zu 16.401 Parlamentarische Initiative Verlängerung von Artikel 55a KVG Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 24. Februar 2016 Stellungnahme des Bundesrates vom 6. April 2016

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 24. Februar 2016 betreffend die parlamentarische Initiative 16.401 «Verlängerung von Artikel 55a KVG» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

6. April 2016

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Johann N. Schneider-Ammann Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2016-0431

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Nach Artikel 55a des Bundesgesetzes vom 18. März 19941 über die Krankenversicherung (KVG) hat der Bundesrat bis zum 30. Juni 2016 die Möglichkeit, die Zulassung von Ärztinnen und Ärzten, die in Praxen, Einrichtungen oder im ambulanten Bereich von Spitälern zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) tätig sind, einzuschränken. In der Verordnung vom 3. Juli 2013 2 über die Einschränkung der Zulassung von Leistungserbringern zur Tätigkeit zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung hat der Bundesrat den Kantonen grosse Freiheiten bei der Gestaltung des Zulassungsbeschränkungssystems gelassen. Diese Regulierung war zwischen dem 1. Januar 2001 und dem 31. Dezember 2011 ­ in unterschiedlichen Formen ­ elf Jahre lang gültig. Ihre Aufhebung per 1. Januar 2012 führte auf dem Markt zu einer massiven Zunahme der Zahl der freipraktizierenden Ärztinnen und Ärzte, weshalb per 1. Juli 20133 Artikel 55a KVG in seiner heutigen Fassung und per 5. Juli 20134 die oben erwähnte Ausführungsverordnung in Kraft gesetzt wurden. Artikel 55a KVG sieht eine Ausnahme vor, wonach die Zulassungsbeschränkung nicht für Ärztinnen und Ärzte gilt, die mindestens drei Jahre an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben.

Damit die Kantone eine dauerhafte Lösung für die Steuerung des Leistungsangebots im ambulanten Bereich erhalten, eine Gesundheitsversorgung von hoher Qualität gewährleistet ist und der Kostenanstieg zulasten der OKP eingeschränkt werden kann, legte der Bundesrat dem Parlament die Botschaft vom 18. Februar 2015 5 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (Steuerung des ambulanten Bereichs) (15.020) vor. In der parlamentarischen Debatte zeigte sich indessen, dass die beiden Räte die heute bestehende befristete Lösung der Zulassungsbeschränkung ab dem 1. Juli 2016 dauerhaft ins KVG überführen wollten. In der Schlussabstimmung am 18. Dezember 2015 lehnte der Nationalrat diese Lösung mit 97 zu 96 Stimmen bei 1 Enthaltung jedoch ab.

Am 22. Januar 2016 beschloss die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-NR), die Einschränkung der Zulassung zur Tätigkeit zulasten der OKP in derjenigen Form weiterzuführen, wie sie bis zum Auslaufen der Bestimmung am 30. Juni 2016 gilt. Mit einem dringlichen Bundesgesetz soll die
geltende Regelung in Artikel 55a KVG auf drei Jahre befristet ab dem 1. Juli 2016 bis zum 30. Juni 2019 weitergeführt werden. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-SR) stimmte diesem Beschluss am 2. Februar 2016 mit 8 zu 3 Stimmen bei 1 Enthaltung zu. Am 24. Februar 2016 nahm die SGK-NR den Erlassentwurf ­ mit dem zusätzlichen Auftrag an den Bundesrat, sicherzustellen, dass bis zum 30. Juni 2017 eine Gesetzesvorlage als Alternative zu 1 2 3 4 5

SR 832.10 SR 832.103 AS 2013 2065 AS 2013 2255 BBl 2015 2317

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Artikel 55a KVG in die Vernehmlassung geschickt werden kann ­ einstimmig an und verabschiedete den dazugehörigen Bericht zuhanden des Nationalrates.

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Stellungnahme des Bundesrates

Das Gesundheitssystem der Schweiz ist im Wandel begriffen. Es stehen in Zukunft grosse Herausforderungen an, auch wenn Fachleute und Bevölkerung mit der Funktionstüchtigkeit des Systems und der Qualität der erbrachten Leistungen heute insgesamt zufrieden sind. Mit der demografischen Entwicklung werden chronische Krankheiten weiter zunehmen, die Leistungen werden sich weiterentwickeln und der wachsende Bedarf muss finanziert werden. Zudem erfordern die zunehmende Komplexität und die gegenläufigen Interessen mehr Steuerung und Transparenz des Systems.

Aufgrund der grossen Reichweite dieser Herausforderungen hat der Bundesrat Anfang 2013 mit der Strategie «Gesundheit2020» in einer Gesamtschau die gesundheitspolitischen Prioritäten festgelegt und die Grundlage geschaffen, damit die anstehenden Herausforderungen gemeistert werden können. Im Zentrum der Gesamtschau stehen die Bevölkerung und ihr Wohlbefinden. Das Gesundheitswesen soll um sie und ihre Bedürfnisse herum weiterentwickelt werden. Daher konzentriert sich die Frage des Versorgungsangebots nicht mehr ausschliesslich auf die Kosten, sondern auch auf den optimalen Zugang der Versicherten zu den Leistungen, die sie effektiv benötigen. Ohne Regulierung des ambulanten Bereichs nehmen aber auch das Angebot und mit ihm die Menge an erbrachten Leistungen und dementsprechend die Kosten zulasten der OKP zu. Die optimale Organisation der Versorgung ist deshalb eine Massnahme der Strategie «Gesundheit2020», mit der der Anstieg der Gesundheitskosten eingedämmt werden soll.

Der Bundesrat bedauert, dass sein auf der Gesamtstrategie beruhender, ausgewogener, adäquater und föderalistisch ausgestalteter Vorschlag, den er mit der Botschaft vom 18. Februar 2015 unterbreitet hatte, vom Parlament abgelehnt wurde. Mit der nun beantragten befristeten Verlängerung von Artikel 55a KVG wird aus Sicht des Bundesrates ein Instrument weitergeführt, welches die Kostenentwicklung im ambulanten Bereich zwar eindämmen kann, jedoch nicht die Qualität des Versorgungsangebots in den Vordergrund stellt.

Die Aufhebung der Zulassungssteuerung ist nach Ansicht des Bundesrates jedoch keine Option, da eine massive Zunahme von freipraktizierenden Ärztinnen und Ärzte auf dem Markt zu befürchten ist. Dies zeigte sich im Jahr 2012, in dem die Zulassungsbeschränkung aufgehoben war,
besonders in den Grenzkantonen. So kam es beinahe zu einer Verdreifachung der Anzahl erteilter ZahlstellenregisterNummern im Kanton Genf beziehungsweise zu deren Vervierfachung im Kanton Tessin. Auf das Gesamtgebiet der Schweiz bezogen verdoppelte sich die Anzahl erteilter Zahlstellenregister-Nummern. Eine Zunahme war auch bei den zulasten der OKP abgerechneten Leistungen der freipraktizierenden Ärztinnen und Ärzte zu verzeichnen: Während sich die Kosten pro versicherte Person im Jahr 2010 nur um 2,4 Prozent und im Jahr 2011 um 2,5 Prozent erhöht hatten, stiegen sie nach der Aufhebung der Zulassungsbeschränkung im Jahr 2012 um 3,5 Prozent und im Jahr 3527

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2013 gar um 6,4 Prozent. Die mit der Aufhebung der Zulassungsbeschränkung verbundene Mengenausweitung wirkt sich somit nicht nur vorübergehend, sondern vielmehr langfristig zulasten der OKP aus. Angesichts der Tatsache, dass der ambulante Bereich beinahe 40 Prozent der Gesamtkosten der OKP ausmacht und bei einer Aufhebung von Artikel 55a KVG mit einer weiteren Zunahme der Ärztezahlen zu rechnen ist, stimmt der Bundesrat der befristeten Verlängerung von Artikel 55a KVG zu, dies auch deshalb, weil die Kantone ebenfalls ein Instrument zur Steuerung des ambulanten Bereichs fordern. Der Bundesrat betont jedoch, dass parallel zur Verlängerung neue Wege aufgezeigt werden müssen, mit denen eine Gesundheitsversorgung von hoher Qualität erreicht und die Kostenentwicklung gezielt eingedämmt werden kann. Dies beabsichtigt er mit dem Antrag auf Annahme und der Erfüllung des Postulats SGK-SR 16.3000 «Alternativen zur heutigen Steuerung der Zulassung von Ärztinnen und Ärzten» und der Motion SGK-NR 16.3001 «Gesundheitssystem. Ausgewogenes Angebot durch Differenzierung des Taxpunktwertes».

Aufgrund der dreijährigen Befristung der Vorlage ist der Bundesrat bestrebt, die Arbeiten für eine neue Vorlage rasch voranzutreiben. Der Bericht zum Postulat 16.3000 wird bis Ende 2016 vorliegen. Darauf aufbauend werden die Vorschläge für eine Revision von Artikel 55a KVG bis Mitte 2017 erarbeitet. Der Bundesrat ist hingegen der Meinung, dass an dem in Ziffer IIa des Entwurfs erwähnten, systemfremden Auftrag an den Bundesrat nicht festgehalten werden soll. Dafür würde auch sprechen, dass die dort aufgeführte Motion 16.3001 im Zweitrat noch nicht behandelt wurde.

Mit der Weiterführung von Artikel 55a KVG wird die Ausnahmeregelung in Absatz 2 beibehalten, wonach kein Bedürfnisnachweis erforderlich ist für Personen, die mindestens drei Jahre an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben. Der Bundesrat hat in der parlamentarischen Debatte mehrmals darauf hingewiesen, dass diese Ausnahmeregelung dem Abkommen vom 21. Juni 19996 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA) und deren Anhänge widersprechen kann, namentlich was das allgemeine Diskriminierungsverbot betrifft.7 Dieselben Bedenken
kamen in den Sitzungen des Gemischten Ausschusses zum FZA zum Ausdruck, in welchen die EU die Bestimmung als indirekt diskriminierend kritisierte.

Unter diesem Gesichtspunkt ist darauf hinzuweisen, dass eine indirekt diskriminierende innerstaatliche Bestimmung zulässig ist, wenn sie objektiv gerechtfertigt ist.8 Als zulässige Rechtfertigungsgründe sind im EU-Recht die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Gesundheit vorgesehen. Zudem hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) anerkannt, dass auch zwingende Gründe des Allgemeininteresses (z.B. der Schutz der Konsumentinnen und Konsumenten, der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder die konkrete Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des finanziellen Gleichgewichts eines Systems der sozialen Sicherheit) indirekte Diskriminierungen rechtfertigen 6 7 8

SR 0.142.112.681, hier Anhang III AB 2013 N 963 ff.; AB 2013 S 559 ff.

Art. 5 Anh. I FZA und Art. 2 Anh. K des Übereinkommens vom 4. Januar 1960 zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (SR 0.632.31)

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können,9 was die Schweiz unter anderem auch im Gemischten Ausschuss zum FZA als Rechtfertigung für ihr Vorgehen vorbrachte. Mit den vom EuGH in seiner Rechtsprechung entwickelten Kriterien ist hingegen zweifelhaft, ob Artikel 55a Absatz 2 KVG in der gegenwärtigen Form eine gerechtfertigte indirekte Diskriminierung darstellt. Es obliegt jedoch dem Bundesgericht zu entscheiden, ob die vom Gesetzgeber angeführten Rechtfertigungsgründe (Qualitätssicherung, Integration in das schweizerische Gesundheitswesen, Patientensicherheit und Kostenstabilisierung) für das Erfordernis der dreijährigen Ausbildungsdauer an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte objektiv gerechtfertigt sind.

Abschliessend ist darauf hinzuweisen, dass die Verlängerung von Artikel 55a KVG von der EU wohl erneut kritisiert werden wird.

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Anträge des Bundesrates

Der Bundesrat beantragt Zustimmung zum Entwurf der SGK-NR.

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EuGH, Urteil Bachmann vom 28. Januar 1992, Rs. C-204/90

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