben. Auf den Entwurf zu einem Bundesgesetz über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen, der auf die von Nationalrätin von Felten am 5. Oktober 1999 eingereichte parlamentarische Initiative (99.451) «Zwangssterilisation. Entschädigung für Opfer» zurückgeht, haben die eidgenössischen Räte im Jahre 2004 Nichteintreten beschlossen. Und auch die von Nationalrat Baumann am 18. Juni 2003 eingereichte Motion (03.3316) «Verdingkinder. Historische Aufarbeitung» wurde nach seinem Ausscheiden aus dem Rat abgeschrieben. Die gleich betitelte Motion (04.3065) von Nationalrätin Fehr vom 11. März 2004 wurde vom Nationalrat abgelehnt. Der Bund war bisher einzig im Bereich der nichtsesshaften Bevölkerung aktiv (Jenische, Fahrende). Bundesrat Alphons Egli hat sich 1986 bei den Betroffenen entschuldigt, und der Bund hat diesen daraufhin im Rahmen der sogenannten Aktion «Kinder der Landstrasse» Entschädigungszahlungen im Umfang von 11 Millionen Franken ausbezahlt (von 1988­1993). Im
Jahre 1998 hat der Bund eine historische Studie über die Aktivitäten im Zeitraum von 1926­1973 des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» erstellen lassen und veröffentlicht. Zudem wurde das Schicksal von Jenischen, Sinti und Roma im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 51 «Integration und Ausschluss» am Rande behandelt. Seit 1986 richtet der Bund jährlich Bundesbeiträge aus an den Dachverband der Schweizer Fahrenden, die «Radgenossenschaft der Landstrasse», und seit 1997 an die von ihm gegründete Stiftung «Zukunft für

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Schweizer Fahrende». Zudem spricht er auf der Grundlage von Artikel 17 des Kulturförderungsgesetzes vom 11. Dezember 20091 jährlich den Kredit «Fahrende».

Erst in jüngerer Zeit wurde das Thema in seiner Ganzheit dank der Initiative von Interessengruppen und Einzelpersonen von den Medien aufgegriffen, worauf ein öffentlicher Meinungsbildungsprozess begann. Eine Reihe von zwischenzeitlich entstandenen Filmen, Ausstellungen und Reportagen darüber hinterliessen beim Publikum regelmässig ein grosses Erstaunen und eine tiefe Betroffenheit, dass solche Ereignisse und solches Leid in der Schweiz überhaupt passieren konnten.

Auch die Forschung begann sich vermehrt mit den Hintergründen und den Auswirkungen der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen auseinanderzusetzen, und schliesslich wurde das Thema auf die politische Agenda gesetzt.

Im September 2010 baten Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf als Vertreterin des Bundes sowie Vertreterinnen und Vertreter der Kantone (SODK2, KKJPD3 und KOKES4) die administrativ Versorgten an einem Gedenkanlass in Hindelbank um Entschuldigung. Aufgrund einer von Nationalrat Paul Rechsteiner eingereichten parlamentarischen Initiative arbeitete die Rechtskommission des Nationalrates in der Folge eine Gesetzesvorlage zur Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen aus, die vom Parlament am 21. März 2014 verabschiedet wurde und am 1. August 2014 in Kraft trat (siehe dazu auch Ziff. 1.2).

Im April 2013 fand in Bern ein weiterer Gedenkanlass statt, zu dem sämtliche Betroffene und Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 eingeladen waren. An diesem bewegenden Anlass baten Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), sowie Vertreter und Vertreterinnen der Kantone, Städte, Gemeinden, Landeskirchen, Heime und des Bauernverbandes alle Opfer für das geschehene Unrecht um Entschuldigung. Die Vorsteherin des EJPD stellte ihnen zudem die Bildung eines runden Tisches in Aussicht. Dieser hat nach einem Jahr intensiver Arbeit unter der Leitung seines Delegierten5 Anfang Juli 2014 Massnahmenvorschläge für eine umfassende Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 verabschiedet (vgl. Ziff. 1.3).

Am 19. Dezember 2014 schliesslich
wurde die Wiedergutmachungsinitiative für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen eingereicht und am 12. Januar 20156 von der Bundeskanzlei als zustandegekommen erklärt.

1 2 3 4 5

6

SR 442.1 Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz Auf Alt-Ständerat Hansruedi Stadler folgte im Herbst 2013 Luzius Mader, Stellvertretender Direktor des Bundesamts für Justiz, als Delegierter für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.

BBl 2015 1021

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BBl 2016

1.2

Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen

Das Bundesgesetz vom 21. März 20147 über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen sieht für die administrativ versorgten Menschen insbesondere die gesetzliche Anerkennung des geschehenen Unrechts, Regelungen zur Aktensicherung und zum Zugang zu den Akten sowie die wissenschaftliche Aufarbeitung der administrativen Versorgungen unter Berücksichtigung anderer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen oder sonstiger Fremdplatzierungen durch eine unabhängige Expertenkommission (nachfolgend: UEK) vor. Die UEK wurde Anfang November 2014 vom Bundesrat eingesetzt und hat ihre Tätigkeit Anfang 2015 aufgenommen.

1.3

Bericht des Runden Tisches und Soforthilfefonds

Der Runde Tisch hat vom EJPD den Auftrag erhalten, eine umfassende Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 in die Wege zu leiten. An diesem Runden Tisch wirken Betroffene, Vertreterinnen und Vertreter von Betroffenenorganisationen sowie Vertreterinnen und Vertreter von Behörden (Bund, Kantone, Städte und Gemeinden) und interessierten Institutionen und Organisationen (Kirchen, Bauernverband, Heime) mit. Um weiteren Betroffenen das Einbringen eigener Anliegen in die Arbeiten des Runden Tischs zu ermöglichen, wurde zudem ein Betroffenenforum ins Leben gerufen.

Nach einem Jahr intensiver Zusammenarbeit hat der Runde Tisch einen Bericht samt einem Massnahmenkatalog vorgelegt und veröffentlicht. Die Massnahmenvorschläge umfassen namentlich die Anerkennung des Unrechts, die Beratung und Betreuung der Opfer, die Aktensicherung und die Akteneinsichtsrechte sowie die wissenschaftliche Aufarbeitung und weitere Massnahmen.

Eine der zentralen Massnahmen bildete insbesondere die Errichtung eines Soforthilfefonds. Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen vor 1981, die sich in einer finanziellen Notlage befinden, konnten bis zum 30. Juni 2015 beim Delegierten Gesuche um einen Beitrag aus dem Soforthilfefonds stellen.

Dieser ist in enger Zusammenarbeit mit der SODK und der Fachdirektorenkonferenz Lotteriemarkt und Lotteriegesetz (FDKL) sowie der Glückskette geschaffen worden.

Der Fonds wurde mit freiwilligen Beiträgen der Kantone, verschiedener Städte und Gemeinden sowie privater Organisationen, Unternehmen und Personen im Umfang von bisher rund 6 Millionen Franken gespiesen. Gesamthaft wurden 1343 Gesuche gestellt. Der Kanton Waadt hat im Übrigen eine eigenständige, vergleichbare Lösung getroffen, die auf den Soforthilfefonds abgestimmt ist.

Der Runde Tisch befindet sich aktuell im dritten Jahr seines Bestehens. Im Rahmen seiner Zielsetzung ­ Aufarbeitung dieses schwierigen Kapitels der Schweizer Sozialgeschichte ­ verändern sich dessen konkrete Aufgaben entsprechend zum bereits Erreichten. Er soll bis zum Abschluss der Gesetzgebungsarbeiten eine wichtige

7

108

SR 211.223.12

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Plattform für die Anliegen der Opfer und der weiteren Beteiligten sowie für den Informationsaustausch mit den Behörden, den Institutionen, Organisationen sowie der Wissenschaft bleiben.

1.4

Rechtsvergleich

Das Schweizerische Institut für Rechtsvergleichung hat im Auftrag des Runden Tischs ein rechtsvergleichendes Gutachten über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, der Fremdplatzierungen oder vergleichbarer Sachverhalte erstellt. Das Gutachten enthält eine Auslegeordnung der Aufarbeitungsprozesse in ausgewählten Ländern Europas und in Übersee, in denen es Missstände gab, welche mit den in der Schweiz vollzogenen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen mindestens teilweise vergleichbar sind. Berücksichtigt wurden folgende Länder: Deutschland (Heimerziehung), Schweden (Zwangssterilisationen und Missstände in Kinderheimen), Norwegen und Irland (Missstände in Kinderheimen), Australien (fürsorgerische Massnahmen bei Kindern und Zwangsadoptionen) sowie die USA (North Carolina: Zwangssterilisationen). Obwohl sich die Ausgangslagen in den untersuchten Ländern und die Modalitäten der Aufarbeitung aufgrund der jeweiligen rechtlichen, gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten unterscheiden, hat das Gutachten verschiedene Elemente identifiziert, die allen Aufarbeitungsprozessen im Wesentlichen gemeinsam sind. So findet sich in allen Ländern eine staatliche Untersuchung der Vorfälle, in die die Betroffenen in unterschiedlichem Umfang einbezogen wurden oder werden. In allen untersuchten Ländern hat eine politische Behörde die Opfer um Entschuldigung gebeten. Daneben sind verschiedene weitere Massnahmen getroffen worden (etwa solche im Hinblick auf ein Gedenken an die seinerzeitigen Geschehnisse und das erlittene Unrecht und Beratungsangebote). Dagegen zeichnet das Gutachten in Bezug auf die Modalitäten zur finanziellen Wiedergutmachung ein eher uneinheitliches Bild. Bei den zugesprochenen Summen liegt die Spannweite in Deutschland zwischen 5500 und 10 000 Euro.

In Irland wurden für einzelne Ausnahmefälle 300 000 Euro ausgerichtet. Grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern wurden auch hinsichtlich der Art der Bemessung der Leistungen festgestellt. Die Spanne reicht hier vom einheitlichen Fixbetrag in Schweden über schematische Berechnungen in den meisten Staaten bis zur individuellen Zumessung in Deutschland. In Bezug auf die Definition der Anspruchsvoraussetzungen für finanzielle Leistungen stimmen alle Länder insoweit überein, als die Personen vom jeweiligen
Missstand individuell betroffen sein müssen. Unterschiede bestehen darin, dass teilweise das Vorliegen aktueller Beeinträchtigungen verlangt wird (z. B. in Deutschland das Vorliegen eines Folgeschadens oder einer Renteneinbusse; in Australien und in Irland teilweise aktuelle psychische oder physische Folgen). Daneben verlangen einzelne Länder die Erfüllung weiterer Voraussetzungen (Norwegen etwa verlangt die Strafbarkeit im konkreten Fall).

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1.5

Wiedergutmachungsinitiative

Die Wiedergutmachungsinitiative wurde am 1. April 2014 lanciert. Sie fordert die Schaffung eines mit 500 Millionen Franken dotierten, auf 20 Jahre befristeten Fonds, aus dem finanzielle Wiedergutmachungsleistungen an unmittelbar und schwer betroffene Personen erbracht werden sollen. Über die Ausrichtung dieser Leistungen soll eine unabhängige Kommission entscheiden. Weiter sieht die Initiative eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen bis 1981 vor.

Die notwendige Anzahl Unterschriften für die Initiative wurde in kurzer Zeit gesammelt (die Volksinitiative wurde am 19. Dez. 2014 eingereicht). Sie findet eine breite Unterstützung in allen Bevölkerungsschichten und auch in der Politik. Im Initiativkomitee sind denn auch Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus vielen Parteien vertreten, und im Unterstützungskomitee finden sich zahlreiche Mitglieder des Nationalrats und des Ständerats aus dem ganzen politischen Spektrum. Zum Unterstützungskomitee gehören auch Mitglieder von Kantonsregierungen, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen sowie namhafte Vertreterinnen und Vertreter aus den Bereichen Wissenschaft, Kultur, Medien und Kirchen.

1.6

Auftrag des Bundesrates

Der Bundesrat hat am 14. Januar 2015 entschieden, eine Vernehmlassungsvorlage ausarbeiten zu lassen und der Wiedergutmachungsinitiative ein Gesetz als indirekten Gegenvorschlag gegenüberzustellen. Einen direkten Gegenvorschlag auf Verfassungsebene erachtet er nicht als sinnvoll. Einerseits bedarf es keiner Regelung auf Verfassungsstufe, und andererseits würde eine vorgängige Regelung auf Verfassungsstufe die Lösung des Problems unnötig verzögern. Nach der allfälligen Annahme der Initiative müsste eine Umsetzung auf Gesetzesstufe getroffen werden.

Dies würde weitere Zeit beanspruchen, was angesichts des hohen Alters und des Gesundheitszustands vieler Opfer und Betroffener vermieden werden sollte.

Der Bundesrat hat deshalb das EJPD beauftragt, einen Gesetzesentwurf auszuarbeiten. Die Modalitäten der Ausgestaltung von Beiträgen an Opfer sowie die Zuständigkeit für deren Ausrichtung im Rahmen der Erarbeitung der Vernehmlassungsvorlage sollten dabei zusammen mit der Eidgenössischen Finanzverwaltung (EFV) und dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erarbeitet werden.

Im Übrigen konnte der Bundesrat in seinem Auftrag auf eine detaillierte Regelung einer umfassenden wissenschaftlichen Aufarbeitung verzichten, da eine solche für die administrativen Versorgungen bereits lanciert worden ist und die weiteren fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 im Rahmen eines Nationalen Forschungsprogramms untersucht werden sollen (vgl. hierzu Ziff.

2.4.1 sowie die Ausführungen zu Art. 15 in Ziff. 3.3).

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2

Volksinitiative «Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen (Wiedergutmachungsinitiative)»

2.1

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative

2.1.1

Wortlaut der Initiative

Die Wiedergutmachungsinitiative hat den folgenden Wortlaut: Die Bundesverfassung8 wird wie folgt geändert: Art. 124a

Wiedergutmachung für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen

Bund und Kantone sorgen für die Wiedergutmachung des Unrechts, das insbesondere Heimkinder, Verdingkinder, administrativ versorgte, zwangssterilisierte oder zwangsadoptierte Personen sowie Fahrende aufgrund fürsorgerischer Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen erlitten haben.

1

Sie sorgen für eine unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Massnahmen und fördern die Diskussion darüber in der Öffentlichkeit.

2

Art. 196 Ziff. 129 12. Übergangsbestimmung zu Art. 124a (Wiedergutmachung für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen) Der Bund errichtet einen Fonds in der Höhe von 500 Millionen Franken für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen, die vor dem Jahre 1981 vorgenommen wurden.

1

Anspruchsberechtigt sind Menschen, die von solchen Massnahmen unmittelbar und schwer betroffen waren. Die Höhe der Wiedergutmachung richtet sich nach dem erlittenen Unrecht. Über die Ausrichtung der Leistungen entscheidet eine unabhängige Kommission.

2

Der Fonds wird zwanzig Jahre nach seiner Errichtung aufgelöst. Ein allfälliger Restbetrag wird den Einlegern anteilsmässig rückerstattet.

3

2.1.2

Zustandekommen, Behandlungsfristen und Formelles

Die Wiedergutmachungsinitiative wurde am 18. März 2014 von der Bundeskanzlei vorgeprüft10 und am 19. Dezember 2014 mit den nötigen Unterschriften eingereicht.

8 9 10

SR 101 Die endgültige Ziffer dieser Übergangsbestimmung wird nach der Volksabstimmung von der Bundeskanzlei festgelegt.

BBl 2014 2925

111

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Mit Verfügung vom 12. Januar 2015 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Initiative mit 108 709 gültigen Unterschriften zustande gekommen ist.11 Die Initiative hat die Form des ausgearbeiteten Entwurfs. Der Bundesrat unterbreitet dazu einen indirekten Gegenvorschlag. Nach Artikel 97 Absatz 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 200212 (ParlG) hat der Bundesrat somit spätestens bis zum 19. Juni 2016 ­ d. h. achtzehn Monate seit Einreichung der Initiative ­ den Entwurf für einen Bundesbeschluss und eine Botschaft zu unterbreiten. Die Bundesversammlung hat nach Artikel 100 ParlG bis zum 19. Juni 2017 über die Abstimmungsempfehlung zu beschliessen, es sei denn, ein Rat fasst über einen Gegenvorschlag oder über einen mit der Volksinitiative eng zusammenhängenden Erlassentwurf Beschluss. In diesem Fall kann die Bundesversammlung die Behandlungsfrist um ein Jahr verlängern (Art. 105 Abs. 1 ParlG).

Im Initiativtext ist in einer Fussnote zur Übergangsbestimmung vorgesehen, dass die Bundeskanzlei die endgültige Ziffer der Übergangsbestimmung nach der Volksabstimmung festlegt. Da Übergangsbestimmungen, die nach Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung (BV) erlassen werden, in Artikel 197 BV und dort in chronologischer Reihenfolge einzuordnen sind,13 wird die Bundeskanzlei die endgültige Nummerierung dieser Übergangsbestimmung nach der Volksabstimmung festlegen.

2.1.3

Gültigkeit

Die Initiative erfüllt die Anforderungen an die Gültigkeit nach Artikel 139 Absatz 3 BV: a.

Sie ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf formuliert und erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Form.

b.

Zwischen den einzelnen Teilen der Initiative besteht ein sachlicher Zusammenhang. Die Initiative erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Materie.

c.

Die Initiative verletzt keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.

Sie erfüllt somit die Anforderungen an die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht.

2.2

Ziel und Inhalt der Initiative

Ziel der Initiative ist die Wiedergutmachung des Unrechts, das den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 zugefügt worden ist. Das ihnen zugefügte Leid soll anerkannt werden, und die unmittelbar und schwer betroffenen Opfer sollen aus einem durch den Bund zu errichtenden

11 12 13

112

BBl 2015 1021 SR 171.10 BBl 2001 1183, hier 1186 f.; AS 2002 885

BBl 2016

Fonds eine finanzielle Leistung erhalten. Die Geschehnisse sollen zudem wissenschaftlich aufgearbeitet und die Diskussion darüber in der Öffentlichkeit gefördert werden.

2.3

Erläuterung und Auslegung des Initiativtextes

2.3.1

Wiedergutmachung für die Opfer

Die zentralen Anliegen der Initiative sind die offizielle Anerkennung des den Opfern zugefügten Unrechts durch Bund und Kantone und ­ soweit dies überhaupt noch möglich ist ­ eine Wiedergutmachung. Die Initiative strebt deshalb eine «echte Wiedergutmachung nach internationalen Standards»14 an. Eine Wiedergutmachung sollen betroffene Personen erfahren wie insbesondere die Verding- und Heimkinder sowie administrativ versorgte, zwangssterilisierte oder zwangsadoptierte Personen, die aufgrund von solchen Massnahmen Unrecht erlitten haben. Auch Fahrende, die aufgrund fürsorgerischer Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen Unrecht erlitten haben, und Personen, an denen Medikamentenversuche vorgenommen wurden, gehören dazu.

2.3.2

Wissenschaftliche Aufarbeitung

Damit dieses düstere Kapitel der schweizerischen Sozial- und Fürsorgepolitik erfolgreich aufgearbeitet und abgeschlossen werden kann, braucht es eine umfassende Untersuchung der Erscheinungsformen, Hintergründe und Auswirkungen der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981. Die Aufarbeitung soll dabei gemäss Initiativtext «unabhängig» und «wissenschaftlich» erfolgen.

Zur Gewährleistung einer unbhängigen Aufarbeitung sollen externe Forscherinnen und Forscher mit dieser Aufgabe betraut werden. Die verlangte breite Forschungsperspektive impliziert, dass die Forschung interdisziplinär angelegt sein muss und daher Forschende aus verschiedenen Fachbereichen beizuziehen sind. Die mit der Forschung beauftragten Personen werden danach fragen müssen, welche Vorstellungen von Staat und Staatlichkeit den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen zugrunde lagen. Weiter sollen sie untersuchen, welche Gruppen tatsächlich oder potenziell von den Interventionen betroffen waren. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden die staatlichen Interventionen und das behördliche Handeln zu analysieren haben, die verantwortlichen Institutionen benennen, die Gruppe der Betroffenen charakterisieren und deren individuelle Strategien zur Bewältigung der Geschehnisse dokumentieren müssen. Dazu werden sie auch ­ soweit rekonstruierbar ­ plausible Schätzungen zur Anzahl der von den jeweiligen Massnahmen betroffenen Opfer vornehmen müssen.

14

www.wiedergutmachung.ch > Initiative > Argumentarium lang (pdf), S. 9.

113

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2.3.3

Öffentlichkeitsarbeit

Die wissenschaftliche Aufarbeitung kann erst dann als erfolgreich abgeschlossen gelten, wenn daraus auch Lehren für die Zukunft gezogen werden können, denn solche Vorkommnisse dürfen sich keinesfalls wiederholen. Bund und Kantone sollen deshalb gemeinsam dafür sorgen, dass die Öffentlichkeit sowie insbesondere auch diejenigen Ausbildungsstätten, Behörden und weitere Organisationen, die heute im weitesten Sinn für die Anordnung und den Vollzug von Zwangsmassnahmen zuständig sind, ausreichend informiert und sensibilisiert werden.

2.3.4

Errichtung eines Fonds für finanzielle Leistungen zugunsten der Opfer

Mit der Initiative soll der Bund zu finanziellen Leistungen an die Opfer verpflichtet werden. Er soll dazu einen mit 500 Millionen Franken dotierten Fonds errichten. Die Initiantinnen und Initianten gehen von 20 000 bis 25 000 noch lebenden Opfern aus,15 was zu finanziellen Leistungen im Umfang von 20 000 bis 25 000 Franken pro Opfer führen würde. Nach dem Initiativtext sollen sowohl der Bund als auch die Kantone für die Wiedergutmachung des Unrechts sorgen. Allerdings ist es der Bund, der einen Fonds in der Höhe von 500 Millionen Franken errichten soll. Damit wäre im Rahmen der Umsetzung der Initiative festzulegen, wer als Einleger in den Fonds in Frage kommt. Neben dem Bund ist in erster Linie an die Kantone zu denken.

Denkbar ist aber auch, dass Städte und Gemeinden sowie allenfalls private Institutionen (Bauernverband, Kirchen, Heime etc.) und Unternehmen freiwillige Beiträge leisten würden.

Anspruchsberechtigt für eine Entschädigung sind gemäss vorgeschlagenem Verfassungstext jene Menschen, die durch die Anordnung von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 unmittelbar und schwer betroffen waren. Die beiden Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein.

Die unmittelbare Betroffenheit impliziert, dass das Opfer selbst von den Massnahmen direkt betroffen war. Ob bzw. inwieweit allenfalls auch Betroffene der zweiten Generation finanzielle Leistungen erhalten könnten, müsste die Umsetzungsgesetzgebung präzisieren. Für eine schwere Betroffenheit bedarf es einer qualifizierten Beeinträchtigung der Integrität durch die fürsorgerische Zwangsmassnahme oder Fremdplatzierung. Hierfür ist auch der Begriff des «Härtefalls» geprägt worden.

Allerdings wird dieser Begriff in der Wiedergutmachungsinitiative gleich wie im indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates (vgl. dazu unten Ziff. 3) nicht verwendet.

Die Höhe der Beiträge, die aus dem Fonds ausgerichtet werden, soll sich am jeweils vom Opfer erlittenen Unrecht orientieren. Dies schliesst einen Pauschalbetrag aus und erfordert eine Abstufung der Beträge. Die Initiantinnen und Initianten erwähnen als Anhaltspunkte die Intensität und die Dauer der Einwirkung der Massnahme sowie deren Spätfolgen; mit anderen Worten also die Schwere und Intensität der 15

114

www.wiedergutmachung.ch > Initiative > Argumentarium lang (pdf), S. 6.

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Verletzung der persönlichen Integrität. Diese Abstufung sei in Anlehnung an das Genugtuungsrecht getroffen worden.

Die Verteilung der Gelder aus dem Fonds soll durch eine unabhängige Kommission erfolgen, damit keine Personen Leistungen erhalten, die ihnen nicht zustehen. Diese unabhängige Instanz wäre auch für die Vertrauensbildung wichtig und soll nicht zuletzt auch die Geldflüsse kontrollieren. Die Zusammensetzung sowie die Organisationsform dieser Kommission wird vom Initiativtext offengelassen und wäre in der Umsetzungsgesetzgebung zu regeln.

2.4

Würdigung der Initiative

2.4.1

Würdigung der Anliegen der Initiative

Für eine umfassende gesellschaftliche und individuelle Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 sind die Anerkennung und die Wiedergutmachung des Unrechts, das den Opfern solcher Massnahmen zugefügt worden ist, zentral. Der Bundesrat teilt dieses Anliegen der Initiantinnen und Initianten.

Hinsichtlich der Forderung der Initiative betreffend eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen kann festgehalten werden, dass eine solche bereits in die Wege geleitet ist: Für die administrativen Versorgungen hat der Bundesrat am 5. November 2014 die bereits erwähnte UEK eingesetzt, die ihre operative Tätigkeit anfangs 2015 aufgenommen hat. Die übrigen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 sollen im Rahmen eines umfassenden Nationalen Forschungsprogramms (NFP) untersucht werden, wobei auch die Koordination zwischen dem NFP und der UEK sichergestellt sein soll. Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) hat den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) beauftragt gestützt auf die vom SNF erarbeitete Machbarkeitsprüfung , die Ausschreibungsunterlage für ein solches NFP vorzubereiten. Der Bundesrat wird spätestens im ersten Quartal 2017 über dessen Lancierung entscheiden.

Was die Forderung der Initiative betreffend die Schaffung eines Fonds für Wiedergutmachungszahlungen für schwer betroffene Opfer betrifft, so geht der Bundesrat davon aus, dass die vom Initiativkomitee genannte Zahl von rund 20 000 bis 25 000 anspruchsberechtigten Opfern zu hoch angesetzt ist (er geht von 12 000 bis 15 000 Opfern aus).

Die Forderung der Initiative nach einer Abstufung der Beträge nach Massgabe des erlittenen Unrechts erscheint dem Bundesrat nicht zielführend. Bei den Leistungen aus dem Fonds handelt es sich nicht um Genugtuungszahlungen im eigentlichen Sinn, weil diesen Zahlungen kein haftpflichtrechtlicher Entschädigungsanspruch zugrunde liegt. Sinn und Zweck der vorgesehenen finanziellen Leistung ist vielmehr eine freiwillige Geste als Zeichen der Wiedergutmachung und Solidarität. Würde man finanzielle Abstufungen einführen, könnte dies so aufgefasst werden, dass die Behörden nach Opfern erster und zweiter Klasse unterscheiden würden. Es erscheint mehr als fraglich, ob diese Unterscheidung dem tatsächlich erlittenen Leid der Opfer 115

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in jedem Einzelfall gerecht würde und ob diese Kategorienbildung für die Opfer und ihre gegenseitigen Beziehungen und Befindlichkeiten wirklich hilfreich wäre.

Zudem ist es dem Bundesrat im Sinn der Gleichbehandlung und Gleichberechtigung der Opfer wichtig, dass alle den gleichen Betrag erhalten.

Die übrigen Bestimmungen des Initiativtextes bedürfen keiner ausführlichen Würdigung. Zu erwähnen ist lediglich, dass die Aufrechterhaltung der Fondslösung über eine Dauer von zwanzig Jahren vermeidbar hohe Kosten nach sich ziehen würde und dass sich die vorgesehene Rückerstattung eines Restbetrags an die Einleger im Verhältnis ihrer damaligen Einlagen unter Umständen schwierig gestalten könnte.

2.4.2

Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme

Bei einer Annahme müsste die Volksinitiative vom Bundesrat umgesetzt werden.

Die Artikel 124a und 196 Ziffer 12 des vorgeschlagenen Verfassungstextes wären nicht direkt anwendbar, denn sie enthalten unter anderem unbestimmte Begriffe und regeln insbesondere die Modalitäten des Fonds nicht ausreichend. Der Gesetzgeber müsste die unbestimmten Begriffe konkretisieren und die Regelungen auf Gesetzesstufe ergänzen.

Hinzu kommt, dass eine Annahme der Volksinitiative dazu führen würde, dass die Kantone wohl zur Übernahme eines Teils der Finanzierungskosten für den Fonds verpflichtet wären. Der Initiativtext bestimmt nämlich, dass Bund und Kantone für die Wiedergutmachung des Unrechts zu sorgen hätten. Zwar ist gemäss der Übergangsbestimmung nach Artikel 196 Ziffer 12 E-BV für die Errichtung eines Fonds nur der Bund in der Pflicht, den Fonds von 500 Millionen Franken zu errichten.

Aber bei einer verfassungsrechtlichen Regelung wie der hier vorgeschlagenen würde es sich wohl aufdrängen, dass die finanziellen Lasten zwischen Bund und Kantonen aufgeteilt werden. Diese Aufteilung gälte im Übrigen nicht nur für die Alimentierung und Bewirtschaftung des Fonds, sondern auch für die Kosten der wissenschaftlichen Aufarbeitung.

2.4.3

Vorzüge und Mängel der Initiative

Der Initiative gebührt das Verdienst, das düstere Kapitel der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 ­ im Verbund mit anderen Bestrebungen wie z. B. den beiden Gedenkanlässen und dem Runden Tisch ­ nach Jahrzehnten des Schweigens und der Verdrängung auf die politische Agenda gesetzt zu haben. Die Tatsache, dass die für das Zustandekommen der Initiative erforderlichen Unterschriften in kurzer Zeit gesammelt werden konnten, und der Umstand, dass die Initiative in allen Bevölkerungsschichten und in einem sehr breiten politischen Spektrum Unterstützung findet, zeigen, dass in der Gesellschaft ein Umdenken stattgefunden hat und ein Wille zur Wiedergutmachung vorhanden ist.

Die Initiative beschränkt sich zudem auf zwei Kernforderungen (umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung und Anerkennung des erlittenen Unrechts, insb. durch finanzielle Leistungen zugunsten der Opfer aus einem mit 500 Mio. Fr. dotierten 116

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Fonds). Die Forderungen bewegen sich im Rahmen dessen, was angesichts der Umstände und der lange zurückliegenden Ereignisse heute noch gemacht werden kann. Ausserdem überlässt die Initiative die Regelung vieler Einzelheiten dem Gesetzgeber. Dies würde sachgerechte Lösungen ermöglichen.

Ein gewichtiger Mangel der Initiative ist, dass sich die angestrebten Ziele der Aufarbeitung nicht vollständig (der nachstehend beschriebene Gegenvorschlag sieht zusätzliche wichtige Massnahmen zugunsten der Betroffenen und Opfer vor) und vor allem nicht innert nützlicher Frist erreichen lassen. Denn nach einer allfälligen Annahme der Initiative durch Volk und Stände müsste der Bundesrat erst noch den Entwurf einer Ausführungsgesetzgebung erarbeiten, der anschliessend durch das Parlament beraten und in Kraft gesetzt werden müsste. Dieser Zusatzschritt würde mindestens zwei bis drei weitere Jahre in Anspruch nehmen, was angesichts des teilweise schon sehr fortgeschrittenen Alters und des Gesundheitszustands vieler Opfer problematisch wäre. Im Weiteren sieht die Initiative auch vor, dass der Bund und die Kantone gemeinsam für die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zu sorgen haben, d. h. die Aufarbeitung ist eine Verbundaufgabe, die sowohl zum Zusammenwirken bei der Aufarbeitung als auch beim Tragen der daraus resultierenden Lasten verpflichtet.

2.4.4

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Im Bezug auf die Vereinbarkeit der Initiative mit internationalen Verpflichtungen bestehen keine Probleme.

2.5

Schlussfolgerungen

Der Bundesrat unterstützt grundsätzlich die Zielsetzungen der Initiative. Insbesondere aus den in Ziffer 2.4.3 dargelegten Erwägungen zu deren Mängeln zieht der Bundesrat jedoch einen indirekten Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe vor. Dieser würde den Opfern und Betroffenen rascher die lang ersehnte Anerkennung ihres erlittenen Leids und eine Wiedergutmachung bringen.

3

Indirekter Gegenvorschlag

Der Bundesrat hat als indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative einen Gesetzesentwurf und einen Entwurf eines einfachen Bundesbeschlusses über die Finanzierung ausarbeiten lassen, die den zentralen Forderungen der Volksinitiative Rechnung tragen. Da der Bundesrat von einer tieferen Anzahl von Opfern ausgeht, die Anspruch auf finanzielle Leistungen in der Form eines Solidaritätsbeitrags erheben, ist der hierfür vorgesehene Finanzierungsbetrag geringer. Die Gesetzesvorlage sieht vor, dass die Opfer Solidaritätsbeiträge von insgesamt 300 Millionen Franken erhalten sollen. Diese sollen mehrheitlich durch den Bund finanziert werden. Es wird ein

117

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entsprechender Rahmenkredit vorgesehen. Die Kantone und Dritte werden aufgefordert, freiwillige Beiträge in den Fonds zu leisten. Die Höhe der finanziellen Aufwendungen des Bundes würde dadurch entsprechend reduziert. Dafür sieht der Entwurf im Vergleich zur Initiative jedoch zahlreiche weitere Massnahmen im Interesse der Opfer und der Betroffenen vor.

3.1

Grundzüge der Vorlage

3.1.1

Zweck des neuen Gesetzes

Das neue Gesetz soll geeignete Rahmenbedingungen schaffen, um eine umfassende gesellschaftliche und individuelle Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 zu ermöglichen. Zentral ist dabei die Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts, das den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 zugefügt worden ist. Im Entwurf sind hierzu verschiedene Massnahmen vorgesehen, die namentlich finanzielle Leistungen, Beratung und Unterstützung von Opfern und anderen Betroffenen sowie die wissenschaftliche Aufarbeitung umfassen.

3.1.2

Anerkennung des Unrechts

Viele Opfer sind durch die seinerzeitige Anordnung oder den Vollzug der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen schwer traumatisiert worden.

Das erlittene psychische und körperliche Leid hat das Leben dieser Opfer negativ geprägt (z. B. hat sich dies in sozialer Isolation, physischen oder psychischen Krankheiten oder in massiven finanziellen Nachteilen manifestiert). Die Opfer tragen diese schwere Last auch heute noch auf und in sich. Nicht selten ist die Last derart erdrückend, dass die Opfer gar nie mit jemandem über das Erlebte sprechen konnten, nicht einmal mit ihrem Ehepartner oder ihren Kindern. Es ist das Ziel der Vorlage, das den Opfern zugefügte Leid und die damit verbundenen belastenden Auswirkungen auf ihr ganzes Leben anzuerkennen. Mit der Anerkennung des Unrechts und der Bitte um Entschuldigung für das den Opfern angetane Unrecht und Leid ist auch eine Rehabilitierung aller Opfer verbunden, so wie dies bereits schon bei den administrativ versorgten Personen gemacht wurde.

3.1.3

Solidaritätsbeitrag

Als Zeichen der Wiedergutmachung und der Solidarität sieht der indirekte Gegenvorschlag finanzielle Leistungen im Umfang von insgesamt 300 Millionen Franken vor. Der Bundesrat geht aufgrund von Mehrfachbetroffenheit von einer tieferen Opferzahl als die Wiedergutmachungsinitiative aus. Ausgehend von einer geschätzten Anzahl von 12 000 bis 15 000 zu bewilligenden Gesuchen, sollte dies finanzielle Beiträge in der Grössenordnung zwischen 20 000 und 25 000 Franken pro Opfer ermöglichen. Mit einem solchen Beitrag kann das Unrecht nicht wiedergutgemacht 118

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werden. Es handelt sich auch nicht um eine Entschädigung oder um eine Genugtuung im eigentlichen Sinn. Aber es ist ein klares Zeichen der Anerkennung des Unrechts und Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität. Der vorgesehene Betrag liegt im Übrigen im Rahmen dessen, was auch in anderen Staaten vorgesehen worden ist.

Der vorliegende Gesetzesentwurf sieht bewusst ab von einer Abstufung der Beiträge, wie sie die Wiedergutmachungsinitiative fordert. Dies insbesondere deshalb, weil eine Abstufung der Beiträge nach Massgabe des erlittenen Unrechts sehr schwierig ist und stets als ungerecht und willkürlich erscheint: Wie müssten z. B.

eine jahrelange Verdingung bei einem Bauern und eine Zwangsabtreibung gegeneinander aufgewogen werden? Zum anderen könnte eine solche Abstufung auch zu Auseinandersetzungen unter den Opfern führen, falls einzelne Opfer sich durch eine bestimmte Einreihung im Vergleich zu anderen Opfern zurückgesetzt und benachteiligt fühlen.

Nicht berücksichtigt wurde auch die vom Runden Tisch vorgeschlagene Kombinationslösung. Dieses Modell sah eine einmalige finanzielle Leistung kombiniert mit einer monatlichen Zahlung vor, die z. B. zusammen mit der AHV-Rente hätte ausgerichtet werden können. Mit dieser Kombination sollte den unterschiedlichen Lebenssituationen und -erwartungen der jüngeren und älteren Opfer Rechnung getragen werden. Nach Auffassung des Bundesrates würde die Kombinationslösung zu einer Ungleichbehandlung der Opfer führen. Würde ein rentenbeziehendes Opfer kurz nach Beginn der Ausrichtung der monatlichen Zahlungen versterben, würden diese Zahlungen eingestellt. Das Opfer würde so insgesamt einen niedrigeren Betrag erhalten und wäre folglich betragsmässig benachteiligt. Es kommt hinzu, dass die Kombinationslösung (insbesondere die Führung der Zahlungskontrolle und die Vornahme der Auszahlungen) einen administrativen und finanziellen Zusatzaufwand verursachen würde, der vermieden werden sollte.

3.1.4

Archivierung und Akteneinsicht

Es ist sowohl für die Opfer bei der Suche nach ihren Akten als auch für die wissenschaftliche Aufarbeitung zentral, dass alle noch vorhandenen Akten gesichert, korrekt aufbewahrt und erschlossen werden. Die im Entwurf vorgeschlagene Regelung ist umfassender als diejenige des Bundesgesetzes zur Rehabilitierung der administrativ versorgten Menschen und erfasst neben den staatlichen neu auch private Archive wie z. B. jene von Heimen und Kirchen. Im Übrigen kann damit auch den entsprechenden Empfehlungen des Runden Tisches Rechnung getragen werden.16

16

Vgl. Bericht und Massnahmenvorschläge des Runden Tisches, 2014, Teil B, insb.

Ziff. 3.1 und 3.3; zu finden unter www.fuersorgerischezwangsmassnahmen.ch > Medienmitteilungen / Dokumente.

119

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3.1.5

Beratung und Unterstützung durch kantonale Anlaufstellen

Die Kantone hatten bereits im Jahr 2013 Anlaufstellen eingerichtet, die den Opfern und anderen Betroffenen Beratung, Betreuung und ­ meist in Zusammenarbeit mit den kantonalen Archiven ­ Hilfe bei der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte bieten. Die Anlaufstellen haben überdies auch sehr viele Betroffene im Hinblick auf die Einreichung eines Gesuchs um Soforthilfe unterstützt. Weil sich die Arbeit der kantonalen Anlaufstellen in jeder Hinsicht bewährt hat, sieht der Gesetzesentwurf gemäss der Empfehlung des Runden Tisches17 die Fortführung dieser Anlaufstellen vor. Insbesondere sollen die Opfer auch Soforthilfe sowie längerfristige Hilfe im Sinne von Artikel 2 Buchstaben a und b des Opferhilfegesetzes vom 23. März 200718 (OHG) erhalten können. Damit wird der Geltungsbereich des Opferhilfegesetzes präzisiert und teilweise erweitert.

3.1.6

Öffentlichkeitsarbeit

Die Erkenntnisse, die aus der Aufarbeitung und namentlich aus der wissenschaftlichen Forschung gewonnen werden, sollen der Öffentlichkeit in geeigneter Form vermittelt werden. Dazu gehören etwa die Förderung und Verbreitung von Medienproduktionen, Ausstellungen und Vorträgen zum Thema sowie die Aufbereitung der Forschungsergebnisse zur Verwendung in Lehrmitteln. Eine breite öffentliche Diskussion soll insbesondere auch dazu beitragen, dass Behörden, Institutionen und Private, die nach geltendem Recht mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen befasst sind, für ihre schwierige Aufgabe sensibilisiert werden.

Die Öffentlichkeitsarbeit trägt aber auch dazu bei, dass die Betroffenen sich nicht länger mit ihrer Lebensgeschichte allein gelassen fühlen, dass sie sich öffnen und ihre Geschichte erzählen können. Alle erwähnten Massnahmen sind dazu geeignet, dass neben den Opfern auch die Gesellschaft als Ganze dieses düstere Kapitel der schweizerischen Sozial- und Fürsorgepolitik aufarbeiten kann.

3.1.7

Weitere Massnahmen

Es würde zu Recht als stossend empfunden, wenn der Staat mit der einen Hand Solidaritätsbeiträge als Geste der Anerkennung des erlittenen Unrechts an die Opfer auszahlen und mit der anderen einen Teil dieser Beiträge aufgrund der geltenden Steuer-, Sozialhilfe- sowie Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzgebung wieder zurückfordern würde. Obwohl der Solidaritätsbeitrag haftpflichtrechtlich keine Genugtuung darstellt, soll er gemäss Gesetzesentwurf in steuerrechtlicher und schuldbetreibungsrechtlicher Hinsicht als Genugtuungssumme bzw. Genugtuungsleistung behandelt werden. Folglich kann der Solidaritätsbeitrag nicht besteuert werden oder einer Betreibung unterliegen. Auch sozialhilferechtliche Ansprüche 17 18

120

Bericht und Massnahmenvorschläge des Runden Tisches, 2014, Teil B, Ziff. 2.2.

SR 312.5

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werden nicht reduziert. Für die Berechnung der Ergänzungsleistungen AHV/IV wird der Solidaritätsbeitrag nur beim Vermögen berücksichtigt. Daneben sollen andere Massnahmen wie z. B. die Förderung von Selbsthilfeprojekten von Opfern oder anderen Betroffen dazu beitragen, deren private oder berufliche Situation zu verbessern.

3.2

Vernehmlassungsverfahren

Der Vorentwurf zum Gesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (VE-AFZFG) war zwischen dem 24. Juni 2015 und dem 30. September 2015 in einer Vernehmlassung.19 Es sind fast 90 Stellungnahmen eingegangen.

Die Grundtendenz der eingegangenen Stellungnahmen ist positiv bis sehr positiv. In der Vernehmlassung ist grundsätzlich unbestritten geblieben, dass den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 Unrecht angetan wurde und dass sie grosses Leid erlitten haben. Bis auf wenige Ausnahmen möchten die Vernehmlassungsteilnehmer die angestrebte Rehabilitierung und moralische Wiedergutmachung der Opfer auch mit finanziellen Leistungen verbinden.

Die weiteren vorgesehenen Massnahmen stossen auf breite Unterstützung. Erwartungsgemäss gab aber namentlich die Frage der Mitfinanzierung der Solidaritätsbeiträge durch die Kantone am meisten Anlass zu Bemerkungen. Weitere wichtige Anliegen betreffen die Abgrenzung zwischen betroffenen Personen und Opfern, das Verhältnis zwischen dem Opferhilfegesetz und dem vorgeschlagenen neuen Gesetz sowie die Modalitäten des Gesuchsverfahrens für die Solidaritätsbeiträge.

Grundsätzliche Einwände und Vorbehalte äussern die SVP, die FDP, der Schweizerische Gewerbeverband, das Centre Patronal und der Kanton AR. Besonders deutlich abgelehnt werden dabei finanzielle Leistungen.

3.3

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln

1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen Art. 1

Zweck, Geltungsbereich und Gegenstand

Absatz 1 dieser Bestimmung umschreibt das wesentliche Anliegen und das Ziel des Gesetzes, nämlich die Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts, das den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 zugefügt worden ist. Es ist wichtig, dass aus den gemachten Fehlern die nötigen Lehren gezogen werden, damit ähnliche Geschehnisse nicht mehr vorkommen.

19

Der Vorentwurf, der erläuternde Bericht und der Bericht über die Ergebnisse der Vernehmlassung können wie folgt online abgerufen werden: www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2015 > EJPD.

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Ganz allgemein gilt der vorliegende Gesetzesentwurf für alle Menschen, die in der Schweiz gestützt auf vor dem 1. Januar 1981 geltendes kantonales öffentliches Recht, auf das Zivilgesetzbuch (damaliger Art. 406 aZGB20) oder auf das Strafgesetzbuch (Art. 89 ff. aStGB21) durch eine kantonale oder kommunale Behörde einer fürsorgerischen Zwangsmassnahme (Art. 2 Bst. a) unterzogen oder fremdplatziert (Art. 2 Bst. b) worden sind. Bereits angesprochen ist damit eine zentrale Einschränkung des Geltungsbereichs in zeitlicher Hinsicht. Das Gesetz ist nur anwendbar auf fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen, die vor dem 1. Januar 1981 angeordnet wurden. An diesem Stichdatum sind die neuen Bestimmungen des ZGB zur fürsorgerischen Freiheitsentziehung in Kraft getreten.22 Diese Abgrenzung ist deshalb erforderlich, weil sonst auch fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen, die auf einem nach diesem Zeitpunkt getroffenen Entscheid ­ allenfalls gestützt auf das heute noch geltende Recht ­ unter das Gesetz fallen würden.

Es kam vor, dass Massnahmen, die auf einem vor 1981 gefällten Entscheid beruhen, erst nach 1981 vollzogen wurden oder dass der Vollzug zwar vor 1981 begann, aber darüber hinaus angedauert hat. Um der zuständigen Behörde beim Entscheid zur Gewährung des Solidaritätsbeitrags den nötigen Ermessensspielraum zu gewähren, wurde dieser Situation in Absatz 2 explizit Rechnung getragen.

Absatz 3 umreisst die zentralen Regelungsgegenstände des Gesetzes, nämlich insbesondere den Solidaritätsbeitrag zugunsten von Opfern (Bst. a), die Archivierung und Akteneinsicht (Bst. b), die Beratung und Unterstützung Betroffener (Bst. c) sowie die wissenschaftliche Aufarbeitung und die Öffentlichkeitsarbeit (Bst. d).

Art. 2

Begriffe

Die Klärung der wichtigsten im Gesetz verwendeten Begriffe, nämlich «fürsorgerische Zwangsmassnahmen», «Fremdplatzierung», «Betroffene», «Opfer» und «Angehörige», ist von grosser Bedeutung, hängt doch davon im Wesentlichen ab, ob jemand aus dem Gesetz einen bestimmten Rechtsanspruch ableiten kann.

In persönlicher Hinsicht erstreckt sich der Geltungsbereich des Gesetzes nicht nur auf Menschen, die zu Unrecht einer fürsorgerischen Zwangsmassnahme unterzogen oder die fremdplatziert wurden, sondern auch auf solche, bei denen dies zu Recht geschah bzw. angezeigt und den konkreten Umständen angemessen war. Auf diese Weise können die Bestimmungen namentlich betreffend die historische Aufarbeitung bzw. Verbreitung der wissenschaftlichen Ergebnisse, die Akteneinsichtsrechte und Archivierung nicht nur für die Opfer, sondern für alle damaligen Betroffenen gelten. Dies soll es insbesondere erlauben, alle noch vorhandenen Aktenbestände in Bezug auf die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor vorzeitiger Entsorgung zu schützen und ihre sachgerechte Archivierung sicherzustellen. Da teilweise unklar ist, ob jemand als betroffene Person oder als Opfer im Sinne des E-AFZFG gelten kann, müssen auch Situationen erforscht werden können, die im Grenzbereich zwischen zu Unrecht erfolgten Massnahmen und Fremdplatzierun20 21 22

122

AS 24 233 AS 54 757 AS 1980 31

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gen angesiedelt sind, und solchen, die zu Recht und in korrekter Weise erfolgt sind.

So können bessere Erkenntnisse für die Abgrenzung zwischen diesen Situationen erworben werden. Zudem ist ein umfassender Ansatz insbesondere auch für die wissenschaftliche Aufarbeitung angezeigt.

Zu den einzelnen Begriffsbestimmungen: ­

Buchstabe a umschreibt den Begriff «fürsorgerische Zwangsmassnahmen».

Diese umfassen alle in der Schweiz vor 1981 von einer Behörde veranlassten, beaufsichtigten oder vollzogenen Massnahmen zum Schutz oder zur Erziehung von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen. Die einzelnen Massnahmen waren in Bezug auf ihre Form bzw. ihren Inhalt sehr vielgestaltig. So wurden die Betroffenen durch die zuständigen Behörden insbesondere in landwirtschaftlichen Betrieben verdingt, in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (Heime) platziert, in Erziehungs- und z. T. in Strafanstalten administrativ versorgt («administrative Versorgung») oder sie sind unter Druck gesetzt worden, einer Abtreibung, einer Kindswegnahme mit anschliessender Adoption, einer Sterilisation, Kastration oder einem Medikamentenversuch zuzustimmen und diese Massnahmen in der Folge zu dulden. Dabei können grundsätzlich zwei Fälle unterschieden werden: Zum einen können die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen als solche zu Unrecht angeordnet worden sein (z. B.

wenn die angeordnete Massnahme selber unbegründet bzw. der Entscheid materiell falsch war oder die Entscheidfindung elementarste Verfahrensgrundsätze ausser Acht liess). Zum anderen kann das Unrecht auch in der Art und Weise liegen, in der ein bestimmter Entscheid vollzogen wurde. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Aufsicht über den Vollzug, die in vielen Fällen unzureichend war. Die Behörden waren in diese Massnahmen unterschiedlich stark involviert. War die Rolle der Behörde im einen Fall auf die blosse Anordnung oder eine extensive Beaufsichtigung einer bestimmten Massnahme beschränkt, hielt sie in anderen Fällen die Fäden in der Hand und spielte die zentrale, die treibende Rolle während der ganzen Dauer der Massnahme.

­

Mit dem Begriff «Fremdplatzierung» (Bst. b) werden auch Platzierungen durch Private (z. B. Eltern) erfasst, denn nicht selten sind Platzierungen in Heimen und bei Pflege- oder Kostfamilien oder Verdingungen in gewerblichen oder landwirtschaftlichen Betrieben auf privater Basis vorgenommen worden. Dies allerdings zumindest in manchen Fällen mit Wissen und Dulden der Behörden.

­

Unter den Begriff «Betroffene» (Bst. c) fallen alle von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen (Bst. a) und Fremdplatzierungen (Bst. b) vor 1981 betroffenen Menschen. Der Begriff ist umfassender als der Opferbegriff und beinhaltet Letzteren vollständig. Dadurch kommt zum Ausdruck, dass es neben den Opfern auch weitere von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffene Personen gab, bei denen diese Massnahmen zu Recht angeordnet und korrekt vollzogen worden sind. Nicht alle Betroffenen wurden unkorrekt oder schlecht behandelt. Diese Massnahmen

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waren zum Teil für das Wohl der betroffenen Personen angezeigt und erforderlich.

­

Unter den Begriff «Opfer» (Bst. d) fallen alle Personen, deren körperliche, psychische oder sexuelle Unversehrtheit oder deren geistige Entwicklung unmittelbar und schwer beeinträchtigt worden ist. Für die Definition wurde bewusst eine begriffliche Anlehnung einerseits an die BV (Opferhilfe, Art. 124 BV, Recht auf persönliche Freiheit, Art. 10 BV und Schutz der Kinder und Jugendlichen, Art. 11 BV) und andererseits an den Initiativtext gewählt. Der Eingriff in die körperliche, psychische oder sexuelle Unversehrtheit oder in die geistige Entwicklung muss unmittelbar oder direkt erfolgt sein. Ausgeschlossen werden damit Fälle der mittelbaren Betroffenheit (beispielsweise das Beobachten eines Übergriffs an einer anderen Person, die Opfereigenschaft der zweiten Generation und jene weiterer Angehörigen nach Bst. e). Die generelle Opferdefinition wird durch eine nicht abschliessende Aufzählung von Formen des von Opfern erlittenen Unrechts ergänzt und illustriert (Ziff. 1­8). Zu Ziffer 3 ist zu bemerken, dass die Freigabe zur Adoption nicht direkt anschliessend an die Kindswegnahme stattgefunden haben muss. Opfer der Kindswegnahme ist die betroffene Mutter selbst. Aber auch die von der Wegnahme betroffenen Kinder können (allerdings nicht aufgrund von Ziff. 3) Opfer sein, wenn sie während der auf diese Wegnahme folgenden Platzierungen unmittelbar und schwer beeinträchtigt wurden. Dass für die Opferdefinition des E-AFZFG anders als beim OHG
keine Straftat vorliegen muss, bekräftigen insbesondere die Ziffern 6­8. In
Bezug auf Ziffer 7 gilt es zu beachten, dass die blosse Unterlassung der Förderung der persönlichen Entwicklung und Entfaltung nicht ausreichend ist; erfasst wird vielmehr die aktive, gezielte Verhinderung oder Erschwerung der Entwicklung. Mit der sozialen Stigmatisierung im Sinne der Ziffer 8 wird insbesondere die Situation von Personen angesprochen, die ohne Begehung einer Straftat zur Nacherziehung in eine Strafanstalt eingewiesen wurden oder die als Verdingkinder in der Schule ausgegrenzt wurden, etwa weil ihre Körperpflege und Kleidung grob vernachlässigt wurden. Es gilt klarzustellen, dass nicht jeder Heimaufenthalt sozial stigmatisierend war oder ist.

­

Weil an verschiedenen Stellen des Gesetzes den «Angehörigen» Rechte eingeräumt werden (in Ergänzung oder anstelle der Betroffenen oder Opfer), wurde eine Definition dieses Begriffs im Gesetz aufgenommen. Die Definition ist eng angelehnt an die Definition von Angehörigen nach OHG (Art. 1 Abs. 2). Mit Personen, die «ihr in ähnlicher Weise nahestehen», sind beispielsweise Geschwister sowie Konkubinatspartner und -partnerinnen gemeint. Gleichgeschlechtliche Partnerinnen und Partner werden nach OHG zwar ebenfalls unter diesen Passus subsumiert. Wie in der Gesetzgebung heute aber üblich, werden sie im E-AFZFG den Ehepartnern gleichgestellt und somit separat aufgeführt (vgl. bspw. die Gleichstellung der Ehegatten mit eingetragenen Partnerinnen oder Partnern in Art. 8 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 200523 sowie diverse Regelungen im Erwachsenenschutz, Art. 360 ff. im ZGB). Aufgrund der im E-AFZFG gewählten Syste-

23

124

SR 173.110

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matik, wonach der Begriff «Betroffene» die «Opfer» beinhaltet, ist bewusst die Terminologie der «betroffenen Person» gewählt worden.

Art. 3

Anerkennung des Unrechts

Mit dieser Bestimmung wird einem Hauptanliegen der Betroffenen und der Opfer Rechnung getragen, nämlich die gesellschaftliche und gesetzliche Anerkennung des geschehenen Unrechts und des erlittenen Leids. Überdies wird mit der Anerkennung auch eine Kernforderung der Wiedergutmachungsinitiative erfüllt. Auf diese Anerkennung warten viele Opfer seit Jahren.

Die Anerkennung des Unrechts ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass alle Involvierten ­ namentlich die Opfer und auch deren Angehörige ­ diese schlimmen Erlebnisse und Geschehnisse der Vergangenheit verarbeiten können; Situationen und Vorkommnisse, deren Auswirkungen oft das ganze Leben der Opfer geprägt haben oder noch immer prägen. Einzuräumen ist, dass die Anerkennung des Unrechts zum Teil auf der Grundlage der heutigen Wahrnehmung und Einschätzung dessen erfolgt, was als Recht und was als Unrecht gelten soll. Damit ist auch gesagt, dass bei der heutigen Beurteilung der damaligen Gesetzgebung und Vollzugspraxis Zurückhaltung geboten ist, denn die Gesetzgebung und deren Vollzug sind immer auch ein Abbild der jeweils aktuellen Wertvorstellungen der Gesellschaft. Es ist deshalb für den Gesetzgeber nicht einfach, sich vor dem Hintergrund der heutigen Vorstellungen eines modernen Kindes- und Erwachsenenschutzes zu den damaligen, auf rechtmässige Art und Weise zustande gekommenen Bestimmungen und zum Verhalten der Behörden zu äussern. Unbestritten ist jedoch, dass in vielen Fällen Mängel, Fehlverhalten und Missstände vorkamen, die auch im Lichte der damaligen Wertvorstellungen und der damaligen sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Gegebenheiten stossend und inakzeptabel sind. Im Übrigen waren etwa Körperverletzungen und sexuelle Übergriffe auch nach dem damals geltenden Recht unbestreitbar Straftaten.

2. Abschnitt: Solidaritätsbeitrag Art. 4

Grundsätze

Absatz 1 legt fest, dass alle Opfer einen Solidaritätsbeitrag erhalten können. Der Beitrag soll Ausdruck dessen sein, dass die heutige Gesellschaft sich solidarisch zeigt mit den Opfern und dass sie das Unrecht ausdrücklich anerkennt, das diese seinerzeit erlitten haben. Damit wird gleichzeitig auch ein Kernanliegen des Berichts des Runden Tisches und der Wiedergutmachungsinitiative umgesetzt.

Mit dem Anspruch auf einen Solidaritätsbeitrag werden weitere im Zusammenhang mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 stehende Ansprüche auf Entschädigung oder Genugtuung ausgeschlossen auch gegenüber den Kantonen (Abs. 2). Die Opfereigenschaft bestimmt sich im Übrigen nach Artikel 2 Buchstabe d.

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Einen Solidaritätsbeitrag erhält nur, wer hierfür ein entsprechendes Gesuch stellt (Abs. 3). Der Beitrag wird somit nicht von Amtes wegen ausgeteilt, allenfalls sogar an Opfer, die ihn nicht wollen. Auf der anderen Seite muss geprüft werden, dass diejenigen Personen, die einen Solidaritätsbeitrag erhalten möchten, tatsächlich Opfer seinerzeitiger fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen waren. Ein entsprechend ausgestaltetes Gesuchsverfahren soll erlauben, die Opfereigenschaft jeder gesuchstellenden Person abzuklären. Dass dies möglich ist, ohne dass die gesuchstellende Person gezwungen ist, entgegen ihrem Willen zu viel von ihrer persönlichen Sphäre und ihren traumatischen Erlebnissen preiszugeben, zeigen die positiven Erfahrungen mit dem Soforthilfefonds (vgl. dazu auch die Ausführungen in Ziff. 1.3).

Absatz 4 enthält den Grundsatz, dass alle Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen den gleichen Betrag erhalten. Damit soll insbesondere eine Auseinandersetzung über die Art und die Intensität des jeweils persönlich erlittenen Unrechts und Leides vermieden werden. Eine Differenzierung des Solidaritätsbeitrags nach Art und Intensität der Persönlichkeitsverletzung wird insbesondere von den Betroffenen und den Opfern abgelehnt. Es wäre aber auch für die zuständige Behörde, die gemäss Artikel 6 die Gesuche zu prüfen hat, eine schwer lösbare Aufgabe, den Solidaritätsbeitrag gerecht auf das wahrscheinlich individuell jeweils anders erlittene und empfundene Leid abzustimmen. Denn alle Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen haben schwer gelitten. Dies unabhängig davon, wie es ihnen heute z. B. gesundheitlich oder wirtschaftlich geht.

Deshalb sollen auch Opfer eine finanzielle Leistung als Anerkennung des Unrechts erhalten, die heute in finanzieller und gesundheitlicher Hinsicht nicht benachteiligt sind. Frühere Leistungen werden nicht angerechnet. Dies gilt insbesondere für die Gelder aus dem Soforthilfefonds der Glückskette, für die dieser Hilfe entsprechende finanzielle Hilfe durch den Kanton Waadt und für die im Rahmen der Aktion «Kinder der Landstrasse» geleisteten Zahlungen.

Die Formulierung in Absatz 5 soll den persönlichen Charakter des Solidaritätsbeitrags unterstreichen, der ausschliesslich dem Opfer als Geste der Wiedergutmachung
für erlittenes Leid zukommen soll. Der Anspruch ist zwar weder vererb- noch abtretbar. Verstirbt aber die gesuchstellende Person nach Einreichung des Gesuchs, fällt der Solidaritätsbeitrag, sobald die zuständige Behörde die Opfereigenschaft der gesuchstellenden Person festgestellt hat (Art. 6 Abs. 1), in die Erbmasse (sowohl wenn das Opfer vor der ersten Teilzahlung nach Art. 7 als auch wenn es zwischen den beiden Teilzahlungen stirbt). Damit wird teilweise auch der transgenerationalen Weitergaben von Traumata und dem Umstand, dass weitere beeinträchtigende Auswirkungen der damaligen Eindrücke des Opfers auf seine Angehörigen bestehen können, Rechnung getragen. Anders als in der Vernehmlassungsvorlage wird am Erfordernis der Unmittelbarkeit der schweren Beeinträchtigung ausdrücklich festgehalten. Somit können Angehörige nicht als Opfer anerkannt werden (Art. 2 Bst. d und e). Bei der Definition des Opfers ist somit eine Klarheit verschaffende einengende Präzisierung vorgenommen worden. Umgekehrt ist die Möglichkeit geschaffen worden, dass der Solidaritätsbeitrag in gewissen, eng umgrenzten Fällen auch noch nach dem Tod eines Opfers ausbezahlt werden kann.

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Absatz 6 schliesslich enthält den wichtigen Grundsatz, dass die Ausrichtung eines Solidaritätsbeitrags nicht dazu führen darf, dass diese Leistung an das Opfer aufgrund geltender steuer-, schuldbetreibungs-, sozialhilfe- und sozialversicherungsrechtlicher Normen wieder geschmälert wird. In steuerrechtlicher Hinsicht kann dieser unerwünschte Effekt verhindert werden, indem die Solidaritätsbeiträge rechtlich als Genugtuungssummen nach Artikel 24 Buchstabe g des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 199024 über die direkte Bundessteuer und Artikel 7 Absatz 4 Buchstabe i des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 199025 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden behandelt werden. Im Ergebnis werden die Solidaritätsbeiträge für die Opfer so bei der Berechnung der Einkommenssteuer nicht beachtet (Bst. a). In schuldbetreibungsrechtlicher Hinsicht gilt, dass die Solidaritätsbeiträge den Genugtuungsleistungen nach Artikel 92 Absatz 1 Ziffer 9 des Bundesgesetzes vom 11. April 188926 über Schuldbetreibung und Konkurs gleichgestellt werden (Bst. b). Damit werden sie im Falle einer Betreibung unpfändbar und bleiben dem Opfer so in jedem Fall erhalten. Absatz 6 Buchstabe c betrifft schliesslich die Nichtberücksichtigung des Solidaritätsbeitrags bei der Berechnung von Ergänzungsleistungen zur AHV/IV sowie der Leistungen aus der Sozialhilfe.

Anders als bei der Sozialhilfe führt aber der explizite Vorbehalt von Artikel 11 Absatz 1 Buchstaben b und c des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 200627 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG) dazu, dass der Solidaritätsbeitrag nur beim Vermögen (mit einem allfälligen Zinsertrag), nicht jedoch bei den Leistungen nach Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe d ELG berücksichtigt wird.

Art. 5

Gesuche

Absatz 1 sieht für die Einreichung von Gesuchen um einen Solidaritätsbeitrag eine Frist von zwölf Monaten vor. Die Gesuche können nach der Verabschiedung der Vorlage durch die eidgenössischen Räte beim Delegierten für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen eingereicht werden. Den gesuchstellenden Personen steht praktisch gesehen also eine länger als zwölf Monate dauernde Frist offen. Von der gesetzlichen Frist kann nicht abgewichen werden. Ihre grundsätzliche Einhaltung ist von zentraler Bedeutung, denn die Anzahl der bis zum Ablauf dieser Frist insgesamt eingegangenen Gesuche dient als Grundlage zur Berechnung und der daran anschliessenden fortlaufenden Ausrichtung der ersten Teilzahlung (vgl. Art. 7 Abs. 1) an die Opfer, deren Gesuche gutgeheissen worden sind. Die Gesuche müssen in einer Form eingereicht werden, die von der zuständigen Behörde noch zu definieren sein wird. Für Personen, deren Opfereigenschaft bereits im Rahmen des Gesuchsverfahrens für einen Beitrag aus der Soforthilfe anerkannt worden ist, kann auf dem Verordnungsweg ein vereinfachtes Verfahren eingeführt werden. Für die notwendige Bekanntmachung der Formen und Fristen kann im Übrigen auf die bereits im Rahmen der Soforthilfe erprobten Mittel zurückgegriffen werden (Ver24 25 26 27

SR 642.11 SR 642.14 SR 281.1 SR 831.30

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breitung in den Printmedien, Radio, Fernsehen, Netzwerke der Opfer und Betroffenen, Internetseite des Delegierten für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen28).

Anders als bei der Ausrichtung von Entschädigung und Genugtuung nach OHG, das in Anlehnung an das Sozialversicherungsrecht vom Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ausgeht, muss die gesuchstellende Person die Opfereigenschaft lediglich glaubhaft machen (Abs. 2). Die von ihr zu liefernden Angaben, Belege oder sonstigen Anhaltspunkte müssen der zuständigen Behörde erlauben, es als zumindest plausibel zu erachten, dass die gesuchstellende Person tatsächlich Opfer einer fürsorgerischen Zwangsmassnahme oder Fremdplatzierung vor 1981 ist. Mit der Beschränkung auf eine Glaubhaftmachung der Opfereigenschaft wird dem Umstand Rechnung getragen, dass aufgrund der lange zurückliegenden Ereignisse zwischenzeitlich oftmals Akten vernichtet worden oder zumindest nicht mehr mit verhältnismässigem Aufwand auffindbar sind. Indessen haben die Erfahrungen mit dem Soforthilfefonds gezeigt, dass es nur sehr selten Fälle gibt, in denen überhaupt keine dokumentierten Spuren mehr existieren, die Hinweise auf frühere angeordnete oder vollzogene Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen liefern können.

Art. 6

Prüfung der Gesuche und Entscheid

Absatz 1 betrifft die Zuständigkeit zur Prüfung der Gesuche sowie zum Entscheid über die Gewährung eines Solidaritätsbeitrags. Die zuständige Behörde sowie die Zusammensetzung der in Absatz 3 vorgesehenen beratenden Kommission wird vom Bundesrat bestimmt (Art. 18 Abs. 1 und 2). Bei der Behörde handelt es sich um eine bestehende Verwaltungseinheit, deren Aufgaben zeitlich begrenzt erweitert werden.

Damit die zuständige Behörde ihre Aufgabe uneingeschränkt wahrnehmen kann, hält Absatz 2 fest, dass sie besonders schützenswerte Personendaten nach Artikel 3 Buchstabe c des Bundesgesetzes vom 19. Juni 199229 über den Datenschutz (DSG) bearbeiten darf.

Um die Entscheide noch breiter abstützen und insbesondere auch um der Sichtweise und den Anliegen der Opfer gebührend Rechnung tragen zu können, hört die zuständige Behörde vor ihrem Entscheid die beratende Kommission (Abs. 3) an. Mit dem Entscheid zur Gewährung des Solidaritätbeitrags legt sie fest, wer als Opfer nach E-AFZFG gilt. Alle weiteren Rechte und Pflichten, die von dieser Opfereigenschaft abhängen (insb. die Gewährung der Soforthilfe und längerfristigen Hilfe nach Art. 14), basieren auf diesem Entscheid.

Mit der in Absatz 4 verankerten Frist wird gewährleistet, dass die Bearbeitung aller eingegangenen Gesuche möglichst rasch, d. h. bereits vier Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes, abgeschlossen werden kann. Diese eher kurze Frist, die erhebliche Anstrengungen zur rechtzeitigen Erledigung aller Gesuche erforderlich macht, soll deutlich machen, dass es nicht um die Schaffung einer Daueraufgabe geht. Sie ist auch aus Respekt vor den Opfern geboten, von denen viele schon relativ alt und gesundheitlich angeschlagen sind und deshalb nicht noch lange warten sollen. Sie 28 29

128

www.fuersorgerischezwangsmassnahmen.ch SR 235.1

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bringt zum Ausdruck, dass die Aufarbeitung ohne Verzug erfolgen und sich nicht über Jahre hinweg erstrecken soll.

Art. 7

Festlegung und Auszahlung

Eine der beiden wichtigsten Leitplanken bei der Ausgestaltung der Modalitäten in Bezug auf die Festlegung des Solidaritätsbeitrags und dessen Ausrichtung ist, dass möglichst rasch nach Ende der Frist zur Gesuchseinreichung gemäss Artikel 5 Absatz 1 damit begonnen werden kann, erste Auszahlungen an die Opfer vorzunehmen. Ebenso wichtig ist auch, sicherzustellen, dass der für die Finanzierung der Solidaritätslösung bereitgestellte Betrag zwar ausgeschöpft, aber in keinem Fall überschritten wird. Um diesen Zielen gerecht zu werden, schlägt Artikel 7 ein Verfahren vor, bei dem alle Opfer spätestens vier Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes den vollen Solidaritätsbeitrag erhalten haben. Ein sehr grosser Teil unter ihnen wird schon vorher, d. h. jeweils kurz nach Gutheissung ihres Gesuchs, eine substanzielle Teilzahlung erhalten, deren Höhe der Bundesrat gemäss Artikel 7 Absatz 2 und Artikel 19 Buchstabe b festlegt. Die zweite Teilzahlung folgt dann, wenn feststeht, wie viele der ursprünglich eingereichten Gesuche tatsächlich gutgeheissen werden können (vgl. Art. 7 Abs. 3).

Art. 8

Rechtsschutz

Die Feststellung der Opfereigenschaft durch die zuständige Behörde ergeht im Rahmen einer Verfügung im Sinne von Artikel 5 Absatz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 20. Dezember 196830. Ist die gesuchstellende Person mit der Ablehnung ihres Gesuches nicht einverstanden, so muss sie gemäss Absatz 1 Einsprache erheben. Danach kann mittels einer Beschwerde das Bundesverwaltungsgericht um letztinstanzliche Beurteilung des Einspracheentscheids angerufen werden, ausser wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt und somit der Weg ans Bundesgericht offensteht (vgl. hierzu die Ergänzung von Art. 83 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 um einen neuen Buchstaben w in Art. 20 Änderung anderer Erlasse). So kann zeitnah Klarheit und Rechtssicherheit im betreffenden Verfahren gewonnen werden.

Art. 9

Finanzierung und Zahlungsrahmen

Der Bundesrat hat in seinem Grundsatzentscheid vom 14. Januar 2015 den Auftrag erteilt, zu prüfen, ob allenfalls eine Mitfinanzierung der Solidaritätsbeiträge durch Dritte möglich und angezeigt ist. Zu denken ist in diesem Zusammenhang namentlich an die Kantone, aber auch an die Gemeinden, an die Kirchen, an den Bauernverband, an die Heimorganisationen und an die Pharmaindustrie. Auch wenn die Finanzierung grossmehrheitlich durch den Bund geleistet werden soll, sieht die Gesetzesvorlage eine freiwillige Mitfinanzierung ­ in erster Linie durch die Kantone ­ vor. So führt Absatz 1 die zur Finanzierung in Aussicht genommenen Quellen auf.

Die Finanzierung erfolgt in erster Linie durch den Bund. Es wird jedoch erwartet, 30

SR 172.021

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dass die Kantone sich auf freiwilliger Grundlage angemessen beteiligen. Als angemessene Beteiligung könnte eine Beteiligung im Umfang von etwa einem Drittel des Gesamtbetrags von 300 Millionen Franken betrachtet werden. Schliesslich ist denkbar, dass weitere freiwillige Zuwendungen aus anderen Quellen fliessen werden.

Eine obligatorische Mitfinanzierung durch die Kantone wäre mit langwierigen Diskussionen und Entscheidungsprozessen betreffend die Aufteilung zwischen den Kantonen und innerhalb der Kantone verbunden. Dies würde den Aufarbeitungsprozess erheblich verzögern. Auf eine verpflichtende Mitfinanzierung durch die Kantone wird zudem verzichtet, da die im VE-AFZFG vorgeschlagene Lösung angesichts der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens als sinnvoller Kompromiss erscheint: Die Mehrheit der Kantone steht einer freiwilligen Beteiligung skeptisch gegenüber oder lehnt sie ab, während weitere Vernehmlassende eine obligatorische Beteiligung wünschen. Die SODK als zuständige Direktorenkonferenz befürwortet die Aufteilung gemäss VE-AFZFG.

Der Verzicht auf eine obligatorische Mitfinanzierung durch die Kantone rechtfertigt sich auch deshalb, weil diese in anderer Weise erheblich zum Aufwand für die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 beitragen. Dies insbesondere durch die ­ bereits erfolgte ­ Mitfinanzierung der Soforthilfe im Umfang von mehr als 5 Millionen Franken, durch die Schaffung von Zeichen der Erinnerung, durch die Aufbereitung der Akten und die Unterstützung der Betroffenen durch die kantonalen Archive sowie durch die Arbeit der kantonalen Anlaufstellen. Für die Beratung der Betroffenen und die Unterstützung bei der Suche nach Akten werden die meisten kantonalen Anlaufstellen neue Stellen schaffen müssen. Der Kanton Freiburg geht beispielsweise von rund fünf zusätzlich erforderlichen Vollzeitstellen aus. Auch für die Leistung von Soforthilfe und längerfristiger Hilfe im Sinne des OHG an die Opfer werden die Kantone finanzielle Aufwendungen machen müssen.

Weil der Entscheid über die Gewährung eines Solidaritätsbeitrags und dessen Auszahlung in der Regel in das gleiche Jahr fallen werden, ist zur übergeordneten Steuerung der Finanzierung ein Zahlungsrahmen gemäss Artikel 20 des Finanzhaushaltgesetzes vom 7. Oktober 200531 (FHG) vorzusehen
(Abs. 2). Zur Beanspruchung des Zahlungsrahmens müssen mit dem Budget und seinen Nachträgen die nötigen Zahlungskredite bewilligt werden. Reicht der mit dem Voranschlag für ein bestimmtes Jahr bewilligte Kredit nicht aus, so müsste zusammen mit dem Nachtrag I oder II ein Nachtragskredit beantragt werden. Verbleibt hingegen ein Kreditrest, so kann dieser nötigenfalls vom Bundesrat mittels Kreditübertragung auf das Folgejahr übertragen werden (Art. 36 FHG).

Das Ausweisen der Zuwendungen Dritter gemäss Absatz 1 Buchstaben b und c in der Rechnung des Bundes als Ertrag ermöglicht es, den Stand der Auszahlungen im Verhältnis zu dem im Zahlungsrahmen festgelegten Gesamtbetrag auf einfache Art zu überwachen. Weil die Zuwendungen Dritter zudem zweckgebunden im Sinne von Artikel 53 FHG sind, werden sie bei der Rechnungslegung wie eine Spezialfinanzierung behandelt. Dies stellt sicher, dass jederzeit Transparenz besteht über den

31

130

SR 611.0

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erreichten Stand der Auszahlungen und über die Beanspruchung der Finanzierungsquellen (Abs. 3).

3. Abschnitt: Archivierung und Akteneinsicht Art. 10

Archivierung

In der Vergangenheit sind teilweise Akten über fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 z. B. im Rahmen von «Archivbereinigungen» bei Umzügen, Änderungen der Zuständigkeit oder auch in Anwendung gewisser datenschutzrechtlicher Vorschriften (etwa aufgrund des Ablaufs einer bestimmten Aufbewahrungsfrist) vernichtet worden. Es ist deshalb sowohl für die Opfer bei der Suche nach ihren Akten als auch für die wissenschaftliche Aufarbeitung zentral, dass sämtliche Akten ­ soweit sie nicht bereits vernichtet worden sind ­ gesichert, korrekt aufbewahrt und erschlossen werden. Nur so bleibt die Möglichkeit erhalten, dass die Opfer und Forschende darin Einsicht nehmen können und auf diese Weise Zugang zur Vergangenheit erhalten. Die im Entwurf vorgeschlagene Regelung entspricht im Wesentlichen derjenigen im Bundesgesetz zur Rehabilitierung der administrativ versorgten Menschen, erweitert deren Geltungsbereich aber auf alle anderen Betroffenengruppen. Im Übrigen kann damit auch den entsprechenden Empfehlungen des Runden Tisches Rechnung getragen werden.32 Die Einzelheiten der administrativen Aufbewahrung, das heisst die Details zur Dauer sowie zur Ausgestaltung der Modalitäten der Aufbewahrung der Akten bei den sie produzierenden Stellen wird der Bundesrat regeln (Abs. 1). Falls es zu Widersprüchen zwischen dieser Regelung und kantonalen Regelungen kommen sollte, geht nach den allgemein geltenden Kollisionsregelungen das Bundesrecht vor.

Für die betroffenen Personen besonders wichtig ist zudem die Regel, dass die Behörden die Akten nicht für Entscheide zulasten der Betroffenen heranziehen dürfen (Abs. 2). Als Betroffene gelten hier die in Artikel 2 Buchstabe c definierten Menschen. Dieser Grundsatz gilt für jegliche Behörden und Verfahren ­ administrativ und strafrechtlich ­ und ist bereits im Bundesgesetz zur Rehabilitierung der administrativ versorgten Menschen vorgesehen. Allerdings gilt er nicht für das Verfahren zur Gewährung eines Solidaritätsbeitrags, da das Erfordernis der Einreichung von Akten sonst ins Leere laufen würde.

Absatz 3 führt eine Schutzfristenregelung für Akten mit Personendaten ein. Diese muss den berechtigten Interessen der Betroffenen, ihrer Angehörigen und von Forschenden Rechnung tragen. Die Kantone sind auch für die Schutzfristen auf kommunaler Ebene
verantwortlich. Während der laufenden Schutzfrist können die Akten nur von bestimmten Personen oder nur bei Vorliegen besonderer Umstände eingesehen werden (vgl. Art. 11 Abs. 3).

Die Regelung von Absatz 4 bezieht sich in erster Linie auf private Archive. Das Bundesrecht erklärt die kantonalen Regelungen, die normalerweise nur für staatliche 32

Vgl. Bericht und Massnahmenvorschläge des Runden Tisches, 2014, Teil B, insb.

Ziff. 3.1 und 3.3.

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Archive gelten, im Bereich der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ausnahmsweise auch für die privaten Archive als anwendbar. Bei Bedarf können diese hierzu die kantonalen Archive um Unterstützung angehen (Art. 12 Abs. 2). Hinsichtlich der Kirche ist hier an Archive der Pfarreien, Diözesen, Ordensgemeinschaften etc. zu denken, während die Archive der Kirchgemeinden und Kantonalkirchen dem öffentlichen Recht unterstellt und somit bereits unter Absatz 1 zu subsumieren sind. Weiter fallen darunter beispielsweise die Archive von Heimen.

Art. 11

Akteneinsicht

Grundsätzlich liegt die Verfügungsgewalt über die Akten der von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffenen Menschen bei den Vollzugsbehörden, d. h. bei den Kantonen und Gemeinden, und teilweise auch bei privaten Archiven. Indessen kann der Bund aufgrund seiner Gesetzgebungszuständigkeit zur Regelung dieser Materie eine besondere Datenschutz- bzw. Akteneinsichtsregelung erlassen, die sowohl für die zuständigen Bundesbehörden als auch für die mit dem Vollzug des Bundesrechts beauftragten kantonalen Behörden und Institutionen verbindlich ist.

Absatz 1 legt in diesem Zusammenhang fest, dass Betroffenen ein einfacher und kostenloser Zugang zu allen sie betreffenden Akten zu gewähren ist. Nach ihrem Tod steht dieses Recht ihren Angehörigen zu.

Dasselbe Akteneinsichtsrecht wird nach Absatz 2 des Gesetzesentwurfs auch forschenden Personen gewährt, soweit dies für wissenschaftliche Zwecke erforderlich ist. Dieses Erfordernis schliesst «Hobbyforscher» aus und bedeutet, dass die forschende Person wissenschaftlich tätig sein muss. Absatz 3 nennt die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen ausnahmsweise während laufender Schutzfrist Akteneinsicht gewährt werden kann. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die betroffene Person («Betroffene» im Sinne von Art. 2 Bst. c) selber um Einsicht in ihre Akten ersucht (Bst. a), die Person in die Bekanntgabe an Dritte einwilligt (Bst. b) oder eine Behörde diese Akten für die Erfüllung gesetzlicher Aufgaben benötigt (Bst. d). Die Einführung von Schutzfristen sowie eine allfällige Vorgabe zu nicht personenbezogener Forschung (Bst. c) gilt dem Schutz von Betroffenen und nicht von Verantwortlichen oder gar Tätern. Es ist essenziell, dass die wissenschaftliche Forschung Verantwortung und damit auch Verantwortliche benennen kann. Selbstverständlich ist die Einhaltung von anderen geltenden Rechten und Rechtsprinzipien, wie beispielsweise dem Recht, eine Anonymisierung verlangen zu können, oder der Pflicht der Behörde, eine Güterabwägung der sich gegenüberstehenden Interessen vornehmen zu müssen (auch bei Bst. e). Unberechtigten Dritten bleibt der Zugang während der gesamten Schutzfrist verwehrt.

Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft schliesslich Akten, deren Inhalte aus der Sicht der Betroffenen falsch oder unvollständig sind. Die Regelung in Absatz
4 stellt klar, dass Betroffene zwar in geeigneter Form in ihren Akten vermerken lassen können, wenn deren Inhalt aus ihrer Sicht strittig oder unrichtig ist. Sie haben auch das Recht, den Akten eine Gegendarstellung beizufügen; bei dessen Ausfertigung können die Betroffenen in der Regel auf die Unterstützung des betreffenden Archives

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zählen. Es besteht indessen kein Rechtsanspruch auf eine Herausgabe, Berichtigung oder gar Vernichtung von Akten. Diese müssen vielmehr im Eigentum der Archive bleiben und unzulängliches oder gar unrechtes staatliches Handeln zuhanden der nachfolgenden Generationen dokumentieren.

Art. 12

Unterstützung durch die kantonalen Archive

Bereits heute unterstützen die kantonalen Archive einzelne Betroffene und kantonale Anlaufstellen mit Erfolg bei der Suche nach Akten. Diese wertvolle Dienstleistung soll auch in Zukunft genutzt werden können. Als «weitere staatliche Archive» sind in erster Linie die Gemeindearchive gemeint (Abs. 1). Im Weiteren sollen die kantonalen Archive neben den Betroffenen und deren Angehörigen bei Bedarf auch die weiteren staatlichen Archive sowie diejenigen mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen vor 1981 befassten Institutionen bzw. deren Archive (Art. 10 Abs. 4) bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen unterstützen, die bisher nach kantonalem Recht nicht den kantonalen Informations-, Datenschutzoder Archivgesetzgebungen unterstanden (Abs. 2).

Art. 13

Sparguthaben von Betroffenen

Es kann davon ausgegangen werden, dass einzelne Opfer oder Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 seinerzeit über ein Sparbüchlein oder ein sonstiges Sparguthaben bei einer Bank oder einer Sparkasse verfügten. Allerdings ist es nicht zuletzt aufgrund der grossen zeitlichen Distanz zu den früheren Ereignissen und der daraus resultierenden äusserst dürftigen Akten- und Beweislage häufig unklar, was mit diesen Sparguthaben geschehen ist (insb. ob sie von den damaligen Vollzugsbehörden zur Deckung der Lebenshaltungskosten des Opfers verwendet worden sind). Zum Schutze fremdplatzierter Kinder wurde diesen oft der Familienname der Pflegefamilie gegeben, was bei Beendigung einer Platzierung zu einer erneuten Namensänderung beim Kind führen konnte. Entsprechend haben betroffene Kinder teilweise nacheinander verschiedene Familiennamen getragen. Diesem Umstand muss bei der Suche nach entsprechenden Sparguthaben, die allenfalls auf einen anderen Namen lauten als jenen der um Abklärung ersuchenden Person, wohlwollend Rechnung getragen werden. Weiter ist auch offen, wie viele Personen das heute überhaupt noch betrifft und welches Gesamtvolumen diese Sparguthaben allenfalls noch haben. Beim Delegierten für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen haben sich bis zum Herbst 2015 nur wenige Betroffene gemeldet. Um den Betroffenen angesichts dieser Situation eine gewisse Hilfestellung zu leisten, sollen sowohl staatliche wie auch private Archive auf Ersuchen Betroffener und, nach deren Tod, ihrer Angehörigen hin abklären, ob in ihren Aktenbeständen Informationen zu solchen Sparguthaben vorhanden sind (Abs. 1). Falls sich aufgrund der Abklärungen Hinweise darauf ergeben sollten, dass bei einer bestimmten Bank oder Sparkasse solche Sparguthaben vorhanden waren, ist diese bzw. deren Rechtsnachfolgerin verpflichtet, auf Ersuchen von Betroffenen und, nach deren Tod, von ihren Angehörigen die erforderlichen Abklärungen unentgeltlich vorzunehmen (Abs. 2). Mit dieser Regelung wird dem am 19. März 2015 von Nationalrätin Schneider Schüttel eingereichten Postulat 15.3202 «Auffinden der Sparhefte von Opfern fürsorgerischer Zwangs133

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massnahmen» Rechnung getragen, das am 29. April 2015 vom Bundesrat zur Annahme empfohlen und am 21. September 2015 vom Nationalrat angenommen wurde.

4. Abschnitt: Beratung und Unterstützung durch kantonale Anlaufstellen Art. 14 Auf Initiative der SODK haben die Kantone im Jahr 2013 Anlaufstellen eingerichtet, die den Opfern und anderen Betroffenen seither Beratung und ­ meist in Zusammenarbeit mit den kantonalen Archiven ­ Hilfe bei der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte bieten. Diese Anlaufstellen hören den Betroffenen zu, wenn sie ihre belastenden Erlebnisse mitteilen wollen, und beraten und unterstützen sie und ihre Angehörigen bei der Beurteilung ihrer persönlichen Situation sowie in administrativen Belangen. Bei Bedarf vermitteln sie auch Kontakte zu weiteren Fachleuten oder Institutionen. Weil sich die Arbeit der kantonalen Anlaufstellen bewährt hat und von allen Beteiligten geschätzt wird, sieht der Gesetzesentwurf ­ gemäss Massnahmenvorschlag des Runden Tisches33 ­ eine Weiterführung der Beratung durch die Anlaufstellen für die Betroffenen und ihre Angehörigen vor. Die Arbeit dieser Anlaufstellen soll nun auf eine rechtliche Grundlage gestellt werden. Eine betroffene Person, der im Rahmen der Gewährung des Solidaritätsbeitrags von der zuständigen Behörde die Opfereigenschaft zuerkannt worden ist, erhält bei Bedarf Soforthilfe sowie längerfristige Hilfe im Sinne von Artikel 2 Buchstaben a und b OHG. Explizit ausgenommen sind somit Kostenbeiträge nach Artikel 2 Buchstabe c OHG. Die weiteren im OHG vorgesehenen Grundsätze wie Subsidiarität (Art. 4 OHG) und Regress (Art. 7 OHG) sind anwendbar. Damit der Anspruch entsteht, ist ausschliesslich die Erfüllung der Voraussetzung der Opferdefinition gemäss E-AFZFG und nicht des OHG ausschlaggebend. Es ist möglich, dass betroffene Personen gleichzeitig die Opferdefinition des E-AFZFG und des OHG erfüllen. Falls diese Opfer kein Gesuch um Gewährung eines Solidaritätsbeitrags einreichen, fallen sie ausschliesslich unter den Anwendungsbereich der Soforthilfe und längerfristigen Hilfe nach OHG. Da aber davon ausgegangen wird, dass weitgehend alle Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981, die sich als Opfer sehen, ein entsprechendes Gesuch um einen Solidaritätsbeitrag stellen dürften, wird es sich hierbei um einen verschwindend kleinen Kreis von Personen handeln.

Es wird den Anlaufstellen obliegen zu entscheiden, in welchen Fällen sie ein Gesuch um Soforthilfe
oder längerfristige Hilfe als aussichtsreich errachten. Sie können dann bei der zuständigen Behörde im Sinne eines Vorabentscheidungsverfahrens einen Entscheid über die Opferqualität der gesuchsstellenden Person erwirken, damit die Soforthilfe oder längerfristige Hilfe bei einem positiven Entscheid gewährt werden kann. Dass die angebotene Soforthilfe und längerfristige Hilfe im Sinne von Artikel 2 Buchstaben a und b OHG zu gewähren sind, bedeutet, dass die Angebote entsprechend anzupassen sind (bspw. fehlendes Erfordernis einer Straftat). Konkret 33

134

Vgl. Bericht und Massnahmenvorschläge des Runden Tisches, 2014, Teil B, Ziff. 2.2.

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sollen diese Leistungen angemessene medizinische, psychologische, soziale und juristische, aber allenfalls auch materielle Hilfe beinhalten. Weiter ist vorgesehen, dass die Anlaufstellen Betroffene bei der Vorbereitung und Einreichung ihrer Gesuche um Gewährung eines Solidaritätsbeitrags unterstützen können (Abs. 2). Diese Terminologie wurde gewählt, weil zum Zeitpunkt der Gesuchseinreichung die Opfereigenschaft noch nicht feststeht. Für viele Betroffene wird dies eine grosse Hilfe sein. Eine gute Gesuchsvorbereitung dient aber auch einer speditiven und effizienten Bewältigung der zu erwartenden beträchtlichen Anzahl Gesuche. Die Anlaufstellen halfen bereits vielen Betroffenen bei der Vorbereitung und Einreichung von Beitragsgesuchen an den im April 2014 geschaffenen Soforthilfefonds.

Um die Dienstleistungen an den Betroffenen und den Opfern nach E-AFZFG auszuweisen, sind die Anlaufstellen angehalten, separate Rubriken in ihrer Statistik aufzunehmen.

Absatz 3 enthält die an Artikel 15 Absatz 3 OHG angelehnte Regelung, wonach Betroffene und ihre Angehörigen eine Anlaufstelle nach Wahl aufsuchen können.

Für die Kostentragung dieser interkantonalen Fälle wird denn auch auf Artikel 18 Absatz 2 OHG verwiesen (Abs. 4). Vereinbaren die Kantone keine expliziten Regelungen, so gilt die zwischen zwei Kantonen vereinbarte Regelung; ist dies nicht der Fall, kommt der Pauschalbeitrag nach Artikel 4 Absatz 2 der Opferhilfeverordnung vom 27. Februar 200834 zum Zug. Er beträgt zurzeit 1206 Franken.

5. Abschnitt: Wissenschaftliche Aufarbeitung und Öffentlichkeitsarbeit Art. 15

Wissenschaftliche Aufarbeitung

Die wissenschaftliche Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ist einer der zentralen Pfeiler des gesamten Aufarbeitungsprozesses und auch ein wichtiges Anliegen der Wiedergutmachungsinitiative. Die aus der wissenschaftlichen Aufarbeitung gewonnenen und der Bevölkerung zur Kenntnis gebrachten Ergebnisse sollen insbesondere dazu beitragen, zu verstehen, weshalb und wie die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen angeordnet und vollzogen worden sind und welche Auswirkungen sie auf die Betroffenen und ihr Umfeld hatten und immer noch haben.

Im Hinblick auf einen raschen Beginn der breit abgestützten Forschungsarbeiten hat der Bundesrat einerseits am 5. November 2014 die UEK eingesetzt, welche die administrativen Versorgungen vor 1981 sowie deren Bezüge zu den übrigen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen untersuchen soll (vgl. Art. 5 des Bundesgesetzes vom 21. März 2014 über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen). Andererseits hat das SBFI den SNF am 1. Oktober 2015 damit beauftragt, gestützt auf die von ihm gemachte Machbarkeitsstudie die Ausschreibungsunterlage zu einem NFP vorzubereiten, das sich in vertiefter Weise mit den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen befasst. Der Bundesrat wird spätestens im ersten Quartal 2017 über die Lancierung des vorgeschlagenen NFP entscheiden können. Dieses NFP soll so ausgestaltet sein, dass die 34

SR 312.51

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Thematik umfassend und mit interdisziplinären Ansätzen untersucht wird. Durch eine enge Kooperation der beiden Forschungsvorhaben und durch eine gegenseitige optimale Abstimmung ihrer Forschungsschwerpunkte (formalisierte Zusammenarbeit) soll sichergestellt werden, dass die Arbeiten zügig und ohne Doppelspurigkeiten geleistet werden können.

In das E-AFZFG sollen auch ­ wenn immer möglich ­ die bisherigen Regelungen des Bundesgesetzes vom 21. März 2014 über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen übernommen werden. Die in den Absätzen 2 und 3 aufgeführten Regelungen für die UEK wuden vom oben genannten Rehabilitierungsgesetz übernommen, das mit Inkrafttreten des E-AFZFG aufgehoben werden kann.

Aufgrund der in Artikel 22 DSG enthaltenen Regelung zur Datenbearbeitung für Forschung, Planung und Statistik bedürfen die UEK und die weiteren Träger der wissenschaftlichen Aufarbeitung zur Erfüllung ihrer Aufgabe keiner materiellrechtlichen Ermächtigungsgrundlage.

Die zuständige Behörde wird in Zusammenarbeit mit der UEK und anderen Trägern der wissenschaftlichen Aufarbeitung dafür sorgen, dass die aufbereiteten Forschungsergebnisse der Bevölkerung in geeigneter Form zur Kenntnis gebracht werden (Abs. 4). Dies kann insbesondere auf drei Ebenen durchgeführt werden (Abs. 5): erstens mit Medienproduktionen (z. B. Bild, Ton, Schrift), Ausstellungen und Vorträgen (Bst. a), zweitens durch die Vermittlung an der obligatorischen Schule und den Schulen der Sekundarstufe II (Bst. b). Diese umfassen neben den Berufsfachschulen die Fachmittelschulen und gymnasialen Maturitätsschulen. Und drittens durch ein besonderes Augenmerk auf die Sensibilisierung der Öffentlichkeit, der Behörden, Institutionen und Privatpersonen, die nach geltendem Recht mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen befasst sind (Bst. c).

Dass der Bund den Kantonen die Forschungsergebnisse der wissenschaftlichen Aufarbeitung zu diesem Thema zur Verfügung stellt und sie bei der Aufbereitung und Verarbeitung der Thematik (auch in Lehrmitteln) unterstützt, ist unter Einhaltung der Kompetenzzuweisungsregeln selbstverständlich. Damit wird auch deutlich gemacht, dass es nicht nur darum geht, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Es sollen insbesondere auch Lehren für die Gegenwart und die Zukunft gezogen werden.

Art. 16

Zeichen der Erinnerung

Der Gesetzesentwurf sieht als eine der Massnahmen gegen das Vergessen die Errichtung von Zeichen der Erinnerung an öffentlich zugänglichen Orten vor. Dies entspricht einem Massnahmenvorschlag des Runden Tisches.35 Die Aufgabe ist so formuliert, dass der Bund sich dafür einsetzt, dass die Kantone entsprechende Zeichen Denk- oder Mahnmale, das Anbringen von Gedenk- und Informationstafeln oder permanente Ausstellungen in Heimen, Anstalten, Museen oder anderen öffentlichen und privaten Einrichtungen schaffen. Aufgrund der gewählten Formulierung können die Kantone bei Bedarf hierfür auch Gelder aus den kantonalen Lotteriefonds verwenden. Diese Zeichen der Erinnerung sollen dazu beitragen, dass das erlittene Unrecht und Leid im Bewusstsein der Öffentlichkeit bleibt und der Opfer 35

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Vgl. Bericht und Massnahmenvorschläge des Runden Tisches, 2014, Teil B, Ziff. 1.

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gedacht wird, und sie sollen dafür sensibilisieren, dass solches Unrecht nie wieder geschehen darf.

Die Kantone waren stärker in die Anordnung und den Vollzug der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 involviert als der Bund. Sie kennen die lokalen bzw. regionalen Verhältnisse und Bedürfnisse besser. Zudem liegen sowohl das Raumplanungs- wie das Baurecht, die bei der Schaffung von Zeichen der Erinnerung regelmässig zur Anwendung gelangen dürften, in ihrem Kompetenzbereich.

6. Abschnitt: Weitere Massnahmen Art. 17 Dieser Artikel räumt der zuständigen Behörde die Möglichkeit ein, bei Bedarf neben den bisher erwähnten auch noch weitere Massnahmen im Interesse der Betroffenen zu ergreifen. Die Bestimmung zeigt mit den beiden in den Buchstaben a und b erwähnten Massnahmen auf, um was es gehen kann:

36

­

Im Rahmen der Anordnung bzw. des Vollzugs der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen wurden viele Personen aus ihrem familiären Rahmen gerissen, indem sie in Heimen oder bei Pflege- und Kostfamilien platziert wurden oder in gewerbliche oder landwirtschaftliche Betriebe verdingt wurden. Nicht selten kam es bei diesen Fremdplatzierungen auch zur Trennung von Geschwistern, die sich zum Teil bis heute nicht wieder gefunden haben. Auch von sogenannten «Zwangsadoptionen» Betroffene (unter Druck erfolgte Kindswegnahme und Freigabe zur Adoption) suchen teilweise noch nach der leiblichen Mutter bzw. den weggenommenen Kindern. Es gibt deshalb nach wie vor Fälle, in denen Betroffene und Opfer «verlorene» Familienangehörige suchen. Buchstabe a ermöglicht es der zuständigen Behörde, die Einrichtung einer Plattform für Suchdienste zu unterstützen, die Betroffene bei ihren Suchbemühungen assistieren können.

­

Vielen Betroffenen fehlen gegenwärtig auf ihre spezifischen Informationsbedürfnisse und Weiterentwicklungsmöglichkeiten zugeschnittene Angebote. Diese können insbesondere den Erfahrungsaustausch, die persönliche oder berufliche Weiterbildung oder die bessere Entfaltung des vorhandenen beruflichen Potenzials (Hilfe zur Selbsthilfe) betreffen. Entsprechend soll der zuständigen Behörde die Möglichkeit geboten werden, bestimmte Projekte von Opfer- oder Betroffenenorganisationen zu fördern (Bst. b).36

Vgl. Bericht und Massnahmenvorschläge des Runden Tisches, 2014, Teil B, Ziff. 7.3 und 7.4.

137

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7. Abschnitt: Vollzug Art. 18

Zuständige Behörde und beratende Kommission

Die zuständige Behörde im Sinne dieses Gesetzes wird vom Bundesrat bestimmt.

Sie muss leistungsfähig und insbesondere in der Lage sein, effizient und zeitgerecht eine grosse Anzahl von Gesuchen für einen Solidaritätsbeitrag mit der notwendigen Sensibilität zu behandeln, über die Gesuche zu entscheiden und ­ sofern diese bewilligt werden ­ die Beiträge auszuzahlen. Sie muss zudem auch in der Lage sein, allfällige Einsprachen gegen abgelehnte Gesuche zu erledigen und in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht Stellung zu nehmen. Schliesslich muss sie auch dafür besorgt sein, im Zusammenwirken mit der Forschung die Ergebnisse der wissenschaftlichen Aufarbeitung bekannt zu machen sowie weitere Massnahmen zu treffen (vgl. Art. 17). Die zu erwartende Anzahl der Gesuche um einen Solidaritätsbeitrag, der eher kurz bemessene Zeitraum, innert dem die Behörde die Gesuchsbearbeitung abgeschlossen haben muss (vier Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes, vgl. Art. 6 Abs. 4), und die erwähnte Befassung der Behörde mit zusätzlichen Aufgaben erfordern eine Behördenorganisation, die sich rasch verändernden Verhältnissen anpassen kann. Im Vordergrund steht deswegen die temporäre Schaffung einer speziellen Verwaltungseinheit (Fachbereich, Dienst) innerhalb eines bestehenden Bundesamts, die auf bereits vorhandene Ressourcen (insb. Räumlichkeiten, Informatik, Dokumentation) abstellen und rasch die notwendigen personellen Ressourcen auf- und wieder abbauen kann.

Die Einsetzung einer beratenden Kommission (Abs. 2) soll dazu beitragen, dass in den Entscheiden der zuständigen Behörde insbesondere die Anliegen und die Sichtweise der Opfer und anderer Betroffener gebührend berücksichtigt werden. Es handelt sich hierbei um eine zeitlich befristete Expertengruppe nach Artikel 57 Absatz 1 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 199737 (RVOG) und nicht um eine ständige ausserparlamentarische Kommission nach Artikel 57a ff. RVOG. Es werden darin sowohl Expertinnen und Experten wie auch Opfer und andere Betroffene vertreten sein. Zudem soll einer ausgewogenen Zusammensetzung (Geschlecht, Sprache, Region) Beachtung geschenkt werden.

Art. 19

Ausführungsbestimmungen

Ein Regelungsbedarf auf Stufe Ausführungsverordnung ergibt sich für den Bundesrat in Bezug auf das Verfahren zur Einreichung und Behandlung der Gesuche (Bst. a), bei den Modalitäten der Festlegung der Höhe des Solidaritätsbeitrags bzw.

der Teilzahlungen (Bst. b) sowie bei der Finanzierung und Umsetzung der weiteren Massnahmen nach Artikel 17 (Bst. c).

Art. 20

Aufhebung und Änderung anderer Erlasse

Die aufgrund des Inkrafttretens dieses Gesetzes notwendigen Änderungen in anderen Erlassen beschränken sich auf das Bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005. Das Verfahren ist so ausgestaltet, dass die gesuchstellende Person bei einem ablehnenden 37

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SR 172.010

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Entscheid diesen zwei Mal überprüfen lassen kann: ein erstes Mal mittels Einsprache und ein zweites Mal mittels Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Eine Weiterzugsmöglichkeit an das Bundesgericht erscheint nicht angezeigt, ausser bei Vorliegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung oder eines aus anderen Gründen bedeutenden Falles. Der Zugang zum Bundesgericht sollte entsprechend im Sinne einer Gegenausnahme für alle grundlegenden Rechtsfragen oder für sonst besonders bedeutende Fälle offen stehen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Entscheid für die Praxis wegleitend sein kann und von ihrer Tragweite her nach einer höchstrichterlichen Klärung ruft. Speziell gilt dies, wenn grundsätzliche Fragen zu klären sind, die in einer Vielzahl von Fällen in gleicher oder ähnlicher Art und Weise aufgeworfen werden. Entsprechend muss der Katalog der Ausschlussgründe im Bundesgerichtsgesetz angepasst werden (Art. 83 Bst. w). Hingegen können aufgrund der in Artikel 4 Absatz 6 E-AFZFG gewählten Formulierungen Anpassungen im Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer sowie im Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden vermieden werden. Dasselbe gilt für das Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz und das ELG.

Das Rehabilitierungsgesetz kann mit Inkrafttreten des E-AFZFG aufgehoben werden.

Art. 21

Referendum und Inkrafttreten

Artikel 21 ist so formuliert, dass das Gesetz im Falle des Nichtergreifens oder Nichtzustandekommens eines Referendums so rasch als möglich in Kraft tritt (am ersten Tag des dritten Monats nach Ablauf der Referendumsfrist). Dies ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil viele Opfer sich heute schon in einem weit fortgeschrittenen Alter befinden oder gesundheitlich sehr angeschlagen sind. Mit einer schnellen Inkraftsetzung können möglichst viele davon die offizielle Anerkennung des Unrechts und die Wiedergutmachung noch erleben.

3.4

Auswirkungen

3.4.1

Auswirkungen auf den Bund

3.4.1.1

Finanzielle Auswirkungen

Direkte Mehrkosten für den Bund entstehen einerseits durch die Finanzierung der Solidaritätsbeiträge. Hierzu muss der Bund während eines Zeitraums von vier Jahren (voraussichtlich ab Mitte 2017 bis Mitte 2021) einen Betrag von maximal 300 Millionen Franken aufwenden. Dieser Betrag fällt geringer aus, wenn die Solidaritätsbeiträge teilweise durch freiwillige Zuwendungen (insb. der Kantone) finanziert werden können. Für die Behandlung der zu erwartenden Gesuche (auszugehen ist von etwa 12 000­15 000 Gesuchen) sind zudem Folgekosten namentlich für den Personal- und Sachaufwand einzurechnen.

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3.4.1.2

Personelle Auswirkungen

Damit die Gesuche um einen Solidaritätsbeitrag innert des vorgesehenen Zeitraums fristgerecht geprüft und entschieden und damit die Beiträge ausbezahlt werden können, benötigt die zuständige Behörde zeitlich begrenzt ausreichend Personal und die notwendige Infrastruktur. Als Vergleichswert kann die Situation bzw. der Personal- und Sachaufwand bei der Gesuchsbearbeitung für die Soforthilfe herangezogen werden. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass bei der Ausrichtung der Solidaritätsbeiträge ­ im Unterschied zum Soforthilfefonds ­ die Möglichkeit zur Ergreifung von Rechtsmitteln gegen ablehnende Entscheide besteht. Auch muss die Auszahlung von der zuständigen Behörde veranlasst, kontrolliert und dokumentiert werden (beim Soforthilfefonds macht dies teilweise die Glückskette). Ausgehend von 15 000 Gesuchen, die innerhalb von vier Jahren bearbeitet werden sollen, ist insgesamt mit einem Personalaufwand im Umfang von maximal neun Vollzeitstellen zu rechnen (Juristen, Sachbearbeiter, Buchhalter, Logistik und Sekretariat). Über einen Zeitraum von vier Jahren gerechnet erfordert das zusätzliche finanzielle Mittel im geschätzten Umfang von etwa sechs Millionen Franken (Vollkostenrechnung inkl.

Arbeitsplatzkosten).

Die Schaffung der beratenden Kommission hat keine Auswirkungen auf den Personalbestand, da sie als zeitlich befristete Expertengruppe nach Artikel 57 Absatz 1 RVOG ausgestaltet ist.

3.4.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

Die Kantone haben im Rahmen der freiwilligen Soforthilfe bereits wesentlich zur Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen beigetragen. Der Soforthilfefonds ist hauptsächlich durch die Kantone finanziert worden, und die Anlaufstellen haben die Opfer bei der Gesuchstellung unterstützt.

Zudem haben die Anlaufstellen die Betroffenen bei der Suche in den kantonalen Archiven unterstützt. Die kantonalen Archive haben sodann einen kostenlosen Zugang zu den notwendigen Akten angeboten und die Betroffenen bei der Aktensuche beraten und unterstützt.

Die Vorlage sieht eine Ausweitung dieser Dienstleistungen vor. Die Anlaufstellen gewähren neben der Beratung und Unterstützung bei der Suche in den Archiven die Beratung der Betroffenen und Soforthilfe und längerfristige Hilfe im Sinne des OHG für Opfer nach E-AFZFG. Die kantonalen Archive sorgen für den Archivzugang und weitere Unterstützung bei der Aktensuche und -sichtung. Diese Massnahmen werden für die Kantone zu einem erheblichen administrativen, organisatorischen und finanziellen Mehraufwand führen. Dazu kommen Ausgaben für die Schaffung von Zeichen der Erinnerung.

Von den Kantonen wird eine freiwillige Mitfinanzierung der Solidaritätsbeiträge erwartet. Angestrebt wird eine Beteiligung im Umfang von etwa einem Drittel des Gesamtbetrags, d. h. von etwa 100 Millionen Franken.

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BBl 2016

3.4.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft und die Gesellschaft

Aufgrund der in Artikel 13 Absatz 2 vorgesehenen unentgeltlichen Abklärungen der Banken in Zusammenhang mit der Suche nach Sparguthaben wird für diese ein geringfügiger Mehraufwand resultieren. Die Wiedergutmachung leistet im Übrigen auch einen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration von lange Zeit marginalisierten Personen. Sie kann sich auch auswirken auf deren Gesundheit, verbunden mit den entsprechenden positiven Folgen betreffend die Gesundheitskosten und ­ bei den jüngeren Betroffenen ­ die Arbeitsfähigkeit. Neben der Wiedergutmachung für die einzelnen Betroffenen hat die Vorlage aber vor allem auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Denn es geht auch um die Auseinandersetzung der Gesellschaft mit ihrer Geschichte und mit ihrer Art, mit «Unangepassten» umzugehen. Es ist gerade auch im Hinblick auf künftige Generationen wichtig, dass diese ausreichend sensibilisiert werden und aus den Erfahrungen lernen können (siehe hierzu auch die Ausführungen unter Ziff. 2.3.3 sowie unter Ziff. 3.3).

3.5

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 25. Januar 201238 zur Legislaturplanung 2011­2015 noch im Bundesbeschluss vom 15. Juni 201239 über die Legislaturplanung 2011­2015 angekündigt.

Nach Artikel 97 Absatz 1 Buchstabe a des ParlG hat der Bundesrat spätestens ein Jahr nach Einreichen einer zu Stande gekommenen Volksinitiative einen Beschlussentwurf und eine Botschaft zu unterbreiten (d. h. bis zum 19. Dez. 2015). Da der Bundesrat jedoch entschieden hat, einen indirekten Gegenvorschlag zu unterbreiten, verlängert sich die Frist nach Artikel 97 Absatz 2 ParlG um sechs Monate. Sie beträgt in diesem Fall also achtzehn Monate seit Einreichen der Initiative und läuft bis zum 19. Juni 2016. Die Frist für den Beschluss der Bundesversammlung dauert dreissig Monate (Art. 100 ParlG), d. h. bis zum 19. Juni 2017. Sie kann nach Artikel 105 Absatz 1 ParlG bei Unterbreitung eines direkten oder indirekten Gegenvorschlags um ein Jahr verlängert werden.

3.6

Rechtliche Aspekte

3.6.1

Verfassungsmässigkeit und Vereinbarkeit mit völkerrechtlichen Verpflichtungen

Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen erfolgten in der Regel in Anwendung von kantonalem Fürsorgerecht oder von bundesrechtlichen Bestimmungen im Bereich des Kindesschutz- bzw. Vormundschaftsrechts. Das vorliegende Gesetz steht somit in engem Zusammenhang mit dem Zivilrecht. Die Gesetzgebung 38 39

BBl 2012 481 BBl 2012 7155

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BBl 2016

auf diesem Gebiet ist Sache des Bundes (Art. 122 Abs. 1 BV). Der Bund hat die Kompetenz, Normen zu erlassen, welche die damaligen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betreffen. Diese Kompetenz besteht unabhängig davon, dass diese Massnahmen grösstenteils durch kantonale oder kommunale Behörden beschlossen und vollzogen worden sind. Entsprechend ist bereits das Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen auf die Zivilrechtskompetenz des Bundes abgestützt worden.40 In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, dass bei der Rehabilitierung der Flüchtlingshelfer zur Zeit des Nationalsozialismus (Bundesgesetz vom 20. Juni 200341) sowie der Freiwilligen im Spanischen Bürgerkrieg (Bundesgesetz vom 20. März 200942) in analoger Weise eine Abstützung auf die Kompetenz des Bundes im Bereich des Strafrechts (Art. 123 BV) vorgesehen war. Weitere Verfassungsgrundlage ist die Opferhilfe (Art. 124 BV), denn für die Beratung, die Soforthilfe und die längerfristige Hilfe der Beratungsstellen findet Artikel 2 Buchstaben a und b OHG Anwendung.

Als weitere Kompetenzgrundlage kann die inhärente Zuständigkeit des Bundes, die sich aus der Existenz und der Natur der Eidgenossenschaft ergibt, herangezogen werden. Eine solche Zuständigkeit des Bundes wird dort angenommen, wo die Regelung einer Materie wesensgemäss dem Bund zusteht, weshalb in diesem Zusammenhang auch von der Zuständigkeit kraft föderativen Staatsaufbaus gesprochen wird. Nach dem Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung hat der Bundesrat beispielsweise die Vorlage für die Errichtung der Stiftung solidarische Schweiz auf diese inhärente Bundeszuständigkeit abgestützt.43 Bei der Annahme inhärenter Bundeszuständigkeiten ist allerdings Zurückhaltung angezeigt, und bei deren Ausübung ist auf die kantonale Organisationsautonomie besonders Rücksicht zu nehmen. Als Platzhalter für diese inhärente Kompetenz wird im Ingress von Erlassen nach den Gesetzestechnischen Richtlinien des Bundes Artikel 173 Absatz 2 BV als Verfassungsgrundlage genannt. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch, dass bereits früher die Auffassung vertreten wurde, für staatliches Handeln im Sinne eines «officium nobile» bestehe in besonderen Situationen eine inhärente Zuständigkeit des Bundes.44 Die Wiedergutmachung für das im Rahmen von
fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen vor 1981 geschehene Unrecht kann als Massnahme im Sinne eines solchen «officium nobile» des Bundes verstanden werden.

In Bezug auf die Vereinbarkeit mit der Einhaltung von internationalen Verpflichtungen der Schweiz oder mit Grundrechten stellen sich keine Probleme.

40 41 42 43 44

142

BBl 2013 8639, hier 8653 SR 371 SR 321.1 BBl 2000 4021 Siehe VPB 1979, Heft 43/IV, Nr. 98

BBl 2016

3.6.2

Erlassform und Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen

Der vorliegende Erlass enthält wichtige rechtsetzende Bestimmungen; diese regeln Rechte und Pflichten von Personen sowie die Aufgaben und Zuständigkeiten der Behörden und enthalten Verpflichtungen der Kantone bei der Umsetzung und beim Vollzug des Bundesrechts. Solche Bestimmungen sind in der Form eines Bundesgesetzes zu erlassen (Art. 164 Abs. 1 BV).

Artikel 19 sieht den Erlass von Ausführungsbestimmungen vor. Der Bundesrat soll insbesondere die Höhe des Solidaritätsbeitrags und die Höhe allfälliger Teilzahlungen festlegen. Darüber hinaus wird der Bundesrat beauftragt, die Einzelheiten des Gesuchsverfahrens sowie der Finanzierung und Umsetzung weiterer Massnahmen zu regeln.

Für die Finanzierung der Solidaritätsbeiträge zugunsten von Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 soll in Form eines einfachen, also nicht dem Referendum unterliegenden Bundesbeschlusses ein Zahlungsrahmen im Umfang von maximal 300 Millionen Franken bewilligt werden (siehe Vorlage 3).

3.6.3

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Nach Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV bedarf der vorgesehene Zahlungsrahmen der Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder beider Räte, da er eine einmalige Ausgabe von mehr als 20 Millionen Franken nach sich zieht.

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BBl 2016

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