Bericht über Gewalt in Paarbeziehungen. Ursachen und in der Schweiz getroffene Massnahmen (in Erfüllung des Postulats Stump 05.3694 vom 7. Oktober 2005) vom 13. Mai 2009

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Am 7. Oktober 2005 hat Nationalrätin Doris Stump ein Postulat eingereicht, das den Bundesrat einlädt, einen Bericht über die Ursachen von Gewalt im sozialen Nahraum zu erstellen und einen Aktionsplan zur Vermeidung dieser Gewalt zu erarbeiten. Der erste Teil des Postulats (Bericht) wurde am 16. Dezember 2005 vom Nationalrat überwiesen.

Wir unterbreiten Ihnen im Folgenden den Bericht. Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

13. Mai 2009

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Hans-Rudolf Merz Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2008-2884

4087

Übersicht Anlass für den vorliegenden Bericht ist das Postulat 05.3694 von Nationalrätin Doris Stump, eingereicht am 7. Oktober 2005. Es verlangt einen Bericht über die Ursachen von Gewalt im sozialen Nahraum und einen Aktionsplan zur Vermeidung dieser Gewalt. In seiner Stellungnahme vom 23. November 2005 beantragte der Bundesrat die Annahme des ersten Punktes des Postulates (Bericht) und die Ablehnung des zweiten Punktes (Aktionsplan). Der Rat folgte ihm.

Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) beauftragte Anfang 2008 zwei Forscherinnen, eine Studie in zwei Teilen zu erstellen. Im ersten Teil sollte ein Überblick über den Forschungsstand zu den Ursachen von Gewalt in Partnerschaften gegeben werden. Der zweite Teil sah eine Bestandesaufnahme der in den letzten Jahren in der Schweiz ergriffenen Massnahmen gegen Gewalt in Paarbeziehungen vor. Damit beschränkte sich der Auftrag, v.a. aus praktischen Gründen, auf die häufigste Form der Gewalt im sozialen Nahraum.

Für den ersten Teil der Studie führte die Arbeitsgemeinschaft umfangreiche Literaturrecherchen durch und stellte die Ergebnisse der Forschung zu den Ursachen von Partnerschaftsgewalt dar. Als Grundlage für die Bestandesaufnahme der Massnahmen dienten ihr eine Umfrage bei allen Kantonen, die Befragung von Expertinnen und Experten sowie die Analyse zahlreicher Dokumente. Sechs Kantone, verteilt auf alle Sprachregionen, wurden zudem einer vertieften Analyse unterzogen. Die Arbeitsgemeinschaft lieferte ihren Schlussbericht im Herbst 2008 ab. Er enthält auch ein Synthesekapitel mit Empfehlungen für Forschung, Praxis und Politik, das dem vorliegenden Bericht zu Grunde liegt.

Die Studie wird vom EBG zusammen mit dem vorliegenden Bericht veröffentlicht.

Sie gibt Behörden, Fachleuten und weiteren interessierten Kreisen einen Überblick über mögliche Ursachen von Gewalt in Paarbeziehungen und dokumentiert den aktuellen Stand der Forschung. Ausserdem liefert sie eine Bestandesaufnahme und Einschätzung der in den letzten Jahren in der Schweiz getroffenen Massnahmen auf gesetzlicher und institutioneller Ebene. Damit erlaubt sie eine vertiefte Diskussion über die Prävention häuslicher Gewalt und unterstützt die Akteurinnen und Akteure auf allen Ebenen bei der Planung und Umsetzung künftiger Präventionsmassnahmen und
gesetzlicher Änderungen.

Der Bundesrat stellt aufgrund der Studie fest, dass in den letzten Jahren auf allen Ebenen zahlreiche wichtige Massnahmen zur Bekämpfung der Gewalt in Partnerschaften ergriffen wurden. Er setzt sich dafür ein, dass die Arbeit der verschiedenen Bundesstellen zur Koordination und Unterstützung der Präventionsarbeit weitergeführt, wo nötig ausgebaut und optimiert wird. Im Bereich der Forschung möchte er einerseits die Frage der volkswirtschaftlichen Kosten der Gewalt untersuchen lassen. Anderseits sollen generell Forschungslücken bezüglich Gewalt im sozialen Nahraum aufgezeigt und entsprechende Untersuchungen angeregt werden.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1 Ausgangslage 1.1 Postulat Stump 1.2 Legislaturplanung 1.3 Auftrag für eine Studie 1.4 Politisches und gesellschaftliches Umfeld 1.4.1 Thematisierung von häuslicher Gewalt auf internationaler Ebene 1.4.2 Auseinandersetzung mit häuslicher Gewalt in der Schweiz 1.5 Aufbau des Berichts

4091 4091 4091 4091 4092 4092 4094 4095

2 Zielsetzung und Anlage der Studie 2.1 Thematische Eingrenzung 2.2 Methodisches Vorgehen

4095 4095 4095

3 Ergebnisse 3.1 Zahlen und Fakten 3.2 Erkenntnisse über die Ursachen von Gewalt 3.2.1 Gewalt lässt sich nicht eindimensional erklären 3.2.2 Ursachen und Risikofaktoren bei Gewalt in Paarbeziehungen 3.3 Massnahmen gegen Gewalt 3.3.1 Gesetzgeberische Massnahmen 3.3.2 Koordinations- und Kooperationsmassnahmen 3.3.3 Intervention und Strafverfolgung 3.3.4 Massnahmen zugunsten von Opfern und Mitbetroffenen 3.3.5 Massnahmen zugunsten von gewaltausübenden Personen 3.3.6 Beratungs- und Unterstützungangebote für Partnerschaftsund Familienfragen 3.3.7 Aus- und Weiterbildungsmassnahmen 3.3.8 Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit 3.4 Empfehlungen 3.4.1 Überprüfung gesetzlicher Grundlagen und konsequenter Vollzug 3.4.2 Gewährleistung der Vernetzung und der Zusammenarbeit 3.4.3 Unterstützung und Schutz der betroffenen, der mitbetroffenen und der bedrohten Personen 3.4.4 Angebote für gewalttätige und potenziell gewalttätige Personen 3.4.5 Themenspezifische Aus- und Weiterbildungsmassnahmen für Fachpersonen 3.4.6 Dauerhafte Information, Sensibilisierung und Öffentlichkeitsarbeit 3.4.7 Schliessung von Forschungslücken

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4 Die Haltung des Bundesrats und geplante Massnahmen auf Bundesebene 4.1 Allgemeine Einschätzung 4.2 Zu den Empfehlungen der Studie 4.2.1 Überprüfung gesetzlicher Grundlagen und konsequenter Vollzug 4.2.2 Vernetzung und Zusammenarbeit 4.2.3 Schutz der Betroffenen 4.2.4 Angebote für gewalttätige Personen 4.2.5 Aus- und Weiterbildungsmassnahmen 4.2.6 Information, Sensibilisierung und Öffentlichkeitsarbeit 4.2.7 Schliessung von Forschungslücken 4.3 Finanzielle Auswirkungen auf Bund und Kantone 4.4 Übersicht über die von den betroffenen Ämtern geplanten Massnahmen 5 Handlungsbedarf und Good Practices in den Kantonen 5.1 Gesetzliche Grundlagen und Vollzug 5.2 Gewährleistung der Vernetzung und Zusammenarbeit 5.3 Unterstützung und Schutz der Betroffenen und Mitbetroffenen 5.4 Angebote für Täterinnen und Täter 5.5 Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen 5.6 Permanente Information und Sensibilisierung 5.7 Schliessung von Forschungslücken

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Bericht 1

Ausgangslage

1.1

Postulat Stump

Mit dem Postulat «Ursachen von Gewalt untersuchen und Massnahmen dagegen ergreifen» vom 7. Oktober 2005 (05.3694) wollte Nationalrätin Doris Stump den Bundesrat beauftragen, einen Bericht zu den Ursachen von Gewalt im sozialen Nahraum zu verfassen und einen Aktionsplan zur Vermeidung dieser Gewalt zu entwickeln und umzusetzen.

Der Bundesrat beantragte in seiner Stellungnahme vom 23. November 2005 die Annahme des ersten Punktes des Postulates (Bericht) und die Ablehnung des zweiten Punktes (Aktionsplan). Er verwies auf bereits erstellte Studien oder Berichte, die Hinweise zu den Ursachen von Gewalt im sozialen Nahraum geben, und erklärte sich bereit, einen kurzen Überblick bzw. eine Synthese der wichtigsten Aussagen zu erstellen und die in den letzten Jahren in der Schweiz getroffenen Massnahmen aufzulisten. Die Erarbeitung und nachhaltige Umsetzung eines Aktionsplanes erachtete er jedoch als zu aufwendig und angesichts der angespannten Finanzlage nicht durchführbar.

Der Nationalrat überwies am 16. Dezember 2005 den ersten Teil des Postulates (Bericht) und lehnte den zweiten (Aktionsplan) ab.

1.2

Legislaturplanung

In der Botschaft vom 23. Januar 20081 über die Legislaturplanung 2007­2011 hat der Bundesrat angekündigt, einen Bericht über die Ursachen von Gewalt im sozialen Nahraum vorzulegen, der die ergriffenen Massnahmen auflistet und Empfehlungen an die verschiedenen Akteure enthält. Gleichzeitig stellt er einen Bericht zur Jugendgewalt in Aussicht, der die Ursachen beleuchtet und konkrete Massnahmen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene vorschlägt.

1.3

Auftrag für eine Studie

Mit der Erstellung des Berichtes in Erfüllung des Postulates wurde das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) beauftragt. Wie in der Begründung des Postulats festgehalten, geht es in erster Linie um Gewalt von Männern gegenüber ihren Partnerinnen. Gewalt in Ehe und Partnerschaft ist die häufigste Form von Gewalt im sozialen Nahraum.

Das EBG hat als Grundlage für den Bericht eine Studie mit zwei Teilen erarbeiten lassen. In einem ersten Teil sollte anhand einer Literaturrecherche ein Überblick über den Forschungsstand zu den Ursachen von Gewalt in Partnerschaften gegeben werden. Im zweiten Teil sollte eine Bestandesaufnahme der in den letzten Jahren in 1

BBl 2008 753 800

4091

der Schweiz ergriffenen Massnahmen gegen Gewalt in Paarbeziehungen erstellt werden (namentlich gesetzliche Massnahmen auf Bundes- und Kantonsebene, Schaffung spezifischer Strukturen sowie Kampagnen, Programme und Einzelmassnahmen). Aus beiden Teilen sollten Schlussfolgerungen und Empfehlungen für Praxis und Forschung gezogen werden.

Zur Begleitung des Studienauftrags wurde eine verwaltungsinterne Begleitgruppe eingesetzt. Darin waren neben dem federführenden EBG die wichtigsten Bundesämter, die sich mit dem Thema häusliche Gewalt befassen, vertreten, nämlich das Bundesamt für Polizei (fedpol, Dienst für Analyse und Prävention), das Bundesamt für Migration (BFM, Direktionsbereich Arbeit, Integration und Bürgerrecht; Sektion Integration), das Bundesamt für Justiz (BJ, Fachbereich Rechtsetzungsprojekte und -methodik; Opferhilfe), das Bundesamt für Gesundheit (BAG, Direktionsbereich Öffentliche Gesundheit), das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV, Geschäftsfeld Familie, Generationen und Gesellschaft ­ Bereich Kinder-, Jugend- und Altersfragen) und das Bundesamt für Statistik (BFS, Sektion Kriminalität und Strafrecht).

Nach einer öffentlichen Ausschreibung, auf die elf Offerten eingingen, wurde das Mandat für die Studie Anfang 2008 an eine Arbeitsgemeinschaft vergeben, bestehend aus dem «Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS» und Marianne Schär Moser, Forschung und Beratung. Die Arbeitsgemeinschaft legte ihren Schlussbericht2 im Herbst 2008 vor.

Gestützt auf die im Schlussbericht festgehaltenen Ergebnisse wurde der vorliegende Bericht verfasst.

1.4

Politisches und gesellschaftliches Umfeld

Gewalt im sozialen Nahraum oder häusliche Gewalt wurde lange Zeit als Privatsache betrachtet und tabuisiert. Seit den 1990er-Jahren hat ein Umdenken auf breiter Ebene stattgefunden. Die Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen allgemein wie auch der häuslichen Gewalt wird auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene zunehmend thematisiert und als Aufgabe der Gemeinschaft anerkannt.

1.4.1

Thematisierung von häuslicher Gewalt auf internationaler Ebene

Auf internationaler Ebene kommt Gewalt gegen Frauen zum ersten Mal ausführlich an der UNO-Menschenrechtskonferenz in Wien 1993 zur Sprache, wo sie in der Schlusserklärung ausdrücklich als Menschenrechtsverletzung bezeichnet und verurteilt wird. Daran schliesst die Erklärung der UNO-Generalversammlung von 1993 über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen an.3 Gewalt in Ehe und Partnerschaft nimmt darin einen wichtigen Stellenwert ein. Die Aktionsplattform der UNOWeltfrauenkonferenz von Beijing 1995 widmet dem Thema Gewalt gegen Frauen 2

3

Arbeitsgemeinschaft Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS & Marianne Schär Moser, Forschung und Beratung: Gewalt in Paarbeziehungen. Ursachen und in der Schweiz getroffene Massnahmen. Bern 2008.

Erklärung der UNO-Generalversammlung vom 20.12.1993 über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen.

4092

ein Kapitel, in dem verschiedene Formen von Gewalt innerhalb der Familie explizit erwähnt werden. Sie verlangt von den Regierungen u.a. Aktionsprogramme, Sensibilisierungs- und Weiterbildungsmassnahmen bei den mit Gewalt und Gewaltopfern konfrontierten Fachleuten, die Unterstützung von Beratung und Unterkünften für Gewaltopfer sowie gesetzliche Massnahmen zur Sanktionierung der Täter. Der Aktionsplan, den die Schweiz 1999 im Anschluss an die UNO-Welfrauenkonferenz erarbeitet hat, sieht verschiedene Massnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vor. Ein Teil davon ist inzwischen realisiert, so etwa die Schaffung einer Koordinationsstelle zu Gewalt an Frauen (Fachstelle gegen Gewalt im EBG, siehe Ziff. 1.4.2), die Einführung spezieller strafrechtlicher Bestimmungen und die Berücksichtigung im Bereich der Opferhilfe.

Das UNO-Übereinkommen vom 18. Dezember 19794 zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW) nennt häusliche Gewalt zwar nicht ausdrücklich als Diskriminierungsform, zu deren Abschaffung die Vertragsstaaten verpflichtet sind. Der CEDAW-Ausschuss hat sich jedoch in zwei allgemeinen Empfehlungen hierzu geäussert. In Empfehlung 19 definiert er «geschlechtsspezifische Gewalt, die es Frauen erschwert oder unmöglich macht, völkerrechtlich oder in Menschenrechtsabkommen verankerte Menschenrechte und Grundfreiheiten auszuüben», explizit als Diskriminierung. Empfehlung 12 fordert die Staaten auf, über die Massnahmen, die sie zur Beseitigung der Gewalt ergreifen, zu berichten. Im Rahmen seiner Schlussbemerkungen zum ersten und zweiten Staatenbericht fordert der Ausschuss die Schweiz auf, ihre Bemühungen zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen, namentlich der häuslichen Gewalt, zu verstärken. Er legt der Schweiz nahe, «Gesetze zu erlassen und Massnahmen im Sinne der allgemeinen Empfehlung 19 des Ausschusses zu ergreifen, um der Gewalt vorzubeugen, den Opfern Schutz, Unterstützung und Beratung zukommen zu lassen und die Gewalttäter zu bestrafen und zu resozialisieren.»5 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat im Jahr 2002 einen Weltbericht zu Gewalt und Gesundheit veröffentlicht. Darin stellt sie fest, dass Gewalt gegen Intimpartnerinnen und -partner in allen Ländern ein Problem darstellt und dass die allermeisten Opfer dieser Gewalt weiblich und die Täter männlich sind. Der
Bericht listet auch verschiedene Faktoren auf, die das Risiko von Gewaltanwendungen in Partnerschaften zu erhöhen scheinen.

Die Europäische Kommission führt seit 1997 das Programm Daphne6 durch. Es zielt darauf ab, Organisationen zu unterstützen, die sich in der Bekämpfung und Prävention von Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und Frauen engagieren. Bis 2005 wurden 420 Projekte unterstützt. Zurzeit läuft Daphne III, das für 2007­2013 116 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Projekte zur Behandlung von Betroffenen, zur Förderung des Austauschs, zur Vernetzung, Schulung, Sensibilisierung und Forschung können von privaten und öffentlichen Organisationen und Institutionen aus den EU- und EWR-Ländern eingereicht werden.

Zwischen November 2006 und März 2008 führte der Europarat eine Kampagne zur Bekämpfung der Gewalt an Frauen und der häuslichen Gewalt durch. Die Schweiz hat sich an dieser Kampagne beteiligt, indem die Fachstelle gegen Gewalt im EBG zahlreiche Stellen innerhalb und ausserhalb der Bundesverwaltung über die Kam4 5 6

SR 0.108. Die Schweiz hat dieses Übereinkommen am 27. März 1997 ratifiziert.

CEDAW/C/2003/I/CRP.3/Add.1/Rev.1, par. 31 http://ec.europa.eu/justice_home/funding/2004_2007/daphne/funding_daphne_fr.htm#

4093

pagne informiert und Materialien zur Verfügung gestellt hat. Ende 2008 hat der Europarat einer Gruppe von Expertinnen und Experten den Auftrag erteilt, zwingende rechtliche Instrumente zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt und anderer Formen von Gewalt gegen Frauen auszuarbeiten. In den verschiedenen Ausschüssen und Gruppen, die den Entscheid vorbereitet haben, waren Grundsatz und Notwendigkeit eines rechtlich verpflichtenden Instruments unbestritten. Einigkeit bestand auch darüber, dass mit dem Instrument eine umfassende Strategie (Gewaltprävention, Schutz der Opfer und Verfolgung der Täter) verfolgt werden soll und dass es ein unabhängiges und wirksames Controlling braucht. Die Gruppe der Expertinnen und Experten wird im Juni 2009 einen Zwischenbericht abliefern, in dem präzisiert wird, welche Personen und Gewaltformen das neue Übereinkommen einschliesst und ob es dafür ein oder mehrere Instrumente braucht.

1.4.2

Auseinandersetzung mit häuslicher Gewalt in der Schweiz

In der Schweiz beschäftigen sich auf Bundesebene neben dem EBG, das sich von Anfang an dem Thema der Gewalt gegen Frauen angenommen hat, verschiedene andere Bundesämter und -stellen mit Teilaspekten der häuslichen Gewalt (namentlich BJ, BSV, BAG, BFM, BFS, Fedpol, EDA, DEZA). Mit der Schaffung der Fachstelle gegen Gewalt (FGG) im EBG im Jahr 2003 konnten die Massnahmen des Bundes zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen verstärkt werden. Allerdings musste die ursprünglich grösser geplante Stelle aus Spargründen bereits beim Start auf 220 Stellenprozent und wenig später auf 130 Stellenprozent reduziert werden.7 Die FGG konzentriert sich daher auf die häufigste Form der Gewalt gegen Frauen, die Gewalt in Paarbeziehungen und Trennungssituationen. Trotz ihrer beschränkten Ressourcen hat sie sich zu einer Informationsdrehscheibe für Fachpersonen und die breite Öffentlichkeit entwickelt. Sie unterstützt die in der Prävention und Bekämpfung der häuslichen Gewalt tätigen Einrichtungen auf Bundes- und Kantonsebene, indem sie Wissen sammelt und zur Verfügung stellt, den Erfahrungsaustausch und die Zusammenarbeit fördert und Impulse gibt für Aus- und Weiterbildung sowie für Forschung.8 Im Rahmen der breiten öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Thema der häuslichen Gewalt, die in den letzten Jahren in der Schweiz stattgefunden hat, wurden zahlreiche parlamentarische Vorstösse eingereicht, die sich in unterschiedlicher Form mit dem Thema befassen.9 Die Folgen der veränderten Wahrnehmung der häuslichen Gewalt zeigen sich einerseits in verschiedenen Gesetzesänderungen auf Bundes- und Kantonsebene. Sie haben zum Ziel, häusliche Gewalt wirksamer zu bekämpfen, die Opfer besser zu schützen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Anderseits wurden auch auf der praktischen Ebene, in der konkreten Arbeit mit den von Gewalt Betroffenen und den Gewalt Ausübenden, massgebliche Verbesserungen erzielt. Die vom EBG in Auftrag gegebene Studie liefert im zweiten Teil einen Überblick über die in den

7 8 9

Vgl. Informationsnotiz des Eidg. Departements des Innern vom 4. Oktober 2007 an die Mitglieder des Bundesrates.

Vgl. www.geichstellung-schweiz.ch: Fachstelle gegen Gewalt.

Eine Liste der Vorstösse zu diesem Thema ab 1985 findet sich im Anhang.

4094

letzten Jahren getroffenen gesetzlichen und strukturellen Massnahmen auf Bundesund Kantonsebene (siehe Ziff. 3.3).

1.5

Aufbau des Berichts

Im vorliegenden Bericht werden zunächst Zielsetzung, Auftrag und Methodik der Studie aufgezeigt (Ziff. 2). Es folgt die Darstellung der Ergebnisse, wie sie von den Autorinnen in der Synthese ihres Schlussberichts zusammengefasst werden. Daran schliessen die Empfehlungen an, die die Autorinnen basierend auf den Resultaten ihrer Recherchen und Befragungen formuliert haben (Ziff. 3). In Ziffer 4 nimmt der Bundesrat Stellung zu den Empfehlungen und macht Vorschläge für Massnahmen des Bundes. Ziffer 5 stellt die Situation in den Kantonen dar und zeigt GoodPractice-Beispiele auf.

2

Zielsetzung und Anlage der Studie

Die Studie soll Behörden, Fachleuten und weiteren interessierten Kreisen einen Überblick über mögliche Ursachen von Gewalt in Paarbeziehungen geben und den aktuellen Stand der Forschung dokumentieren. Ausserdem liefert sie eine Bestandesaufnahme und Einschätzung der in den letzten Jahren in der Schweiz getroffenen Massnahmen. Ihr Ziel ist es, eine vertiefte Diskussion über die Prävention häuslicher Gewalt anzuregen und die Akteurinnen und Akteure auf allen Ebenen bei der Planung und Umsetzung künftiger Präventionsmassnahmen und gesetzlicher Änderungen zu unterstützen.

2.1

Thematische Eingrenzung

Die Studie konzentriert sich auf Gewalt in Paarbeziehungen als spezifische Form von Gewalt im sozialen Nahraum (vgl. Ziff. 1.3 Auftrag der Studie). Gemeint sind damit alle Formen von Gewalt (körperliche, sexuelle oder psychische Gewalt) von Frauen und von Männern in allen Konstellationen von bestehenden oder aufgelösten Paarbeziehungen; konkret also in Ehe und Partnerschaft, bei heterosexuellen oder homosexuellen Paaren, bei gemeinsamem oder getrenntem Wohnsitz und auch bei Paaren in der Phase der Trennung oder danach. Gewalt gegenüber Kindern und Eltern sowie Geschwistergewalt innerhalb der Familie, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, Gewalt an Schulen, Gewalt in Heimen oder anderen Institutionen wie auch Gewalt im öffentlichen Raum sind nicht Gegenstand der Untersuchung.

2.2

Methodisches Vorgehen

Als Grundlage für die Untersuchung sind folgende Erhebungen und Analysen durchgeführt worden: eine umfassende Recherche und Darstellung der Forschungsliteratur, eine Umfrage in allen 26 Kantonen als Grundlage für die Darstellung der Gesetzgebung und der Vernetzungs-, Beratungs- und Unterstützungsstrukturen in den Kantonen, eine Befragung von sieben ausgewählten Expertinnen und Experten 4095

sowie eine vertiefte Analyse der Situation in sechs Kantonen, verteilt auf alle drei Sprachregionen (Basel-Landschaft, Genf, Luzern, Waadt, Tessin und Zürich). Die vertiefte Untersuchung beinhaltet eine Auswertung der von den Kantonen zur Verfügung gestellten Dokumente sowie Gespräche mit je zwei Schlüsselpersonen aus dem Kanton.

3

Ergebnisse10

3.1

Zahlen und Fakten

Es gibt bisher keine gesamtschweizerische Statistik oder ein Erfassungssystem für Fälle von häuslicher Gewalt respektive von Gewalt in Paarbeziehungen. Eine Erhebung des Bundesamtes für Statistik über Tötungsdelikte11 zeigt, dass in den Jahren 2000­2004 250 Frauen Opfer eines versuchten oder vollendeten Tötungsdelikts durch den aktuellen oder ehemaligen Partner wurden. In derselben Zeitspanne gab es 54 männliche Opfer von Tötungsdelikten in der Partnerschaft, davon in einem Fall in einer homosexuellen Partnerschaft. Die Opferhilfestatistik des Bundesamtes für Statistik erfasst 2007 über 29 000 Beratungsfälle. In mehr als der Hälfte der Fälle stehen Täter und Opfer in einer familiären Beziehung. Rund drei Viertel der Ratsuchenden bei Opferhilfestellen sind weiblich.12 Statistiken zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur den Bereich der gemeldeten, sichtbaren Gewalt erfassen. Demgegenüber beleuchten sogenannte Prävalenzstudien13 oder Surveys auch das Feld der versteckten, nicht gemeldeten Gewalt. In der Schweiz wurden bisher zwei repräsentative Erhebungen zu Gewalt gegen Frauen durchgeführt. Gillioz, De Puy & Ducret14 zeigen basierend auf einer Erhebung aus dem Jahr 1993 auf, dass rund jede fünfte der befragten Frauen15 (20,7 %) im Verlauf ihres Lebens körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch einen Partner erfahren hat.

Wird psychische Gewalt mitberücksichtigt, haben 40,3 Prozent der Frauen Gewalt erlebt. Killias, Simonin & De Puy16 berichten basierend auf einer Erhebung aus dem Jahr 2003 davon, dass jede zehnte der befragten Frauen17 (10,5 %) im Lauf ihres Erwachsenenlebens in einer Paarbeziehung körperliche oder sexuelle Gewalt erfährt.

Jede dritte Frau (32 %) wird mindestens einmal im Erwachsenenleben Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt durch Bekannte oder Unbekannte.

10 11 12 13

14 15 16

17

Das folgende Kapitel 3 basiert im Wesentlichen auf dem Teil IV (Synthese und Schlussfolgerungen) der Studie.

Zoder Isabel (2008): Tötungsdelikte in der Partnerschaft. Polizeilich registrierte Fälle 2000­2004, Neuenburg: BFS.

www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/19/03/01/key/beratungsfaelle/01.html Bei den Prävalenzstudien oder Surveys wird basierend auf repräsentativen Befragungen untersucht, wie häufig Gewalt in einer bestimmten Gruppe (Frauen, Frauen und Männer, Kinder etc.) vorkommt.

Gillioz Lucienne, Jacqueline De Puy et Véronique Ducret (1997): Domination et violence envers la femme dans le couple. Lausanne: Payot.

Frauen zwischen 20 und 60 Jahren, die in den letzten 12 Monaten in einer Paarbeziehung lebten.

Killias Martin, Mathieu Simonin & Jacqueline De Puy (2005): Violence experienced by women in Switzerland over their lifespan: Results of the International Violence against Women Survey (IVAWS), Bern: Stämpfli.

Alle Frauen zwischen 18 und 70 Jahren.

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Weiter wurden im Rahmen von Projekten an verschiedenen Spitälern der Schweiz Befragungen von Patientinnen durchgeführt. Ein direkter Vergleich der Betroffenheitsraten zwischen einzelnen Prävalenzstudien ist aus methodischen Gründen nicht zulässig. Ungeachtet dessen wird aber deutlich, dass das Ausmass der Gewalt erheblich ist.

3.2

Erkenntnisse über die Ursachen von Gewalt

Den in der Schweiz getroffenen Präventionsmassnahmen gegen Gewalt in Paarbeziehungen liegt eine implizite oder explizite Annahme über die Faktoren, die Gewalthandlungen verursachen oder begünstigen, zu Grunde. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf den Erfolg der Interventionen ist eine differenzierte Auseinandersetzung von Forschung und Praxis mit den Ursachen von Gewalt, aber auch mit den Bedingungen von gewaltlosem Handeln erforderlich. Erst in jüngerer Zeit richtet die Forschung ihren Blick auf diesen zweiten Aspekt.

3.2.1

Gewalt lässt sich nicht eindimensional erklären

Fachleute aus Forschung und Praxis sind sich einig, dass Gewalt in Paarbeziehungen verschiedene Ursachen hat, die in vielfältiger Weise zusammenspielen.

Ursachen, Risikofaktoren und Risikosituationen In der Diskussion über die Hintergründe von Gewalt ist ein vorsichtiger Umgang mit dem Begriff der «Ursachen» angezeigt. Viele Faktoren korrelieren mit dem Vorkommen von Gewalt, und in der konkreten sozialen Situation sind immer mehrere solcher Faktoren vorhanden. Ursächliche Faktoren, d.h. die eigentlichen Wurzeln von Gewalt, zu erkennen und von weiteren, allenfalls verstärkenden Einflussfaktoren (z.B. Alkoholkonsum) oder lediglich beschreibenden Faktoren (z.B. Alter) abzugrenzen, ist deshalb äusserst schwierig und streng genommen unmöglich. So ist es in der Fachwelt unbestritten und durch Zahlen erhärtet, dass Personen, die in ihrer Kindheit selbst Opfer oder Zeugen bzw. Zeuginnen von Gewalt in der Familie geworden sind, als Erwachsene besonders häufig zu Opfern oder Tätern bzw. Täterinnen werden. Wie aber lässt sich erklären, dass die meisten von ihnen die Gewalterfahrung nicht reproduzieren? Die Einflussfaktoren, welche Gewalt oder eben Gewaltlosigkeit mitbestimmen, liegen auf verschiedenen Ebenen. Einfache UrsacheWirkungs-Zusammenhänge lassen sich beim komplexen Problem der Gewalt nicht herstellen, und es gibt auch keine expliziten Determinanten von Gewalt.

Der Beitrag der Forschung Es gibt verschiedene Forschungsrichtungen, die auf der Basis von unterschiedlichen theoretischen Annahmen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten zu erklären versuchen, weshalb und unter welchen Bedingungen Gewalt in Paarbeziehungen entsteht. Unterschieden werden kann dabei insbesondere zwischen sozialen Lerntheorien, ressourcen- und machttheoretischen Ansätzen sowie feministischen Theorien, sozialen Kontrolltheorien, Austauschtheorien und kriminologischen Ansätzen.

Die vorliegende Studie stützt sich bei der Darstellung der Erkenntnisse der Forschungsliteratur in erster Linie auf repräsentative Studien aus dem In- und Ausland.

4097

Untersucht wird in diesen Studien die Gewalt von Männern gegenüber Frauen, nur teilweise auch Gewalt gegen Frauen und gegen Männer.18 Es kann also nicht verallgemeinernd von «Risikofaktoren bei Partnerschaftsgewalt» gesprochen werden.

Vielmehr muss transparent gemacht werden, aus welcher Optik sich die Forschung zu Risikofaktoren äussert. Studien, welche Partnerschaftsgewalt bei Frauen und Männern untersuchen, zeigen, dass bestimmte (soziodemografische) Faktoren für Frauen, nicht aber für Männer das Risiko erhöhen, Opfer von häuslicher Gewalt zu werden. Dies verdeutlicht die Wichtigkeit einer geschlechterdifferenzierten Betrachtung der Risikofaktoren.

In der vorliegenden Studie werden primär Risikofaktoren bei Gewalt an Frauen in heterosexuellen Beziehungen beschrieben.

Die Frage, ob bestimmte Risikofaktoren im Zusammenhang mit bestimmten Formen von Gewalt stehen bzw. welchen Faktoren bei welchen Formen von Gewalt massgebende Bedeutung zukommt, lässt sich aufgrund der Forschungsliteratur nicht beantworten.

3.2.2

Ursachen und Risikofaktoren bei Gewalt in Paarbeziehungen

Aus der Vielzahl von untersuchten Faktoren ergibt sich ein Kern von Ursachen und Risikofaktoren, die von der Forschung und der Praxis als entscheidend erachtet werden. Die wichtigsten werden hier kurz referiert und in der Abbildung 1 am Ende dieses Kapitels im Überblick dargestellt.

Ebene Individuum: Nach den repräsentativen Erhebungen hat Gewalt in der Partnerschaft mit den Eigenschaften des Partners zu tun, kaum aber mit jenen der betroffenen Frau. Gewalterfahrungen in der Herkunftsfamilie, erhöhter Alkoholkonsum und antisoziales bzw. kriminelles Verhalten der Männer ausserhalb der Beziehung stehen in einem deutlichen Zusammenhang mit Partnerschaftsgewalt.

Partnerschaft, Gemeinschaft, Gesellschaft: Als Risikofaktor erweist sich eine ungleiche Machtverteilung in der Paarbeziehung, wobei die Studien insbesondere bezogen auf Dominanz- und Kontrollverhalten starke Zusammenhänge nachweisen.

Häufige Partnerschaftskonflikte und insbesondere die Art, wie mit Konflikten umgegangen wird, spielen weiter eine bedeutende Rolle. Stressfaktoren erhöhen vor allem dann das Risiko von Gewalt, wenn konstruktive Bewältigungsstrategien fehlen.

Die kritischen Lebensereignisse Schwangerschaft, Geburt und Trennung erweisen sich als grosse Risikofaktoren.

Eine soziale Isolation des Paares begünstigt Gewalt ebenso wie eine gewaltbejahende Einstellung der Partnerinnen und Partner sowie ihres näheren Umfelds.

Der Einfluss des weiteren Umfelds ­ d.h. der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ­ ist bisher wenig untersucht. Von Bedeutung scheinen der Stand der Gleichstellung von Frau und Mann sowie die Toleranz gegenüber Partnerschaftsgewalt in einer Gesellschaft.

18

Gleichgeschlechtliche Gewalt wird durch die allermeisten Studien ausgeklammert bzw.

nicht erfasst.

4098

Von den befragten Fachpersonen werden verschiedene Faktoren als wichtige ursächliche Bedingungen von Gewalt in Paarbeziehungen thematisiert. Insbesondere genannt werden patriarchalisch geprägte Geschlechterverhältnisse und die Geschlechterrollensozialisation als Faktoren auf gesellschaftlicher Ebene sowie biografische Lernerfahrungen im Umgang mit Gewalt als Faktor auf individueller Ebene. Auf gesellschaftlicher und politischer Ebene werden zudem der Tolerierung und Banalisierung von Gewalt eine wichtige Rolle zugeschrieben.

Die wichtigsten Ursachen und Risikofaktoren bei Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen Das nachfolgende Modell zur Erklärung von Gewalt orientiert sich am WHOModell zum Weltbericht 2002/0319. Es wurde von der Gewaltforschung übernommen und weiterentwickelt. Das mehrschichtige Modell trägt der Tatsache Rechnung, dass es nie einzelne Faktoren sind, welche Gewalt bzw. Gewaltlosigkeit bedingen, und dass die verschiedenen Faktoren durch jeweils andere Faktoren beeinflusst werden. Es ist geeignet, die zahlreichen Einflussfaktoren und ihr Zusammenspiel bei der Entstehung von Gewalt in Partnerschaft und Familie zu systematisieren. Auf jeder Ebene (Individuum, Beziehung, Gemeinschaft, Gesellschaft) gibt es Faktoren, die im Zusammenspiel mit anderen Faktoren auf der gleichen und auf anderen Ebenen das Verhalten von Individuen beeinflussen bzw. das Risiko erhöhen, dass jemand Gewalt ausübt bzw. von Gewalt betroffen ist.20 Abb. 1: Modell zur Erklärung von Gewalt

19 20

WHO World Health Organization (Hrsg.) (2003): Weltbericht Gewalt und Gesundheit.

Zusammenfassung, Kopenhagen: WHO, 13 f. (Internetpublikation unter: www.who.int).

Vgl. Heise Lori L. (1998): «Violence against women: An integrated, ecological framework», Violence against Women, 4(3), 262­290, 266 ff.

4099

3.3

Massnahmen gegen Gewalt

Die Gewaltforschung wie auch die befragten Expertinnen und Experten kommen einhellig zum Schluss, dass gleichzeitig Massnahmen auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen müssen, um Gewalt in Paarbeziehungen einzudämmen. Die Bestandesaufnahme der Massnahmen dokumentiert, dass in der Schweiz in den letzten Jahren auf allen Ebenen Massnahmen getroffen wurden. Lücken bestehen namentlich bei der gezielten Ansprache von Migrantinnen und Migranten, der Sensibilisierung und Ausbildung des medizinischen und juristischen Fachpersonals, beim Umgang mit den mitbetroffenen Kindern und mit minderjährigen Täterinnen und Tätern sowie allgemein im Bereich der Primärprävention, Früherkennung und Frühintervention von Gewalt in Paarbeziehungen. Der Bedarf ist meist erkannt, doch scheitert die Umsetzung vielfach an den nötigen Ressourcen. Dies gilt ganz besonders bei Angeboten für Betroffene und Gewaltausübende.

3.3.1

Gesetzgeberische Massnahmen

Nationale Ebene: Seit dem 1. April 2004 werden einfache Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 2 StGB21), wiederholte Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 2 StGB), Drohung (Art. 180 Abs. 2 StGB), sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB) und Vergewaltigung (Art. 190 StGB) in Ehe und Partnerschaft von Amtes wegen verfolgt. Seit dem 1. Januar 2007 gilt dies explizit auch für die eingetragene Partnerschaft. Bei gewissen Tatbeständen ist eine Einstellung des Verfahrens durch das Opfer möglich (Art. 55a StGB). Seit dem 1. Juli 2007 gilt die neue Gewaltschutznorm im Zivilgesetzbuch (Art. 28b ZGB), die es Klagenden ermöglicht, Schutzmassnahmen (z.B.

Kontaktverbot, Wegweisung) zu beantragen. Zudem werden die Kantone verpflichtet, ein Verfahren für eine sofortige Wegweisung der gefährdenden Person im Krisenfall zu bestimmen. Das Opferhilfegesetz22 verpflichtet die Kantone, Anlauf- und Beratungsstellen für Opfer von Straftaten einzurichten. Auf eidgenössischer Ebene weiter relevant ist die Regelung im Ausländergesetz23, wonach bei Ausländerinnen und Ausländern, deren Aufenthalt an die Ehe gebunden ist, die Möglichkeit eines individuellen Anspruchs auf Aufenthalt bei Trennung aus wichtigen Gründen besteht, namentlich wenn sie Opfer ehelicher Gewalt sind.

Kantonale Ebene: Massnahmen gegen häusliche Gewalt wurden in verschiedener Weise in die kantonalen Gesetzgebungen aufgenommen. Durch die Einführung polizeirechtlicher Normen, die befristete Schutzmassnahmen wie Wegweisung, Betret- oder Kontaktverbote vorsehen, wurde in den meisten Kantonen die Lücke des kurzfristigen Opferschutzes geschlossen. Die flankierenden Massnahmen beinhalten in den meisten Kantonen eine Informationspflicht gegenüber dem Opfer sowie der gefährdenden Person betreffend Rechte und geeignete Anlauf- und Beratungsstellen. In wenigen Kantonen bestehen Modelle zur proaktiven Ansprache der Opfer und der Gefährdenden durch spezialisierte Beratungsstellen; in einem Kanton existiert die Möglichkeit, eine weggewiesene Person zu einer bestimmten Anzahl Beratungsstunden zu verpflichten. Mit beidem hat man gute Erfahrungen gemacht.

21 22 23

SR 311.0 SR 312.5 SR 142.20

4100

Mit der im Jahr 2007 in Kraft getretenen zivilrechtlichen Gewaltschutznorm, die länger dauernde Schutzmassnahmen vorsieht, wurde der mittelfristige Schutz der Opfer verbessert.

Die normativen Neuerungen auf eidgenössischer und kantonaler Ebene bedeuten einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung von Gewalt in Paarbeziehungen und werden in den Kantonen und von den Fachleuten grossmehrheitlich begrüsst.

Als entscheidend wird erachtet, wie die Vollzugsspielräume genutzt werden. Als Problem angesehen werden teilweise die Bestimmungen zur provisorischen Einstellung des Verfahrens bei Offizialdelikten in der Partnerschaft, welche die Einstellungsmöglichkeiten allein vom Opfer abhängig machen und keine Grundlage für Auflagen an die Gefährdenden bieten. Ambivalent beurteilt werden die neuen strafrechtlichen Sanktionsbestimmungen, mit denen bedingte oder unbedingte kurze Freiheitsstrafen durch bedingte oder unbedingte Geldstrafen ersetzt worden sind.

Problematisch im Falle von häuslicher Gewalt ist insbesondere, wenn die Geldstrafen die Familie zusätzlich finanziell belasten. Handlungsbedarf besteht bei der Anwendung der ausländerrechtlichen Härtefallregelung für gewaltbetroffene oder gefährdete Migrantinnen und Migranten. Bezüglich der zivilrechtlichen Bestimmungen wird bemängelt, dass die Hürden für ein Verfahren in rechtlicher (Beweiserbringung) und finanzieller (Kostenrisiko) Hinsicht relativ hoch sind.

3.3.2

Koordinations- und Kooperationsmassnahmen

In verschiedenen Kantonen gibt es Interventionsstellen, Fachstellen oder Delegierte für häusliche Gewalt, die eine Koordinationsfunktion übernehmen. In unterschiedlichem Mass kommt ihnen auch eine Informations-, Sensibilisierungs- und Weiterbildungsfunktion zu. Daneben bestehen ständige Kommissionen und runde Tische zur Vernetzung und Zusammenarbeit der verschiedenen staatlichen und privaten Akteurinnen und Akteure (Polizei, Justiz, Beratungsstellen etc.). Die Kantone haben unterschiedliche Koordinations- und Kooperationsmodelle. Die feste Verankerung von Koordinations- und Kooperationsstrukturen wird von den näher untersuchten Kantonen sowie den Expertinnen und Experten als äusserst wichtig erachtet. Sie leisten einen entscheidenden Beitrag zur Sensibilisierung für das Thema und die Sicherung der wirksamen und effizienten Präventionsarbeit. Insgesamt wird es als notwendig erachtet, dass sich die Gewaltprävention auf institutioneller Ebene noch stärker konsolidiert, weil sie häufig stark vom Engagement einzelner Personen abhängig ist.

Die Interventions- und Fachstellen sind in der Konferenz der Kantonalen Interventionsstellen, Interventionsprojekte und Fachstellen häusliche Gewalt (KIFS) und der Conférence latine contre la violence domestique zusammengeschlossen. In der Zentralschweiz erfolgt eine Koordination und Kooperation von Massnahmen durch die Zentralschweizer Fachgruppe häusliche Gewalt. Daneben gibt es auf interkantonaler und nationaler Ebene bereichsspezifische Vernetzungsstrukturen (Konferenzen der Opferhilfestellen, Dachorganisation Frauenhäuser, Nationales Treffen der Täterund Täterinnenberatungsstellen und Antigewaltprogramme, Fédération romande des intervenant-e-s auprès des auteur-e-s de violence domestique FRIAVD).

Um die Wirksamkeit der Prävention künftig noch zu verbessern, wird es als zentral erachtet, dass auch auf nationaler Ebene Strukturen garantiert und ausreichend finanziert werden, welche die bestehenden Angebote gut vernetzen, koordinieren 4101

und Synergien nutzen. Eine solche Funktion kommt in der Schweiz bspw. der Fachstelle gegen Gewalt des EBG zu. Die Fachstelle hat im Mai 2003 ihre Tätigkeit begonnen. Die Prävention und Bekämpfung von Gewalt in Paarbeziehungen und Trennungssituationen bilden den Schwerpunkt der Aktivitäten. Die Aufgaben der Fachstelle sind folgende: die Information und Dokumentation zu Ausmass, Ursachen und Folgen von Gewalt; die Förderung der Koordination und Vernetzung der verschiedenen Akteurinnen und Akteure innerhalb und ausserhalb der Bundesverwaltung; die Förderung der Aus- und Weiterbildung betroffener Berufsgruppen sowie verwaltungsinterne Aufgaben wie das Mitwirken bei Ämterkonsultationen und das Einbringen von Fachwissen im Gesetzgebungsprozess. Auf der Internetseite werden zahlreiche Informationen und Forschungsberichte bereitgestellt.24

3.3.3

Intervention und Strafverfolgung

Gefördert durch die Kampagne der Schweizerischen Verbrechensprävention in den Jahren 2003­2005 verfolgt die Polizei eine neue Interventionsstrategie («Ermitteln statt Vermitteln»). In den meisten Kantonen hat sie die Möglichkeit, gefährdende Personen wegzuweisen oder andere Schutzmassnahmen anzuordnen. Es zeigt sich, dass es eine gewisse Zeit braucht, bis die neue Interventionsstrategie einheitlich angewandt und die neuen Massnahmen ausgeschöpft werden. Die Sensibilisierung der Polizei wird insgesamt als gut und ihre Arbeit, die als äusserst anspruchsvoll und belastend beschrieben wird, mehrheitlich positiv bis sehr positiv bewertet. Dazu tragen auch die Fachkräfte oder Fachstellen häusliche Gewalt bei, die bei den Polizeien teilweise eingerichtet worden sind. Vielfach verfügen die Polizeien und ihre Fachstellen allerdings über zu wenig Ressourcen, um die gestiegenen Anforderungen zu bewältigen. Bei der Genfer Polizei wurde 2007 ein informatikgestütztes System zur verbesserten Früherkennung von Gewalt eingeführt, das aktuell evaluiert wird.

Bei einem grossen Teil der Interventionen wegen häuslicher Gewalt, im Kanton Zürich bei mehr als der Hälfte, sind Kinder direkt oder als Zeugen mitbetroffen. Je nach Kanton können oder müssen die Vormundschaftsbehörden informiert werden.

Die Situation bezüglich der mitbetroffenen Kinder wird vielerorts als unbefriedigend wahrgenommen. Dies hängt einerseits mit der Überlastung der (Miliz-)Behörden der Vormundschaft zusammen (Deutschschweiz). Andererseits wird konstatiert, dass spezifische Konzepte und Angebote für die Unterstützung der mitbetroffenen Kinder fehlen. Auch seitens der Opfer und der weggewiesenen Personen besteht grosser Unterstützungsbedarf. Dies zeigen u.a. die Erfahrungen mit einer proaktiven Ansprache der Opfer und der Gefährdenden, von denen ein sehr grosser Anteil die freiwillige Beratung in Anspruch nimmt.

24

www.gleichstellung-schweiz.ch

4102

3.3.4

Massnahmen zugunsten von Opfern und Mitbetroffenen

Durch das 1993 eingeführte Opferhilfegesetz (OHG)25 wurden die Kantone verpflichtet, Anlauf- und Beratungsstellen für Opfer von Gewalttaten einzurichten. Je nach Kanton besteht ein mehr oder weniger breites und spezialisiertes OHGAngebot (für Frauen, Opfer von sexueller Gewalt, männliche Opfer etc.). Neben den OHG-Stellen gibt es vielerorts weitere auf häusliche Gewalt spezialisierte ambulante Beratungsangebote für gewaltbetroffene oder gefährdete Frauen oder für beide Geschlechter. In der Romandie ist ein spezialisiertes Beratungsangebot über das Internet zugänglich, in der Deutschschweiz bieten einzelne Institutionen Fachberatung über Internet an. In allen Kantonen stehen den Opfern allgemeine medizinische Notfalldienste von Spitälern sowie Ärztinnen und Ärzten offen. In einigen Kantonen gibt es an Spitälern auf Gewalt spezialisierte medizinische oder therapeutische Notfalldienste. In mehreren Kantonen gibt es Frauenhäuser, die Frauen und ihren Kindern Schutz, Betreuung und Beratung bieten.

Die Finanzierung der Angebote wird vielerorts als grosses Problem wahrgenommen.

Die Wichtigkeit der Angebote sei zwar unbestritten, gleichzeitig fehle es an der Bereitschaft, tragfähige Strukturen aufzubauen. Der finanzielle Druck kann dazu führen, dass nicht optimale Arbeit geleistet werden kann und die verschiedenen Angebote gegeneinander ausgespielt werden, beispielsweise solche für Opfer gegen solche für gewaltausübende Personen. Mehrfach wird dezidiert darauf hingewiesen, dass trotz der Möglichkeit von Wegweisungen Frauenhäuser eine wichtige Funktion erfüllen. Von verschiedener Seite wird grosser Handlungsbedarf bei der Unterstützung der mitbetroffenen Kinder gesehen. Bei der Unterstützung von Opfern durch Spitäler sowie Ärztinnen und Ärzte herrscht generell Entwicklungsbedarf. Verschiedene Fachleute plädieren für die Einführung eines Screenigs zu häuslicher Gewalt zur Förderung der Früherkennung und Reduktion von schweren Gewaltfällen sowie für Massnahmen zur Verbesserung der rechtsmedizinischen Falldokumentationen.

Insgesamt liegt nach Einschätzung verschiedener Fachleute ein starkes Gewicht der Opferhilfe-Angebote bei der Bewältigung akuter Krisensituationen (Sekundärprävention). Vor allem aus finanziellen Gründen ist es den Opfereinrichtungen kaum möglich, die dringend nötige längerfristig ausgerichtete Unterstützung (Tertiärprävention) anzubieten; anerkannte OHG-Stellen müssen allerdings laut Gesetz auch längerfristige Hilfe leisten.

3.3.5

Massnahmen zugunsten von gewaltausübenden Personen

In der Schweiz gibt es in der Mehrheit der Kantone Angebote für Personen, die in einer Partnerschaft Gewalt ausüben oder befürchten, gewalttätig zu werden. Die meisten davon entstanden in jüngerer Zeit, es gibt aber auch solche, die seit mehr als zehn Jahren existieren. Die Angebote lassen sich grundsätzlich unterteilen in solche, die in Krisensituationen oder bei vorliegender Gewalttätigkeit freiwillig aufgesucht werden, und solche mit verpflichtendem Charakter im strafrechtlichen Kontext. Neu wurden vereinzelt spezifische Angebote im Zusammenhang mit der proaktiven 25

SR 312.5

4103

Ansprache von Gefährdenden (Basel-Landschaft, Zürich) oder der Wegweisung eingerichtet. Im Kanton Luzern wurde ein Pflichtberatungsangebot für weggewiesene Personen aufgebaut. Im Kanton Genf besteht ein Pilotprojekt mit einem Wohnangebot für gewaltausübende Männer.

Die in einzelnen Kantonen bestehenden Angebote im freiwilligen Bereich erstrecken sich auf Krisenberatung, Gewaltberatung und Gruppenangebote. In der Romandie gibt es ein interaktives Onlineberatungsangebot. Im verpflichtenden Bereich haben Lernprogramme und Therapiegruppen ein grösseres Gewicht, wie sie in einzelnen Kantonen der Deutschschweiz und der Romandie bestehen. Das Angebot für Frauen ist sowohl im freiwilligen als auch im verpflichtenden Bereich über alles gesehen noch wenig ausgebaut. In der Romandie gibt es eine Stelle, die seit Längerem mit Frauen arbeitet. Im Kanton Basel-Landschaft läuft ab 2008 ein Lernprogramm für Frauen als Pilotprojekt.

Eine Angebotslücke besteht in der italienischsprachigen Schweiz, was dort erkannt wurde und verändert werden soll. Ein grosses Problem wird von verschiedener Seite in der ungenügenden finanziellen Absicherung der Angebote gesehen, insbesondere im freiwilligen Bereich. Handlungsbedarf wird ebenfalls ausgemacht, was die Erreichbarkeit fremdsprachiger Migranten und Migrantinnen angeht. Von der Möglichkeit verpflichtender Zuweisungen in Lern- oder Therapieprogramme wird in den Kantonen sehr unterschiedlich Gebrauch gemacht. Als entscheidend wird diesbezüglich die Sensibilisierung der zuständigen Justizstellen erachtet. Als wichtiges Handlungsfeld wird die Früherkennung und Frühintervention gesehen. Hier werden insbesondere niederschwellige freiwillige Beratungsangebote als wichtig erachtet.

Diese müssen breit bekannt sein und von den Zielgruppen als Hilfsangebote wahrgenommen werden. Andererseits stehen eine Sensibilisierung von Ärztinnen, Ärzten und Spitälern sowie eine Berücksichtigung der Perspektive der Täterinnen und Täter in den Screenings im Zentrum.

3.3.6

Beratungs- und Unterstützungangebote für Partnerschafts- und Familienfragen

In allen Kantonen bestehen Beratungs- und Unterstützungsangebote für Fragen rund um Familie, Beziehungen und Alltagsprobleme. Dazu gehören etwa Sozialdienste sowie ein mehr oder weniger ausgebautes Netz von allgemeinen, psycho-sozialen, medizinischen, therapeutischen und juristischen Beratungs- und Unterstützungsangeboten. Sie sind mehrheitlich nicht auf die Prävention von Partnerschaftsgewalt spezialisiert, aber mit dem Thema direkt oder indirekt konfrontiert.

Die befragten Fachleute sind sich einig, dass es ausgesprochen wichtig ist, Paare und Familie möglichst früh zu erreichen, was die Bekanntheit der Angebote voraussetzt.

Grosse Bedeutung wird seitens der Fachleute den Anlauf- und Beratungsstellen rund um Schwangerschaft und Geburt sowie Mütter- und Väterberatungen zugemessen.

Diese erreichen eine Vielzahl von Personen in Lebenssituationen, die als Risikofaktoren für Gewalt in Paarbeziehungen bekannt sind.

4104

3.3.7

Aus- und Weiterbildungsmassnahmen

In den Kantonen gibt es verschiedene Bestrebungen zur Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen unterschiedlicher Fachrichtungen, die in ihrer Tätigkeit mit häuslicher Gewalt konfrontiert sein können. Diese Bestrebungen gehen teilweise von den zuständigen Koordinationsstellen aus, teilweise von anderen Fachstellen oder erfolgen auf Initiative von Ausbildungsstätten selber. Mehrheitlich handelt es sich um Weiterbildungsangebote zuhanden von Fachleuten aller Fachrichtungen oder spezifischer Zielgruppen (Polizei, Pflegepersonal, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter etc.). In einigen Kantonen wurden ausführlichere Leitfäden oder Handbücher entwickelt, die sich an Fachleute richten. In verschiedenen Kantonen gelang in verschiedenen Berufen eine Integration des Themas in die Grundbildung.

Bei der Polizei ist das Thema schweizweit in die Grundausbildung integriert. Mehrheitlich werden ihr ein hoher Wissensstand und die Bereitschaft zur Weiterbildung attestiert. Unterschiedlich sind die Einschätzungen zu Wissensstand und Sensibilisierung bei der Richterschaft, vielerorts wird eine mangelnde Sensibilisierung festgestellt. Neben der Polizei werden Fachpersonen aus dem medizinischen Bereich (Ärztinnen, Ärzte, Pflegefachpersonen) als wichtige Berufsgruppen bei der Gewaltprävention wahrgenommen. In verschiedenen Kantonen wird bezogen auf das ärztliche Personal ein Mangel an Information und Sensibilisierung festgestellt. Insgesamt wird im medizinischen Bereich grosser Handlungsbedarf ausgemacht. Dieser bezieht sich einerseits auf die wichtige Verantwortung im Zusammenhang mit einer qualitativ guten klinischen Dokumentation der Fälle von häuslicher Gewalt. Andererseits wird bedauert, dass das Potenzial zur Früherkennung durch fehlendes Wissen und das nicht eingeführte Screening sehr schlecht ausgeschöpft wird.

3.3.8

Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit

Schweizweit wurden bisher drei grössere Kampagnen zu Partnerschaftsgewalt resp.

häuslicher Gewalt durchgeführt: «Halt Gewalt» der Schweizerischen Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten (1997), «Stopp häusliche Gewalt» der Schweizerischen Verbrechensprävention (2003­2005) und die Aktionstournee «Mobil gegen häusliche Gewalt» der Schweizer Sektion von Amnesty International (2006). Auf internationaler Ebene hat sich das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann an der Kampagne des Europarates zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen, einschliesslich der häuslichen Gewalt (2004­2008), beteiligt.

In verschiedenen Kantonen wurden und werden die Einführung gesetzlicher Neuerungen und der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen (25. November) für eine breitere Öffentlichkeitsarbeit genutzt. Durch die kantonalen Akteurinnen und Akteure (Koordinationsstellen, Gleichstellungsbüros, Anlauf- und Beratungsstellen, Polizei) wurden eine Vielzahl Broschüren zum Thema und andere Informations- und Sensibilisierungsmaterialien erarbeitet und verteilt. Als wichtige Zielgruppen der Informations- und Sensibilisierungsarbeit werden Migrantinnen und Migranten sowie Kinder und Jugendliche gesehen. Ein umfassender Präventionsansatz besteht hierzu im Kanton Waadt, wo mit dem Projekt «Die Schule der Gleichstellung» ein respektvoller Umgang zwischen den Geschlechtern gefördert werden soll. Eine Intensivierung der Arbeit an Schulen wird mit Blick auf die Primärprävention vielerorts als vordringliche Stossrichtung erachtet.

4105

Festgestellt werden konnte, dass eine permanente Sensibilisierung für das Thema erforderlich ist und daher laufend Bemühungen nötig sind. Die breite Information der Öffentlichkeit wird von den Fachleuten in zweierlei Hinsicht als wichtig erachtet: um die klare Haltung zu vermitteln, dass Gewalt in Paarbeziehungen nicht toleriert und nicht legal ist, und um Opfer wie Täterinnen und Täter zu erreichen, zu befähigen und zu ermutigen, die einschlägigen Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen. Mehrfach wird auf die Verantwortung des Bundes in diesem Bereich hingewiesen.

3.4

Empfehlungen

Die nachfolgenden Empfehlungen greifen in knapper Form die aus der Untersuchung hervorgegangenen Erkenntnisse zum Handlungsbedarf und den Optimierungsmöglichkeiten auf. Die politische Umsetzbarkeit wird bei den Vorschlägen nicht berücksichtigt. Sie sollen den Akteurinnen und Akteuren auf eidgenössischer, kantonaler und kommunaler Ebene sowie der Forschung eine Diskussionsbasis für die Weiterarbeit bieten.

3.4.1

26

Überprüfung gesetzlicher Grundlagen und konsequenter Vollzug

­

Alle Bestrebungen der Akteurinnen und Akteure auf eidgenössischer und kantonaler Ebene sollen darauf ausgerichtet sein, die rechtlichen Bestimmungen konsequent im Sinne der übergeordneten Ziele umzusetzen (Gewalt vermeiden, Opfer unterstützen, Gefährdende zur Verantwortung ziehen).

­

Die Wirkungen der strafrechtlichen Bestimmung zur provisorischen Einstellung des Verfahrens bei Offizialdelikten in Ehe und Partnerschaft (Art. 55a StGB) und des neuen Sanktionsrechts (Geld- anstelle von kurzen Freiheitsstrafen) sollten im Hinblick auf die übergeordneten Ziele vertieft diskutiert werden.

­

Es sollte beleuchtet werden, in welcher Weise allfällige prozessuale Hürden (Beweispflicht, Kostenfolgen) die Wirksamkeit der Bestimmung der zivilrechtlichen Gewaltschutznorm (Art. 28b ZGB) beeinflussen und wie die kantonale Umsetzung ausgestaltet wird. Daraus abgeleitet wären allenfalls Massnahmen zu ergreifen.

­

Der Vollzug der ausländerrechtlichen Härtefallregelung bei häuslicher Gewalt (Art. 50 Abs. 1 Bst. a AuG26) sollte untersucht und dahingehend beurteilt werden, ob der Ermessenspielraum in den Kantonen und auf Bundesebene im Sinne des Opferschutzes ausgeschöpft wird.

­

Die bestehenden Möglichkeiten zur Weiterleitung der Opferdaten an die Beratungsstellen sollten im Zusammenhang mit den polizeilichen Interventionen konsequent genutzt werden, wobei gewährleistet werden muss, dass dort die erforderlichen Ressourcen für eine Kontaktaufnahme mit den Opfern zur Verfügung stehen. Darüber hinaus sollten proaktive Modelle SR 142.20

4106

(automatische Weiterleitung der Daten von Opfer und gewaltausübender Person, Beratungsauftrag) vertieft geprüft werden, wobei deren Möglichkeiten und Grenzen im jeweiligen Kontext zu beurteilen sind.

3.4.2

Gewährleistung der Vernetzung und der Zusammenarbeit

­

Die Bestrebungen zur Bekämpfung von Gewalt in Paarbeziehungen sollten darauf ausgerichtet sein, durch die Koordination und Vernetzung der Massnahmen sowie die Zusammenarbeit der mit der Umsetzung betrauten Akteurinnen und Akteure Synergien zu nutzen und eine grösstmögliche Wirksamkeit und Effizienz zu erreichen. Dabei muss insbesondere darauf geachtet werden, dass die Möglichkeiten der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Lernens auch über die Sprachregionen hinaus optimal genutzt werden.

­

Die auf nationaler Ebene bestehenden Vernetzungsstrukturen übernehmen eine wichtige Funktion im Hinblick auf eine wirksame Gewaltprävention. Es sollte gewährleistet werden, dass sie über die nötigen Ressourcen verfügen, diese Aufgaben wahrzunehmen.

­

Die Förderung von Koordinations- und Kooperationsstrukturen und deren Institutionalisierung in allen Kantonen ist anzustreben.

3.4.3

Unterstützung und Schutz der betroffenen, der mitbetroffenen und der bedrohten Personen

­

Opferschutz ist ein prioritäres Ziel. Für Personen, die von Gewalt in Paarbeziehungen betroffen, mitbetroffen oder bedroht sind, müssen adäquate Angebote in allen Kantonen bereitgestellt werden. Handlungsbedarf besteht teilweise bezogen auf eine längerfristige Betreuung nach der Krisenintervention.

­

Im Sinne eines konsequenten Opferschutzes sollte gewährleistet werden, dass ausreichende Angebote zum Schutz von Frauen und Kindern vorhanden sind. Die polizeirechtlichen Schutzmassnahmen können spezialisierte Angebote nicht ersetzen.

­

Die Beratungsstellen und insbesondere die Frauenhäuser sind mit einer hohen Zahl von Migrantinnen konfrontiert. In den Beratungsstellen und insbesondere in den Frauenhäusern sollten zur Lösung der sprachlichen und kulturbedingten Verständigungsprobleme zusätzliche Kompetenzen aufgebaut oder auch Fachpersonen mit eigenem Migrationshintergrund eingesetzt werden.

­

Die Berücksichtigung der Interessen der mitbetroffenen Kinder in konkreten Fällen von Gewalt in Paarbeziehungen ist sehr wichtig. Entsprechende Angebote sollten auch im Hinblick auf die Primärprävention gefördert werden.

4107

3.4.4

Angebote für gewalttätige und potenziell gewalttätige Personen

­

Die Verhinderung von Gewalt und ihrer Wiederholung ist ein prioritäres Ziel. Für potenziell gewalttätige und gewalttätige Personen müssen in allen Kantonen adäquate Massnahmen bereitgestellt werden. Es sollten zudem Massnahmen getroffen werden, um den Zugang zu den bestehenden Angeboten zu erleichtern und zu fördern.

­

Um die Wirksamkeit der Prävention zu verbessern, sollten gleichzeitig niederschwellige Angebote im freiwilligen Bereich gefördert und die Möglichkeiten obligatorischer Programme intensiv genutzt werden.

­

Ungenügende Sprachkompetenzen bilden aktuell ein Ausschlusskriterium für die Beratungen. Es müssen Wege gefunden werden, um sprachlich schlecht integrierte gewaltausübende Personen besser zu erreichen. Dafür müssen in den Beratungsstellen zusätzliche Ressourcen zur Verfügung stehen, um entsprechende Konzepte zu entwickeln und die nötigen Kompetenzen zu erwerben. Dabei ist darauf zu achten, dass Gewaltberaterinnen und -berater vermehrt über die notwendigen sprachlichen und interkulturellen Kompetenzen verfügen.

3.4.5

Themenspezifische Aus- und Weiterbildungsmassnahmen für Fachpersonen

­

Früherkennung und Frühintervention sind zentrale Ansatzpunkte für die Verminderung von Gewalt. Dabei spielen Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich im weitesten Sinn eine grosse Rolle. Die Verantwortung muss durch die Akteurinnen und Akteure des Gesundheitswesens auf kantonaler und Bundesebene verstärkt wahrgenommen werden.

­

Das Thema Gewalt, häusliche Gewalt und Gewaltdynamik ist möglichst breit in die relevanten Ausbildungs- und Studiengänge (Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen sowie Recht und Justiz) zu integrieren. Wo möglich sollen nationale Lösungen (über entsprechende Vernetzungsstrukturen) angestrebt werden.

3.4.6

Dauerhafte Information, Sensibilisierung und Öffentlichkeitsarbeit

­

Sensibilisierung für das Thema häusliche Gewalt ist ein Prozess und bedingt wiederkehrende Bemühungen. Die breite Öffentlichkeit kann am besten durch ein Engagement auf Bundesebene erreicht werden.

­

Die Primärprävention an Schulen sollte intensiviert werden. Die Themen Rollenbilder, häusliche Gewalt und Konflikte in der Partnerschaft sind in das Schulwesen (Schule und Lehrerbildung) zu integrieren.

4108

­

Massnahmen für die gezielte Ansprache von Migrantinnen und Migranten sind erforderlich. Dazu gehört, dass Massnahmen zusammen mit den betroffenen Migrantinnen und Migranten und mit den jeweiligen Migrationsgemeinschaften ausgearbeitet und durch diese unterstützt werden.

3.4.7

Schliessung von Forschungslücken

­

Es besteht Forschungsbedarf im Bereich der Ursachenforschung (Resilienzforschung, Erforschung der Bedingungen von Gewaltlosigkeit, Erforschung geschlechtsspezifischer Aspekte von Gewalt, Erforschung von Bedingungsund Entstehungszusammenhängen in qualitativen Studien).

­

Es fehlt eine Prävalenzstudie für die Schweiz, welche Gewalt in Paarbeziehungen umfassender untersucht (Gewalt gegen Frauen und Männer und durch Frauen und Männer). Die Bemühungen zur Vereinheitlichung der Statistiken zu den erfassten Fällen sollten vorangetrieben werden.

­

Die Folgekosten von Gewalt in Paarbeziehungen sollten durch eine umfassende Studie ausgewiesen werden.

­

Das Instrument der Evaluation sollte verstärkt genutzt werden, um die Umsetzung der kantonalen Gewaltschutzbestimmungen zu optimieren. Auch vergleichende Studien sind sinnvoll und dienen der Etablierung von Massnahmen und der Erarbeitung von Good Practice.

4

Die Haltung des Bundesrats und geplante Massnahmen auf Bundesebene

Eine tabellarische Übersicht über die vom Bund geplanten Massnahmen findet sich in Ziffer 4.4.

4.1

Allgemeine Einschätzung

Für die Schweiz liegen verschiedene Untersuchungen über Gewalt in Partnerschaften vor. Sie beschränken sich in der Regel auf Gewalt von Männern gegen Frauen und belegen, dass das Ausmass dieser Gewalt erheblich ist: Zwischen 10 und 20 Prozent der Frauen erleben körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch einen Partner; bezieht man psychische Gewalt ein, sind es noch deutlich mehr.27 Über häusliche Gewalt gegen Männer gibt es generell wenig Untersuchungen, für die Schweiz fehlt bisher eine repräsentative Umfrage.

27

Vgl. Gillioz Lucienne, Jacqueline De Puy et Véronique Ducret (1997): Domination et violence envers la femme dans le couple. Lausanne: Payot; Killias Martin, Mathieu Simonin and Jacqueline De Puy (2005): Violence experienced by women in Switzerland over their lifespan: Results of the International Violence against Women Survey (IVAWS), Bern: Stämpfli; Gloor Daniela und Hanna Meier (2004): Frauen, Gesundheit und Gewalt im sozialen Nahraum. Repräsentativbefragung bei Patientinnen der Maternité Inselhof Triemli, Klinik für Geburtshilfe und Gynäkologie, im Auftrag des Gleichstellungsbüros der Stadt Zürich und der Maternité Inselhof Triemli, Bern: Edition Soziothek.

4109

Nur ein kleiner Teil der in Prävalenzstudien erfassten Fälle wird amtlich registriert, etwa wenn die Polizei beigezogen wird, die Opfer Anzeige erstatten oder eine Opferhilfestelle aufsuchen. Bisher gibt es jedoch keine gesamtschweizerische Erfassung von Fällen häuslicher Gewalt. Die Opferhilfestatistik der letzten Jahre zeigt, dass es sich in mehr als der Hälfte der Beratungsfälle um häusliche Gewalt handelt und dass rund drei Viertel aller Ratsuchenden Frauen sind.28 Die laufende Revision der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS) zielt unter anderem darauf ab, Strafanzeigen und polizeiliche Interventionen bei häuslicher Gewalt gesamtschweizerisch zu erfassen. Damit wird ab 2010 eine flächendeckende Statistik der polizeilich registrierten Fälle von Partnergewalt möglich.

Gewalt im sozialen Nahraum, häusliche Gewalt und Gewalt in Partnerschaften sind komplexe soziale Phänomene, die nicht mit einfachen Ursache-WirkungsZusammenhängen erklärt werden können. Die Forschenden sprechen daher eher von Faktoren, die Gewalt begünstigen (Risikofaktoren), und von solchen, die vor Gewalt schützen (Schutzfaktoren). Sie gehen davon aus, dass bei der Entstehung von Gewalthandlungen mehrere Risikofaktoren auf verschiedenen Ebenen (Individuum, Beziehung, Gemeinschaft, Gesellschaft) zusammenspielen. Entsprechend müssen auch Massnahmen, die Gewalt verhindern wollen, auf verschiedenen Ebenen ansetzen. Die Primärprävention, die der Entstehung von Gewalt vorbeugen will, setzt direkt bei den Risikofaktoren beziehungsweise bei den Schutzfaktoren an. Bei der Sekundärprävention geht es darum, Krisensituationen und drohende Gewalt möglichst früh zu erkennen und zu verhindern. Die Tertiärprävention schliesslich setzt ein, wenn die Gewalt erfolgt ist. Sie soll verhindern, dass sich Gewalthandlungen wiederholen, und die negativen Folgen möglichst gering halten.

Im Anschluss an die breitere Auseinandersetzung mit dem Thema der häuslichen Gewalt wurden in der Schweiz in den letzten Jahren auf Bundes- und auf Kantonsebene zahlreiche Massnahmen zur Verhinderung dieser Gewalt und der Beseitigung deren Folgen ergriffen. Zu nennen sind hier einerseits die gesetzgeberischen Massnahmen des Bundes (Gewalt in Ehe und Partnerschaft zum Offizialdelikt erklärt; zivilrechtliche Gewaltschutznorm; Revision des Ausländer- und des
Opferhilfegesetzes) und der Kantone (Interventionsmöglichkeiten der Polizei zum Schutz der Opfer und flankierende Informationsmassnahmen). Mit diesen neuen Gesetzesbestimmungen sind die anvisierten Ziele ­ Verbesserung des Opferschutzes, Täterinnen und Täter zur Verantwortung ziehen ­ näher gerückt. Gewisse Probleme bestehen nach Ansicht der im Rahmen der Studie befragten Expertinnen und Experten bei der Anwendung einzelner Bestimmungen. Hier müssen vorerst weitere Erfahrungen gesammelt und sorgfältig evaluiert werden.

Anderseits wurden Massnahmen zur verstärkten Vernetzung, Kooperation und Koordination auf lokaler und nationaler Ebene getroffen, Aus- und Weiterbildungen namentlich für Polizeikräfte durchgeführt und die Angebote für Opfer und für gewaltausübende Personen ausgebaut. Diese Massnahmen sind für die Prävention der häuslichen Gewalt von zentraler Bedeutung und werden von den Expertinnen und Experten als sehr hilfreich erachtet. Das Hauptproblem liegt hier bei den oft zu knappen finanziellen Mitteln.

28

www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/19/03/01/key/beratungsfaelle/01.html

4110

Es ist eines der Grundanliegen eines Rechtsstaates, die Unversehrtheit der Menschen zu schützen. Gewalt gegen Frauen verletzt deren Recht auf körperliche Integrität und Selbstbestimmung. Sie ist strafbar. Zudem ist Gewalt gegen Frauen ein wichtiges Hindernis auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter. Die Verpflichtung, wirksame Massnahmen zur Beseitigung der Gewalt in Partnerschaften zu treffen, ergibt sich für die Schweiz sowohl aus der schweizerischen Rechtsordnung (BV, StGB, ZGB, OHG, GlG) wie auch aus völkerrechtlichen Übereinkommen (insbesondere UNO-Übereinkommen über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau und UNO-Kinderrechtskonvention).

Mit der Einsetzung einer interdepartementalen Arbeitsgruppe unter Federführung des EBG soll zudem die Zusammenarbeit und Koordination der verschiedenen Ämter und Stellen, die sich innerhalb der Bundesverwaltung mit Aspekten der Gewalt in Paarbeziehungen auseinandersetzen, verstärkt werden.

Das EBG wird weiter beauftragt, für die Umsetzung derjenigen Massnahmen, für die andere Ämter und Stellen federführend sind, sein spezifisches Wissen und seine Kontakte zu Expertinnen und Experten zur Verfügung zu stellen.

Geplante Massnahmen des Bundes A)

Den einzelnen Ämtern und Stellen innerhalb der Bundesverwaltung Fachwissen und Kontakte zu Expertinnen und Experten zur Verfügung stellen für die Umsetzung der geplanten Massnahmen (EBG)

4.2

Zu den Empfehlungen der Studie

4.2.1

Überprüfung gesetzlicher Grundlagen und konsequenter Vollzug

Im Bestreben, Gewalt in Ehe und Partnerschaft besser zu bekämpfen, die Opfer besser zu schützen und die Täter konsequenter zur Verantwortung zu ziehen, wurden im Verlauf der letzten Jahre auf Bundes- und Kantonsebene verschiedene Gesetzesänderungen durchgeführt. Bei der Anwendung dieser neuen gesetzlichen Bestimmungen gibt es nach Ansicht der Studienautorinnen Verbesserungspotenzial. Insbesondere soll stärker darauf geachtet werden, dass der Vollzug im Sinne der übergeordneten Ziele erfolgt. Als konkrete Bestimmungen auf Bundesebene, deren Anwendung einer näheren Überprüfung bedürfen, werden im Bericht die zivilrechtliche Gewaltschutznorm (Art. 28b ZGB), die Möglichkeit der Verfahrenseinstellung bei Offizialdelikten in Ehe und Partnerschaft (Art. 55a StGB) und die ausländerrechtliche Härtefallregelung (Art. 50 AuG) erwähnt. Ausserdem soll das neue Sanktionsrecht (Geld- anstelle von kurzen Freiheitsstrafen) hinsichtlich seiner präventiven Wirkung bei häuslicher Gewalt untersucht werden.

4111

Wie in seiner Stellungnahme zur Motion Fiala29 dargelegt, beabsichtigt der Bundesrat, die praktische Umsetzung von Artikel 28b Absatz 1 ZGB genau zu beobachten und dessen Wirksamkeit zu evaluieren. Eine allfällige Evaluation sollte vom Bundesamt für Justiz (BJ) fünf Jahre nach Inkrafttreten der neuen Bestimmung durchgeführt werden, sodass hinreichende Erfahrungen bestehen. Erste Ergebnisse wären frühestens ab 2013 zu erwarten.

Gleichzeitig mit der erwähnten Evaluation soll die Anwendung von Artikel 55a StGB (Verfahrenseinstellung) und dessen Auswirkungen auf die Prävention von Gewalt in Ehe und Partnerschaft untersucht werden.

Im Rahmen der Evaluation des Allgemeinen Teils des revidierten Strafgesetzbuchs untersucht das BJ auch die Geldstrafen, die neu anstelle von kurzen Freiheitsstrafen ausgesprochen werden. Über die Auswirkungen dieser Neuerung in Fällen von häuslicher Gewalt können jedoch aufgrund dieser Analyse keine Aussagen gemacht werden, da in der Strafurteilsstatistik noch nicht nach Gewalt innerhalb und ausserhalb von Ehe und Partnerschaft unterschieden werden kann.30 Das Bundesamt für Statistik (BFS) wird daher beauftragt, am Beispiel von einem oder zwei Kantonen abzuklären, inwiefern die Gerichte die für eine Untersuchung der Geldstrafen bei häuslicher Gewalt nötigen Unterlagen zur Verfügung stellen können.

Bezüglich der Verlängerung der Aufenthaltsbewilligungen für Opfer von häuslicher Gewalt (Art. 50 AuG) verfügen die Kantone über einen gewissen Spielraum. Die Tripartite Agglomerationskonferenz hat in ihrem Bericht «Rechtliche Integrationshemmnisse» bereits 2004 eine Vereinheitlichung der kantonalen Praxis zur Verlängerung der Aufenthaltsbewilligungen in Härtefällen angeregt. Das Bundesamt für Migration (BFM) erarbeitet derzeit einen Weisungstext, der sich auf Artikel 31 der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit31 bezieht und die dort genannten Kriterien für die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung konkretisiert.

Weiter regen die Autorinnen der Studie an, die Möglichkeiten zur Weiterleitung der Opferdaten durch die Polizeidienste an die Beratungsstellen konsequent zu nutzen und den Beratungsstellen die erforderlichen Ressourcen für eine Kontaktaufnahme mit den Opfern und den Gewaltausübenden zur Verfügung zu stellen (proaktiver Ansatz).

Das Opferhilfegesetz
(OHG)32 und die Strafprozessordnung (StPO)33 verpflichten die Polizei zur Information der Betroffenen über die Opferhilfe und zur Weiterleitung der Daten, sofern das Opfer damit einverstanden ist bzw. wenn es nicht ablehnt; die Beratungsstellen ihrerseits sind verpflichtet, nach einer polizeilichen Meldung mit den Betroffenen Kontakt aufzunehmen. Der Vollzug des OHG liegt bei den 29

30

31 32 33

Mit der Motion Fiala (08.3495) soll der Bundesrat beauftragt werden, Stalking unter Strafe zu stellen und das StGB mit einem entsprechenden Artikel zu ergänzen. Der Bundesrat hat unter Hinweis auf die Einführung von Art. 28b ZGB die Ablehnung der Motion beantragt. Nach Auffassung des Bundesrates ist der strafrechtliche Schutz vor Stalking umfassend geregelt (siehe Stellungnahme des BR vom 19. Nov. 2008 zur Motion Fiala 08.3495). Die Motion ist im Parlament noch nicht behandelt.

Die Verknüpfung der PKS-Daten, die nach abgeschlossener Revision diese Informationen enthalten werden, mit den Daten der Strafurteilsstatistik kann erst ca. 2013 erste Ergebnisse liefern. Ab dann ist ein Verfolgen der Fälle von häuslicher Gewalt von der polizeilichen Erfassung bis zum Strafurteil möglich.

SR 142.201 SR 312.5 BBl 2007 6977

4112

Kantonen. Das BJ wird die Schweizerische Verbindungsstellen-Konferenz Opferhilfegesetz (SVK ­ OHG) über die Empfehlung der Autorinnen informieren. Es wird im Rahmen der Evaluation des neuen OHG und der StPO dem Vollzug der bundesrechtlichen Vorschriften durch die Kantone auf geeignete Weise Beachtung schenken.

Geplante Massnahmen des Bundes B)

Die Umsetzung von Artikel 28b ZGB evaluieren (inklusive Artikel 55a StGB) (BJ)

C)

Die Härtefallkriterien (Art. 31 VZAE) in Fällen häuslicher Gewalt (Art. 50 Abs. 1 Bst. b AuG) konkretisieren (BFM)

D)

Die Weiterleitung der Daten nach den Artikeln 8 OHG und 305 StPO im Rahmen der Evaluation des revidierten OHG und der neuen StPO prüfen (BJ)

E)

Eine Untersuchung zur Anwendung von Geldstrafen bei häuslicher Gewalt vorbereiten (BFS)

4.2.2

Vernetzung und Zusammenarbeit

Die Autorinnen erachten den Erfahrungsaustausch und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteurinnen und Akteuren als wichtiges Mittel, um effizient und wirksam gegen Gewalt in Partnerschaften vorzugehen. Sie plädieren für die Förderung und Stärkung von Kooperationsstrukturen auf nationaler Ebene, insbesondere über die Sprachgrenzen hinweg, wie auch für die flächendeckende Einrichtung von Koordinationgremien (runde Tische) auf kantonaler Ebene.

Auf nationaler Ebene hat die Fachstelle gegen Gewalt des Eidg. Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann den Aufbau dieser Kooperationsstrukturen vorangetrieben. Sie organisiert seit 2004 jedes Jahr ein nationales Treffen aller Institutionen, die Beratung oder Lernprogramme für Täter und Täterinnen anbieten.

Seit 2003 nimmt die Fachstelle an der Konferenz der Deutschweizer Interventionsstellen teil und seit 2007 organisiert sie ein nationales Treffen der Interventions- und Fachstellen gegen häusliche Gewalt. Ebenfalls im Jahr 2007 unterstützte die Fachstelle gegen Gewalt die Gründung der Conférence latine contre la violence domestique, eines Zusammenschlusses der Interventions- und Fachstellen gegen häusliche Gewalt der Romandie und des Tessins. Daneben engagiert sie sich in der Information und der Dokumentation der Aktivitäten der verschiedenen Akteurinnen und Akteure. So hat sie beispielsweise 2006 einen Bericht zu den rechtlichen Massnahmen in den Kantonen34 und 2008 eine nationale Bestandesaufnahme zur Arbeit mit Täterinnen und Tätern veröffentlicht.35

34 35

Häusliche Gewalt: Situation kantonaler Massnahmen aus rechtlicher Sicht, hrsg. vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann, Bern 2006.

Beratungsarbeit und Anti-Gewalt-Programme für Täter und Täterinnen häuslicher Gewalt in der Schweiz, hrsg. von Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann, Bern 2008.

4113

Innerhalb der Bundesverwaltung sind verschiedene Ämter und Stellen mit Aspekten häuslicher Gewalt befasst. Um die Koordination zu verstärken und die Umsetzung der geplanten Massnahmen zu begleiten, wird die Fachstelle gegen Gewalt des EBG eine interdepartementale Arbeitsgruppe einberufen, die die gegenseitige Information über laufende Geschäfte sicherstellt und aktuellen Handlungsbedarf diskutiert.

In seinem Bericht «Jugend und Gewalt» wird der Bundesrat Vorschläge zur Zusammenarbeit von Bund, Kantonen, Gemeinden und privaten Organisationen zur Prävention der Jugendgewalt prüfen. Dies kann auch für die Verhinderung von Gewalt in Partnerschaften relevant sein.

Geplante Massnahmen des Bundes F)

Die Vernetzungsaktivitäten im Bereich der kantonalen Interventionsstellen und der Arbeit mit Tätern und Täterinnen weiterführen (EBG)

G)

Der Schweizerischen Verbindungsstellen-Konferenz OHG (SVK-OHG) empfehlen, Vernetzungsmöglichkeiten zu prüfen und zu unterstützen (BJ)

H)

Die Koordination auf Bundesebene durch die Einsetzung einer interdepartementalen Arbeitsgruppe verstärken (EBG)

4.2.3

Schutz der Betroffenen

Die Autorinnen der Studie erachten es als zentrales Anliegen, dass in allen Kantonen ausreichende Angebote für Opfer, Mitbetroffene und von häuslicher Gewalt bedrohte Personen zur Verfügung stehen, die den unterschiedlichen Bedürfnissen entsprechen. Nicht überall gewährleistet ist dies namentlich für Personen, die eine längerfristige Betreuung benötigen. Besondere Aufmerksamkeit erfordern aus ihrer Sicht vor allem auch Migrantinnen und Kinder.

Das Angebot an Beratungs-, Betreuungs- und Unterkunftsmöglichkeiten für Opfer und Mitbetroffene von häuslicher Gewalt ist grundsätzlich Aufgabe der Kantone.

Das revidierte OHG sieht vor, dass die Kantone bei der Bereitstellung von Opferhilfestellen den besonderen Bedürfnissen verschiedener Opferkategorien Rechnung tragen. Das BJ wird im Rahmen der Evaluation des neuen Gesetzes dem Vollzug der bundesrechtlichen Vorschriften auf geeignete Weise Beachtung schenken.

Das Bundesamt für Migration (BFM) prüft, ob und wie im Rahmen der Weiterbildung von Fachpersonen im Migrationsbereich die Thematik der (häuslichen) Gewalt noch stärker verankert werden soll.

Weiter prüft das BFM, wie die häusliche Gewalt im Rahmen der Umsetzung des Informationsauftrages (Art. 56 AuG) ­ namentlich auch betreffend der Informationen zu Zwangsheiraten ­ thematisiert werden kann. Im Zusammenhang mit der Informationsverbreitung über Zwangsheiraten wird zudem geprüft, ob private Organisationen mit dieser Aufgabe betraut und dafür vom BFM finanziell unterstützt werden können.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) unterstützt verschiedene Aktivitäten und Projekte im Bereich der Prävention von Kindsmisshandlung. Es beteiligt 4114

sich seit 2008 im Rahmen einer Partnerschaft zwischen öffentlichen und privaten Organisationen an der Vorbereitungsphase für ein nationales Kinderschutzprogramm, das 2010 starten soll. Das Thema der häuslichen Gewalt wird darin ebenfalls behandelt.

Geplante Massnahmen des Bundes I)

Im Rahmen der OHG-Evaluation prüfen, ob OHG-Angebote den verschiedenen Opfergruppen gerecht werden (BJ)

J)

Das Thema häusliche Gewalt verstärkt in die Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen im Migrationsbereich integrieren (BFM)

K)

Häusliche Gewalt im Rahmen der Information der Ausländerinnen und Ausländer über ihre Rechte und Pflichten thematisieren (BFM)

L)

Die Unterstützung von Aktivitäten zur Prävention von Kindesmisshandlung weiterführen (BSV)

4.2.4

Angebote für gewalttätige Personen

Um zu verhindern, dass es in Partnerschaften zu gewalttätigem Verhalten kommt bzw. dass sich dieses wiederholt, wird seit einiger Zeit verstärkt bei den gewaltausübenden und den gewaltbereiten Personen angesetzt. In den meisten Kantonen gibt es inzwischen freiwillige Angebote und/oder Programme, zu denen die Täter und Täterinnen im Rahmen von Strafverfahren verpflichtet werden können. Die Forscherinnen erachten es als wichtig, dass flächendeckend gut zugängliche freiwillige Angebote bestehen und gleichzeitig die obligatorischen Programme ausgebaut und verstärkt eingesetzt werden. Besonderes Augenmerk legen sie auf die Schaffung von Angeboten für fremdsprachige Gewalt Ausübende.

Der erwähnte Bericht des EBG über die Angebote für Täterinnen und Täter häuslicher Gewalt36 hat gezeigt, dass solche Einrichtungen noch nicht in allen Regionen vorhanden sind und der Bedarf grösser ist als das Angebot. Die gesetzlichen Grundlagen und die Finanzierung dieser Einrichtungen sind sehr unterschiedlich, in der Regel werden sie über Leistungsvereinbarungen von der öffentlichen Hand und/oder durch private Spenden bzw. andere Beiträge von Dritten unterstützt, selten ist ihre Finanzierung gesetzlich geregelt.

Bei Personen mit Aufenthaltsbewilligung (aus Drittstaaten) kann die Erteilung oder die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung davon abhängig gemacht werden, dass sie einen Sprach- oder Integrationskurs besuchen. Diese Verpflichtung kann in einer Integrationsvereinbarung festgehalten werden (Art. 54 AuG). Neben anderen Zielgruppen empfiehlt das BFM den Abschluss von Integrationsvereinbarungen auch bei Aufenthaltern aus Drittstaaten, welche Integrationsdefizite aufweisen. Manifestieren sich diese in Gewalttätigkeit, kann die Verpflichtung zur Teilnahme an einer geeigneten Massnahme angezeigt sein. Der Entscheid über die Anwendung dieser Massnahme liegt jedoch bei den Kantonen.

36

Siehe Fussnote 35.

4115

Geplante Massnahmen des Bundes M)

4.2.5

Prüfen, ob im Rahmen der Empfehlungen an die Kantone auf AntiGewalt-Programme für gewalttätige Ausländer hingewiesen werden kann (BFM)

Aus- und Weiterbildungsmassnahmen

An der Prävention und Früherkennung von Gewalt bzw. von Gewaltrisiken beteiligen sich verschiedene Berufsgruppen im Bereich des Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesens. Um diese Aufgabe wahrnehmen zu können, sollen sie im Rahmen von Aus- und Weiterbildung die nötigen Kompetenzen erwerben. Aus Sicht der Autorinnen der Studie kommt Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen hier eine besonders wichtige Rolle zu.

Das BJ prüft zusammen mit dem EBG, ob und mit welchen Partnern Weiterbildungen für Richterinnen und Richter zum Thema häusliche Gewalt angeboten werden können.

Das Bundesamt für Justiz leistet Ausbildungsbeiträge im Bereich Opferhilfe, unter anderem auch für Weiterbildung zu häuslicher Gewalt. Es subventioniert z.B. einen Weiterbildungs-Studiengang an der Universität Zürich zu Intervention und Prävention bei sexueller Gewalt.

Geplante Massnahmen des Bundes N)

Weiterbildungsangebote für Richterinnen und Richter prüfen (BJ und EBG)

O)

Die Ausbildungsbeiträge im Bereich Opferhilfe weiterführen (BJ)

4.2.6

Information, Sensibilisierung und Öffentlichkeitsarbeit

Der Bundesrat ist mit den Forscherinnen der Ansicht, dass Information und Aufklärung der Öffentlichkeit zum Thema häusliche Gewalt eine Daueraufgabe ist und dass dem Bund hier eine wichtige Rolle zukommt.

Das BSV hat sich an der Finanzierung verschiedener Informations- und Sensibilisierungsprojekte und -kampagnen zum Thema der Gewalt gegen Kinder und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie zur Förderung der gewaltfreien Erziehung beteiligt. Diese Projekte richteten sich an ein breites Publikum oder an ausgewählte Zielgruppen (z.B. Schulen) und wurden von Nicht-Regierungsorganisationen durchgeführt.

4116

Das vom Bundesrat am 18.6.2008 verabschiedete Nationale Programm Alkohol (NPA) 2008­201237 formuliert Ziele und Strategien der Schweizer Alkoholpolitik.

Darin wird darauf hingewiesen, dass Alkohol ein massgeblicher Katalysator bei der Entstehung von häuslicher Gewalt ist.38 Eines der Ziele lautet daher: «Alkoholbedingte Konflikte in Partnerschaften und Familien sowie alkoholbedingte häusliche Gewalt ist deutlich verringert.» (Ziel E1). Auf der Ebene der individuellen und gesellschaftlichen Schadensminderung steht der Schutz von Angehörigen vor den negativen Folgen des Alkoholkonsums im Zentrum. Die Umsetzung des Programms wird vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) koordiniert.

Das Bundesamt für Statistik (BFS) sieht neben der jährlichen Veröffentlichung der neuen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), die ab 2010 Zahlen zu polizeilich registrierten Vorkommnissen im Bereich der häuslichen Gewalt liefert, weitere Sonderberichte vor, mit denen die Öffentlichkeit über dieses Thema informiert wird.

Im Rahmen seines Informationsauftrags prüft das BFM in Zusammenarbeit mit der Kommission für Migrationsfragen Massnahmen zur gezielten Ansprache von Migrantinnen und Migranten sowie die Förderung geeigneter Projekte (z.B. Gewaltpräventionskurse).

Gestützt auf den Informationsauftrag aus Artikel 56 AuG ist das BFM bestrebt, Ausländerinnen und Ausländer unter anderem über die Rechtsordnung und die Folgen bei Nichtbeachtung zu informieren. Dazu gehört auch das Wissen über die grundlegenden Normen und Regeln, die im Interesse einer gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben zu beachten sind.

Bestandteil dieser Information können auch Themen wie das Verbot der Zwangsheirat oder von häuslicher Gewalt sein.

Geplante Massnahmen des Bundes

37 38

P)

Massnahmen zum Schutz von Angehörigen vor alkoholbedingter Gewalt im Rahmen des Nationalen Programms Alkohol 2008­2012 entwickeln und umsetzen (BAG)

Q)

Analysen zu polizeilich registrierten Fällen basierend auf PKS publizieren (BFS)

R)

Gezielte Ansprache von Migrantinnen und Migranten prüfen (BFM)

www.alkohol.bag.admin.ch Diverse Untersuchungen belegen kausale Zusammenhänge von Alkohol und Gewalt.

Babor T. et al. (2003): Alcohol: No Ordinary Commodity. Research and Public Policy.

Oxford: Oxford University Press..Gmel G., Kuendig H., Kuntsche S., Daeppen J.-B.

(2007): Alkohol und Verletzungen: Alkoholkonsum, bezogene Risiken und attributive Anteile. Eine Studie in der Notfallaufnahme der Lausanner Universitätsklinik (CHUV).

Forschungsbericht. Lausanne: SFA. www.sfa-ispa.ch.

4117

4.2.7

Schliessung von Forschungslücken

In der Schweiz wurden in den letzten Jahren verschiedene Forschungsprojekte zu Ursachen, Ausmass und Auswirkungen häuslicher Gewalt durchgeführt.39 Nach Ansicht der Autorinnen fehlen insbesondere (qualitative) Studien zu den Bedingungen und zur Entstehung von häuslicher Gewalt, Prävalenzstudien, die alle Formen von Gewalt in Paarbeziehungen einschliessen, und Studien über die Kosten dieser Form von Gewalt. Ausserdem empfehlen sie, die Evaluationsforschung zur Umsetzung der Gewaltschutzbestimmungen zu verstärken und die Statistiken über polizeilich erfasste Fälle zu vereinheitlichen.

Der letzte Punkt wird mit der laufenden Revision der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) weitgehend erfüllt. Sie bringt eine Vereinheitlichung bei der Erhebung von Straftaten im häuslichen Bereich und ermöglicht auch die Erhebung der Anzahl polizeilicher Interventionen ohne verzeigte Straftaten. Die Erhebung der Daten zu den polizeilichen Interventionen ist für die Kantone fakultativ. Um eine flächendeckende Statistik der polizeilich registrierten Vorfälle von häuslicher Gewalt zu erreichen, ist eine Erfassung durch alle Kantone erwünscht.

Das EBG wird, zusammen mit dem BFS und weiteren Ämtern (BAG, Seco) eine Studie zu den Folgekosten der Gewalt in Paarbeziehungen (insbesondere Auswirkungen auf die Wirtschaft, das Gesundheitswesen, die Sozialversicherungen) durchführen.

Das EBG wird zudem einen Bericht zu den Forschungslücken im Bereich häuslicher Gewalt erstellen und die Resultate interessierten Forschungsinstituten vorstellen.

Im Übrigen könnte ein Teil des Forschungsbedarfs, namentlich die Erforschung geschlechtsspezifischer Aspekte von Gewalt in Partnerschaften sowie die Durchführung einer umfassenden Prävalenzstudie im Rahmen der Projektförderung des Schweizerischen Nationalfonds (freie Grundlagenforschung) realisiert werden.

Im Rahmen des nationalen Forschungsprogramms 60 «Perspektiven einer nachhaltigen Gleichstellungspolitik in der Schweiz» ist eine Bearbeitung des Themas der Gewalt in Partnerschaften ebenfalls denkbar. Über die Auswahl der unterstützten Projekte entscheidet der Forschungsrat des SNF auf Antrag der Programmleitung.

Geplante Massnahmen des Bundes

39

S)

Eine Studie zu den volkswirtschaftlichen Kosten von Gewalt in Paarbeziehungen erstellen (EBG in Kooperation mit anderen Ämtern)

T)

Eine Studie zu den Forschungslücken im Bereich häusliche Gewalt erstellen und Forschungsinstitute gezielt ansprechen, damit die Lücken geschlossen werden (EBG)

Vgl. die in Fussnote 27 erwähnten Studien sowie Godenzi Alberto (1993): Gewalt im sozialen Nahraum. Basel: Helbing & Lichtenhahn.

4118

4.3

Finanzielle Auswirkungen auf Bund und Kantone

Die Umsetzung der im Bericht genannten Massnahmen will der Bundesrat mittels entsprechender Prioritätensetzungen im Rahmen der im Voranschlag und Finanzplan zur Verfügung gestellten Mittel realisieren. Dies bedeutet, dass dem Bundeshaushalt aufgrund der Massnahmen keine Mehrbelastung auferlegt wird.

Den Kantonen entstehen durch die aufgeführten Massnahmen keine zusätzlichen Kosten.

4.4

Übersicht über die von den betroffenen Ämtern geplanten Massnahmen

Massnahmen

Verantwortlich

A)

EBG

B) C) D) E) F) G) H) I) J) K) L) M) N) O) P) Q)

Den einzelnen Ämtern und Stellen innerhalb der Bundesverwaltung Fachwissen und Kontakte zu Expertinnen und Experten zur Verfügung stellen für die Umsetzung der geplanten Massnahmen Die Umsetzung von Artikel 28b ZGB (inklusive Artikel 55a StGB) evaluieren Die Härtefallkriterien (Art. 31 VZAE) in Fällen häuslicher Gewalt (Art. 50 Abs. 1 Bst. b AuG) konkretisieren Die Weiterleitung der Daten nach den Artikeln 8 OHG und 305 StPO im Rahmen der Evaluation des revidierten OHG und der neuen StPO prüfen Eine Untersuchung zur Anwendung von Geldstrafen bei häuslicher Gewalt vorbereiten Die Vernetzungsaktivitäten im Bereich der kantonalen Interventionstellen und der Arbeit mit Tätern und Täterinnen weiterführen Der Schweizerischen Verbindungsstellen-Konferenz OHG (SVK-OHG) empfehlen, Vernetzungsmöglichkeiten zu prüfen und zu unterstützen Die Koordination auf Bundesebene durch die Einsetzung einer interdepartementalen Arbeitsgruppe verstärken Im Rahmen der OHG-Evaluation prüfen, ob OHG-Angebote den verschiedenen Opfergruppen gerecht werden Das Thema häusliche Gewalt verstärkt in die Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen im Migrationsbereich integrieren Häusliche Gewalt im Rahmen der Information der Ausländerinnen und Ausländer über ihre Rechte und Pflichten thematisieren Die Unterstützung von Aktivitäten zur Prävention von Kindesmisshandlung weiterführen Prüfen, ob im Rahmen der Empfehlungen an die Kantone auf Anti-Gewalt-Programme für gewalttätige Ausländer hingewiesen werden kann Weiterbildungsangebote für Richterinnen und Richter prüfen Die Ausbildungsbeiträge im Bereich Opferhilfe weiterführen Massnahmen zum Schutz von Angehörigen vor alkoholbedingter Gewalt im Rahmen des Nationalen Programms Alkohol 2008­2012 entwickeln und umsetzen Analysen zu polizeilich registrierten Fällen basierend auf PKS publizieren

BJ BFM BJ BFS EBG BJ EBG BJ BFM BFM BSV BFM BJ und EBG BJ BAG BFS

4119

Massnahmen

Verantwortlich

R) S)

Gezielte Ansprache von Migrantinnen und Migranten prüfen Eine Studie zu den volkswirtschaftlichen Kosten von Gewalt in Paarbeziehungen erstellen

T)

Eine Studie zu den Forschungslücken im Bereich häusliche Gewalt erstellen und Forschungsinstitute gezielt ansprechen, damit die Lücken geschlossen werden

BFM EBG in Kooperation mit anderen Ämtern EBG

5

Handlungsbedarf und Good Practices in den Kantonen

Die Autorinnen der Studie haben anhand von Umfragen, Dokumentenanalysen und Interviews mit Expertinnen und Experten die Situation in allen Kantonen erhoben und zusätzlich in sechs Kantonen (BL, GE, LU, VD, TI und ZH) vertiefte Analysen durchgeführt. Die aufgrund dieser Untersuchungen formulierten Empfehlungen richten sich teilweise an den Bund (siehe vorhergehendes Kapitel), teilweise auch an die Kantone.

Im Folgenden werden die wichtigsten die Kantone betreffenden Empfehlungen aufgenommen, und es wird anhand von Beispielen aus den eingehend untersuchten Kantonen dargestellt, in welche Richtung Lösungen gehen können.40

5.1

Gesetzliche Grundlagen und Vollzug

Weiterleitung der Daten und proaktive Beratung Die Autorinnen empfehlen, die Prüfung und Umsetzung sogenannt proaktiver Modelle, bei denen die Daten von Opfern und von Gewaltausübenden automatisch an entsprechende Beratungsstellen weitergeleitet werden, die dann von sich aus mit den Betreffenden Kontakt aufnehmen.

Im Kanton Zürich ist seit Einführung des Gewaltschutzgesetzes am 1. April 2007 ein proaktives Modell in Kraft. Nach einer polizeilichen Intervention mit Anordnung von Schutzmassnahmen erhalten die Beratungsstellen für Opfer und für Gefährdende umgehend eine Kopie der Verfügung. Sie nehmen innerhalb von drei Tagen mit den beteiligten Personen Kontakt auf und bieten ihnen Beratung an. Im ersten Jahr haben 90 Prozent der Opfer und 28 Prozent der Täter sowie 54 Prozent der Täterinnen das Angebot angenommen.41

40 41

Die Auswahl der Good-Practice-Beispiele bedeutet nicht, dass in andern Kantonen keine ähnlichen Massnahmen ergriffen wurden.

Weitere Informationen siehe unter: www.ist.zh.ch

4120

5.2

Gewährleistung der Vernetzung und Zusammenarbeit

Förderung und Institutionalisierung von Koordinations- und Kooperationsstrukturen In allen Kantonen gibt es inzwischen Kooperationsstrukturen (Kommissionen oder runde Tische) und die meisten Kantone verfügen auch über eine Fachstelle, die die Aktivitäten der verschiedenen Akteure koordiniert. Die Autorinnen empfehlen den Kantonen, solche Strukturen zu schaffen (wo sie noch fehlen), sie mit genügend Ressourcen auszustatten und fest zu institutionalisieren.

Das Luzerner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt LÎP42 startete 2001.

Es war zunächst auf zwei Jahre befristet, wurde verlängert und 2006 als Stabsstelle mit 30 Stellenprozenten den Vollzugs- und Bewährungsdiensten angegliedert. Zu Beginn stand der runde Tisch im Vordergrund, der mit verschiedenen Arbeitsgruppen zu Themen wie Täter und Täterinnen, Opfer, Migration, Öffentlichkeitsarbeit, Einführung Wegweisungsnorm) ergänzt wurde. Inzwischen hat sich die Zusammenarbeit eingespielt und der runde Tisch tagt, geleitet von den Stabsdiensten des Justiz- und Sicherheitsdepartements, nur noch zweimal pro Jahr. Seit Einführung der Wegweisungsnorm gibt es die Arbeitsgruppe Qualitätssicherung, die sich vier- bis sechsmal im Jahr trifft und Schnittstellenfragen offen und konstruktiv diskutiert.

5.3

Unterstützung und Schutz der Betroffenen und Mitbetroffenen

Ausreichende Angebote für Frauen und Kinder und Berücksichtigung der Interessen der mitbetroffenen Kinder Im Rahmen des Opferschutzes ist ein vielfältiges und möglichst flächendeckendes Angebot für Opfer häuslicher Gewalt zentral. Die Autorinnen empfehlen, in allen Kantonen ausreichende Angebote, besonders für Frauen und Kinder, bereitzustellen.

Namentlich soll auch für längerfristige Betreuung der Opfer nach Krisen gesorgt und sollen die Interessen der mitbetroffenen Kinder berücksichtigt werden.

Das Frauenhaus beider Basel wird gemäss Frauenhausgesetz von den Kantonen Basel-Landschaft und Basel-Stadt mitfinanziert. Es bietet 8­10 Frauen und ihren Kindern Schutz, Unterkunft und Beratung während 24 Stunden am Tag. Im Jahr 2007 wurden die Beratungsangebote der Opferhilfe einschliesslich der Beratungsstelle des Frauenhauses in den beiden Kantonen unter einem Dach vereint.43 Es bestehen Leistungsvereinbarungen zwischen den Kantonen und dem Verein Opferhilfe. Dieser bietet Beratungen in vier Bereichen an:

42 43

www.lu.ch/lip www.opferhilfe-bb.ch

4121

­

die Fachstelle «limit» für betroffene Frauen, die u. a. auch Nachberatung nach einem Frauenhausaufenthalt sowie Traumaberatung macht

­

die Fachstelle «triangel» für gewaltbetroffene Kinder und Jugendliche (bis 16 bzw. 18 Jahre), die auch Kinder betreut, die Zeugen von häuslicher Gewalt wurden

­

die Fachstelle «männer plus» für gewaltbetroffene Männer und Jungen ab 16 Jahren

­

die Fachstelle «bo» für die übrigen Opfer von Straftaten.

5.4

Angebote für Täterinnen und Täter

Bereitstellen von adäquaten und gut zugänglichen Massnahmen Für die Verhinderung von Gewalt sind Massnahmen, welche auf eine Verhaltensänderung der gewalttätigen Personen abzielen, ebenfalls zentral. Die Autorinnen sind der Ansicht, dass in allen Kantonen Angebote im freiwilligen und im obligatorischen Bereich zur Verfügung stehen sollten und dass Vorkehrungen getroffen werden müssen, damit diese intensiver genutzt werden.

Seit 1994 bietet die Association Vires44 in Genf für Personen, die in Partnerschaften oder im häuslichen Bereich Gewalt ausüben, Therapien an. Heute werden freiwillige wie richterlich angeordnete Therapien (individuell oder in Gruppen) durchgeführt. 2007 wurden insgesamt 94 Männer und 2 Frauen therapiert, davon 34 auf richterliche Anordnung. Die verordneten Therapien haben zugenommen, die Richterinnen und Richter werden über dieses Modell speziell informiert. Ausserdem hat Vires 2006 ein Wohnangebot für gewaltausübende Männer geschaffen, das 2007 insgesamt 19 Männer beherbergt hat, rund die Hälfte nach einer Wegweisung.

Die seit 2001 bestehende Association Face à Face45 verfügt über verschiedene einzel- und gruppentherapeutische Angebote für Frauen und weibliche Jugendliche, welche im familiären oder beruflichen Kontext Gewalt ausüben. Sie hat im Jahr 2007 19 Frauen und Jugendliche behandelt.

5.5

Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen

Schulung von Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich Die Früherkennung und -intervention sind wichtige Elemente der Prävention. Dabei kommt v.a. den Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich eine zentrale Rolle zu.

Aus Sicht der Autorinnen müssen auch die kantonalen Akteurinnen und Akteuren des Gesundheitswesens hier vermehrt Verantwortung übernehmen.

44 45

www.vires.ch www.face-a-face.info

4122

Im Jahr 2002 lancierten die Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich und die Frauenklinik Maternité des Triemlispitals Zürich gemeinsam das Projekt «Häusliche Gewalt ­ wahrnehmen ­ intervenieren». Neben einer repräsentativen Befragung der Patientinnen der Klinik wurden intern Schulungen der Mitarbeitenden durchgeführt und Leitlinien für das Vorgehen im konkreten Fall erarbeitet. Diese wurden 2006 in der Frauenklinik definitiv eingeführt. Ein weiteres Produkt des Projektes ist das Handbuch «Häusliche Gewalt erkennen und richtig reagieren»,46 das sich auch an Gesundheitsfachleute ausserhalb des Spitals richtet (z.B. ärztliche und psychotherapeutische Praxen, spitalexterne Pflege oder Beratungseinrichtungen). In Zusammenarbeit mit der Bildungsstelle häusliche Gewalt in Luzern werden seit 2007 regelmässig Fortbildungen für Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich angeboten.

Ein ähnliches Projekt läuft am Universitätsspital CHUV in Lausanne. Dort wurde in den Jahren 2000­2006 im Rahmen eines interdisziplinären Vorsorgeund Beratungsprogramms für erwachsene Gewaltopfer ein Protokoll für den Umgang mit Gewaltopfern entwickelt (DOTIP). Es umfasst u.a. die klinische Untersuchung und rechtsmedizinische Dokumentation der Verletzungen, die medizinische Betreuung, die Information des Opfers über seine Rechte, das Abklären seiner Sicherheit und das Organisieren von Unterstützung. Die beteiligten Fachleute werden von den Spezialistinnen und Spezialisten in der Anwendung des Protokolls geschult und beraten.

5.6

Permanente Information und Sensibilisierung

Primärprävention an Schulen Bei der Information und Sensibilisierung kommt den Kantonen vor allem im Bereich der Schulen eine wichtige Rolle zu. Die Autorinnen empfehlen, die Primärprävention in den Schulen (mit Hilfe der Thematisierung von Rollenbildern, häuslicher Gewalt und Konflikten in der Partnerschaft) zu intensivieren.

Das Gleichstellungsbüro VD hat zusammen mit Bildungsfachleuten der Romandie unter dem Titel «Die Schule der Gleichstellung» Unterrichtsmaterialien zusammengestellt, mit denen die Gleichstellung von Frau und Mann während der ganzen Schulzeit thematisiert werden soll.47 Unter anderem soll bei den Schülerinnen und Schülern ein respektvollerer Umgang zwischen den Geschlechtern gefördert werden. Die Materialien wurden im Kanton VD an alle Lehrkräfte verteilt und stehen auch in andern Kantonen der Romandie zur Verfügung. Ausserdem wird im Kanton VD das Thema Gewalt auch im Rahmen der Sexualerziehung aufgenommen.

46 47

Fachstelle für Gleichstellung Stadt Zürich/Frauenklinik Maternité, Stadtspital Triemli, Zürich/Verein Inselhof Triemli, Zürich (2007).

www.vd.ch/fr/organisation/services/bureau-de-legalite/projets/lecole-de-legalite/

4123

Gezielte Ansprache von Migrantinnen und Migranten Migrantinnen und Migranten müssen gezielt angesprochen und über die gesetzlichen Regelungen und die Unterstützungsangebote bezüglich häuslicher Gewalt informiert werden. Die Autorinnen empfehlen, die Information und Sensibilisierungsarbeit zusammen mit den jeweiligen Migrationsgemeinschaften zu entwickeln.

In den Jahren 2003­2006 führte das Gleichstellungsbüro Genf bei den Migrationsgemeinschaften ein mehrjähriges Sensibilisierungsprojekt zum Thema Partnerschaftsgewalt und sexuelle Gewalt durch.48 Einerseits wurden Broschüren und andere Materialien in den Sprachen der grössten Migrationsgemeinschaften erarbeitet und über deren Netzwerke verteilt. Anderseits wurden Frauen aus jeder Migrationsgemeinschaft zu Promotorinnen ausgebildet, die danach die Sensibilisierung der Mitglieder ihrer Gemeinschaft übernahmen.

5.7

Schliessung von Forschungslücken

Auf der Ebene der Kantone geht es vor allem darum, die ergriffenen Massnahmen sorgfältig zu evaluieren und aufgrund der Ergebnisse zu optimieren. Nach Ansicht der Autorinnen sollten vermehrt Begleitevaluationen zur Umsetzung der kantonalen Bestimmungen und vergleichende Studien zur Wirkung der verschiedenen Massnahmen durchgeführt werden.

Die Kantone Basel-Stadt und Basel-Land haben ihre Interventionsprojekte mehrfach durch externe Fachleute evaluieren lassen.49 Bei der Einführung der polizeilichen Wegweisung stützte sich der Kanton BL auf Erfahrungen in den Kantonen SG und AR und konnte, dank der verschobenen Inkraftsetzung, Lehren aus diesen Erfahrungen ziehen. Auch das seit 2001 vom Interventionsprojekt «Halt Gewalt Basel-Stadt» und der Interventionsstelle Basel-Landschaft gemeinsam angebotene Lernprogramm gegen häusliche Gewalt für Männer wurde in der Pilotphase evaluiert.50 Zurzeit evaluiert die Interventionsstelle BL in Zusammenarbeit mit den Universitäten Basel und Bern die polizeiliche Wegweisung im Hinblick auf die Erfüllung von deren zentralen Zielsetzungen (Schutz der Opfer, Unterbrechung der Gewalt, Beratung der Betroffenen).

48 49

50

www.geneve.ch/egalite/violence/violence-conjugale/?rubrique=campagnesmigrantes%20 Gloor Daniela, Hanna Meier, Pascale Baeriswyl und Andrea Büchler (2000): Interventionsprojekte gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft. Grundlagen und Evaluation zum Pilotprojekt Halt-Gewalt. Bern: Haupt.

Gloor Daniela und Hanna Meier (2002): Erste Evaluation des Pilotprojekts «Soziales Trainingsprogramm für gewaltausübende Männer», im Auftrag des Basler Interventionsprojekts gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft «Halt-Gewalt» und der Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt des Kantons Basel-Landschaft, Basel.

Gloor Daniela und Hanna Meier (2003): Zweite Evaluation des Pilotprojekts «Soziales Trainingsprogramm für gewaltausübende Männer», im Auftrag des Basler Interventionsprojekts gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft «Halt-Gewalt» und der Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt des Kantons Basel-Landschaft, Basel.

4124

Anhang

Liste der parlamentarischen Vorstösse zum Thema Gewalt gegen Frauen und Gewalt im sozialen Nahraum 1985­2008 Titel

Art

Nr.

Strukturelle Gewalt und direkte Gewalt gegen Frauen Behandlung ausländischer Opfer von häuslicher Gewalt Kein Missbrauch des Gastrechtes

Interpellation

08.3791 Frösch Therese

Anfrage

Häusliche Gewalt gegen Migrantinnen.

Im Zweifel gegen die Opfer?

Antirassismuskommission und häusliche Gewalt Eheschliessung. Rechte und Pflichten müssen allen bekannt und verständlich sein Teilnahme der Schweiz an Daphne III, dem Präventionsprogramm gegen Gewalt der EU Ausländergesetz und eheliche Gewalt

Frage Frage

08.1102 John-Calame Francine 08.449 Freisinnigdemokratische Fraktion 08.5071 Steiert JeanFrançois 07.5164 Schlüer Ulrich

Motion

07.3116 Haller Ursula

Interpellation

06.3869 Schenker Silvia

Interpellation

Wissenschaftliche Studie zum Thema Drogen und Gewaltverbrechen Kampagne gegen Gewalt an Frauen

Interpellation

06.3781 Menétrey-Savary Anne-Catherine 06.3749 Haller Ursula

Parl. Initiative

Motion

Obligatorische Nachbetreuung bei Sexualverbrechern

Parl. Initiative

Verbesserter Schutz für Kinder vor Gewalt

Parl. Initiative

Gewalt gegen Kinder Schweizerische Fachstelle für die Prävention von Kindesmisshandlung Ursachen von Gewalt untersuchen und Massnahmen dagegen ergreifen Gewalt im sozialen Nahraum bekämpfen Opferhilfegesetz. Längere Verwirkungsfrist

Motion Motion

Gewalt ist männlich Massnahmen gegen Gewalt an Frauen Unterstützung der Frauenhäuser Privatisierte Gewalt als Ursache von Konflikten und Staatszerfall Kindesmissbrauch. Mehr Mittel für die Bekämpfung Kriminalstatistik und Waffendelikte Aufbewahrung von Waffen und Munition am Wohnort

Postulat Interpellation Motion Frage Frage Motion Interpellation Motion Postulat Interpellation

Autor/in

06.3725 Maria RothBernasconi 06.481 Fraktion der Schweizerischen Volkspartei 06.419 Vermot-Mangold Ruth-Gaby 05.3882 Savary Géraldine 05.3846 Vermot-Mangold Ruth-Gaby 05.3694 Stump Doris 05.3412 Stump Doris 05.3409 Markwalder Bär Christa 04.5039 Lang Josef 04.5023 Hollenstein Pia 03.3114 Goll Christine 02.3727 Hess Walter 02.3716 Aeppli Wartmann Regine 02.3441 Berger Michèle 02.3028 Berger Michèle

4125

Titel

Art

Nr.

Autor/in

Schutz vor Gewalt im Familienkreis und in der Partnerschaft Massnahmen gegen die Gewalt gegenüber Frauen

Parl. Initiative

00.419

Motion

00.3221

Frauenhandel. Schutzprogramm für Betroffene

Motion

00.3055

Die Frauen mutiger machen Sexuelle Gewalt in der Ehe als Offizialdelikt.

Revision der Artikel 189 und 190 StGB.

Gewalt gegen Frauen als Offizialdelikt.

Revision von Artikel 123 StGB Rechte für Migrantinnen Sexuelle Ausbeutung von Kindern

Einf. Anfrage Parl. Initiative

98.1178 96.465

Parl. Initiative

96.464

Parl. Initiative Postulat

96.461 96.3398

Informationskampagne gegen die Alltagsgewalt

Postulat

96.3180

Aufnahme einer Kinderschutzbestimmung in die Bundesverfassung

Motion

96.3179

Präventionskonzept gegen Gewalt in der Familie

Postulat

96.3178

Aufnahme einer Kinderschutzbestimmung in die Bundesverfassung

Postulat

96.3177

Rechtliches Verbot der Körperstrafe und erniedrigender Behandlung von Kindern

Motion

96.3176

Verbesserter Schutz der Opfer von Sexualdelikten, insbesondere in Fällen von sexueller Ausbeutung von Kindern

Postulat

96.3199

Sexuelle Ausbeutung von Kindern.

Verbesserter Schutz Wohnungszuweisung im Eheschutzverfahren

Parl. Initiative

94.441

Vermot-Mangold Ruth-Gaby Kommission 00.016-NR (00.016-NR) Vermot-Mangold Ruth-Gaby Hubmann Vreni von Felten Margrith von Felten Margrith Goll Christine Hochreutener Norbert Kommission für Rechtsfragen NR 93.034.

Minderheit von Felten (RK-NR 93.034. Minderheit von Felten) Kommission für Rechtsfragen NR 93.034 (RK-NR 93.034) Kommission für Rechtsfragen NR 93.034 (RK-NR 93.034) Kommission für Rechtsfragen NR 93.034 (RK-NR 93.034) Kommission für Rechtsfragen NR 93.034 (RK-NR 93.034) Kommission für Rechtsfragen NR 94.441 (RK-NR 94.441) Goll Christine

Motion

Revidiertes Sexualstrafrecht und sexuelle Ausbeutung von Kindern Unterstützung der Frauenhäuser Selbstverteidigungskurse für Mädchen Notzucht. Revision Artikel 187 StGB

Motion

94.3294 von Felten Margrith 94.3210 Goll Christine

Motion Motion Motion

93.3593 Goll Christine 88.734 Nabholz Lili 85.544 Gurtner Barbara

4126