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Kreisschreifoen des

Bundesrates an die Kantonsregierungen betreffend die Frage der Freizügigkeit.

(Vom 17. Dezember 1935.)

Getreue, liebe Eidgenossen!

Die Bundesbehörden erhalten seit einiger Zeit oft und immer häufiger Klagen von Einzelpersonen und Verbänden sowie von Gemeinden und Kantonen über verfassungswidrige Beschränkungen der Freizügigkeit, die offenbar bezwecken, die Arbeitslosigkeit rein örtlich dadurch zu bekämpfen, dass Zuzug aus andern Kantonen oder Gemeinden ferngehalten oder stark erschwert wird. Ferner hat sich der schweizerische Städteverband nach Diskussion bei seiner letztjährigen Tagung an den Bundesrat gewandt und neben verschiedenen Anregungen auch die Frage aufgeworfen, ob nicht wenigstens eine zeitliche Einschränkung der Freizügigkeit zu erwägen sei.

Wir haben die Frage um so einlässlicher geprüft, als nicht zu verkennen ist, dass namentlich die grösseren Städte unter der Zuwanderung Arbeitsloser aus ländlichen Gegenden zu leiden haben, die ihre ohnedies schon starke Belastung durch Arbeitslose noch wesentlich erhöht. Trotzdem sind wir aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen zur Ablehnung der stellenweise schon gehandhabten Einschränkung der Freizügigkeit gelangt. Eechtlich kommt in Betracht, dass es sich um einen offenkundigen und schwerwiegenden Einbruch in die verfassungsmässig garantierten Freiheitsrechte des Schweizerbürgers handeln würde. Wir könnten uns um so weniger entsehliessen, einen solchen ohne Änderung der Bundesverfassung zuzulassen, als es sehr schwer halten dürfte, ihn einigermassen zuverlässig abzugrenzen, d.'h. die Fälle genügend zu umschreiben, in denen die Freizügigkeit sollte ausgeschaltet werden dürfen.

Auch gegen eine Änderung der verfassungsrechtlichen Grundlage hätten wir Bedenken. Die Nachteile der gegenwärtigen Lage sind nicht derart schwer, dass sich ein so bedenklicher Eingriff rechtfertigen Hesse, der übrigens auch seinerseits grosse Schäden mit sich brächte. Wir halten dafür, dass mit gutem Willen die Nachteile der gegenwärtigen Lage ohne solchen Eingriff wenn auch nicht beseitigt, so doch stark gemildert werden können.

984 Trotzdem die Arbeitslosigkeit in der Schweiz immer noch erheblich geringer ist als in den meisten andern europäischen Staaten, muss doch alles vernünftigerweise Mögliche geschehen, um sie zu bekämpfen und ihre Folgen zu mildern.

Der richtige Weg liegt aber auf alle Fälle nicht in der Eichtung, dass durch Hemmung der Freizügigkeit das Land in kantonale Wirtschaftsgebiete aufgeteilt würde, deren jedes auf Kosten der andern für sich selbst sorgt. Die Arbeitslosen dürfen nicht daran gehindert werden, Arbeit dort zu suchen, wo sie hoffen können, solche zu finden, wenn nicht gerade die Besten unter ihnen entmutigt und demoralisiert werden sollen. Der Weg ins Ausland ist ihnen heute vielfach versperrt. Auch zu seiner Weiterbildung ist der junge Arbeiter auf Freizügigkeit wenigstens in der Schweiz angewiesen, und diese Weiterbildung darf nicht unterbunden werden, wenn unsere Industrie leistungsfähig bleiben und nicht gezwungen werden soll, bessere und oft auch billigere Arbeitskräfte aus dem Ausland hereinzuziehen. Gerade die Arbeitsämter, also diejenigen Stellen, die das Übel kennen und mitten im Kampf dagegen stehen, halten lokale Abspemnassnahmen für ungeeignet und verderblich. Sie weisen mit Bechi auf die Gefahr hin, dass die Neigung zur lokalen Selbsthilfe durch Unterbindung der Freizügigkeit unverzüglich um sich greifen würde, sobald ihr die Bahn freigegeben wäre.

Wir sind aus den hier kurz zusammengefassten Gründen der vollen Überzeugung, dass jede Beschränkung der Freizügigkeit nicht nur verfassungswidrig, sondern auch ganz unzweckmässig wäre, weil sie dem Volksganzen sowohl wirtschaftlich wie auch moralisch und politisch Schaden und Gefahr bringen würde.

Wir wollen uns aber keineswegs damit begnügen, den Bestrebungen der am meisten unter der Arbeitslosigkeit leidenden Gegenden entgegenzutreten, wenn sie sich durch lokale Absperrung verfassungswidrig selbst helfen wollen, wir helfen auch gerne, mit den uns zu Gebot stehenden rechtmässigen Mitteln dem Übel zu wehren. Das Volkswirtschaftsdeparternent und insbesondere sein Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit tun alles, um einerseits die Abwanderung nach den Städten zu bremsen und andererseits Arbeitskräfte aus den Städten in die von der Arbeitslosigkeit weniger heimgesuchten Gegenden zu bringen. Der Bundesbeschluss vorn 21. Dezember
1934 über Krisenbekämpfung und Arbeitsbeschaffung, und die Yollziehungsverordnung vom 24. Mai 1935 über Arbeitsnachweis, berufliche Förderung und Erleichterung der Versetzung von Arbeitslosen eröffnen in dieser Hinsicht neue Möglichkeiten und werden auch zur Milderung der Notlage in den Städten beitragen.

Gerechterweise muss gesagt werden, dass das Verhalten ländlicher Gegenden den Städten nicht selten zu berechtigten Klagen Anlass gibt. Arbeitslose dürfen nicht weiterhin, offen oder versteckt, einfach nach der Stadt abgeschoben werden ; sie sind im Gegenteil vom Zug nach der Stadt abzuhalten, solange nicht bestimmt feststeht, dass sie dort Arbeit finden. Wir unterstützen dringend den Wunsch des Städteverbandes, dass die Gemeindebehörden und

985 namentlich die Armenbehörden angewiesen werden, dem ungesunden Zug nach der Stadt nach Möglichkeit entgegenzutreten. Das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit ist bestrebt, diese Bemühungen im Eahmen des rechtlich Zulässigen wirksam zu gestalten.

Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass für die Städte, soweit dies noch nicht geschehen ist, die Möglichkeit besteht, im Kahmen der Bundesvorschriften die Gewährung von Arbeitslosenunterstützung, beziehungsweise die Subventionierung derselben, davon abhängig zu machen, dass der Gesuchsteller während einer bestimmten Zeit in der Gemeinde gewohnt oder sich spätestens in einem bestimmten Zeitpunkt daselbst niedergelassen hat. Im weitern käme in Betracht eine Abänderung der vom Bund hinsichtlich der Fälle von Wohnortswechsel auf dem Gebiet der Arbeitslosenunterstützung erlassenen Bestimmungen in der Weise, dass der Übergang der Pflicht zur Beitragsleistung an die Arbeitslosenunterstützung vom bisherigen auf den neuen Wohnortkanton möglichst weit hinausgeschoben würde, was beispielsweise durch eine Verlängerung der in den Art. 13 der Verordnung IV zum Bundesgesetz vom 27. Februar 1934 über die Beitragsleistung an die Arbeitslosenversicherung und Art. 17 der Verordnung C vom 23. Oktober 1933 über die Krisenunterstützung für Arbeitslose aufgestellten Fristen geschehen könnte. Ein weiteres Mittel, das geeignet wäre, dem Zuzug zu den Städten entgegenzuwirken, bestünde im Ausschluss der landwirtschaftlichen Arbeiter, welche nur vorübergehend und saisonmässig in der Industrie tätig sind, von der Arbeitslosenversicherung. Diese Vorkehren würden aber leere Form bleiben, wenn dabei nicht alle in Frage kommenden Stellen, Behörden und Berufsverbände mit freundeidgenössischem Sinn mithelfen würden. Unter dieser verständnisvollen Mithilfe sind schon bisher namhafte Erfolge erzielt worden, die sicher noch wesentlich vermehrt werden können.

Wir ersuchen Sie, durch AVeisungen an die kantonalen und Gemeindebehörden und in jeder andern Ihnen möglichen Weise im Sinne dieses Kreisschreibens zu wirken.

Wir benützen den Anlass, Sie, getreue, liebe Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

Bern, den 17. Dezember 1935.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: B. Hinger.

Der Bundeskanzler:

G. Bovet.

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Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen betreffend die Frage der Freizügigkeit. (Vom 17. Dezember 1935.)

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18.12.1935

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