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Schweizerisches Bundesblatt.

58. Jahrgang. IV.

Nr. 27.

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4. Juli 1906.

Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Erlass eines Bundesgesetzes über die Begnadigung.

(Vom 3. Juli 1906.)

Tit.

Bei Beratung des Geschäftsberichtes des Bundesrates und des Bundesgerichtes pro 1902 haben Sie ein Postulat angenommen, lautend : ,,Der Bundesrat wird eingeladen, die Frage zu prüfen, ob nicht die Ausübung des Begnadigungsrechtes neu zu ordnen sei, und eventuell einen bezüglichen Gesetzesentwurf vorzulegen."

Gestützt auf ein vom Generalanwalte erstattetes und vom Justiz- und Polizeidepartement genehmigtes Gutachten beehren wir uns, diesem Auftrage nachzukommen, indem wir Ihnen den Entwurf zu einem Bundesgesetze über die Begnadigung vorlegen und denselben begründen wie folgt : Der gegenwärtige Stand der Bundesverfassung und der Bundesgesetzgebung betreffend die Begnadigung ist, soweit die bürgerliche Gerichtsbarkeit in Frage kommt, ausgedrückt : a. in Art. 85 und 92 der Verfassung, lautend : Art. 85. Die Gegenstände, welche in den Geschäftskreis der Räte fallen, sind insbesondere folgende : Ziffer 7 i. f. Amnestie und Begnadigung.

Art. 92. Jeder Rat verhandelt abgesondert. Bei Ausübung des Begnadigungsrechtes vereinigen sieh jedoch beide Räte.

Bundesblatt. 58. Jahrg. Bd. IV.

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&. in Art. 125, lemma l und 2, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, vom 22. März 1893, verbis : Das Bundesstrafgericht hat erst- und letztinstanzlich die Straffälle zu beurteilen, welche der Bundesstrafgcrichtsbarkeit unterstellt sind und nicht nach Massgabe dieses Gesetzes in di-e Kompetenz der Assisen fallen.

Es steht indessen dem Bundesrate frei, die Untersuchung und Beurteilung solcher Straflälle an die kantonalen Behörden zu weisen. Die Kantonsbehörden haben bei der Beurteilung das Bundesstrafrecht anzuwenden. Das Begnadigungsrecht bleibt der Bundesversammlung vorbehalten.

c. im Bundesgesetz über die Bundesstrafrechtspi'lege, voci 27. August 1851, Titel IX, ,,Von der Begnadigung" : Art. 160 bis 174, verbis :

Art. 169.

Wegen jedes von einer Assise oder dem Kassationsgerichte ausgefällten Urteils kann die Begnadigung nachgesucht werden.

Art. 170.

Das eingereichte Begnadigungsgesuch hat, ausgenommen bei Todesurteilen, keine aufschiebende Wirkung.

Art. 171.

Die Begnadigung kann durch die Geschwornen, durch das Gericht oder den Gerichtshof, welcher das Urteil gefällt hat, empfohlen werden.

Art. 172.

Das Begnadigungsgesuch wird in der Form einer Bittschrift bei dem Bundesrate angebracht. Nachdem dieser den Untersuchungsrichter und den Beamten der Bundesanwaltschaft, welche in diesem Geschäfte funktionierten, angehört hat, bringt er das Gesuch mit seinem Antrag vor die Bundesversammlung. Der Bundesrat kann auch von sich aus auf Begnadigung antragen.

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Art. 173.

Die Begnadigungsbeschlüsse werden nicht motiviert.

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Art. 174.

Die Begnadigung bewirkt die ganze oder teilweise Aufhebung der Strafe.

Sie übt keinen Einfluss auf die zivilrechtlichen Folgen des Verbrechens oder Urteils aus.

Eine Kompetenz besonderer Art zu Strafnachlass wird dem Bundesrate eingeräumt in den Fällen von Übertretung fiskalischer und polizeilicher Bundesgesetze bei freiwilliger Unterziehung der Fehlbaren vor Überweisung an die Gerichte,. Bundesgesetz vom 30. Juni 1849, Art. 12, verbis :

Art. 12.

Wenn ein Übertreter in dem Zeitpunkt, in welchem das Protokoll oder der Bericht abgefasst wird, sich schriftlich und ohne Vorbehalt unterzieht, kann ihm der Bundesrat einen Teil der Geldbusse erlassen. Dieser Nachlass darf aber einen Dritteil der Strafe nicht übersteigen.

Der Übertreter, welcher sich schriftlich und unbedingt innerhalb der Frist von 8 Tagen, von der Anzeige an gerechnet, der verfallenen Strafe unterzieht, kann von dem Bundesrate, unter vorhandenen mildernden Umständen, den Nachlass eines Teils der Strafe erhalten.

Dieser Nachlass darf aber einen Vierteil der Strafe nicht übersteigen.

Die Kantonalbehörden können in den durch das gegenwärtige Gesetz vorgesehenen Fällen weder Busse, noch Kosten, noch Gefängnisstrafe nachlassen.

Die Bundesgesetzgebung enthält demnach keine Bestimmungen über die Amnestie.

Was das militärische Justizwesen anbetrifft, so bestimmt die Militärstrafgerichtsordnung vom 28. Juni 1889 im V. Abschnitt, betitelt : ,,Begnadigung", folgendes :

Art.

214.

Ein zu einer Freiheitsstrafe Verurteilter kann bis zum Schlüsse der Vollstreckung beim Bundesrate, im Falle des aktiven Dienstes beim Höchstkommandierenden, um Begnadigung einkommen..

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Lautet das Urteil auf Todesstrafe oder ist es von dem ausserordentlichen Militärgerichte gefällt, so steht das Recht der Begnadigung der Bundesversammlung zu.

Art. 215.

Nach Verbüssung der Hauptstrafe kann der zum Verlust der bürgerlichen Rechte und Ehren Verurteilte beim Bundesrate die Wiedereinsetzung in den bürgerlichen Ehrenstand nachsuchen.

Art. 216.

Die Einreichung eines Begnadigungsgesuches hemmt den Strafvollzug nur, wenn das Urteil auf Todesstrafe lautet. Vorbehalten bleibt Art. 211.

Art. 217.

Die privatrechtlichen Folgen eines Strafurteiles und das Kostenerkenntnis werden durch die Begnadigung nicht berührt.

Über die kantonalrechtlichen Gesetze betreffend Begnadigung referiert Prof. Stooss in den Grundzügen des schweizerischen Strafrechtes, Bd. I, pag. 450 ff. Er konstatiert dabei sehr grosse Verschiedenheit sowohl in den Voraussetzungen der Begnadigung als in ihren Rechtswirkungen. Was die Instanzen betrifft, von welchen die Rechtswohltat gewährt werden kann, so ist es meist die oberste Administrativbehörde, der kantonale Grosse Rat oder der Kantonsrat. In Baselstadt und Schaffhausen entscheidet in der Regel der Kleine Rat oder Regierungsrat, ebenso besteht in ändern Kantonen eine Teilung der Kompetenz je nach der Schwere des Verbrechens oder der ausgesprochenen Strafe. In Genf ist das Begnadigungsrecht bei einem bestimmten Mindestmass der Strafe an die Begnadigungskommission des Grossen Rates delegiert. Waadt gibt dem Regierungsrat, Tessin dem Regierungsrat und dem Obergericht das Recht, Begnadigungsgesuche von sich aus abzulehnen, doch fordert Tessin, dass der Beschluss von beiden Behörden einstimmig gefasst worden sei (Stooss a. a. 0., pag. 461/62).

Nach dem Vorstehenden ist zurzeit nur das Begnadigungswesen durch Bundesgesetz geordnet, nicht auch die mit demselben nahe verwandte und in der Bundesverfassung erwähnte Amnestie. Es scheint auch nach dem Wortlaut Ihres Postulates von Ihnen nicht gewünscht zu werden, dass bezüglich der Am-

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nestie besondere Vorschriften aufgestellt werden. Die bisherige Erfahrung seit 1848 hat gezeigt, dass ganz wohl ohne solche Vorschriften über Gewährung dieser besonders gearteten Rechtswohltat im Bedarfsfall entschieden werden kann. Es sei diesfalls lediglich verwiesen auf die Diskussion und den Beschluss der eidgenössischen Räte in dem Amnestiegesuch zu gunsten der vom Divisionsgericht der I. Division Anfang 1902 in Genf wegen Ausreissens verurteilten Militärpflichtigen (Stenogr. Bulletin der Schweiz. Bundesversammlung vom Dezember 1902, XII. Jahrgang, pag. 740 ff.).

Die Begriffe von Amnestie und Begnadigung sind im schweizerischen Staatsrechte nicht genau auseinandergehalten.

Wohl dürfte im Ernste nicht bestritten werden, dass die Begnadigung im engern Sinne die erfolgte Ausfällung eines verurteilenden Erkenntnisses des Strafrichters zur Voraussetzung hat und dass ihre Wirkung darin besteht, die Straffolge für den Verurteilten ganz oder teilweise aufzuheben. Dies ist der Inhalt des Titel IX des Bundesgesetzes über die Bundesstrafrechtspüege und derjenige des Entwurfes des Bundesrates vom Jahre 1892 zur Revision des Organisationsgesetzes in Kapitel F : Begnadigung, Art. 168 (Bundesbl. 1892, II, 443). Auch Herr Nationalrat Erosi hat in seinem Votum über die Amnestiefrage von 1902 sich auf den gleichen Boden gestellt, indem er erklärte : ,,Die Begnadigung ist, wenigstens nach unserer schweizerischen Auffassung, nach unserem jetzigen Recht, ein Akt, bei welchem nicht öffentliche Interessen massgebend sind, sondern sie ist ein Akt der Milde, der einem Individuum gegenüber vorgenommen wird, welches um Gnade ersucht, w e i l d i e a u s g e s p r o c h e n e S t r a f e m i t seiner Schuld nicht im richtigen Verhältnisse s t e h e . " (Stenogr. Bulletin, zit. pag. 747.)

In gleicher Art äusserte sich der Berichterstatter der ständerätlichen Kommission in obiger Sache, Herr Calonder (Stenogr. Bulletin, pag. 480 i. f.).

Die eidgenössischen Räte haben allerdings gerade in dem Falle der Genfer Milizen von 1902 es als zulässig erklärt, dass auch nach erfolgter Urteilsfällung eine ausgesprochene Strafe diirch Gewährung von Amnestie gemildert werden könne, dass also die Amnestie aus Gründen des öffentlichen Interesses da gewährt werden könne, wo die Grundlagen einer Entscheidung der Begnadigungsbehörde vorhanden wären. Wir glauben nicht,

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dass diese Tatsache dazu zwinge, von der oben entwickelten Definition des Wesens der Begnadigung abzugehen ; sie fülirt nur zu dem Schlüsse, dass ausgesprochene Strafen sowohl durch Begnadigung als durch Amnestie ganz.oder teilweise aufgehoben werden können.

Wenn wir Ihnen im folgenden vorschlagen, die Begnadigung im engern Sinne durch ein Spezialgeselz zu regulieren und dabei auf eine gesetzgeberische Behandlung der Amnestie nicht einzutreten, so befinden wir uns in Übereinstimmung mit den Kommissionen, welche den Stoosä'schen Vorentwurf zum schweizerischen Strafgesetzbuche bis jetzt durehberaten haben und mit dem Redaktor dieses Vorentwurfes.

Wir verweisen insbesondere auf die Vorlage der E'xpertenkommission von 1903, welche die Begnadigung im engeren Sinne lediglich als eine der Voraussetzungen des Wegfalles der Strafen erwähnt (Art. 54) und von der Amnoslie überhaupt nicht spricht, während die Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit (Rehabilitation) sowohl nach ihrem Charakter als nach ihren Wirkungen im Vorentwurf vollständig behandelt wird. (Art. 40, 58, § ± und 3, und Art. 230 des Entwurfes.) Die Expertenkommission ist demnach von der Ansicht ausgegangen, dass die Regelung des Begnadigungswesens Sache der Spezialgesetzgebung sei.

Über den Umfang des Begnadigungsrechtes der Bundesbehörden in bürgerlichen Strafsachen dürfte zurzeit kein Streit herrschen. Es nmfasst alle und jede Entscheide, in welchen auf Grund eidgenössischer Gesetze Strafen ausgesprochen wurden, sei es von Gerichtshöfen des Bundes (Bundesassisen oder Bundesstrafgericht), sei es von kantonalen Instanzen, ohne Unterschied ferner, ob die Kompetenz der letztern im Einzelfall, begründet worden sei durch Delegation der Gerichtsbarkeit mittelst Beschluss des Bundesrates oder ob sie hervorgehe aus einem Bundesgesetz strafrechtlicher oder strafpolizeilicher Natur. Diese umfassende Kompetenz der Bundesbehörden ergibt sich aus Art. 85 der Bundesverfassung und Art. 125 des Organisationsgesetzes. Sie wurde in jüngster Zeit ausdrücklich anerkannt durch das Bundesgericht in einem Konfliktfall zwischen dem Bundesrat und der Begnadigungskommission des Grossen Rates des Kantons Genf (Urteil vom 14. September 1903, abgedruckt in Entscheid. Bd. XXIX/I, pag. 311 ff.).

Die Anzahl der Begnadigungsgesuche, mit welchen sich die Bundesversammlung zu befassen hatte, ist in den letzten

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Jahren ganz unverhältnismässig angewachsen, teils infolge Erweiterung der eidgenössischen Gesetzgebung, teils infolge der Androhung von allzu hohen Strafminima durch einzelne neuere Strafpolizeigesetze. Dabei handelt es sich meist um an sich unbedeutende Geldbussen, selten um erhebliche Gefängnisstrafen, verhängt wegen Übertretungen der Vorschriften des Bundesgesetzes über Fabrikation und Vertrieb von Phosphorzündhölzchen, über Patenttaxen der Handelsreisenden, über schuldhafte Nichtleistung des Militärpflichtersatzes u. s. w. Die Begnadigungsgesuche von Personen, die wegen Gefährdung des Eisenbahn- und Trambetriebes bestraft wurden, haben fast ganz aufgehört, seit durch Revision des Art. 67 des Bundesstrafrechtes im Jahre 1902 dem urteilenden Richter die Möglichkeit gegeben wurde, bei bloss fahrlässiger Gefährdung nur auf Geldbusse zu erkennen.

Umgekehrt führte das übertriebene Mindestmass der im Gesetze vom 2. November 1898 enthaltenen Strafandrohung gegen die Einfuhr und den Vertrieb von Phosphorzündhölzchen zu immer neuen Gesuchen um gnadenweise Ermässigung der daraus resultierenden Strafen und zwang die Erkenntnis des Missverhältnisses zwischen Schuld und Strafsatz die angerufene Instanz, beinahe in allen Fällen den Richterspruch zu mildern, bis auch in dieser Beziehung eine Novelle Remedur schaffte (Bundesgesetz vom 1. Juli 1905, A. S. n. F. XXI, 659).

Nach den Geschäftsberichten des eidgenössischen Justizund Polizeidepartementes wurden von der vereinigten Bundesversammlung Begnadigungsgesuche behandelt in den Jahren : 1900 17 1901 29 1902 30 1903 26 1904 60 1905 30 Die Gesuche von 1903/05 bezogen sich auf Bestrafungen wegen : 1903

Eisenbahngefährdungen .

2 Fälschung von Bundesakten l Beschädigung von Stark- und Schwachstromanlagen -- Schuldhafter Nichtleistung von Militärpflichtersatz 6

1904 1905

2 2

4 2

l

l

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160 Widerhandlung gegen ., T) ., ·fi ,, ·n .0 ·fi n » ., V) ., n schutzffesetz .

das Patenttaxengesetz .

,, Zündhölchengesetz .

,. Fischereigesetz . .

,, Viehseuchengesetz .

,, Zollgesetz ,, Forstpolizeigesetz .

,, Alkoholgesetz . .

,, Jagd- und Vogel-

1903

19C4

1905

2 7 o· 1 1 1 --

5 9 2 3 1 i 2

2 1 -- ....

.._ -- -- 2

Zahl und Qualität dieser Geschäfte der vereinigten. Bundesversammlung machen es dringend wünschbar, wenn irgend zulässig, eine andere Art der Erledigung einzuführen. Sie bedeuten eine ganz erhebliche Belastung für die eidgenössischen Räte und ihre Kommissionen und sind in ihrem Wesen und in den Wirkungen so unendlich geringfügig im Verhältnis zu den übrigen Aufgaben dieser Instanzen, dass ihre Eliminierung aus dem Traktandenverzeichnis von allen möglichen Gesichtspunkten aus als Verbesserung begrüsst werden müsste.

Dagegen fragt es sich, ob die Begnadigungsgesuche nicht durch den Wortlaut der Art. 85 und 92 der Bundesverfassung mit solcher Bestimmtheit in die Kompetenz der Bundesversammlung verwiesen seien, dass die Änderung dieser Verfassungsbestimmungen nötig wäre, um einen ändern Rechtszustand herbeizuführen. Der Bundesrat hat sich bereits zweimal in Berichten an die Bundesversammlung über diese Frage ausgesprochen, zuerst im Jahre 1883 (Bundesbl. 1883, I, 525), sodann in abschliessender, erweiterter Art bei Vorlegung des Entwurfes von 1892 zur Revision des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege (Bundesbl. 1892, II, 369/70). Im Berichte von 1883 wurde zuerst festgestellt, dass das Begnadigungsrecht als ein Ausfluss der Souveränität dem Bunde so weit zukomme, als seine Souveränität reiche, also auch in denjenigen Fällen, wo die Strafgerichtsbarkeit in Anwendung eidgenössischer Gesetze von kantonalen Richtern ausgeübt werde, mit der Begründung : ,,Die kantonalen Gerichte besitzen in diesen Fällen keine aus der kantonalen Souveränität fliessende, eigene, sondern eine ihnen vom Bunde übertragene Jurisdiktion, sie erscheinen als die Mandatare der Bundesgewalt."

Diese Sätze wurden in der Botschaft; des Bundesrates von 1892 als unbestreitbar richtig bezeichnet und sie gelten, wie oben ausgeführt, auch noch jetzt als grundlegende Norm für die

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Behandlung von Begnadigungsgesuchen. Dagegen gelangte der Bundesrat im Jahre 1892 zu einer ändern Lösung der Frage, ob nicht der Bund die Ausübung dieses Rechtes in den Fällen an die Kantone delegieren könne, in denen er ihnen die Gerichtsbarkeit übertragen habe. Diesfalls war im Bericht von 1883 ausgeführt: ,,Wir sind der Ansicht, dass, wenn eine solche Übertragung statthaft wäre, dieselbe jedenfalls nicht durch blossen Bundesbeschluss, sondern nur in Form eines Gesetzes ausgesprochen werden könnte. Wir halten sie jedoch für unzulässig, da es nicht angeht, die Kantonsbehörden ein Souveränitätsrecht des Bundes ausüben zu lassen, dessen Anwendung im einzelnen Falle die Aufhebung der Wirksamkeit und Vollziehung bundesrechtlicher Normen bedeutet."'

In der Botschaft von 1892 erklärt der Bundesrat, dass ihm eine sehr erhebliche Einschränkung des letzten Satzes geboten erscheine, und er spricht sich darüber aus wie folgt : ,,Es ist als sehr erfreuliches Resultat der wissenschaftlichen Diskussion die Übereinstimmung der Vertreter der Wissenschaft gerade in dem Punkte zu konstatieren, der für die vorwürfige Frage der wichtigste ist, darin nämlich, dass die Kantone auf allen von der Bundessouveränität beherrschten Gebieten als Organe des Bundes zu betrachten sind.

,,In diesem Sinne sprechen sich nicht nur Blumer-Morel, v. Orelli und andere Bearbeiter des schweizerischen Bundesstaatsrechtes aus, sondern damit stimmt auch derjenige Schriftsteller über das öffentliche Recht der Eidgenossenschaft überein, welcher die absolute Gleichwertigkeit der kantonalen und der eidgenössischen Souveränität am nachdrücklichsten betont, Dubs. (Man vergleiche Dubs, Öffentliches Recht, II, S. 24, 28, 29.)

,,Nun gilt aber allgemein das Recht der Begnadigung als ein Souveränitätsrecht, das seiner Ausübung nach übertragbar ist.

,,Eine solche Übertragung findet auch überall, je nach der Staatsform in mehr oder weniger Fällen, statt. In der Eidgenossenschaft wäre die Ausübung des Begnadigungsrechtes durch den Souverän selbst eine praktisch beinahe unausführbare Sache, jedenfalls ein im höchsten Grade schwerfälliges Geschäft. Denn der Souverän in unserem Bundesstaate ist nach der gegenwärtigen Verfassung das Schweizer-

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volk in Verbindung mit den Kantono;1. : diese beiden Faktoren geben dem Lande seine Verfassung.

..Seit 1848 wurde bei uns das Begnadigungsrecht von bestimmten Behörden im Namen des Souveräns ausgeübt.

,,Es ist bereits als eine Übertragung dieses Rechtes, der Ausübung nach, anzusehen, wenn die Bundesverfassung die Begnadigungsbefugnis in die Zuständigkeit der Vereinigten Bundesversammlung gelegt hat.

,,Durch das Bundesgesetz vom 30. Juni 1849 betreffend das Verfahren bei Übertretungen fiskalischer und polizeilicher Bundesgesetze (Art. 12) hat der eidgenössische Gesetzgeber dem Bundesrate ein Begnadigungsrecht verliehen, den Kantonen dagegen, obgleich er ihnen das gerichtliche Verfahren überliess, jedes Strafnachlassrecht aberkannt.

,,Abweichend hiervon verfuhr das Bundesgesetz über die Strafrechtspflege für die eidgenössischen Truppen vom 27. August 1851. Es spricht das Begnadigungsrecht vor dem Vollzug des Strafurteiles dem Oberstkommandierenden (Art. 424 bis 427) -- in Friedenszeiten tritt an dessen Stelle der Bundesrat --, nach einmal in Vollziehung gesetztem Urteil aber der Bundesversammlung zu (Art. 428), ausgenommen, wenn es sich um ein von einem Kantonalkriegsgerichte gesprochenes Urteil handelt ; Art. 433 des Gesetzes sagt : ,,Die Begnadigung oder Rehabilitation der durch die Kantonalkriegsgerichte verurteilten Personen ist Sache der Kantone." Dabei fällt namentlich in Betracht, dass die Kantonalkriegsgerichte nach dem Gesetze von 1851 nicht bloss dann zu urteilen hatten, wenn das Verbrechen im kantonalen Militärdienste verübt worden, sondern in gewissen Fällen auch dann, wenn die Tat während des eidgenössischen Dienstes begangen war (Art, 209 1. c.).

,,Hinwieder hat das Bundesstrafgesetz vom 4. Februar 1853'(Art. 74, seit 1893 aufgehoben durch Art. 227, Absatz 6, des Organisationsgesetzes) die Ausübung der'Strafgerichtsbarkeit des Bundes durch die Kantonalgerichte eingeführt, obwohl eine solche Delegation in der Bundesverfassung (Art. 107) durchaus nicht vorgesehen war, bezüglich des Begnadigungsrechtes aber eine Delegation an die Kantone ausdrücklich ausgeschlossen.

,,Wir können daher sagen, dass die Bestimmung des Art. 74, Ziffer 7, der Verfassung von 1848, gleichlautend

163 mit Art. 85, Ziffer 7, der jetzigen Verfassung, zufolge welcher ,,Amnestie und Begnadigung" in den Geschäftskreis beider Räte fallen, den Charakter einer organischen Bestimmung hat, welche erst durch anderweitige Bestimmungen des Bundesrechtes ihren Geltungsbereich angewiesen erhielt."

Letztere Ausführungen sind wir im Falle, bei erneuter Prüfung als richtig anzuerkennen, mit einer Ausnahme hinsichtlich des Charakters der Kompetenzen, welche in Art. 12 des Bundesgesetzes über das Verfahren bei Übertretung fiskalischer und polizeilicher Bundesgesetze dem Bundesrate eingeräumt sind.

Diese haben nicht die Eigenschaft einer Begnadigung nach ausgefälltem Urteil, sondern diejenige eines teilweisen Nachlasses der administrativ, unter Vorbehalt späterer gerichtlicher Entscheidung auferlegten Busse, wie aus der Unterstellung des Art. 12 unter den Titel II des Gesetzes ,,Strafanliündung11 und aus dem Wortlaut klar hervorgeht. Begnadigung im eigentlichen Sinne kann auch in Fällen dieser Art erst nach erfolgter gerichtlicher Verurteilung nachgesucht werden, und zwar gemäss geltendem Recht bei der Bundesversammlung (vgl. Salis, Schweizerisches Bundesrecht, II. Aufl., IV, pag. 404, Nr. 1736).

Wir halten demnach die Übertragung des Begnadigungsrechtes prinzipiell für zulässig, allerdings ohne uns dabei auf einen ausdrücklichen Rechtssatz der Bundesverfassung stützen zu können. Dagegen ist festzustellen, dass diese Delegation nirgends ausdrücklich untersagt ist. Wie in der Botschaft von 1892 mit zahlreichen Beispielen nachgewiesen wurde, hat der schweizerische Gesetzgeber von jeher statthaft erachtet, Kompetenzen der eidgenössischen Strafjustiz an die Kantone zu delegieren, auch wo nach der Verfassung das Geltungsgebiet des Biuidesrechtes allein in Frage kam. Wir ergänzen diese Beispiele durch Anführung der Tatsache, dass in den Bundesgesetzen über Wasserbaupolizei und Forstpolizei, über Fischerei, über sanitätspolizeiliche Massregeln gegen Epidemien und Viehseuchen, über Arbeit in den Fabriken, über den Geschäftsbetrieb von Auswanderungsagenturen und Privatunternehmungen im Gebiet des Versicherungswesens, über Mass und Gewicht u. s. w. die Gerichtsbarkeit auf dem Wege der Gesetzgebung in allen Teilen den Kantonen übertragen wurde, obschon die Art. 24--40 der Bundesverfassung diese Angelegenheiten der
Souveränität des Bundes unterstellen (vgl. Kronauer, Kompendium des Bundesstrafrechtes, II. Teil, B. Strafpolizeigesetze, pag. 213 ff.). Für das Industrierecht und die Zivil- und Straf-

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gesetzgebung des Bundes gilt dagegen die Vorschrift des Schlusslemmas von Art. 64 der Bundesverfassung, lautend : -,Die Rechtsprechung selbst verbleibt den Kantonen, mit Vorbehalt der dem Bundesgerichtc eingeräumten Kompetenzen."

Also in einzelnen Rechtssphären Delegation der Strafjustiz des Bundes an die Kantone aiif dem Wege der Gesetzgebung ohne Autorisation durch die Verfassung, anderswo ausdrückliche Wahrung der kantonalen Rechtsprechung in eidgenössischen Angelegenheiten, beides aber als Ausfluss des staatsrechtlichen Prinzipes, dass der Bund befugt sei, im Wege der Gesetzgebung die Ausübung seiner Justizhoheit an die Kantone zu delegieren.

Das schweizerische Bundesgericht hatte im Jahre 1893 Veranlassung, in zwei Fällen sich über die Rechtslage auszusprechen, die durch Delegation der Strafgerichtsbarkeit des Bundes an kantonale Behörden geschaffen wird (Entscheide XIX, pag. 87, Erw. 2, und 686, Erw. 2). Es stellte fest, dass nicht der Strafanspruch als solcher abgetreten, sondern nur die kantonale Behörde mit Geltendmachung desselben beauftragt werde.

Die Delegation als solche wurde auch vom Gerichte als zulässig anerkannt und respektiert.

Das Recht zum Erlass ausgefällter Strafen auf dem Wege der Begnadigung ist nun zweifelsohne ein einzelner Akt dieser Justizverwaltung, prinzipiell nicht verschieden von der Führung der Untersuchung, der Urteilsfällung und dem Strafvollzug, welche Vorstadien alle ohne Unterschied von jeher gesetzlich delegiert worden sind. Wenn die kantonalen Behörden infolge Übertragung der Gerichtsbarkeit die Kompetenz besitzen, Strafen aus eidgenössischen Gezetzen völlig frei innerhalb der gesetzlichen Schranken auszumessen, warum sollten sie nicht auch ermächtigt werden können, nach erfolgter Urteilsfällung unter besondern Bedingungen die Strafen durch den Akt der Gnade zu mildern ?

Die Bundesverfassung statuiert die Souveränität des Bunde? für die Ausübung der Begnadigung, das Gesetz überträgt dieselbe als eine abgeleitete an die Behörden der Kantone zur Ausführung nach den vom Bunde in Gesetzesform aufgestellten, für sie verbindlichen Rechtsgrundsätzen.

Sofern aber die Delegation an sich möglich ist, so kann sie unbedenklich auch in der Weise geschehen, dass das Be-

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gnadigungsrecht in gewissen Fällen dem Bundesrate übertragen wird. Bei Ausübung desselben vollzieht diese Behörde lediglich ein für sie verbindliches Bundesgesetz (Bundesverfassung, Art. 102/5).

Tatsächlich ist derartige Delegation vom eidgenössischen Gesetzgeber bereits sanktioniert worden, nämlich bei Erlass der Militärstrafgerichtsordnung vom Jahre 1889 (Art. 214 cit. auf pag. 3 unten). Die Botschaft des Bundesrates zu diesem Gesetz enthält keine Begründung für die Überweisung der Begnadigungsgesuche von Militarpersonen, welche zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden, an den Bundesrat, wohl aber gibt das Protokoll über die Verhandlungen der nationalrätlichen Kommission einigen Aufschluss über die Entstehung der ausnahmsweisen Bestimmung (Bundesbl. 1888, IV, 608/9). Es wurde dort (von Herrn Suter, St. Gallen) geltend gemacht, die Bestimmung von Art. 85, Ziffer 7, der Bundesverfassung sei eine organische, sie wolle nicht festsetzen, dass n u r die Bundesversammlung das Begnadigungsrecht ausüben könne, sondern bloss besagen, dass a u c h die Begnadigung in den Geschäftskreis beider Räte falle.

Herr Bundesrat Ruchonnet erklärte, der Bundesrat habe die Begnadigung in einzelnen Fällen der Bundesversammlung entzogen, um eine beschleunigte Erledigung zu ermöglichen. In einem Rechtsgutachten zu dem Begehren um Amnestie der Genfer Milizen von 1902 spricht sich Herr Prof. Hilty dahin aus : ,,Es sei aus Art. 214 der Militärstrafgerichtsordnung zu entnehmen, dass die Amnestie als Souveränitätsrecht des Bund e s delegier b a r sei, d e n n s o n s t w ä r e a u c h d i e Ü b e r tragung des Begnadigungsrechtes an den B u n d e s r a t a u s g e s c h l o s s e n g e w e s e n . " Endlich sei noch angeführt das Zitat des Herrn Nationalrat Brüstlein in der Amnestiedebatte von 1902, nach welchem früher bei ähnlichem Anlass Herr Ständerat Soldati erklärte : ,,que la grâce n'est qu'une sorte de juridiction prolongée" (Stenogr.

Bulletin a. a. 0., pag. 749).

Damit glauben wir die staatsrechtliche Frage, die uns von Ihnen unterbreitet wurde, im Sinne der Bejahung beantwortet zu haben, und zwar auf Grund der allein massgebenden Entwicklung des schweizerischen Bundesrechtes.

Wird aber durch eine derartige Gesetzgebung nicht die Gefahr einer Verschlechterung der Justizpi'lege entstehen, indem die Kantone von der ihnen abgetretenen Kompetenz einen Gebrauch machen, der dem Geiste der Bundesgesetzgebung nicht

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entspricht und Rechlsungleicliheiten bei Anwendung eidgenössischer Gesetze noch vermehrt ? Wir glauben nicht, dass diese Gefahr eine bedeutende sei, wenn in dem zu erlassenden Gesetze nur die Begnadigung in solchen Fällen delegiert wird, wo die Gerichtsbarkeit bereits gesetzlich den Kantonen zugeschieden ist, und wenn bestimmte Voraussetzungen für die Gewährung der Rechtswohltat vom Bunde verbindlich festgelegt werden. Anderseits aber wird eine vermehrte Gleichmässigkeit in der Behandlung der einzelnen Fälle in ihren verschiedenen Stadien dann vorhanden sein, wenn bezüglich der Begnadigung nach erfolgter Bestrafung eine Instanz des nämlichen Staatswesens entscheidet, dessen Gerichte das Urteil gefällt haben.

Auch wird in wünschenswerter Weise die Anomalie beseitigt, die darin liegt, dass jetzt über gnadenweiscn Erlass einer nach Art. 157 des Organisationsgesetzcs der Kantonskasse zufallenden Geldbusse ein Dritter entscheidet, der keine Kostenvergütung leistet.

Bevor wir zur Besprechung des Gesetzesentwurfes übergehen, den wir Ihrer Einsicht unterbreiten möchten, sei noch eine kurze Bemerkung beigefügt über den im Schosse der eidgenössischen Räte und anderwärts geäusserten Vorschlag, die Behandlung von Begnadigungsgesuchen einer Kommission, bestehend aus Mitgliedern der Bundesversammlung zu übertragen, ähnlich der Begnadigungskommission des Grossen Rates des Kantons Genf. Dieser Modus scheint uns rechtlich nicht zulässig, denn nirgends ist in Bundesverfassung oder Bundesgesetzen den Kommissionen der eidgenössischen Räte irgendwelche Entscheidungskompetenz gewährt. Sie sind, auch nach dem Bundesgesetz über den Geschäftsverkehr vom 9. Oktober 1902, lediglich vorbereitende und antragstellende Instanzen.

Dies gilt namentlich für die Begnadigungskommission (Art. 29), und es wäre durch die zu behandelnde Materie nicht genügend gerechtfertigt, hier ausnahmsweise neue Kompetenzen einer Kommission zu schaffen. Jedenfalls dürfte niemand, der ein Begnadigungsgesuch gestellt hätte, verweigert werden, gegenüber einem nicht befriedigenden Entscheid der Beguadigungs- .

kommission an die vereinigte Bundesversammlung zu rekurrieren, und dadurch wäre der erstrebte Zweck der Vereinfachung des Geschäftsganges wieder grösstenteils vereitelt.

Das Justiz- und Polizeidepartement hat eine Kommission von Sachverständigen über die Frage konsultiert, ob die Delegation des Begnadigungswesens durch Bundesgesetz ver-

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fassungsrechtlich zulässig sei und in welcher Weise dieselbe geordnet werden könne. Der beiliegende Entwurf stimmt im wesentlichen überein mit den von den Kommissionsmitgliedern kundgegebenen Rechtsansichten, im übrigen schliesst er sich, soweit möglich, an die im Bundesgesetz über die Bundesstrafrechtspflege, IX. Titel, festgelegten Kechtsgrundsätze an unter Berücksichtigung der in vorstehenden Auseinandersetzungen skizzierten Ergebnisse der historischen Entwicklung des eidgenössischen Rechtes.

Are. l bietet keine Veranlassung zu weiteren Bemerkungen.

Art. 2. Die Aufzählung der Strafen, welche durch Begnadigung erlassen oder reduziert werden können, basiert auf Art. 2 des Bundesstrafrechtes vom 4. Februar 1853 und bezweckt die Ausschliessung der Wiedereinsetzung in die bürgerlichen Rechte aus diesem Verfahren, indem sie einstweilen noch gemäss Bundesstrafrechtspflege behandelt werden soll.

Art. 3 und 4 erklären sich durch Hinweis auf Art. 174/2 und 120, 122, 125 p und 126 b der Bundesstrafrechtspflege (vgl. axich die von Bundesrat und Bundesversammlung bei Erledigung von Begnadigungsgesuchen gebilligten Rechtssätze in Bundesbl. 1903, I, 594, Nr. 4).

Art. 5. Das im Grunde dem Schweizervolk als Souverän zustehende Recht der Begnadigung, dessen Ausübung durch die Bundesverfassung organisch der vereinigten Bundesversammlung zugeschieden wurde, wird durch den Entwurf an drei verschiedene Instanzen delegiert : a. an die Bundesversammlung, wenn die Potenten wegen politischer Verbrechen oder wenn sie in ändern Fällen vom Bundesgerichte mit Zuziehung von Geschworneii beurteilt wurden. Dabei ist organisch die Kompetenz der vereinigten Räte im Anschluss an Art. 92 der Bundesverfassung beibehalten ; b. an den Bundesrat in allen übrigen Fällen, in welchen die Rechtsprechung gesetzlich dem Bunde zusteht, gleichviel, ob Bundesstrafgericht oder kantonale Instanzen abgeurteilt haben ; c. an die nach Kantonalgesetzgebung zuständigen Kantonalbehörden überall da, wo die Rechtsprechung in Anwen-

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düng eidgenössischer Strafgesetze den kantonalen Gerichten von Gesetzes wegen zukommt.

Lit. a dürfte keiner weitern Begründung bedürfen.

Die Zweiteilung in lit. b und c aber bezweckt, mit der Entlastung der Bundesversammlung von Begnadigungsgeschäften geringerer Bedeutung die Einschränkung der Delegation an die Ivantone auf diejenigen Materien zu verbinden, in denen ihnen jetzt schon durch Bundesgesetz die Strafgerichtsbarkeit ohne weiteres übertragen ist. Der Entwurf bleibt dabei im Einklang mit den Vorschriften des Organisationsgesetzes, das hinsichtlich der Befugnis des Bundes zur Ergreifung von Rechtsmitteln und des Anfalles von Bussen, sowie Tragung der Kosten unterscheidet zwischen den Fällen, da die kantonalen Gerichte infolge von Delegation der Gerichtsbarkeit entscheiden, und denjenigen, da ihre Kompetenzen in einzelnen Bundesgesetzen begründet sind (Organisationsgesetz von 1893, Art. 146 ff.).

Die von der Bundesanwaltschaft geführte Statistik zeigt, dass vom November 1899 bis März 1906 im ganzen 193 Gutachten über Begnadigungsgesuche an den Bundesrat erstattet wurden. Dabei sind nicht berücksichtigt diejenigen Gesuche, welche wegen Inkompetenz der Bundesversammlung, Rückzug u. dgl. keine materielle Behandlung erfuhren. Urteile der Bundesassisen kamen überhaupt nicht in Betracht, dagegen waren in obiger Zahl 45 Fälle Inbegriffen, in denen die Gerichtsbarkeit gemäss Art. 125 des Organisationsgesetzes an die kantonalen Behörden delegiert worden war, nämlich : 1 Fall von Amtspflichtverletzung eines Postbeamten, 2 Fälle von Fälschung von Bundesakten, 3 Fälle von Gefährdung des Telegraphenverkehrs, resp.

wegen Störung von Stark- oder Schwachstromanlagen.

39 Fälle wegen Gefährdung des Eisenbahnbetriebes.

Die Gesuche letzterer Art sind, wie bereits erwähnt, und aus der Tabelle pag. 7 ersichtlich, seit der Novelle zu Art. 66 und 67 des Bundesstrafrechtes vom 5. Juni 1902 bedeutend weniger zahlreich. In den Jahren 1903 und 1904 gingen nur je zwei, 1905/06 nur fünf Gesuche gegen Urteile dieser Art ein, unter den erstem zwei, die sich auf eine unter dem alten Rechte ausgesprochene Strafe bezogen. In allen übrigen Begnadigungsgesuchen der Periode 1899/1906 handelte es sich um Urteile, in denen die kantonale Gerichtsbarkeit durch die anzuwendenden Bundesgesetze selbst begründet war, jiämlich :

169

1. Vergehen gegen das Alkoholgesetz 2.

,, ,, ,, Fischereigesetz . .

3.

,, ,, Forstpolizeigesetz .

" 4.

,, ,, Jagd und Vogelschutz .

5.

,, ,, die Militärsteuerpflicht .

6.

,, " das Patenttaxengesetz .

7.

,, ,, die Viehseuchenpolizei .

8.

,, ,, Zivilstand und Ehe . .

9.

,, ,, das Zollgesetz 10.

,, ,, ,, Zündhölzchengesetz .

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

. .

5 Fälle 25 ,, l n 5 ,, 49 " 17 ,, 5 ,, l ,, 5 ,, 34 ,, 147 Fälle

Die Besorgnis, dass die nach Art. 5, lit. b, des Entwurfes vom Bundesrat zu entscheidenden Gesuche besonders zahlreich oder wichtig sein werden, ist also unbegründet.

Das Schlusslemma von Art. 5 reserviert die Besonderheiten des Verfahrens in Militärstrafsachen und in der administrativen Behandlung von Fiskalsachen.

Art. 6 lehnt sich an Art. 170/172 der Bundesstrafrechtspflege.

Art. 7 enthält einige, wie wir glauben, wohlberechtigte Einschränkungen des Begnadigungsrechtes mit Rücksicht auf das Vorleben und das Verhalten des Verurteilten, sowie die ausgesprochene Strafe. Die Vorschrift, dass Begnadigung, wenn es sich nicht um politische Verbrechen handelt, erst eintreten solle nach Erstehung eines Teiles der Freiheitsstrafe oder der Landesverweisung oder der Amtsentsetzung, entspricht dem geltenden Rechte weitaus der meisten Kantone (Stooss, Grundzüge, Bd. I, Tabelle pag. 452/53).

Die Vorschrift, dass gnadenweiser Erlass von Geldbussen nur in Fällen besonders dringender Art, insbesondere dann gewährt werden soll, wenn der Verurteilte ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage ist, diese Bussen zu bezahlen, entspricht den Bestimmungen verschiedener kantonaler Gesetze, welche Begnadigung nur bei Freiheitsstrafen zulassen (Stooss, a. a. 0., Bd. I, pag. 455), mit einer aus den persönlichen Verhältnissen des Petenten hergeleiteten Milderung.

Diese Einschränkungen sollen bindend sein für alle Instanzen, an welche das Begnadigungsrecht delegiert wird, beBundesblatt. 58. Jahrg. Bd. IV.

12

170

hufs Erzielung gleichmässigen Verfahrens. Die Kompetenz des Bundes zu solchen Vorschriften gegenüber den Kantonen wird nicht in Frage gestellt werden können.

Art. 8. Hier wird in Anlehnung an die moderne Rechtswissenschaft und Gesetzgebung über vorläufige Entlassung von Strafgefangenen und bedingten Straferlass (revidierter Vorentwurf, Art. 32 und 57) vorgeschlagen, die Begnadigung an gewisse Bedingungen zu knüpfen, die für den Begnadigten ein Ansporn zu gutem Verhalten sein, und die zugleich dem Staate die Möglichkeit bieten sollen, den Strafvollzug wieder aufleben zu lassen, wenn der Begnadigte innert bestimmter Frist sich der Rechtswohltat unwürdig erzeigt.

Art. 9, 10 und 11 geben zu besonderer Begründung nicht Anlass.

Nach diesen Ausführungen empfehlen wir Ihnen den vorgelegten Gesetzesentwurf zur Genehmigung, unter Versicherung vollkommener Hochachtung.

B e r n , den 3. Juli 1906.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

L. Forrer.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

171

(Entwurf.)

Bundesgesetz betreffend

di e B e gn a di gu n g.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrates vom 3. Juli 1906, beschliesst: Art. 1. Das Recht zur Begnadigung steht dem Bunde auf allen seiner Gesetzgebungshoheit unterworfenen Gebieten des Strafrechtes zu.

Art 2. Durch die Begnadigung verzichtet die Bundesgewalt auf den ihr zukommenden Strafanspruch durch völligen oder teilweisen Erlass der rechtskräftig erkannten Freiheitsstrafe, Landesverweisung, Amtsentsetzung oder Geldbusse.

Art, 3. Durch die Begnadigung wird der die Strafe verhängende Urteilsspruch als solcher nicht · aufgehoben.

Art. 4. Die zivilrechtlichen Folgen der strafbaren Handlung, ebenso die Kostenbestimmungen des Strafurteils werden durch die Begnadigung nicht berührt»

172

Art. 5. Das Recht der Begnadigung wird im Namen, des Bundes ausgeübt: a. durch die vereinigte Bundesversammlung in Fällen von Bestrafung wegen politischer Verbrechen und in denjenigen Fällen, welche vom Bundesgerichte mit Zuziehung von Geschwornen beurteilt worden sind, b. durch den Bundesrat in allen übrigen Fällen, in denen dem Bunde die Rechtssprechung zukommt, gleichviel, ob sie durch die Gerichtsorgane des Bundes selbst vorgenommen oder den Kantonsbehörden übertragen worden ist, c. durch die nach der Kantonalgesetzgebung zuständigen Kantonsbehörden in denjenigen Fällen, in welchen den kantonalen Gerichten die Rechtsprechung in Anwendung eidgenössischer Strafgesetze von Gesetzes wegen zukommt.

Vorbehalten bleiben die einschlägigen Bestimmungen der Militärstrafgerichtsordnung, ferner diejenigen des Bundesgesetzes betr. das Verfahren bei Übertretungen fiskalischer und polizeilicher Bundesgesetze über das Recht des Bundesrates zum Strafnachlass.

Art. 6. Das Gesuch um Begnadigung hat an sich keine aufschiebende Wirkung. Es kann innerhalb der Frist, in welcher Verjährung der eingetretenen Strafe nach dem materiellen Strafrecht eintritt, jederzeit mittelst schriftlicher Eingabe an die Begnadigungsbehörde gestellt werden vom Verurteilten selbst oder von dessen gesetzlichem Vertreter.

Auch steht dem urteilenden Richter und im Falle von lit. ·« des Art. 5 dem Bundesrate frei, von sich aus einen Verurteilten zur gänzlichen oder teilweisen Begnadigung zu empfehlen.

173 Art. 7. Bei politischen Verbrechen, die nach Bundesstrafrecht beurteilt wurden, ist die Erteilung der Begnadigung an keine besonderen Vorschriften gebunden.

Im übrigen soll in den Fällen, welche Verurteilung zu Freiheitsstrafe^ Landesverweisung oder Amtsentsetzung zur Folge hatten, Begnadigung nur eintreten : a. wenn der Verurteilte nicht schon früher wegen Verbrechen oder Vergehen der gleichen Art bestraft wurde, 6. wenn er die Hälfte der ihm bestimmten Strafzeit, bei lebenslänglicher Zuchthausstrafe mindestens fünfzehn Jahre erstanden hat, c. wenn er während dieser Strafzeit sich befriedigend verhalten hat, d. wenn er alles, was in seinen Kräften stand, getan hat, um den von ihm durch das Verbrechen oder Vergehen gestifteten Schaden zu ersetzen.

Begnadigung durch teilweisen oder gänzlichen Erlass von richterlich verhängten Geldbussen soll nur in Fällen besonders dringender Art gewährt werden, insbesondere dann, wenn der Verurteilte ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage ist, diese Busse zu bezahlen.

Art. 8. Die Beschlüsse in Begnadigungssachen werden nicht motiviert, indessen kann mit denselben die Bestimmung verbunden werden, dass die nachgelassene Strafe wieder auflebe und zu vollstrecken sei, wenn der Begnadigte innert bestimmter Frist durch Rückfall in ein Verbrechen der nämlichen Art oder auf ähnliche Weise sich der empfangenen Rechtswohltat unwürdig erzeige.

Art. 9. Sofern ein Verurteilter von der Bundesbehörde mit einem Begnadigungsgesuche abgewiesen wird, ist zugleich zu bestimmen, ob und wenn er dasselbe wiederholen kann.

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Art. 10. Bei Konkurrenz von Verbrechen oder Vergehen aus dem Bundesstrafrecht mit solchen des kantonalen Strafrechts wird durch den Entscheid der Bundesbehörde der Strafvollzug für letztere nicht berührt.

Art. 11. Durch dieses Gesetz werden alle widersprechenden Bestimmungen früherer Gesetze und Verordnungen aufgehoben, insbesondere Art. 169--174 des Bundesgesetzes betreffend die Bundesstrafrechtspflege vom 27. August 1851 und Art. 125, Lemma 2 Schlusssatz, des Bundesgesetzes betreffend die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893.

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Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Erlass eines Bundesgesetzes über die Begnadigung. (Vom 3. Juli 1906.)

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