17.049 Botschaft über die Gewährleistung der geänderten Verfassungen der Kantone Thurgau, Tessin, Wallis und Genf vom 16. August 2017

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Wir unterbreiten Ihnen hiermit den Entwurf zu einem einfachen Bundesbeschluss über die Gewährleistung der geänderten Verfassungen der Kantone Thurgau, Tessin, Wallis und Genf mit dem Antrag auf Zustimmung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

16. August 2017

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Doris Leuthard Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2017-0245

5849

Übersicht Der Bundesversammlung wird beantragt, mit einfachem Bundesbeschluss Änderungen in den Verfassungen der Kantone Thurgau, Tessin, Wallis und Genf zu gewährleisten. Die Verfassungsänderungen betreffen unterschiedliche Themen.

Alle Änderungen sind bundesrechtskonform. Die Gewährleistung kann somit erteilt werden.

Nach Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung gibt sich jeder Kanton eine demokratische Verfassung. Diese bedarf der Zustimmung des Volkes und muss revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt. Nach Absatz 2 des gleichen Artikels bedürfen die Kantonsverfassungen der Gewährleistung des Bundes. Steht eine kantonale Verfassungsbestimmung im Einklang mit dem Bundesrecht, so ist die Gewährleistung zu erteilen; erfüllt sie diese Voraussetzung nicht, so ist die Gewährleistung zu verweigern.

Die vorliegenden Verfassungsänderungen haben zum Gegenstand, im Kanton Thurgau: ­

Grundsätze der Raumplanung (Gegenvorschlag des Grossen Rates zur Volksinitiative «Ja zu einer intakten Thurgauer Kulturlandschaft»);

im Kanton Tessin: ­

Bestimmungen zum Schutz inländischer Arbeitskräfte und zum Inländervorrang (Volksinitiative «Prima i nostri!»);

im Kanton Wallis: ­

Wahl der Staatsanwälte mit Führungsfunktionen durch den Grossen Rat;

­

Einführung einer unabhängigen Aufsichtsbehörde über die Justiz (Justizrat);

im Kanton Genf: ­

5850

Majorzwahlverfahren.

BBl 2017

Botschaft 1

Die einzelnen Revisionen

1.1

Verfassung des Kantons Thurgau

1.1.1

Kantonale Volksabstimmung vom 12. Februar 2017

Die Stimmberechtigten des Kantons Thurgau haben in der Volksabstimmung vom 12. Februar 2017 der Änderung von § 77 der Verfassung des Kantons Thurgau vom 16. März 19871 (KV-TG) (Gegenvorschlag des Grossen Rates zur Volksinitiative «Ja zu einer intakten Thurgauer Kulturlandschaft») mit 52 511 Ja gegen 12 544 Nein zugestimmt. Die Initiative war zugunsten des Gegenvorschlags zurückgezogen worden. Mit Schreiben vom 23. Februar 2017 ersucht die Staatskanzlei des Kantons Thurgau um die eidgenössische Gewährleistung.

1.1.2

Änderung von § 77 der Kantonsverfassung (Raumplanung, Bauwesen)

Bisheriger Text

Neuer Text

§ 77 Raumplanung, Bauwesen 1 Kanton und Gemeinden ordnen Nutzung und Überbauung des Bodens.

2 Sie können Massnahmen zur Förderung des Wohnungsbaus treffen.

§ 77 Raumplanung, Bauwesen 1 Kanton und Gemeinden ordnen die zweckmässige und haushälterische Nutzung und Überbauung des Bodens.

2 Sie sorgen für die Erhaltung des Nichtsiedlungsgebietes.

3 Sie treffen Massnahmen für eine qualitativ hochwertige Siedlungsentwicklung nach innen und zur Stärkung der Siedlungserneuerung.

4 Sie können Massnahmen zur Förderung des Wohnungsbaus treffen.

Der geänderte Absatz 1 übernimmt die Formulierung des Raumplanungsartikels der Bundesverfassung2 (Art. 75 Abs. 1 BV). Die Absätze 2 und 3 greifen Vorgaben des Raumplanungsgesetzes des Bundes vom 22. Juni 19793 (RPG) auf. Nach Artikel 1 Absatz 1 RPG ist das Baugebiet vom Nichtbaugebiet zu trennen. Die mit Planungsaufgaben betrauten Behörden haben nach den Planungsgrundsätzen von Artikel 3 Absatz 2 RPG unter anderem darauf zu achten, dass die Landschaft geschont wird und naturnahe Landschaften und Erholungsräume sowie genügende Flächen geeigneten Kulturlandes für die Landwirtschaft erhalten bleiben. Nach Artikel 8a Absatz 1 Buchstaben c und e RPG haben die Kantone im Richtplan unter anderem festzulegen, wie eine hochwertige Siedlungsentwicklung nach innen bewirkt und 1 2 3

SR 131.228 SR 101 SR 700

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wie die Siedlungserneuerung gestärkt wird. Mit der Aufnahme der raumplanerischen Grundsätze des Bundes in die Kantonsverfassung soll ein klares Zeichen für einen sorgfältigeren Umgang mit der immer knapper werdenden Ressource Boden gesetzt werden.

Die Änderung ist bundesrechtskonform und kann gewährleistet werden.

1.2

Verfassung des Kantons Tessin

1.2.1

Kantonale Volksabstimmung vom 25. September 2016

Die Stimmberechtigten des Kantons Tessin haben in der Volksabstimmung vom 25. September 2016 die Volksinitiative «Prima i nostri!» mit 56 416 Ja gegen 38 073 Nein angenommen. Damit haben sie zahlreichen Änderungen in verschiedenen Titeln und Artikeln der Verfassung des Kantons Tessin vom 14. Dezember 19974 (KV-TI) zugestimmt, nämlich einem neuen Satz in Artikel 4 Absatz 1 (Ziel), der neuen Aufzählung mit den neu formulierten Buchstaben b, c, j und k von Artikel 14 Absatz 1 (Sozialziele), der erweiterten Sachüberschrift und dem neuen Absatz 2 von Artikel 49 (Grenzüberschreitende Zusammenarbeit) sowie der erweiterten Sachüberschrift und dem neuen Absatz 2 von Artikel 50 (Auftrag an die Behörden).

Mit Schreiben vom 26. Oktober 2016 ersucht der Staatsrat des Kantons Tessin um die eidgenössische Gewährleistung.

1.2.2

Volksinitiative «Prima i nostri!»

Bisheriger Text

Neuer Text

Art. 4 Abs. 1 1 Der Kanton gewährleistet und verwirklicht die persönliche Freiheit sowie die Individualund Sozialrechte derjenigen, die in seinem Gebiet leben, er fördert die Kultur, die Solidarität sowie das wirtschaftliche Wohlergehen und schützt die eigene Identität sowie die Werte der Umwelt.

Art. 4 Abs. 1 1 Der Kanton gewährleistet und verwirklicht die persönliche Freiheit sowie die Individualund Sozialrechte derjenigen, die in seinem Gebiet leben, er fördert die Kultur, die Solidarität sowie das wirtschaftliche Wohlergehen und schützt die eigene Identität sowie die Werte der Umwelt. Er wacht darüber, dass die vom Bund abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge und die ausländischen Rechtsvorschriften, auf die diese Verträge allenfalls Bezug nehmen, ohne Verletzung der Individual- und Sozialrechte derjenigen, die in seinem Gebiet leben, und unter voller Beachtung des Grundsatzes der Reziprozität unter Staaten angewendet werden.

4

SR 131.229

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BBl 2017

Art. 14 Abs. 1 1 Der Kanton setzt sich dafür ein, dass: a) jeder seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu angemessenen Bedingungen bestreiten kann, gegen die Folgen von unverschuldeter Arbeitslosigkeit geschützt ist und in den Genuss von bezahlten Ferien gelangt;5 b) jeder eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden kann; c) Frauen vor und nach einer Geburt eine hinreichende wirtschaftliche Sicherheit geniessen; d) die Kinder über angemessene Entfaltungsmöglichkeiten verfügen und die Familien bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützt werden; e) die Anliegen und Bedürfnisse der Jugendlichen berücksichtigt werden; f) alle sich nach ihren Fähigkeiten und Neigungen angemessen bilden und weiterbilden können; g) die Schaffung von Arbeitsplätzen gefördert wird und jeder seinen Beruf frei wählen kann; h) jede Person, die wegen Alter, Gebrechlichkeit, Krankheit oder Behinderung der Hilfe bedarf, die notwendige Pflege und ausreichende Unterstützung erhält; i) die natürliche Umwelt vor schädlichen und belastenden Einwirkungen geschützt und für die künftigen Generationen erhalten wird.

5

Art. 14 Abs. 1 1 Der Kanton setzt sich dafür ein, dass: a) jeder seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu angemessenen Bedingungen bestreiten kann, gegen die Folgen von unverschuldeter Arbeitslosigkeit geschützt ist und in den Genuss von bezahlten Ferien gelangt; b) auf dem Arbeitsmarkt bei gleichen beruflichen Qualifikationen die Personen, die in seinem Gebiet leben, gegenüber jenen bevorzugt werden, die aus dem Ausland kommen (Umsetzung des Grundsatzes des Vorrangs für Schweizerinnen und Schweizer); c) kein ausländischer Staat schweizerische natürliche oder juristische Personen so beim Zugang zu seinem Binnenmarkt behindert, dass dies dem Geist der mit dem Bund abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge widerspricht; d) jeder eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden kann; e) Frauen vor und nach einer Geburt eine hinreichende wirtschaftliche Sicherheit geniessen; f) die Kinder über angemessene Entfaltungsmöglichkeiten verfügen und die Familien bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützt werden; g) die Anliegen und Bedürfnisse der Jugendlichen berücksichtigt werden; h) alle sich nach ihren Fähigkeiten und Neigungen angemessen bilden und weiterbilden können; i) die Schaffung von Arbeitsplätzen gefördert wird und jeder seinen Beruf frei wählen kann; j) keine Bürgerin und kein Bürger seines Gebiets entlassen wird aufgrund eines diskriminierenden Entscheids, inländische Arbeitskräfte durch ausländische zu ersetzen (Verdrängungseffekt), oder spürbare Lohnsenkungen hinnehmen muss wegen des uneingeschränkten Zustroms ausländischer Arbeitskräfte (Lohndumping);

Fassung seit der Volksabstimmung vom 14. Juni 2015, Gewährleistung ausstehend, vgl. Botschaft vom 1. Febr. 2017 über die Gewährleistung der geänderten Verfassungen der Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Tessin, Genf und Jura, BBl 2017 1499, hier 1504.

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k)

eine gesunde berufliche Komplementarität von schweizerischen und ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gefördert wird; l) jede Person, die wegen Alter, Gebrechlichkeit, Krankheit oder Behinderung der Hilfe bedarf, die notwendige Pflege und ausreichende Unterstützung erhält; m) die natürliche Umwelt vor schädlichen und belastenden Einwirkungen geschützt und für die künftigen Generationen erhalten wird.

Art. 49 Sachüberschrift und Abs. 2 Grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Grundsatz des Minimalstandards 2 Schränkt ein ausländischer Staat mit abschreckenden internen Regelungen oder Umsetzungsmassnahmen den internen Vollzug völkerrechtlicher Verträge, die mit dem Bund geschlossen wurden, ein, so wendet der Kanton unter Beachtung des Grundsatzes der Reziprozität bei der Umsetzung der Verträge dieselben Mindeststandards an.

Art. 50 Sachüberschrift und Abs. 2 Auftrag an die Behörden und Bekämpfung von Lohndumping 2 In den Beziehungen mit den Nachbarländern wirken die Behörden auf den Arbeitsmarkt entsprechend den Bedürfnissen der im Kantonsgebiet lebenden Personen ein, indem sie die gesunde berufliche Komplementarität von schweizerischen und ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern fördern und den Ersatz inländischer Arbeitskräfte durch ausländische (Verdrängungseffekt) sowie den Wettlauf um Lohnsenkungen (Lohndumping) vermeiden.

Ziel der Initiantinnen und Initianten war gemäss der kantonalen Abstimmungsbroschüre, die Grundsätze des mit der Masseneinwanderungsinitiative geschaffenen Zuwanderungsartikels der BV (Art. 121a BV) auf kantonaler Ebene rasch einzuführen, bis eine Umsetzung auf Bundesebene erfolgt. Anders als nach dem den Stimmberechtigten vorgelegten Gegenvorschlag des Grossen Rats würden präzise Verpflichtungen eingeführt. Kern der politischen Diskussionen war die Idee, bei gleicher Qualifikation im Tessin domizilierten Stellenbewerberinnen oder -bewerbern den Vorzug vor einer Person aus dem Ausland zu geben (Art. 14 Abs. 1 Bst. b KV-TI), und das Postulat, es dürfe keine Bürgerin und kein Bürger, die oder der im Kanton wohnt, entlassen werden, nur weil eine adäquate billigere Arbeitskraft aus dem Ausland zur Verfügung stehe (Art. 14 Abs. 1 Bst. j KV-TI).

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Wie eine genauere Betrachtung der neuen Bestimmungen der Tessiner Kantonsverfassung zeigt, handelt es sich um Zielnormen, die keine Rechte und Pflichten Einzelner festlegen und auch keine konkreten Gesetzgebungsaufträge enthalten. Artikel 4 KV-TI befasst sich mit den Zielen des Kantons. Er wird mit dem Auftrag ergänzt, der Kanton achte darauf, dass internationale Verträge und ausländische Gesetze unter Beachtung der kantonalen Individual- und Sozialrechte und des Reziprozitätsgrundsatzes angewendet werden. Artikel 14 KV-TI ergänzt die Sozialziele, die ebenfalls programmatischer Natur sind. Die Artikel 49 und 50 KV-TI stehen im Titel VII, der das Verhältnis zum Bund, den Kantonen und den Nachbarländern regelt. Artikel 49 KV-TI, der bisher die Überschrift «Grenzüberschreitende Zusammenarbeit» trug, wird in der Sachüberschrift und mit dem neuen Absatz um einen Grundsatz ergänzt: Wenn der benachbarte ausländische Staat interne Vorkehrungen trifft, die einen nachteiligen Vollzug eines vom Bund abgeschlossenen völkerrechtlichen Vertrags zur Folge haben, soll der Kanton im Sinne der Reziprozität ebensolche Vorkehren treffen. Artikel 50 KV-TI verdeutlicht, dass die neuen Zielsetzungen wie die «gesunde berufliche Komplementarität» (vgl. auch Art. 14 Abs. 1 Bst. k) oder der Kampf gegen das Lohndumping (vgl. auch Art. 14 Abs. 1 Bst. j) von den Behörden auch in den Aussenbeziehungen zu beachten sind.

Der Spielraum des Kantons zur bundesrechtskonformen Umsetzung dieser Zielsetzungen ist angesichts der bundesrechtlichen Vorgaben zum Arbeitsvertragsrecht und zum Arbeitnehmerschutz sehr eng (Art. 110 und 122 BV; Arbeitsgesetz vom 13. März 19646, Entsendegesetz vom 8. Oktober 19997). Auch auf dem Gebiet des Ausländerrechts verbleibt dem Kanton nur wenig Spielraum, insbesondere seit der Verabschiedung der Ausführungsgesetzgebung zu Artikel 121a BV (Änderung vom 16. Dez. 2016 des Ausländergesetzes; Steuerung der Zuwanderung und Vollzugsverbesserungen bei den Freizügigkeitsabkommen8). Des Weiteren sind auch die aussenpolitischen Möglichkeiten des Kantons beschränkt; er kann nur Verträge mit dem Ausland in den kantonalen Zuständigkeitsbereichen schliessen und Kontakte mit untergeordneten ausländischen Behörden pflegen (Art. 56 BV). Und schliesslich sind im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsabkommen mit der EU sowie
dem EFTA-Übereinkommen zahlreiche Vorgaben zu beachten (z. B. Art. 2, 4, 5, 7 Bst. a und e sowie Anhang 1 Art. 9, Art. 15 und 17 des Abkommens vom 21. Juni 19999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit [FZA], Anhang K des Übereinkommens zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation vom 4. Jan. 196010 [EFTA]). Das Verbot der (direkten) Diskriminierung darf im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Gesundheit eingeschränkt werden.

Einschränkungen im Zusammenhang mit dem Wohnort (indirekte Diskriminierungen) können durch überwiegende öffentliche Interessen gerechtfertigt werden, wie die Senkung der Arbeitslosigkeit, nicht aber durch migrationspolitische oder protek-

6 7 8 9 10

SR 822.11 SR 823.20 BBl 2016 8917 SR 0.142.112.681 SR 0.632.31

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tionistische Massnahmen; zudem müssen die restriktiven Massnahmen verhältnismässig sein.

Im Grossen Rat des Kantons Tessin wurden im Frühjahr 2017 verschiedene parlamentarische Initiativen ausgearbeitet, welche die Umsetzung der neuen kantonalen Verfassungsbestimmungen bezwecken. Es ist nicht Aufgabe des Bundesrates, im Rahmen des Gewährleistungsverfahrens zu prüfen, ob das geplante kantonale Umsetzungsrecht mit übergeordnetem Recht konform ist. Vielmehr ist es Sache der Tessiner Behörden, dafür zu sorgen, dass die Vollzugsbestimmungen nicht den rechtlich sehr engen Rahmen für das kantonale Recht überschreiten.

Auch wenn der Spielraum des Kantons zur bundesrechtskonformen Umsetzung der neuen Verfassungsbestimmungen sehr beschränkt ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie in Übereinstimmung mit dem Bundesrecht ausgelegt werden können. Daher kann die Gewährleistung erteilt werden. Die Gewährleistung der Bestimmungen der Kantonsverfassung sagt nichts aus über die Bundesrechtskonformität der erwähnten parlamentarischen Initiativen.

1.3

Verfassung Kantons Wallis

1.3.1

Kantonale Volksabstimmung vom 25. September 2016

Die Stimmberechtigten des Kantons Wallis haben in der Volksabstimmung vom 25. September 2016 zwei Revisionen der Verfassung des Kantons Wallis vom 8. März 190711 (KV-VS) zugestimmt. Die Änderung von Artikel 39 Absatz 2 KV-VS (Wahl der Staatsanwälte mit Führungsfunktionen durch den Grossen Rat) wurde mit 67 120 Ja gegen 20 779 Nein angenommen, der neue Artikel 65bis KV-VS (Einführung einer unabhängigen Aufsichtsbehörde über die Justiz [Justizrat]) mit 63 989 Ja gegen 24 100 Nein. Mit Schreiben vom 2. November 2016 ersucht der Staatsrat des Kantons Wallis um die eidgenössische Gewährleistung.

1.3.2

Wahl der Staatsanwälte mit Führungsfunktionen durch den Grossen Rat

Bisheriger Text

Neuer Text

Art. 39 Abs. 2 2 Er wählt das Kantonsgericht, dessen Präsidenten und Vizepräsidenten sowie die Staatsanwaltschaft.

Art. 39 Abs. 2 2 Er wählt das Kantonsgericht, dessen Präsidenten und Vizepräsidenten sowie die Mitglieder des Büros der Staatsanwaltschaft.

Die neue Bestimmung bezweckt eine Vereinfachung des Wahlmodus der Staatsanwaltschaft: Nur jene Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, die innerhalb der Staatsanwaltschaft eine Führungsfunktion wahrnehmen und das Büro der Staatsanwaltschaft bilden, werden vom Grossen Rat gewählt. Die anderen Staatsanwältinnen und 11

SR 131.232

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-anwälte, die Substitutinnen und Substituten und (wenn nötig) die ausserordentlichen Staatsanwältinnen und -anwälte werden vom Büro ernannt.

Diese Änderung betrifft die kantonale Organisationsautonomie und kann gewährleistet werden.

1.3.3 Bisheriger Text

Einführung einer unabhängigen Aufsichtsbehörde über die Justiz (Justizrat) Neuer Text Art. 65bis 1 Der Justizrat ist eine unabhängige Justizaufsichtsbehörde.

2 Er übt über die kantonalen Gerichtsbehörden und die Magistraten der Staatsanwaltschaft die administrative und disziplinarische Aufsicht aus. Die ausschliessliche Kompetenz des Grossen Rates, die von ihm gewählten Magistraten aus wichtigen Gründen ihres Amtes zu entheben, bleibt vorbehalten.

3 Er ist der Oberaufsicht des Grossen Rates unterstellt.

4 Der Grosse Rat wählt die Mitglieder des Justizrates, die nicht vom Gesetz bestimmt werden.

5 Ausserdem legt das Gesetz Folgendes fest: 1. die Zusammensetzung, die Ernennungsweise und die Organisation des Justizrates; 2. den Rechtsmittelweg gegen die Entscheide des Justizrates; 3. die Beziehungen zwischen dem Justizrat und dem Grossen Rat, dem Kantonsgericht und der Staatsanwaltschaft; 4. die Mitarbeit des Justizrates bei den richterlichen Wahlen.

Mit der Schaffung des Justizrats soll eine Instanz ausserhalb der richterlichen Gewalt geschaffen werden, um die Unabhängigkeit der ausgeübten Aufsicht zu garantieren und dafür zu sorgen, dass die Rechtsuchenden sich verstanden fühlen.

Die Änderung betrifft die kantonale Organisationsautonomie und kann gewährleistet werden.

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1.4

Verfassung des Kantons Genf

1.4.1

Kantonale Volksabstimmung vom 25. September 2016

Die Stimmberechtigten des Kantons Genf haben in der Volksabstimmung vom 25. September 2016 dem geänderten Absatz 5 von Artikel 55 der Verfassung des Kantons Genf vom 14. Oktober 201212 (KV-GE) (Majorzwahlverfahren) mit 88 069 Ja gegen 18 383 Nein zugestimmt. Mit Schreiben vom 2. November 2016 ersucht der Staatsrat des Kantons Genf um die eidgenössische Gewährleistung.

1.4.2

Majorzwahlverfahren

Bisheriger Text

Neuer Text

Art. 55 Abs. 5 5 Entspricht die Anzahl der Kandidierenden der Anzahl zu besetzender Sitze, so erfolgt die Besetzung in stiller Wahl. Diese Regel gilt nicht für den ersten Wahlgang der Wahlen für den Staatsrat, die Genfer Deputation in den Ständerat und die Gemeindeexekutive.

Art. 55 Abs. 5 5 Entspricht die Anzahl der Kandidierenden der Anzahl zu besetzender Sitze, so erfolgt die Besetzung in stiller Wahl. Diese Regel gilt nicht für den ersten Wahlgang der Wahlen für den Staatsrat und die Genfer Deputation in den Ständerat.

Die neue Bestimmung hebt das Verbot einer stillen Wahl im ersten Wahlgang für die Gemeindeexekutive auf.

Die Änderung betrifft die kantonale Organisationsautonomie und kann gewährleistet werden.

2

Verfassungsmässigkeit

2.1

Bundesrechtkonformität

Die Prüfung hat ergeben, dass die Änderungen der Verfassungen der Kantone Thurgau, Tessin, Wallis und Genf die Anforderungen von Artikel 51 BV erfüllen. Somit ist ihnen die Gewährleistung zu erteilen.

2.2

Zuständigkeit der Bundesversammlung

Die Bundesversammlung ist nach den Artikeln 51 und 172 Absatz 2 BV für die Gewährleistung zuständig.

12

SR 131.234

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