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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend den Rekurs des Kantonsrates von Zug gegen den Beschluß des Bundesrates vom 21. Juli 1899 über die Beschwerde des Herrn Dr. H. Stadlin-Graf und Genossen in Zug gegen den Beschluß des Kantonsrates von Zug vom 31. Dezember 1898 betreffend Validation der Regierungsratswahlen vom 27. November 1898.

(Vom 7. Dezember 1899.)

Tit.

I.

Durch Beschluß vom 21. Juli 1899 erklärte der Bundesrat die Beschwerde des Herrn Dr. H. Stadlin-Graf und Genossen in Zug gegen einen Beschluß des Zuger Kantonsrates für begründet.

Die Beschwerdebegehren, welche zugesprochen wurden, lauteten wie folgt: 1. Der Kantonsratsbeschluß vom 31. Dezember 1898 sei, weil eine willkürliche und gegenüber der bisherigen Praxis ungleiche Handhabung des zugerischen Wahlgesetzes bedeutend, aufzuheben.

2. In Befolgung der frühern Praxis und laut Vorschrift des § 46 des Gesetzes betreffend das Verfahren bei Wahlen und Abstimmungen, wonach bei Berechnung des absoluten Mehres sämtliche abgegebenen Stimmcouverts in Betracht fallen, seien als in die Regierung gewählt zu erklären 4 konservative und 3 Kandidaten der Freisinnigen und Arbeiterpartei, gemäß dem erstausgegebenen Bulletin.

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Gegen den Beschluß des Bundesrates reichte am 18. September 1899 der Regierungsrat des Kantons Zug einen Rekurs des Kantonsrates des Kantons Zug an die Bundesversammlung ein mit dem Begehren : ,,Es sei der Bundesratsbeschluß vom 21. Juli 1899 aufzuheben und die Beschwerde des Herrn Dr. H. Stadiin-Graf und Genossen gegen den Beschluß des Kantonsrates von Zug vom 31. Dezember 1899 betreffend Validation der Regierungsratswahlen abzuweisen."

In ihrer am 14. November 1899 eingelangten Beantwortung beantragen Stadiin-Graf und Genossen : ,,Es sei der Rekurs des zugerischen Kantonsrates abzuweisen und der Bundesratsbeschluß vom 21. Juli 1899 rechtskräftig JAI erklären."

n.

Was das Thatsächliche betrifft, verweisen wir auf die in unserm angefochtenen Beschlüsse enthaltenen Feststellungen, welchen nichts beizufügen ist.

III.

Aus der Begründung des Rekurses, auf welche wir im übrigen verweisen, ist folgendes hervorzuheben: ' Aus der Entstehungsgeschichte des Wahlgesetzes vom 21. September 1896 ist zu erörtern, wie die §§ 33 und 46 dieses Gesetzes, um deren Interpretation es sich im wesentlichen handelt, in dasselbe hineingekommen sind.

Durch das Inkrafttreten der neuen Kantonsverfassung vom 31. Januar 1894, welche das Proportionalverfahren einführte, wurde ein Übergangsstadium geschaffen, während welchem durch Verordnung des Regierungsrates das Wahverfahren geregelt werden sollte.

Der Regierungsrat beauftragte eine Kommission mit der Abfassung eines Entwurfes. In deren Protokoll vom 13. Juli 1894 sind folgende Eintragungen zu finden.

,,Es gelangen folgende Punkte zur grundsätzlichen Erledigung : a. E r m i t t l u n g td e r W a h l z a h l .

Die Wahlzahl kann ermittelt werden, indem man entweder die Zahl der S t i m m e n d e n oder die Zahl der eingelegten gültigen S t i m m z e t t e l durch die Zahl der zu Wählenden oder durch die Zahl der zu Wählenden plus l dividiert.

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Um das proportionale Wahlverfahren möglichst jedermann verständlich zu machen und jede Kompliziertheit zu vermeiden, beschließt die Kommission einstimmig, die Wahlzahl durch Division der gültigen der Anzahl S t i m m e n e e a mit der Zahl der zu Wählenden berechnen zu lassen.

c. Z u t e i l u n g des Restes.

Wenn die Summe der ganzen Zahlen der Quotienten nicht so groß ist wie die Zahl der zu Wählenden, so daß noch ein oder zwei Sitze zu vergeben sind, sollen dieselben gemäß Mehrheitsbeschluß der stä r k e r n P a r t e i zufallen, sofern diese bei der Wahl über mehr denn die Hälfte der Stimmenden verfügt.

Ist dies nicht der Fall, werden selbe dem g r ö ß e r n ß e s t e zugeteilt.

Die Minderheit will in allen Fällen diese Vertreter dem g r ö ß e r n R e s t e zugeschieden wissen.tt Hieraus ergiebt sich, daß in § 17 der Regierungsverordnung vom 1. September 1894 der Ausdruck ,,das absolute Mehr der Stimmen" als das absolute Mehr der g ü l t i g e n Stimmen aufzufassen ist. Auch ist diese Verordnung immer in diesem Sinne angewendet worden.

Gleichzeitig war das Wahlgesetz vom 7. August 1879 für die nach dem Majoritälssysteme vorzunehmenden Wahlen noch in Kraft, welches in § 29 eine andere Berechnungsweise des absoluten Mehres nach der Zahl der überhaupt S t i m m e n d e n enthielt.

Bei Beratung des neuen Wahlgesetzes in Ausführung der Verfassung wurde beschlossen, die in verschiedenen Erlassen enthaltenen Bestimmungen über das Wahlverfahren in e i n Gesetz zusammenzufassen. In dem Entwurf wurde § 17 der Verordnung des Regierungsrates als § 36 unverändert nach Ablehnung verschiedener Abänderungsanträge aufgenommen und verwandelte sich nach Streichung verschiedener Bestimmungen in § 33.

Ferner wurde § 29 des frühern Wahlgesetzes von 1879 wörtlich als § 46 des neuen Gesetzes unter dem Abschnitt ,,Geheimes Wahlverfahren nach Maßgabe des absoluten Mehres'1 aufgenommen.

Ein von Kantonsrat Andermatt gestellter Antrag, auch hier das Mehr der g ü l t i g e n Stimmen entscheiden zu lassen, wurde abgelehnt.

Zugegeben wird, daß die mit Vollzug des Wahlgesetzes beauftragte Direktion des Innern keinen Unterschied in Berechnung Bundesblatt. 51. Jahrg. Bd. V.

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950 des absoluten Mehres gemacht hat und daß der Regierungsrat in vereinzeltem Falle diesen Standpunkt teilte. Das geschah, weil eine genaue Prüfung der Frage verabsäumt wurde. Der Kantonsrat hat sich mit der Interpretation des Gesetzes überhaupt nicht befaßt, sondern hat bloß bei Validation der Richterwahlen ohne Nachprüfung und ohne Diskussion den Standpunkt des Regierungsrates angenommen.

Streitig wurde die Frage erst nach den Kantonsrats- und Regierungsratswahlen, indem im Regierungsrate die Ansicht geäußert wurde, daß das absolute Mehr des § 46 nicht gleichbedeutend sei mit dem absoluten Mehr des § 33 des Wahlgesetzes.

Der Regierungsrat legte dem Kantonsrat keinen bestimmten Antrag betreffend Interpretation des § 33 des Wahlgesetzes vor, sondern nur die nach den zwei Systemen zusammengestellten Wahlergebnisse. Die vom Kantonsrate gewählte Kommission stellte sich nach einläßlicher Prüfung in ihrer Mehrheit auf den Standpunkt, daß das absolute Mehr des § 33 nicht identisch sei mit demjenigen des § 46 des Wahlgesetzes, und diesem Antrage trat die Mehrheit des Kantonsrates bei.

Protestiert wird dagegen., daß der Entscheid des Kantonsrates, wie der Beschluß, des Bundesrates behaupte, auf Willkür beruhe lind daß dem Kantonsrate auf bloße Vermutungen hin unlautere Motive bei Fassung seines Beschlusses untergeschoben werden.

Zur Kritik der rechtlichen Begründung des ßundesratsbeschlusses übergehend, wird mit Hinweis auf den Entscheid des Bundesgerichtes in Sachen Kaufmann (Bundesgerichtliche Entscheidungen 1884, S. 311) die Kompetenz des Bundesrates bestritten ; denn es sei nicht dessen Sache, eine richtige oder unrichtige Auslegung eines kantonalen Wahlgesetzes zu untersuchen. Nur bei Verletzung des Art. 4 der Bundesverfassung kann der Bundesrat einschreiten; er habe dabei aber immer die Praxis des Bundesgerichtes auch für seine Entscheidungen als maßgebend anerkannt.

Ein Akt der Willkür liege aber seitens des Zuger Kantonsrates nicht vor, wenn er dem § 33 eine Interpretation gegeben habe, wonach ,,absolutes Mehr der Stimmen1'- nicht gleich ,,absolutes Mehr der Stimmenden1'- zu setzen sei. Vielmehr müsse bei unbefangener Prüfung diese Interpretation als eine richtige bezeichnet werden.

Hierfür spricht schon die grammatikalische Auslegung: denn dio Begriffe ,, S t i m m e n d e 1 " und ,,Stimmen a sind nicht identisch.

Unter Stimmenden sind die an einer Wahl teilnehmenden Personen

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zu verstehen, unter Stimmen aber die Anzahl der eingereichten gültigen Stimmzettel.

Es wäre deshalb ein Pleonasmus gewesen, wenn man statt ,,Stimmen"1 gesetzt hätte ,,gültige" Stimmen, und deshalb wurde diese Beifügung in der Verordnung des ßegierungsrates unterlassen.

Und wenn selbst wahr wäre, daß im Gesetze sonst nicht genaue Ausscheidung zwischen den Ausdrücken ,,Stimmenden" und ,,Stimmen11 getroffen werde, so sei damit nicht gesagt, daß auch in § 33 eine solche Begriffsverwechslung stattgefunden habe. Die Entstehungsgeschichte spricht für das Gegenteil.

Der Bundesrat hat im angefochtenen Entscheide diese Entstehungsgeschichte nicht gelten lassen in besonderer Berücksichtigung des § 46 des neuen Wahlgesetzes und in Erwägung des Umstandes, daß das Proportionalverfahren ein anderes ist wie das ·der Wahlverordnung des Jahres 1894.

Aber § 46 des neuen Wahlgesetzes bestand auch schon als § 29 des alten Gesetzes neben § 17 der regierungsrätlichen Verordnung. Es liegt kein Grund vor, daß die angegebenen Gesetzesbestimmungen eine andere Bedeutung erhalten'haben dadurch, daß sie aus zwei verschiedenen nebeneinander in Kraft bestehenden gesetzgeberischen Erlassen in ein einziges Gesetz zusammengestellt worden sind. Auch bei dem neuen Proportionalverfahren ist es möglich, die Bestimmung des § 33 gleich zu handhaben wie unter dem frühern.

Dazu kommt, daß § 33 enthalten ist unter dem Abschnitt .^Proportionales Walilverfahren", § 46 aber unter dem Abschnitt ,,Geheimes Wahlverfahren nach Maßgabe des absoluten Mehres".

Im Gegensatz zur Auffassung von Stadiin-Graf und Genossen sei nicht einzusehen, warum nicht bei zwei prinzipiell verschiedenen Wahlsystemen auch zwei verschiedene Berechnungen des Wahlresultates vorkommen könnten.

Gerade aus der Ablehnung der bei der Beratung zu § 33 gestellten Minderheitsanträge sei zu schließen, daß die Mehrheit des Kantonsrates diesem die gleiche Bedeutung wie dem § 17 der regierungsrätlichen Verordnung habe beilegen wollen.

Auch die bisherige Praxis kann nicht entgegengehalten werden. Authentische Interpretation zu geben, ist Sache der gesetzgebenden, nicht der vollziehenden Behörden. Es kann nicht als Interpretation durch den Kantonsrat angesehen werden, wenn derselbe ohne nähere Prüfung dem Antrage des ßegierungsrates gefolgt ist. Zur Interpretation ist der Wille des Interpretierenden

952 erforderlich, und wenn dieser fehlt, so kann von einer Interpretation im eigentlichen Sinne des Wortes nicht gesprochen werden. Die Auslegung eines Gesetzes darf immer geändert werden, wenn sachliche Gründe dafür sprechen. Pflicht des Richters wie "der gesetzgebenden Behörde ist es, wenn eine Frage streitig wird, zu prüfen, ob die bisherige Auslegung richtig oder unrichtig ist. Die Mehrheit der kantonsrätlichen Kommission hat ,, G r ü n d e " vorgebracht, von denen man nicht sagen kann, daß sie höchst fragwürdiger Natur seien. Wenn man das Gegenteil annimmt, so weicht man von den vom Bundesgericht aufgestellten Grundsätzen ab.

Der Bundesrat begründet endlich seinen Vorwurf der Willkür damit, daß er erklärt, es sei erst nach dem ungünstigen Ausfall der Wahlen diese neue Rechtsauffassung aufgetaucht, während vorher in den amtlichen Wahl Protokollen, der unbestrittenen Rechtsauffassung folgend, das absolute Mehr des § 33 im Sinne des § 46 berechnet wurde.

Aus dem Wahlprotokoll ergiebt sich aber gar nicht, wie § 33 auszulegen ist. Wenn aber auch erst nach den Wahlen die Frage streitig wurde, so m u ß t e der Kantonsrat die Streitfrage entscheiden und konnte sie nur nach seiner Überzeugung entscheiden.

Hätte er anders entschieden, so hätte man ihm den Vorwurf machen müssen, daß er das Gesetz a b s i c h t l i c h unrichtig angewendet. Die Schlußnahme des Bundesrates beruht auf bloßer Vermutung. Man glaubt, der Kantonsrat habe gegen besseres Wissen das Gesetz nur deshalb so ausgelegt, weil dadurch der konservativen Partei ein Vertreter mehr zugeschieden wurde. Selbst ein vielfach vorbestrafter Verbrecher darf nicht auf eine bloße Vermutung hin verurteilt werden ; ob es nun angeht, daß die Bundesbehörden einer obersten kaEtonalen Behörde auf bloße Vermutung hin den gehässigen Vorwurf der Willkür machen dürfen, darüber mag die Bundesversammlung entscheiden.

IV.

Aus der Beantwortungsschrift von Dr. Stadiin-Graf und Genossen heben wir hervor: Es wird nicht bestrittea, daß § 33 des gegenwärtigen Wahlgesetzes aus §17 der regierungsrätlichen Verordnung entstanden ist, und ebensowenig, daß unter der Herrschaft dieser Verordnung nur die gültigen Stimmen flir das absolute Mehr in Betracht fielen..

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Die daraus vom Rekurrenten gezogenen Schlüsse werden aber bestritten.

Die frühere Wahl ver Ordnung beruhte auf dem System der Stimmenkonkurrenz. Bei diesem System ergab sich von selbst^ daß für dio Stärke der Partei die Zahl der abgegebenen Stimmen in Betracht fiel. Eine Berechnung der abgegebenen Stimm couverts hätte zu Unklarheiten geführt, denn der Wähler hatte nur e i n Stimmcouvert abzugeben, aber so viel Stimmen, als die zu wählende Behörde Mitglieder zählte.

Das neue Wahlgesetz vom 19. September 1896 setzte an Stelle der Stimmenkonkurrenz die L i s t e n k o n k u r r e n z . Danach wird die Stärke der Partei nicht mehr nach der Zahl der abgegebenen Stimmen, sondern nach den von den Wählern eingelegten Listen berechnet. Wenn nun auch einzelne Bestimmungen aus der früheren Verordnung in das neue System des Gesetzes herübergenommen wurden und unter diesen auch § 17 der Verordnung in § 33 des Gesetzes, so hat doch der Ausdruck ,,Stimme"1 unter dem neuen System eine ganz andere Bedeutung.

Die Verweisungen auf die Kommissionsberatungen der Verordnungen beweisen nichts anderes, als daß man für das damalige System den vernünftigsten Ausweg wählte, dagegen können sie nicht ausschlaggebend sein für die Bedeutung der Herübernahme des § 17 in ein neues System.

In den Protokollen der Beratungen des neuen Gesetzes finden sich keine Anhaltspunkte darüber, daß mit dem Worte ,,Stimme" der Begriff ,,gültiger Stimmzettel11 ausgedrückt werden wollte.

Vielmehr beweist die wörtliche Herübernahme des § 17 nur, daß damit nur die Art und Weise der Zuteilung der Restmandate beibehalten werden wollte, aber keineswegs, welche Berechnung man dem absoluten Mehr geben wollte. Der Kantonsrat hat auch bei der Validation der Regierungsratswahlen nicht das absolute Mehr der Stimmen im Sinne der früheren Verordnung berechnet, sondern die abgegebenen gültigen Wahllisten in Berechnung gezogen.

Auch sei im Gesetze eine strenge Unterscheidung der Begriffe ,,Stimme" und ,,Stimmende" nicht durchgeführt. Dies ergiebt sich aus dem § 29, § 30, Ziffer 6, und § 46. Wenn aber Zweifel über die Bedeutung eines Ausdruckes im Gesetz herrscht, kann er nur aus den übrigen Bestimmungen, d. h. aus dem Aufbau des Gesetzes gelöst werden.

Die von Dr. Stadiin-Graf und Genossen behauptete Auslegung sei auch seit Inkrafttreten des Gesetzes immer angewendet worden, wie insbesondere aus den Formularen der Wahlprotokolle hervorgeht.

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Unrichtig ist, daß, wie m der Rekursschrift des Kantonsrates behauptet wird, der Regierungsrat keinen Antrag auf Abänderung der Auslegung des § 33 gestellt habe. Das Gegenteil ergiebt sich aus dem gedruckten Antrag des Regierungsrates, welcher der Beantwortung des Rekurses beiliege.

In rechtlicher Hinsicht bestreitet die Beantwortungsschrift, daß dem Bundesrat die Kompetenz gefehlt habe und sucht die Ausführungen des Rekurses im wesentlichen auf Grundlage des bereits Angebrachten zu widerlegen.

Bei der Beurteilung der Frage, ob Willkür oder nicht, falle wesentlich ins Gewicht die bisherige unbestrittene Rechtsauffassung und der Anlaß, bei dem die neue Rechtsauffassung zu Tage getreten sei. Hierbei seien wesentlich parteipolitische Gesichtspunkte maßgebend gewesen. Das für die ultramontane Partei ungünstige Wahlergebnis sollte im günstigen Sinne ermittelt werden, und weil dies ohne den Schein eines Rechtsgrundes nicht ging, wurde das Wahlgesetz daraufhin untersucht, ob nicht rechtliche Gründe für ein solches Vorgehen gefunden werden könnten. Wenn der Kantonsrat dies bestreitet, so vergißt er dabei, daß weniger die Auslegung des Gesetzes, als vielmehr die plötzliche Nichtbeachtung eines allgemein geübten Rechtsgrundsatzes in Frage kommt, wozu das subjektive Interesse der herrschenden Partei Veranlassung geboten hat.

Willkür ist nicht jedesmal da ausgeschlossen, wo Gründe für ein bestimmtes Vorgehen angegeben werden; sie muß vielmehr überall da angenommen werden, wo unter dem Einfluß s u b j e k t i v e r Wünsche und Zwecke ein Entscheid gefällt wird.

Mit dem Entscheid des Bundesrates seien die vom Bundesgericht aufgestellten Grundsätze nicht im Widerspruch. Formaljustiz sei am allerwenigsten im öffentlichen Rechte angebracht.

V.

Bezüglich der rechtlichen Begründung unseres Entscheides verweisen wir auf die demselben beigegebenen Erwägungen. In denselben ist die Kompetenzfrage so ausführlich erörtert, daß wir nichts beizufügen haben. Es handelt sich in der That nicht um eine Auslegung des Wahlgesetzes des Kantons Zug, sondern darum, ob der vom Kantonsrat Zug angenommenen Auslegung mit Recht der Vorwurf der Willkür und damit einer Verletzung von Art. 4 der Bundesverfassung gemacht werden kann.

Was nun den Rekurs des Kantonsrates von Zug betrifft, so muß zunächst allgemein zurückgewiesen werden, daß der Bundes-

955 rat auf bloße Vermutungen hin ihm den Vorwurf der Willkür gemacht habe und daß in diesem Vorwurfe auch zugleich derjenige des Handelns nach unlauteren Motiven liegt.

Wie aus der Begründung unseres Entscheides ersichtlich ist, haben wir den Entscheid des Kantonsrates vom 27. November 1898 auf Grund ganz bestimmter Thatsachen und Vorgänge aufgehoben.

Unlautere Motive haben wir dem Kantonsrate keine untergeschoben; denn darin, daß man jemand eine willkürliche Handlungsweise' zumißt, liegt noch keineswegs die Behauptung, daß er aus ethisch verwerflichen Motiven gehandelt hat. Es können für eine willkürliche Handlungsweise alle möglichen Gründe gedacht werden, als Nachlässigkeit, Nichtbeachtung bestehender Gesetze, Voreingenommenheit, plötzliches und unmotiviertes Abweichen von hergebrachten Rechtsanschauungen u. dgl. mehr.

Im einzelnen mögen gegenüber den Ausführungen des Kantonsrates von Zug noch folgende Erwägungen hier Platz finden : VI.

Die Beschwerdeschrift erörtert zunächst die Entstehungsgeschichte der §§ 33 und 46 des Wahlgesetzes vom 21. September 1896. Abgesehen davon, daß in der Verordnung des Regierungsrates, welche in § 17 die in § 33 des neuen Wahlgesetzes herübergenommene Bestimmung enthielt, der Ausdruck ,,gültige Stimmen1'nirgends angewendet wird, ist die Behauptung nicht zutreffend, daß ,,unter S t i m m e n d e n a die an einer Wahl teilnehmenden Personen, unter S t i m m e n aber die Anzahl der eingereichten gültigen Stimmzettel zu verstehen sei.

Beide Ausdrücke besagen zunächst gar nichts über die Gültigkeit der vorgenommenen Handlung der Stimmabgabe. ,,Stimme11 ist in der übertragenen Bedeutung des Wortes, als Wahlstimme, die Handlung des Wählers, ,,Stimmender" ist derjenige, der eine Stimme abgiebt. Es heißt der Sprache Gewalt anthun, wenn man ohne nähere Bezeichnung im einen Fall die Bedeutung von rechtlicher Gültigkeit der Stimmabgabe hineinlegen, im ändern Falle das Wort ohne Beziehung auf die rechtliche Wertung der Handlung gebrauchen will.

Es spricht also die grammatikalische Auslegung nicht für, sondern gegen die Interpretation des Kantonsrates.

In der Verordnung des Regierungsrates fand die Bedeutung des Ausdruckes ihre ganz natürliche Auslegung in dem dort an-

956 gewendeten System der Stimmenkonkurrenz. Es wäre in § 17 der Verordnung allerdings, da in d.em unmittelbar vorhergehenden §10 von der Ausmittlung der Gesamtzahl der g ü l t i g a b g e g e b e n e n S t i m m e n die Rede ist, ein Pleonasmus gewesen oder konnte als überflüssig betrachtet werden., noch einmal von dem absoluten Mehr der gültig abgegebenen Stimmen zu sprechen.

Das Gleiche läßt sich aber vom Wahlgesetz von 1896 nicht sagen, da dort in dem dem § 16 der Verordnung entsprechenden § 32 nicht mehr von Stimmen, sondern von der Zahl der gültig abgegebenen Wahlzettel gesprochen wird.

Das Gesetz braucht sodann den Ausdruck ,,Stimmen" 1 gerade in dem Abschnitt über proportionale Wahlen in dem Sinne der Abgabe einer ungültigen Stimme.

So in § 30, Ziffer 6: ,,Die Gesamtzahl der ungültigen und verlorenen S t i m m e n " 1 .

Hier ist der Ausdruck von besonderer Bedeutung, da von der Ausmittelung des Wahlresultates die Rede ist. Überdies schreibt derselbe § 30 in Ziffer 2 ausdrücklich vor, daß die Gesamtzahl der Stimmenden, also der überhaupt abgegebenen Stimmen im Wahlprotokoll zu ermitteln ist, eine Vorschrift, welche nur dann Bedeutung hat, wenn sie für Ermittlung des absoluten Mehres in Betracht fallen soll.

In § 33 liegt also gar keine ,,Verwechslung" der Begriffe vor, wie die Rekursschrift meint; sondern es ist von vorneherein eine künstliche Auslegung, wenn man hier das Wort ,,Stimme" ini Sinne von gültig abgegebener Stimme nehmen will.

Wenn die Rekursschrift weiter behauptet, ,,es liege kein Grund vor, daß die angegebenen Gesetzesbestimmungen (§§ 33 und 46) eine andere Bedeutung erhalten haben dadurch, daß sie aus zwei verschiedenen, neben einander in Kraft bestehenden gesetzgeberischen Erlassen in ein einziges GeseU zusammengestellt worden sind", so kann dieser Satz, ganz abstrakt genommen, zugegeben werden. Wenn aber das neue Gesetz auch ein neues System enthält, wie das unbestrittenermaßen mit der Ersetzung der Stimmenkonkurrenz durch dasjenige der Listenkonkurrenz beim Proportionalverfahren des neuen Zuger Wahlgesetzes der Fall ist, so erscheint es als unzulässig, bei Auslegung des neuen Gesetzes, statt auf dieses, auf einen früheren Erlaß mit einem ganz ändern System zurückzugreifen. Dies geschieht aber durch den Validationsbeschluß des Zuger Kantonsrates, der entgegen der bis dahin allgemein recipierten Auffassung, wonach das Gesetz nur e i n e Bc-

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rechnung des absoluten Mehrs kennt, plötzlich eine zweite Berechnung anwenden will, die weder mit dem Gesetz noch mit dem darin enthaltenen Proportionalsystem übereinstimmt, sondern nur in der frühern Verordnung enthalten war. Gerade dadurch entsteht ein willkürlicher Widerspruch mit dein Gesetz, nicht, wie der Kantonsrat in seiner Rekursschrift annimmt, dadurch, daß § 46 desselben Gesetzes, der eine Berechnung des absoluten Mehres kennt, analog auf § 33 angewendet wird, in welchem ohne nähere Erklärung nur der Ausdruck ,,absolutes Mehr der Stimmen'1 gebraucht wird.

Weiter fällt in Betracht, daß es allerdings nicht ausgeschlossen ist. daß zwei verschiedene Wahlsysteme auch verschiedene Berechnungen des absoluten Mehres besitzen können. Aber richtig angewendet, richtet auch dieses Argument seine Spitze gegen die Berechnungsweise des Kantonsrates.

Verschiedene Proportionalwahlsysteme sind in der Verordnung des Regierungsrates und im späteren Wahlgesetz aufgenommen.

Für die Anwendung der Verordnung hatte die Berechnung des Kantonsrates einen guten Sinn, weil dort nicht die Zahl der gültigen Stimmzettel, sondern der gültigen Stimmen in Betracht kommt.

Für das gegenwärtige Sj'stem der Listenkonkurrenz berechnet sich (wie die Beantwortungsschrift richtig hervorhebt) die Stärke der Partei nicht nach der Zahl der Stimmen, sondern nach der der Stimmzettel, also der Stimmenden. (Vgl. auch den der Rekursschrift beiliegenden Kommissionsbericht auf pag. 7 : ,,Die Stärke der Parteien wird nicht mehr nach der Gesamtzahl der auf ihre Kandidaten abgegebenen Stimmen, sondern nach der Gesamtzahl der auf die Parteien abgegebenen Listen ausgerechnet. Ü b e r d i e s e Ä n d e r u n g ist die K o m m i s s i o n einig." 1 ) Will man also hier. dem absoluten Mehr eine Bedeutung beimessen, so liegt es arn nächsten, die Berechnung aus § 46 des Gesetzes zu nehmen, welcher zwar im Majoritätssystem steht, aber eine Bestimmung über das absolute Mehr enthält, die sich ohne Zwang auch auf das gewählte Proportionalsystem anwenden läßt. Die Beibehaltung des Einflusses des absoluten Mehres auf die Zuteilung der Restmandate ist ja selbst ein aus dem Majoritätssystem herübergenommener Gedanke, denn es soll dadurch erreicht werden, der stärkeren Partei die Mehrheit zu sichern. Also ist auch aus diesem innern Grunde die Anwendung von § 46 durchaus gerechtfertigt.

Es genügt also zur Rechtfertigung der Auffassung des Kantonsrates nicht die bloße Möglichkeit einer ändern Berechnung des

958 absoluten Mehres, sondern erforderlich wäre gewesen der Nachweis, daß so und nicht anders gerechnet werden mußte.

Ebensowenig handelte es sich darum, zu bestreiten, daß die Restmandate nach dem vom Kantonsrate geltend gemachten System hätten verteilt werden können, wenn eine bestimmte gesetzliche Vorschrift dafür bestehen wtrde, sondern um die Ermittlung desabsoluten Mehrs im konkreten Falle und auf dem Boden des geltenden Gesetzes.

Wenn sich der Kantonsrat ferner auf den Kommissionalbericht zum Wahlgesetz beruft und ausführt, die Mehrheit der Kommission habe an § 17 der regierungsrätlichen Verordnung festgehalten, so ist entgegenzuhalten, daß die heutige Streitfrage damals gar nicht aufgeworfen wurde. Es handelte sich damals im wesentlichen nur darum, ob das absolute Mehr von Einfluß bleibe oder die Restmandate den größten Bruchteilen zuzuweisen seien. Es wird immer nur vom absoluten Mehr schlechthin gesprochen, ohne daß über die Ermittlung desselben nähere Auskunft gegeben wird. Insbesondere ist nirgends davon die Rede, daß auch für die Erm i t t l u n g des a b s o l u t e n M e h r e s die Grundsätze der regierungsrätlichen Verordnung festgehalten werden sollten. Auf pag. 8 des Kommissionalberichtes heißt es: ,,Eine letzte streitige Hauptfrage ist bei § 33 zu entscheiden.

Wenn die Summe der auf die einzelnen Parteien entfallenen Vertreter die Gesamtzahl der zu treffenden Wahlen nicht erreicht -- in welcher Weise ist dann der Rest zuzuteilen? Die konservative Mehrheit der Kommission hält hierin am § 17 der regierungsrätlichen Verordnung fest, wonach eines der noch zu vergebenden Mandate der starkem' Partei, sofern sie über das absolute Mehr verfügt, zum voraus zufällt und die ändern den größten Bruchteilen zugeschieden werden. Die Minderheit geht in ihren Gegenanträgen auseinander. Von einer Seite wird beantragt, alle derartigen Mandate den größten Bruchteilen zuzuteilen; von anderer Seite wird vorgeschlagen, eines der noch zu vergebenden Mandate der stärkern Partei, sofern sie über das absolute Mehr der Stimmen verfügt und die Mehrheit der Mandate noch nicht erhalten hat, zum voraus zuzuteilen und die ändern den größern Bruchteilen zuzuschreiben.

Der erstere Minderheitsantrag' kann zu der großen Ungerechtigkeit führen, daß sogar die Minderheiten mehr Mandate erhalten als die Mehrheit. Aber
auch der letztere Antrag ist grundsätzlich unannehmbar, indem auch er den Minderheiten in der Regel eine verhältnismäßig stärkere Vertretung in den Behörden als der Mehrheit sichert."

959.

Also war die Absicht der Kommissionsmehrheit die, der Majoritätspartei auch die Majorität in den zu wählenden Behörden zu wahren, ein Grundsatz, der, wie wir schon oben bemerkten, aus dem Majoritätssystem genommen ist, weshalb es durchaus sachgemäß ist, in einem Gesetze, welches gemeinsam beide Wahlarten behandelt, die Berechnung des absoluten Mehres, über welche sich der Kommissionalbericht gar nicht ausspricht, für beide gleich gelten zu lassen.

So sprechen weder die Entstehungsgeschichte noch die Regeln der Auslegung für die Auffassung des Kantonsrates.

Dazu kommt aber als wesentlich ausschlaggebendes Moment, daß auch im Kanton Zug bis zum Validationsbeschluß über die Regierungsratswahlen niemand die Auffassung des Kantonsrates hegte.

Sowohl die vollziehenden Behörden als der Kantonsrat sind übereinstimmend von der allgemein als richtig anerkannten Rechtsauffassung ausgegangen, daß die Berechnung des absoluten Mehres in § 46 des Gesetzes auch für das Proportionalverfahren maßgebend sei.

Der Kantonsrat führt zwar in seiner Rekursschrift, um dieses gewichtige Argument abzuschwächen, aus, er habe bei Validation der Richterwahlen ohne Prüfung und ohne Diskussion der früheren unrichtigen Ansicht des Regierungsrates beigestimmt, und stellt den Satz auf: ,,Zur Interpretation ist der Wille zu interpretieren erforderlich und wenn dieser fehlt, so kann von einer Interpretation im eigentlichen Sinne des Wortes nicht gesprochen werden."

Darauf ist zu erwidern, daß, abgesehen davon, daß sich der Kantonsrat mit dieser Darlegung ein eigentümliches Zeugnis für seine Geschäftsbehandlung ausstellt, eine Interpretation ohne den Willen des Interpretierenden gar nicht denkbar ist. Der Kantonsrat hat doch einen Beschluß gefaßt und mit diesem Beschluß seinen Willen kundgethan, daß er das Wahlgesetz so auslegen wollte, wie der Regierungsrat es auslegte.

Daß es sich dabei um eine Auslegung handelte, welche von beiden Parteien anerkannt und von den Behörden seit Inkrafttreten des Gesetzes gehandhabt worden war, ergiebt sich auch aus den Wahlprotokollen. Diese sind auf Grundlage des § 30 des Wahlgesetzes verfaßt und enthalten auf der dritten Seite die in dieser Bestimmung vorgesehenen Abteilungen ; zu unterst heißt es dann ,,absolutes Mehr der S t i m m e n d e n a , nicht absolutes Mehr der Stimmen, wodurch
auf die Berechnung des absoluten Mehres auf Grundlage des § 46 des Wahlgesetzes hingewiesen wird.

Die Wahlen sind unter Verwendung dieser Wahlprotokolle erfolgt, wie nicht bestritten werden kann.

960 Wenn nun diese Auffasssung nach Vollzug der Wahlen umgestoßen und eine neue an deren Platz gesetzt wird,, durch welche ein anderes Wahlergebnis erhielt wird, so ist hierin eine Verletzung klaren Rechtes zu erblicken, welche ohne eine hinreichende Begründung erfolgte, für welche sich eine hinreichende Begründung überhaupt nicht erbringen läßt, und dieser Umstand hat den Bundesrat zur Annahme der Willkür bewogen.

Nicht die Abänderung einer früheren Interpretation, welche, wie wjr in unserem Entscheid angegeben haben, zulässig wäre, und ebensowenig bloße Vermutungen, wie der Kantonsrat ausführt, haben die Schlußnahme des Bundesrates herbeigeführt, sondern der' aus den thatsächlichen Verumständungen erbrachte Nachweis, daß der Kantonsrat von einer gesetzlich begründeten und seit Inkrafttreten des Gesetzes geübten Rechtsauffassung ohne jedwede innere Begründung abgewichen ist.

vn.

Gestützt auf diese Ausführungen beantragen wir : Die Bundesversammlung möge beschließen : Der Rekurs des Kantonsrates des Kantons Zug gegen den Bundesratsbeschluß vom 21. Juli 1899, betreffend Validation der Regierungsratswahlen vom 27. November 1898, wird als unbegründet abgewiesen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 7. Dezember 1899.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Müller.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

-ja^cr-

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend den Rekurs des Kantonsrates von Zug gegen den Beschluß des Bundesrates vom 21. Juli 1899 über die Beschwerde des Herrn Dr. H. Stadlin-Graf und Genossen in Zug gegen den Beschluß des Kantons...

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