11.489 Parlamentarische Initiative Aufhebung von Artikel 293 StGB Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 23. Juni 2016

Sehr geehrte Frau Präsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zu einer Änderung des Strafgesetzbuches. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

23. Juni 2016

Im Namen der Kommission Der Präsident: Jean Christophe Schwaab

2016-2214

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Übersicht Die parlamentarische Initiative 11.489 bezweckt die Aufhebung von Artikel 293 des Strafgesetzbuches, gemäss dem die «Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen» strafbar ist. Die Kommission möchte diese Bestimmung, welche dem Schutz des Meinungsbildungsprozesses der Behörden dient, beibehalten, sie aber mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Einklang bringen, indem den Gerichtsbehörden ermöglicht wird, das Geheimhaltungsinteresse und die Interessen, welche eine Information der Öffentlichkeit gebieten, gegeneinander abzuwägen.

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Bericht 1

Entstehungsgeschichte

1.1

Die parlamentarische Initiative 11.489

Die parlamentarische Initiative 11.489 «Aufhebung von Artikel 293 StGB» wurde am 30. September 2011 von Nationalrat Josef Lang eingereicht und am 14. Dezember 2011, zu Beginn der 49. Legislatur, von Nationalrat Geri Müller übernommen.

Sie lautet wie folgt: «Artikel 293 StGB (Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen) ist aufzuheben.» Der Initiant hielt unter Verweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 27. März 1996 in der Sache Goodwin v. Vereinigtes Königreich fest, dass Artikel 293 des Strafgesetzbuches (StGB) 1 im Widerspruch zu Artikel 10 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)2 betreffend die Meinungsäusserungsfreiheit steht. Er erinnert daran, dass der Bundesrat bereits 1996 die Aufhebung von Artikel 293 StGB vorschlug 3, dies insbesondere mit der Begründung, dass diese Bestimmung zum einen nur formelle Geheimnisse schütze, also Tatsachen, die durch das Gesetz oder durch den Beschluss einer Behörde als geheim erklärt worden sind; zudem sei es stossend, dass der Dritte, welcher das Geheimnis weiterverbreitet, verurteilt werde, während diejenige Person, die das Geheimnis gebrochen hat, oft der Strafverfolgung entgehe, da sie nicht identifiziert werden könne oder unter dem Schutz der Immunität stehe; schliesslich sehe das geltende Recht bei eigentlichen Staatsgeheimnissen und militärischen Geheimnissen unabhängig von Artikel 293 StGB ohnehin einen doppelten Schutz vor4. In seiner Begründung erinnert der Initiant weiter daran, dass die Mehrheit der zuständigen Kommission dem Vorschlag des Bundesrates zur Aufhebung von Artikel 293 StGB folgte, die beiden Räte jedoch mit knapper Mehrheit eine Kompromisslösung - die Einführung des heutigen Absatzes 3 - vorzogen.

Am 31. August 2012 gab die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates der Initiative mit 12 zu 9 Stimmen bei 2 Enthaltungen Folge. Am 22. Oktober 2012 stimmte die Schwesterkommission des Ständerates diesem Beschluss und damit der Ausarbeitung einer Vorlage mit 5 zu 4 Stimmen bei 2 Enthaltungen zu.

1 2 3

4

SR 311.0 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (SR 0.101).

Botschaft vom 17. Juni 1996 über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes (Medien- und Verfahrensrecht); BBl 1996 IV 525; Geschäft 96.057).

BBl 1996 IV 525, 564 f.

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1.2

Arbeiten der Kommission

Es wurden zwei Umsetzungsoptionen zur parlamentarischen Initiative diskutiert: die ersatzlose Aufhebung des fraglichen Artikels und die Änderung der Bestimmung.

Am 13. November 2014 hat die Kommission einen zwei Varianten umfassenden Vorentwurf zur Änderung des StGB mit 18 zu 6 Stimmen angenommen. Zu diesem Vorentwurf wurde gemäss dem Vernehmlassungsgesetz 5 eine Vernehmlassung durchgeführt. Die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens, das vom 8. Dezember 2014 bis zum 31. März 2015 dauerte, sind Gegenstand eines Berichts 6. Am 23. Juni 2016 nahm die Kommission Kenntnis von den Vernehmlassungsergebnissen und beschloss, die endgültige Fassung des Entwurfs und den vorliegenden Bericht anzunehmen. Die Kommission beantragt ihrem Rat einstimmig, diesem Entwurf zuzustimmen.

Die Kommission wurde bei ihren Arbeiten gemäss Artikel 112 Absatz 1 des Parlamentsgesetzes (ParlG)7 vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement unterstützt.

2

Ausgangslage

2.1

Artikel 293 StGB und verwandte Strafrechtsnormen

Der mit «Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen» überschriebene Artikel 293 ist im fünfzehnten Titel der Besonderen Bestimmungen des Strafgesetzbuches aufgeführt, der sich auf «strafbare Handlungen gegen die öffentliche Gewalt» bezieht. Absatz 1 definiert die strafbare Handlung: «[Etwas], ohne dazu berechtigt zu sein, aus Akten, Verhandlungen oder Untersuchungen einer Behörde, die durch Gesetz oder durch Beschluss der Behörde im Rahmen ihrer Befugnis als geheim erklärt worden sind, [...] an die Öffentlichkeit [bringen].» Als Strafe ist eine Busse von höchstens 10 000 Franken vorgesehen (Art. 106 Abs. 1 StGB); es handelt sich somit um eine Übertretung (Art. 103 StGB). Absatz 2 stellt die Gehilfenschaft unter Strafe (vgl. Art. 105 Abs. 2 StGB) und der Ende der Neunzigerjahre eingeführte Absatz 3 ermöglicht es dem Gericht, «von jeglicher Strafe abzusehen, wenn das an die Öffentlichkeit gebrachte Geheimnis von geringer Bedeutung ist» ­ das heisst, die betreffende Person wird verurteilt, aber nicht bestraft.

Das durch diese Bestimmung geschützte Rechtsgut ist in erster Linie der Prozess der Meinungsbildung der Behörden, der vor Störungen von aussen bewahrt werden soll.

Die Mitglieder einer Regierung, einer Verwaltungs- oder Gerichtsbehörde müssen ­ im Rahmen dieses Prozesses ­ frei Fragen stellen und ihre Vorschläge, Kritik, Zweifel usw. äussern können. Die Bestimmung ist somit vorwiegend darauf ausge-

5 6

7

Bundesgesetz vom 18. März 2005 über das Vernehmlassungsverfahren (SR 172.061).

Dieser Bericht kann auf der Webseite der Kommissionen für Rechtsfragen abgerufen werden: www.parlament.ch > Organe > Kommissionen > Sachbereichskommissionen > Kommissionen für Rechtsfragen > Berichte und Vernehmlassungen > Vernehmlassungen > 11.489.

Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002 über die Bundesversammlung (SR 171.10).

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richtet, die «Geheimsphäre» der Behörden zu schützen. Die Informationen werden nur indirekt geschützt.8 Artikel 293 StGB geht vom Begriff des formellen Geheimnisses aus: Als geheim gelten Informationen, die durch Gesetz oder durch Beschluss einer Behörde als geheim erklärt worden sind. Dabei ist es unerheblich, wie sie klassifiziert sind («intern», «geheim», «vertraulich» usw.); ausschlaggebend ist, dass durch das Gesetz oder einen Beschluss jede Veröffentlichung ausgeschlossen worden ist.

Demgegenüber ist eine Information materiell geheim, wenn sie nur einem begrenzten Personenkreis bekannt ist, der Geheimnisträger sie geheimhalten will und ­ als zentraler Aspekt ­ ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse besteht.

Das Strafgesetzbuch enthält weitere Bestimmungen zum Geheimnisschutz. So wird unter dem dreizehnten Titel («Verbrechen und Vergehen gegen den Staat und die Landesverteidigung») in Artikel 267 der «diplomatische Landesverrat» unter Strafe gestellt. Dieser Tatbestand wiegt schwerer: Es geht um «ein Geheimnis, dessen Bewahrung zum Wohle der Eidgenossenschaft geboten ist», die Strafe ist höher angesetzt und fahrlässiges Handeln wird ebenfalls bestraft. Unter dem zwanzigsten Titel («Übertretungen bundesrechtlicher Bestimmungen») wird in Artikel 329 die «Verletzung militärischer Geheimnisse» mit Busse bestraft. Ähnliche Bestimmungen finden sich auch im Militärstrafgesetz (MStG) 9 (vgl. Art. 86 [«Spionage und landesverräterische Verletzung militärischer Geheimnisse»] und 106 MStG [«Verletzung militärischer Geheimnisse»]).

2.2

Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 10. Dezember 2007 im Fall Stoll v. Schweiz

In der Sache ging es um die Verurteilung eines Journalisten gestützt auf Artikel 293 StGB. Der Verurteilte hatte 1997 in zwei Artikeln mehrere Passagen aus einem vertraulichen, von Botschafter Carlo Jagmetti verfassten Strategiepapier zu den nachrichtenlosen Vermögen zitiert. Diese Vorkommnisse hatten einen starken Einfluss auf die damals aktuellen parlamentarischen Debatten betreffend den Artikel 293 StGB, welche im Verzicht auf die vom Bundesrat ursprünglich Vorgeschlagene Aufhebung der Norm mündeten.

Die erste Beschwerdeinstanz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verurteilte die Schweiz (mit 4 zu 3 Stimmen) wegen Verletzung der EMRK. In der Folge gab die grosse Kammer der Schweiz Recht und hob den vorinstanzlichen Entscheid (mit 12 zu 5 Stimmen) auf, dies namentlich mit folgender Begründung: Die Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen stelle ein legitimes Ziel dar. Die passagenweise Veröffentlichung des Strategiepapiers sei dazu geeignet gewesen, das Klima der Vertraulichkeit, welches für die diplomatischen Beziehungen notwendig ist, zu beeinträchtigen und die Verhandlungen der Schweiz negativ 8 9

BGE 107 IV 185, 188; G. Fiolka, in Niggli/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht II, Art. 111­392 StGB, 3. Aufl., Basel 2013, Art. 293 N. 8.

Militärstrafgesetz vom 13. Juni 1967 (SR 321.0).

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zu beeinflussen. Der Schutz, den Artikel 10 EMRK den Medienschaffenden gewährt, setzte voraus, dass die betroffene Person in Treu und Glauben handelt, sich an Tatsachen hält und verlässliche sowie genaue Informationen verbreitet, die mit ihrer Berufsethik vereinbar sind. Die strittigen Artikel liessen den Eindruck entstehen, dass die Absicht des Journalisten nicht in erster Linie darin bestand, die Öffentlichkeit über eine Frage von allgemeinem Interesse zu informieren, sondern vielmehr darin, den Bericht des Botschafters zu einem unnötigen Skandal aufzubauschen. Der Presserat äusserte sich am 4. März 1997 zu den strittigen Artikeln. Seine sehr kritische Stellungnahme wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitgehend übernommen. Ebenfalls eine Rolle spielten die Sanktionsart und das Strafmass: Die verhängte Busse von 800 Franken sei relativ mild und stehe nicht im Missverhältnis zum verfolgten Ziel.

2.3

Motion 06.3038 Lang Josef «Aufhebung von Artikel 293 StGB»

Mittels der am 9. März 2006 eingereichten Motion 06.3038 wurde die Aufhebung von Artikel 293 StGB verlangt. In der Begründung führte der Motionär aus, dass der umstrittene Artikel die Medienfreiheit einschränke und im Widerspruch zu Artikel 10 der EMRK sowie zum darauf basierten Goodwin-Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stehe.

Der Bundesrat beantragte, angesichts der Entwicklungen der Jahre 1998­2008 und entgegen seines früheren Standpunktes, am 7. Mai 2008 die Ablehnung der Motion bzw. den Verzicht auf eine Aufhebung von Artikel 293 StGB. Dies namentlich mit folgender Begründung: Zwar sei der Wortlaut des Artikels unbefriedigend, die Aufhebung stelle jedoch keine angemessene Lösung dar. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Stoll v. Schweiz zeige, dass sich die Veröffentlichung wesentlicher Geheimnisse EMRK-konform ahnden lässt. Gleichzeitig sei aus den Urteilserwägungen klar ersichtlich, dass es den Gerichten möglich sein muss, dem Inhalt der vertraulichen Informationen Rechnung zu tragen und eine Interessenabwägung vorzunehmen, um festzustellen, ob eine Verurteilung berechtigt ist.

Da die Motion nicht innert der gesetzlichen Frist behandelt wurde, wurde sie abgeschrieben.

2.4

Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 29. März 2016 im Fall Bédat v. Schweiz

In diesem Entscheid ging es um die Veröffentlichung durch einen Journalisten von Anhörungsprotokollen und von Briefen, die ein Beschuldigter im Strafverfahren an den Richter geschrieben hatte. Die erste Beschwerdeinstanz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verurteilte die Schweiz (mit 4 zu 3 Stimmen) wegen Verletzung von Artikel 10 EMRK. Die Grosse Kammer hob dieses Urteil auf 7334

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und entschied (mit 15 zu 2 Stimmen), dass der Schuldspruch gegen den Journalisten wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen (Art. 293 StGB) sowie die ihm auferlegte Busse von 4`000 Franken keine Verletzung von Artikel 10 EMRK darstelle.

Der Gerichtshof musste insbesondere das Recht der Öffentlichkeit auf Information sowie das Recht des Journalisten zu informieren gegen das Recht der involvierten Personen an einem fairen Verfahren abwägen. Er betonte in diesem Zusammenhang namentlich die Wichtigkeit des Untersuchungsgeheimnisses, der Unparteilichkeit der Justiz, der Unschuldsvermutung sowie der Persönlichkeitsrechte des Angeschuldigten, welche durch Artikel 293 StGB geschützt werden und zum Schutz des Rechtes auf einen fairen Prozess beitragen. Der Gerichtshof präzisierte auch, dass dem Staat die Pflicht zukommt, aktive Massnahmen zu treffen, damit das Privatleben eines Angeschuldigten in einem Strafverfahren geschützt wird (Art. 8 EMRK) und, dass Artikel 293 StGB im vorliegenden Fall diese Funktion erfülle.

3

Vernehmlassung

Im Vorentwurf, der zur Vernehmlassung unterbreitet wurde, wurden zwei Varianten zur Änderung des StGB vorgeschlagen: ­

Variante A: Der Artikel wird mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Einklang gebracht, indem den Gerichtsbehörden ermöglicht wird, das Geheimhaltungsinteresse und die Interessen, die eine Information der Öffentlichkeit gebieten, gegeneinander abzuwägen.

Für den Fall, dass das Veröffentlichungsinteresse stärker wiegt als das Geheimhaltungsinteresse, sieht die Variante A des Vorentwurfs Straflosigkeit (und nicht bloss Strafbefreiung) vor.

­

Variante B: Der Artikel 293 StGB wird ersatzlos gestrichen.

Die Variante A entsprach der Mehrheit der Kommission, die Variante B der Minderheit.

3.1

Ergebnisse10

In der Vernehmlassung zum Vorentwurf (8. Dezember 2014­31. März 2015) nahmen von den 120 Vernehmlassungsadressaten 58 (25 Kantone, 4 politische Parteien, 29 Vertreter der interessierten Kreise) Stellung. Sechs Adressaten haben ausdrücklich auf eine materielle Stellungnahme verzichtet.

25 Kantone, eine politische Partei (CVP) und 8 Vertreter der interessierten Kreise ­ namentlich der Strafverfolgungsbehörden ­ begrüssten die Anpassung von Artikel 293 StGB (Variante A).

10

Vgl. ausführlich dazu den Bericht über die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens, abrufbar unter: www.parlament.ch > Organe > Kommissionen > Sachbereichskommissionen > Kommissionen für Rechtsfragen > Berichte und Vernehmlassungen > Vernehmlassungen > 11.489.

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Als zentrales Argument für die Variante A wurde vorgebracht, dass Artikel 293 StGB eine wichtige Grundlage für den Schutz des freien Meinungsbildungsprozesses der Behörden bilde. Zahlreiche Vernehmlassungsteilnehmer erachteten es als angebracht, die Norm an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betreffend die Freiheit der Meinungsäusserung (Art. 10 EMRK) anzupassen. Auch der neu vorgesehene Straflosigkeitsgrund wurde in mehreren Stellungnahmen unterstützt. Positiv wurde zudem erwähnt, dass Artikel 293 StGB auch in seiner abgeänderten Fassung den an Straf-, Zivil- oder Verwaltungsverfahren beteiligten Privatpersonen Schutz biete vor der Verbreitung von vertraulichen Informationen, die ihnen schaden könnten.

An der Anpassung von Artikel 293 StGB wurde kritisiert, dass sie bei den Rechtsunterworfenen zu grosser Rechtsunsicherheit führe. Verschiedene Vernehmlassungsteilnehmer empfanden es als stossend, dass es sich faktisch um eine Sonderstrafnorm für Journalisten handle, welche deren stellvertretende Bestrafung für die Amtsgeheimnisverräter vorsehe. Weiter wurde vorgebracht, dass die Artikel 293 StGB auch in seiner angepassten Form nicht mit der EMRK vereinbar sei. Teilweise wurde gefordert, Artikel 293 StGB als Vergehens- anstatt als Übertretungstatbestand auszugestalten.

Eine politische Partei (SP) und 12 Vertreter der interessierten Kreise ­ namentlich der Medien - unterstützten die Aufhebung von Artikel 293 StGB (Variante B).

Aus der Sicht mehrerer Befürworter der Aufhebung von Artikel 293 StGB genügt nur diese Variante den Anforderungen der EMRK. Es wurde namentlich argumentiert, dass diese Lösung eine Signalwirkung zugunsten grösserer Transparenz von Behördenhandlungen hätte. Mehrere Vernehmlassungsteilnehmer äusserten die Überzeugung, dass der strafrechtliche Schutz von Geheimnissen auch bei der Aufhebung von Artikel 293 StGB weiterhin gewährleistet wäre.

Kritisiert wurde, dass die Aufhebung von Artikel 293 StGB zu einer Lücke im Geheimnisschutz führen würde. Einige Gegner der Aufhebung gaben zu bedenken, dass berechtigte Interessen an einer weitgehenden Geheimhaltung von Behördeninterna bestehen.

Zwei politische Parteien (FDP, SVP) und 3 Vertreter der interessierten Kreise lehnten sowohl die Anpassung von Artikel 293 StGB (Variante A), als auch dessen Aufhebung
(Variante B) ab; sie unterstützten hingegen die Beibehaltung des geltenden Rechts.

Für die Beibehaltung des geltenden Rechts wurde namentlich vorgebracht, dass die Bestimmung in ihrer jetzigen Form legitim und notwendig sei. Zudem ermögliche bereits die geltende Fassung des Artikels eine Interessenabwägung und damit eine menschenrechtskonforme Auslegung.

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3.2

Beurteilung der Ergebnisse und Kommissionsentscheid

An ihrer Sitzung vom 23. Juni 2016 hat sich die Kommission mit den Ergebnissen der Vernehmlassung befasst und davon Kenntnis genommen, dass sich eine klare Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer ­ insbesondere sämtliche 25 teilnehmenden Kantone und ein Grossteil der Strafverfolgungsbehörden ­ für die Variante A ausgesprochen haben. Die überwiegend positiven Stellungnahmen der Vernehmlassungsteilnehmer zur Variante A bekräftigen die Kommission in ihrer Überzeugung, die parlamentarische Initiative 11.489 auf diesem Weg umzusetzen. Mit 16 zu 5 Stimmen hat sie sich für die Anpassung von Artikel 293 StGB (Variante A) und gegen dessen Aufhebung (Variante B) entschieden. In der Gesamtabstimmung wurde der Vorentwurf in Form der Variante A einstimmig angenommen.

Die Kommission misst dem Schutz des freien Meinungsbildungsprozesses der Behörden einen hohen Stellenwert zu. Sie ist der Meinung, dass durch die Variante A die wichtige Schutzwirkung von Artikel 293 StGB bezüglich des Geheimnisschutzes, des Persönlichkeitsschutzes (Art. 8 EMRK) sowie des Rechtes auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) erhalten werden kann. Gleichzeitig ermöglicht sie ihres Erachtens eine Anpassung der Norm an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.

4

Erläuterungen zu Artikel 293 StGB

Absatz 1 nennt die verschiedenen Tatbestandsmerkmale von Artikel 293 StGB: ­

Die Veröffentlichung muss Akten, Verhandlungen oder Untersuchungen betreffen.

In dieser Hinsicht gibt es folglich keine Änderung am geltenden Recht.

­

Die Information muss von einer Behörde stammen. Unter Behörde ist ein staatliches Organ zu verstehen, das hoheitliche Aufgaben ausübt. Es kann sich um Behörden des Bundes, der Kantone oder der Gemeinden sowie um Justiz- oder Verwaltungsbehörden handeln.

Auch dieses Tatbestandsmerkmal erfährt keine Änderung gegenüber dem geltenden Recht.

­

Die Information muss durch ein Gesetz oder durch einen Beschluss der Behörde als geheim erklärt worden sein. Das Bundesgericht hat aus dem Wortlaut von Artikel 293 StGB abgeleitet, dass dieser nur formelle Geheimnisse schützt. Entscheidend ist dabei nicht, ob eine Information als «intern», «geheim» oder «vertraulich» klassifiziert wird, sondern ob durch das Gesetz oder einen Beschluss jede Veröffentlichung ausgeschlossen worden ist. Der Begriff des «formellen Geheimnisses» unterscheidet sich eindeutig von jenem des «materiellen Geheimnisses». Materiell geheim ist eine Information, wenn sie nur einem begrenzten Personenkreis bekannt ist, der Geheimnisträger sie geheimhalten will und ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse besteht.

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Auch in dieser Hinsicht wird das geltende Recht beibehalten.

­

Die Information muss an die Öffentlichkeit gebracht worden sein, das heisst, sie muss einem grossen Personenkreis zugänglich gemacht worden sein.

Eine private Verbreitung reicht nicht aus.

Auch hier bleibt das geltende Recht unverändert.

­

Die Weitergabe des Geheimnisses muss bewusst und absichtlich erfolgen.

Dies ist auch im geltenden Recht der Fall.

Die im geltenden Recht enthaltene Formulierung «ohne dazu berechtigt zu sein» kann gestrichen werden, da sie redundant ist11. Artikel 14 ff. StGB reichen aus, um die Verurteilung für eine rechtmässige Handlung zu verhindern.

Des Weiteren heisst es, dass die Information durch Gesetz oder durch einen «gesetzmässigen» Beschluss der Behörde als geheim erklärt worden sein muss. Es ist wichtig zu präzisieren, dass die Behörde ihren Geheimerklärungsbeschluss auf der Grundlage einer sie dazu berechtigenden Gesetzesbestimmung getroffen haben muss. Der Begriff Gesetz ist in Artikel 293 StGB im materiellen Sinne zu verstehen, das heisst, Gesetz steht hier synonym für Rechtsbestimmung, Rechtserlass, generellabstrakte Regel ­ unabhängig vom Normgeber und vom Platz der Bestimmung in der Normenhierarchie12. Diese neue Formulierung bringt letztlich jedoch keine materielle Änderung zum geltenden Recht, in dem es heisst, dass die Behörde den Beschluss «im Rahmen ihrer Befugnis» gefällt haben muss.

Der neue Absatz 1 entspricht folglich im Wesentlichen der derzeit geltenden Fassung.

Der geltende Absatz 3, der dem Gericht die Möglichkeit gibt, von jeglicher Strafe abzusehen (Strafbefreiungsgrund), wird entsprechend dem Modell der Artikel 119, 133 Absatz 2, 187 Absatz 2 oder 320 Absatz 2 StGB durch einen Straflosigkeitsgrund ersetzt. Gemäss diesem soll die Veröffentlichung des Geheimnisses nicht strafbar sein, wenn ihr kein überwiegendes Geheimhaltungsinteresse entgegenstand.

Diese Bestimmung zwingt die Strafverfolgungsbehörde entsprechend der Rechtsprechung der Grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, eine Interessenabwägung vorzunehmen. Das Gericht hat sich zu diesem Zwecke mit dem Inhalt des veröffentlichten Dokuments zu befassen.

Trotz der Änderung von Absatz 3 dient Artikel 293 StGB weiterhin dem Schutz der Regierungs- und Justiztätigkeit. Indem der Meinungsbildungsprozess der Behörden gewahrt wird, soll sichergestellt werden, dass diese effektiv und unabhängig arbeiten können. Auch an einem (Straf-, Zivil- oder Verwaltungs-)Verfahren beteiligte Privatpersonen (Beschuldigte, Opfer, Zeugen usw.) werden weiterhin vor einer ihnen schädlichen Verbreitung von Informationen geschützt (Schutz des Rechts auf einen fairen Prozess, Durchsetzung des Prinzips der Unschuldsvermutung, Achtung der
Persönlichkeitsrechte der Opfer). Darüber hinaus führt die Änderung dazu, dass die Journalisten verstärkt in die Verantwortung genommen werden: Diese müssen nun 11 12

G. Fiolka, op. cit. (Fussnote 8), Art. 293 N 33.

A. Auer/G. Malinverni/M. Hottelier, Droit constitutionnel suisse, Band I, 3. Ausgabe, Bern 2013, S. 515 f.; siehe auch Artikel 22 Absatz 4 ParlG.

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abwägen, ob die Veröffentlichung einer sensiblen Information angebracht ist. Des Weiteren bringt der neue Absatz 3 die Bestimmung in Einklang mit den Prinzipien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, da für den Fall, dass das Veröffentlichungsinteresse stärker wiegt als das Geheimhaltungsinteresse, ausdrücklich Straflosigkeit (und nicht bloss Strafbefreiung) vorgesehen ist.

5

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die vorliegende Revision für den Bund oder die anderen Gemeinwesen nennenswerte finanzielle und personelle Auswirkungen hat.

6

Verhältnis zum europäischen Recht

Ziel der vorgeschlagenen Änderung des Strafgesetzbuchs ist es, dieses mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Einklang zu bringen.

7

Verfassungsmässigkeit und Erlassform

Für die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts ist gemäss Artikel 123 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV)13 der Bund zuständig. Die Änderung eines Bundesgesetzes muss in Gesetzesform erfolgen. Bundesgesetze unterstehen dem fakultativen Referendum (Art. 141 Abs. 1 Bst. a BV).

13

SR 101

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