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Bericht

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des

Bundesrates au die Bundesversammlung über die Beschwerde der Regierung des Kantons Luzern gegen den Entscheid des Bundesrates vom 25. Mai 1906 betreffend Verweigerung der Erteilung eines Wirtschaftspatentes an Anton Bättig in Sempach*).

(Vom 16. November 1906.)

Tit.

Durch Entscheid vom 25. Mai 1906 hat der Bundesrat die Beschwerde des Anton Bättig in Sempach gegen den Regierungsrat des Kantons Luzern, wegen Verweigerung eines Gasthauspatentes, als begründet erklärt und die luzernische Regierung eingeladen, dem Gesuche des Rekurrenten zu entsprechen. Der Bundesrat gelangte im Gegensatz zur Vorinstanz zu der Bejahung der Bedürfnisfrage, und brauchte deshalb die kantonale Verfügung nicht auf ihre Übereinstimmung mit dem Grundsatze der Rechtsgleichheit zu prüfen.

Mit-Eingabe vom 21. Juli 1906 rekurriert die Regierung des Kantons Luzern gegen diesen Entscheid an die Bundesversammlung und verlangt, dass er aufgehoben werde.

In seinen Gegenbemerkungen zu dieser Beschwerde vom 18. August 1906, ersucht Anton Bättig um Bestätigung des bundesrätlichen Entscheides.

Die Beschwerde enthält in materieller Beziehung im wesentlichen nur eine eingehende Darlegung der zu gunsten der kantonalen Verfügung bereits geltend gemachten Gründe. Wir glauben daher im allgemeinen auf die Erwägungen unseres Entscheides vom 25. Mai 1906 verweisen zu können und beschränken uns auf folgende Bemerkung.

·*) Siehe Seite 689 hiernach.

688 Die luzernische Regierung bestreitet in der Einleitung ihrer Eingabe dem Bundesrat die Befugnis, die kantonale Entscheidung über die Bedürfnisfrage nachzuprüfen und behauptet, ihre Verfügung könne nur dann aufgehoben werden, wenn ihr Rechtsungleichheit oder -Willkür nachgewiesen werde. Es ist richtig, dass der Bundesrat in der Beurteilung des Bedürfnisses nicht ohne triftigeGründe von der Ansicht der kantonalen Behörde abweicht; er hat sich aber von jeher das Recht gewahrt, und musste es sieb als Hüter des in Art. 31 gewährleisteten Individualrechtes wahren, zu prüfen, ob die Verneinung der Bedürfnisfrage nicht mit den Tatsachen unvereinbar sei oder anderen Entscheidungen derselben.

Behörde widerspreche und deshalb als willkürlich oder rechtsungleich zu bezeichnen sei. Im vorliegenden Falle hatte der Bundesrat bereits in seiner Rekursentscheidung vom 29. Juli 1890' in Sachen Muff gefunden, dass das Bedürfnis für eine Wirtschaft bei der Station Sempach nicht verneint werden könne 5 er konnte daher heute, wo der Verkehr noch stark zugenommen hat, die Bedürfnisfrage nicht verneinen, ohne selbst eine Rechtsungleichheit zu begehen.

Wir stellen daher bei Ihrer hohen Behörde den Antrag: Es sei die Beschwerde der Regierung des Kantons Luzern, ali unbegründet abzuweisen.

B e r n , den 16. November 1906.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates,, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

L. Forrer.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Biiigier.

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Beilage.

Bundesratslbeschluss über

die Beschwerde des Anton Bättig, zur Seevogtei in Sempach, betreffend Verweigerung eines Wirtschaftspatentes.

(Vom 25. Mai 1906.)

Der schweizerische Bundesrat hat über die Beschwerde des Anton B ä t t i g , zur Seevogtei in Sempach, betreffend Verweigerung eines Wirtschaftspatentes, auf den Bericht seines Justiz- und Polizeidepartements, f o l g e n d e n Beschluss gefasst: A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt: I.

Mit Entscheid vom 3. Januar 1906 wies der Regierungsrat, des Kantons Luzern das Gesuch des Anton Bättig um Erteilung eines Gasthauspatentes für sein bei der Station Sempach-Neuenkirch zu erstellendes Haus mit der Begründung ab, das auf der genannten Station schon bestehende Gasthaus genüge dem vorhandenen Bedürfnis, die Bewilligung eines weitern müsse daher im Interesse des öffentlichen Wohles verweigert werden.

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Gegen diesen Entscheid richtet sich die von Anton ßättig am 8. Februar 1906 beim Bundesrat eingereichte Beschwerde, mit dem Begehren urn Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Zur Begründung führt der Rekurrent in Beschwerde und Replik im wesentlichen folgendes an : Das projektierte Gasthaus solle in unmittelbarer Nähe der Bahnstation im Gebiete der Gemeinde Neuenkirch erstellt werden.

Sempach und Neuenkirch seien je eine gute halbe Stunde von der Station entfernt. Bis in die Neunzigerjahre hätten auf der Station zwei Wirtschaften bestanden. 1889 habe der Regierungsrat, dem Tierarzt Muff das Patent für die zweite Wirtschaft entziehen wollen, doch sei die gegen diese Massregel gerichtete Beschwerde Muffs vom Bundesrat am 29. Juli 1890 gutgeheisseu worden.

Diese Wirtschaft sei durch Verzicht des Inhabers wegen grosser Inanspruchnahme in seinem ändern Berufe eingegangen. Seither bestehe bei der Station nur noch eine Wirtschaft. Die Frequenz der Station habe nun in den letzten Jahren ganz bedeutend zugenommen. Sie habe Personen:

im Jahre 1892 33,226

dagegen im Jahre 1904 43,810

Gepäck: 25 Tonneu 4l Tiere: 801 Stück 930 Güter: Versandt 2,289 Tonnen 3,244 Empfang 2,487 Tonnen 7,608 betragen. Die aus der doppelten Zähluug der Retourbillette resultierende Ungenauigkeit dieser Statistik falle nicht ins Gewicht, da ja anderseits die von ändern Stationen für Setnpach-Neuenkirch
Es sef nun zweifellos willkürlich, unter diesen Verhältnissen die Bedürfnisfrage gegenüber dem Rekurrenten zu verneinen, während der Bundesrat im Entscheide Muff schon für das Jahr 1890 ausdrücklich das Bedürfnis nach zwei Wirtschaften an der Station Sempach-Neuenkirch anerkannt habe.

Die einzige Wirtschaft an der Station Sempach-Neuenkirch sei in den Siebzigerjahren für Fr. 23,000 erworben, im Jahre 1905 dagegen an den jetzigen Besitzer für Fr. 73,000 verkauft worden.

Diese Preissteigerung sei unabhängig von dem inzwischen dahingefallenen Projekt der Erstellung einer Kunstseidenfabrik bei der Station erfolgt; denn der Verkauf habe stattgefunden, ehe von diesem Projekt etwas bekannt wurde. Die ungeheure Wertvermehrung erkläre sich somit einzig aus der ganz ungewöhnlichen Frequenz der Wirtschaft, neben welcher also eine zweite sehr

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wohl am Platze wäre. Es gehe nicht an, einem einzigen Wirt das Monopol zur Ausbeutung des grossen Verkehrs einzuräumen.

Der mit den lokalen Verhältnissen am besten vertraute Gemeinderat von Neuenkirch habe in seinem Gutachten das Gesuch Bättig dringend empfohlen, weil ,,schon seit längerer Zeit die Beobachtung gemacht werde, dass bei der Station Sempach-Neuenkivch eine zweite Wirtschaft mit Beherbergungsrecht nötig sei", um dem von Jahr zu Jahr steigenden Verkehr zu genügen.

In der Abweisung Bättigs liege aber auch ein Akt -rechtsungleicher Behandlung. In Nebikon, einer Gemeinde von 610 Ein wohnern, mit kleinerem Personenverkehr bestünden z. B. drei Wirtschaften, die alle zum grössten Teil auf die Statiousfrequenz angewiesen seien. Aus der beigelegten Tabelle gehe hervor, dass in 46 luzernischen Gemeinden schon auf weniger als 354 Einwohner eine Wirtschaft komme. Gisikon mit nur 144 Seelen besitze fünf Wirtschaften. In dem Verhältnis von einer Wirtschaft auf zirka 360 Einwohner, wie es in Neuenkirch vorliege, sei also ein Grund zur Abweisung Bättigs umsoweniger zu erblicken, als die Bevölkerung Neuenkirchs seit dem Jahre 1898 langsam aber stetig zunehme.

II.

Der Regierungsrat des Kantons Luzern beantragt Abweisung der Beschwerde und begründet dies in seiner Antwort vom 3. März und Duplik vom 11. April 1906 im wesentlichen folgendermass en: Die Beschwerde des Tierarztes Muff sei allerdings von der Bundesbehörde geschützt worden. Im Jahre 1893 aber habe Herr Muff auf die Konzession verzichtet, und zwar weil er nicht auf seine Rechnung kommen konnte. Seither habe niemand ein^ Bedürfnis nach einer zweiten Wirtschaft auf der Station SempachNeuenkirch verspürt, bis Mitte letzten Jahres das Projekt einer Kunstseidenfabrik die Spekulation angeregt habe, aus welcher auch das Gesuch Bättig entsprungen sei. Der Verkehr auf der Station sei nicht so bedeutend, wie ihn der Rekurrent darstelle.

Nach einer Zusammenstellung des Stationsvorstandes seien im Jahre 1905 allerdings 23,953 Billette ausgegeben worden ; davon entfielen aber zirka 18,000 auf Rückfahrtkarten und nur der Rest seien einfache Billette. Ein grosser Prozentsatz der Reisenden besuche die Wirtschaft an der Station nicht. Die Wirtschaft Lippenrüti in der Richtung Neuenkirch sei in 15 Minuten von der Station aus erreichbar und das Städtchen Sempach in einer halben Stunde. Auf eine Zunahme des Güterverkehrs könne nicht gerechnet werden. Neuenkirch besitze gegenwärtig sechs Wirtschaften.

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Seine Bevölkerung sei von 2413 im Jahre 1850 auf 2126 im Jahre 1900 zurückgegangen.

In Nebikon befänden sich das Gasthaus zum Adler -- übrigens ein altes Realrecht -- und die Speisewirthschaft Areggen nicht auf dem Bahuhofplatz. Ein im Jahr 1877 in der Nähe der Bahnhofrestauration entstandenes Wirtshaus sei im Jahr 1881 wieder eingegangen. Die vom Rekurrenten zusammengestellte Tabelle beweise nichts; denn das Wirtschaftsgesetz stelle bezüglich der Patenterteilung nicht auf ein bestimmtes Verhältnis zwischen der Zahl der Wirtschaften und der Bevölkerungsziffer ab. Asserdem seien früher mehr Wirtschaften als nötig bewilligt worden. Seit dem Inkrafttreten des Bedürfnisartikels im Jahre 1897 werden aber Patente nur dort erteilt, wo die Bedürfnisfrage ohne Zweifel bejaht werden müsse.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: Der Rekurrent beruft sich in der Beschwerde auf den Entscheid des Bundesrates vom 29. Juli 1890 über die Wirtschaftsbeschwerde des Tierarztes Muff gegen eine Schlussoahme des Regierungsrates des Kantons Luzern, welcher sich geweigert hatte, das Patent für die Wirtschaft Muff an der Station SempachNeuenkirch zu erneuern. In der Tat weist der vorliegende Fall grosse Ähnlichkeit mit dem Fall Muff auf. Die gleiche Wirtschaff, die heute allein bei der Station, betrieben wird, bestand schon damals, neben der Wirtschaft Muff. Als der Regierungsrat sich weigerte, dem Tierarzt Muff das Patent zu erneuern, machte er, wie im jetzigen Rekursfalle, geltend, dass eine einzige Wirtschaft bei der Station allen Bedürfnissen vollauf genüge. Von der Beurteilung der Bedürfnisfrage hängt also, wie damals, der Entscheid ab. Das vom Rekurrenten geplante Gasthaus würde an die Stelle der inzwischen durch Verzicht des Inhabers im Jahre 1893 eingegangenen Wirtschaft Muff treten. Im Fall Muff hat der Bundesrat die Bedürfnisfrage im Gegensatz" zur Regierung bejaht, indem er das Hauptgewicht darauf legte, dass die Wirtschaft Muff in erster Linie dem ziemlich bedeutenden Verkehr auf der Station zu dienen bestimmt sei und sich daher in einer ändern Lage befinde als die übrigen Wirtschaften von Sempach und Neuenkirch. Nun handelt es sich allerdings im Fall Muff : nur um die Erneuerung eines schon bestehenden Patentes und es liegt nahe, in solchen Fällen bei Beurteilung der Bedürfnisfrage einen etwas mildern Massstab anzusetzen als bei der Neugründung einer Wirtschaft,

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wie sie vom Rekurrenten geplant ist. Allein anderseits haben sich die für die Beurteilung der ßedürfnisfrage massgebenden tatsächlichen Verhältnisse gegenüber dem Jahre 1890 nicht unerheblich geändert, indem der Verkehr auf der Station Sempach-Neuenkirch ganz bedeutend zugenommen hat, wie dies aus folgender Tabelle hervorgeht: Personen Gepäck Vieh Güter: Versandt Empfang Total Güter

Im Jahre 1889

im Jahre 1904

27,645 24 Tonnen 576 Stück 2,228 Tonnen 1,884 ,, 4,112 ,,

43,810 41 930 3,244 7,608 10,852

Diese Zunahme des Verkehrs hat denn auch den Genieinderat Neuenkirch veranlasst, in seinem Gutachten das Gesuch ßättigs zu unterstützen. Der Gemeinderat stellt dabei eine weitere Steigerung des Stationsverkehrs für die Zeit in Aussicht, da die Strasse nach Mettenwi] erstellt sein wird, deren Bau beschlossen ist und die die Dörfer Hildisrieden und Rain direkt mit der Station Sempach-Neuenkirch verbinden wird.

Dass Tierarzt Muff im Jahr 1893 auf den Betrieb seiner Wirtschaft verzichtet hat, beweist nicht, dass für eine zweite Wirtschaft bei der Station Sempach-Neueukirch kein Bedürfnis bestehe. Einerseits enthalten die Akten keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Verzicht auf schlechten Gang der Wirtschaft zurückzuführen sei; in der vom Rekurrenten beigebrachten Erklärung Muffs vom 15. März 1906 werden vielmehr andere Gründe für den Verzicht genannt und die Rendite der Wirtschaft ausdrücklich als eine gute bezeichnet. Anderseits aber zeigt die Tabelle unter A I oben, dass sich auch seit dem Jahr 1893 der Verkehr auf der Station Sempach-Neuenkirch wesentlich vergrössert hat.

Wenn die Regierung andeutet, dass sie nach Gutheissung der Beschwerde Bättigs eventuell noch weitere Patentgesuche für Neuenkirch bewilligen müsste. so ist dieser Einwand nicht stichhaltig. Denn das Gesuch des Rekurrenten hat die Priorität für sich und Bättig allein hat gegen die Abweisung seines Gesuches rekurriert.

Aus dem vorstehenden ergibt sich, dass die Bedürfnisfrage, wie im Jahre 1890 anlässlich der Beschwerde Muff, so auch heute

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zu gunsten des Rekurrenten bejaht und der Rekurs gutgeheissen werden muss. Die Frage der rechtsungleichen Behandlung aber braucht unter diesen Umständen nicht geprüft zu werden.

Demgemäss wird erkannt: Die Beschwerde wird als begründet erklärt und demgemäss die Regierung des Kantons Luzern eingeladen, dem Rekurrenten das von ihm verlangte Gasthauspatent zu erteilen.

B e r n , den 25. Mai 1906.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

L. Forrer.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Ringi er.

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Bericht des Bundesrates au die Bundesversammlung über die Beschwerde der Regierung des Kantons Luzern gegen den Entscheid des Bundesrates vom 25. Mai 1906 betreffend Verweigerung der Erteilung eines Wirtschaftspatentes an Anton Bättig in Sempach*). (...

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21.11.1906

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