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Bundesrathsbeschluss über

den Rekurs der Herren Folletête und Consorten gegen die Verordnung des Regierungsraths des Kantons Bern vom 6. Dezember 1873, betreffend den Gottesdienst in den katholischen Gemeinden des neuen Kantonstheils.

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(Vom 26. Marz 1874.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t h ,

hat

auf die Beschwerde von Herrn Advokat Folletête in Pruntrut und dreizehn andern Mitgliedern des bernischen Großen Rathes aus dem neuen Kantonstheil, betreifend Verfassungsverlezung, nachdem sich aus den Akten im Wesentlichen Folgendes ergeben : , f. Unterm 6. Dezember 1873 erließ der Regierungsrath dea Kantons Bern folgende V e r o r d n u n g betreffend den Gottesdienst in den katholischen Gemeinden des neuen Kantonstheils ; ,,Art. Ì. Sammtlichen gerichtlich von ihren Stellen abberufenen katholischen Pfarrern, ferner denjenigen katholischen Geistlichen (Vikarien, Pfarrverwesern, Abbés u. s. w.), welche seiner Zeit den

505 Protest vom Februar 1873 unterzeichnet und bis jezt nicht zurükgezogen haben, endlich überhaupt allen katholischen Geistlichen, welche keine staatliche Ermächtigung hiezu besizen, ist jede geistliche Verrichtung irgend welcher Art in allen unter staatlicher Oberaufsicht stehenden und einer öffentlichen Zwekbestimmung dienenden Gebäulichkeiten und Lokalitäten strengstens verboten und untersagt.

Zu den hievor bezeichneten Gebäulichkeiten und Lokalitäten gehören namentlich alle öffentlichen Kirchengebäude (Kirchen, Kapellen u. dgl.), ferner die öffentlichen Schulgebäude, die Gemeindehäuser u. s. w.

Art. 2. Den Nämlichen sind ferner untersagt alle Funktionen in den öffentlichen Schulen und UnterrichtHanstalten, sowie in den Behörden derselben.

Art. 3. In Gebäuden, Lokalien und an Orten, welche keiner öffentlichen Bestimmung dienen, ist den in Art. l hievor bezeichneten Geistlichen innert den Schranken der Sittlichkeit und öffentlichen Ordnung (§ 80 der Staatsverfasaung) die Ausübung des Gottesdienstes gestattet.

Ausgenommen hievon und demgemäß verboten ist jedoch die Theilnalnne im Ornat au Leicheuzügen und Prozessionen auf öffentlichen Straßen.

Insbesondere ist auch den Lehrern und Lehrerinnen an öffentlichen Schulen untersagt, die Schulkinder zu den in Art. l bezeichneten Geistlichen in den Gottesdienst oder in die Christenlehre zu führen.

Art. 4. Wenn der Privatgottesdienst (Art. S) oder ein sonstiger Anlaß dazu mißbraucht wird, um Glaubenshaß oder Verfolgung wegen religiöser Bekenntnisse oder Ansichten zu stiften, sowie um gegen die vom Staate eingesezten Geistlichen und gegen die Anordnungen und Erlasse der Staatsbehörden aufzureizen, so werden die Schuldigen, sofern nicht ein bereits mit Strafe bedrohtes Vergehen vorliegt, gemäß Art. 5 hienach bestraft.

Ueberdieß können Versammlungen und Zusammenkünfte, an denen solche Handlungen begangen werden, von Polizei wegen aufgelöst werden, '··'., Art. ». Widerhandlungen gegen die in Art. l bis und mit 4 enthaltenen Verbote werden, sofern sie nicht in eine schwerere Gese/zt'sverlezung übergehen, mit einer Buße von Fr. 100 bis 200 bestraft.

506 Im Rükfalle ist die für dea ersten Fehler ausgesprochene Buße angemessen zu erhöhen.

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· Art. 6. Den Beamten und Angestellten der gerichtlichen Polizei wird zur besondern Pflicht gemacht, unnachsichtlich einzuschreiten in Fällen von Amtsanmaßung (Art. 83) und von Friedensstörungen (Art. 93, 94, 96 und 97 des Strafgesezbuches).

Art. 7. Diese Verordnung, durch welche diejenige vom 28.

April 1873 dahinfällt, tritt sofort in Kraft."

Bei Erlaß dieser Verordnung stüzte sich die Regierung von Bern auf den Art. 44 der Bundesverfassung, ferner auf die §§ 30, 40 und 80, zweites Lemma, der Kantons Verfassung, sowie auf den Beschluß des Großen Rathes vom 1.März 1858, und zog dabei in Betracht : 1) Daß zur Zeit im neuen Kantonstheil nur diejenigen Geistliehen zu einem öffentlichen beziehungsweise s t a a t l i c h ane r k a n n t e n , k a t h o l i s c h e n K u l t u s berechtigt seien, welche auf Grundlage (1er Verordnung vom 6. Oktober 1873 von der Regierung -ernannt und in ihr Amt eingesezt oder wenigstens mit staatlicher Ermächtigung zur Ausübung eines solchen öffentlichen Gottesdienstes befugt erklärt worden seien ; .

2) Daß allen andern, nicht staatlich anerkannten katholischen Geistlichen, namenflieh den, durch gerichtliches Urtheil vom 15. September 1873 von ihren Stelleu abberufenen Pfarrern, sowie denjenigen, welche seiner Zeit den Protest vom Februar 1873 unterzeichnet und bis jezt nicht zurükgezogen haben, nur dieAusübung eines Privatgottesdienstes innert den Schranken der Staatsverfassung (§ 80, Lemma 2) erlaubt sei ; 3) Daß nun aber diese hiev or bezeichneten Geistlichen erwiesenermaßen vielfach die ihnen verfassungsgemäß angewiesenen Grenzen des Privatgottesdientes überschreiten und durch ihre Handlungen die öffentliche Rahe und Ordnung, sowie den konfessionellen Friedet» in hohem Maße stören; 4") Daß es unter diesen Umständen geboten erscheine, die in Ueberschreitung jener Grenze begangenen Handlungen zu ahnden ; 5) Daß diese Verordnung nach Inhalt und Zwek als eine Maßregel zur Vollziehung einerseits des obergerichtlichen Abberufungsurtheils, anderseits der früher erlassenen Verordnung vom 6. Oktober 1873, überdieß als eine zu Handhabung der gesezlichen und öffentlichen Ordnung erforderliche Vorkehr anzusehen sei.

507 II. Gegen diese Verordnung reichten die Eingangs genannten Rekurrenten dem Bundesrathe eine vom 18. Dezember 1873 datirte Beschwerde ein, welche im Wesentlichen dahin geht: Die rekurrirte Ordonnanz sei eia verfassungswidriger Akt und stehe mit den vom Bundesrathe in seinem .Beschlüsse vom 15. November 1873 aufgestellten Prinzipien im Widerspruche. Dieser Beschluß sichere der katholischen Bevölkerung des bernischen Jura namentlich das Recht zu, innerhalb der Schranken der öffentlichen Ordnung und Ruhe einen Privatgottesdienst zu feiern. Dieses Recht werde aber durch die fragliche Verordnung illusorisch gemacht, besonders durch diejenigen Bestimmungen, welche den abberufenen Pfarrern verbieten, geistliche Verrichtungen irgend welcher Art in den unter staatlicher Oberaufsicht stehenden und einer Öffentlichen Zwekbestimmung dienenden Gebäulichkeiten und Lokalitäten auszuüben. Diese Verordnung steht ferner im Widerspruche mit dem Art. 44 der Bundes Verfassung, welcher der römisch-katholischen Konfession freie Kultusausübung garantire, sowie mit der Vereinigungsurkunde vom Jahr 1815, und es haben die jurassischen Katholiken als Glieder einer durch cit, Art. 44 der Bundesverfassung anerkannten christlichen Konfession kraft Art. 80 (erster Saz) der Kantonsverfassung auch jezt noch wie fruherhin die gleichen Rechte und den nämlichen staatlichen Schuz anzusprechen, wie die Altkatholiken.

Die Rekurrenten schließen ihre Beschwerde mit den Begehren, der Bundesrath wolle: ., l. erklären, die Verordnung vom 6 / Dezember 187 3 stehe mit der Vereinigungsurkunde von 185t 5, ferner mit der kantonalen Staatsverfassung, sowie mit der Bundesverfassung und dem Beschlüsse des Bundesrathes vom 15. November 1873 im Widerspruche, -- und daher die erstere als ungültig aufheben ; II. die Regierung von Bern anweisen, ' den römischen Katholiken und ihren Priestern diejenigen Pfarrkirchen, in welchen noch keine staatlich ernannten Pfarrer fungiren, mm freien Gebrauch zu überlassen; III. wolle der Bundesrath erklären, daß der den römisch-katholischen Bewohnern des Jura garantirte Privatgottesdienst in sich begreife : a. das Recht, ihre Verstorbenen mit den von ihrer Religion vorgeschriebenen liturgischen Ceremonien, unter Assistenz ihrer Priester im Ornate und mit dem üblichen Leichenzuge, zu beerdigen;

508 b. das Recht, in den Pfarrgemeinden die üblichen liturgischen Prozessionen unter Assistenz ihrer Priester im Ornate abzuhalten.

IH. Die Regierung des Kantons Bern trug in ihrer Antwort vom 14. Februar 1874 auf Abweisung der Rekurrenten an, und machte geltend, daß diese Beschwerde vorerst bei dem Großen Rathe des Kantons Bern hätte angebracht werden sollen. Das bernisehe Volk habe mit großer Mehrheit unterm 18. Januar d. J.

eia neues Gesez über die Organisation des Kirchenwesens angenommen und damit gleichzeitig erklärt, daß es mit dem Vorgehen der Regierung in den kirchlichen Angelegenheiten einverstanden sei. Diesem Geseze haben sich auch die renitenten Geistlichen und ihre Anhänger zu fügen. Dasselbe enthalte unter Anderm auch die Bestimmung, daß zu Geistlichenstellen an öffentlichen Kirchgemeinden nur solche Geistliche wahlfähig seien, die in den bernischen Kirchendienst aufgenommen worden seien. Von den renitenten Geistlichen im Jura sei aber kein einziger in den beruischen Kirchendienst aufgenommen worden. Es könne nur den in gesezlicher Weise erwählten Ortsgeistlichen die Vornahme priesterlicher Handlungen zugestanden werden Die gesezlich vorgeschriebene Aufnahme in den bernischen Kirchendienst hätte keinen Sinn, wenn es jedem beliebigen Geistlichen gestattet wäre, in öffentlichen Kirchen, Schulgebäuden, Gemeindehäusern u. s. w. Gottesdienst zu halten und im Ornat an Leiehenzügen und Prozessionen auf öffentlichen Straßen Theil zu nehmen. Diese Funktionen fallen nicht in den Begriff eines Privatgottesdienstes, sondern haben einen öffentlichen Charakter.

Von einer Beeinträchtigimg des eigentlichen Privatgottesdienstes durch die Verordnung vom 6. Dezember 1873 sei daher keine Rede ; In E r w ä g u n g : 1) daß die Verordnung vom 6. Dezember 1873 nur den Privatgottesdienst derjenigen römisch - katholischen Geistlichen betrifft, welche gerichtlich von ihren Pfarrstellen abberufen worden sind oder den Protest vom Februar 1873 unterzeichnet und bis jezt nicht zurükgezogen haben oder zu öffentlichen geistlichen Funktionen keine staatliche Ermächtigung haben; 2) daß sie diesen Privatgottesdient nur insofern beschränkt, als demselben die Beouzung der unter staatlicher Oberaufsicht stehenden und einer öffentlichen Zwekbestimmung dienenden Gebäulichkeiten and Lokalitäten nicht gestattet und den besagten Geistlichen das Tragen des Ornates bei Leichenbegängnissen und Prozessionen auf öffentlicher Straße untersagt wird;

509 3) daß der Bundesrath sich gegenüber den Beschwerdeführern bezüglich der Inanspruchnahme von Kirchen und andern, einer öffentlichen Zwekbestimmung dienenden Gebäulichkeiten für die Abhaltung ihres besondere Gottesdienstes in den Erwägungen zu seinem Beschlüsse vom 15, November 1873 bereits ausgesprochen hat ; 4) daß in dem Verbot an die in Ziffer l genannten Priester, auf öffentlicher Straße den ' Ornat der staatlich anerkannten- katholischen Pfarrgeistlichen au tragen,, eins Verlezung der Kultusfreiheit, soweit dieselbe durch die Bundesverfassung garantirt ist, nicht gefunden werden kann ·, .

; 5) daß die Rekurrenten ihre Beschwerde wegen Verlezung der Staatsverfassung des Kantons zunächst vor die gesezgebendß Behörde des Kantons Bern zu bringen haben, beschlossen: 1. Der Rekurs von Hrn. Folietete und Genossen ist abgewiesen.

2. Dieser Beschluß ist der Regierung des Kantons Bern und dem Hrn. Advokaten Folietete in Pruntrut für sich und zuhanden der übrigen Rekurrenten mitzutheilen.

B e r n , den 26. März 1874.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schiess.

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28.03.1874

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504-509

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