Bestimmung und Überprüfung ärztlicher Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung Bericht der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle zuhanden der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 21. August 2008

2009-0293

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Das Wichtigste in Kürze Der Leistungskatalog der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) ist ein wichtiges und kontrovers diskutiertes Element des öffentlichen Gesundheitssystems.

Leistungen zulasten der OKP müssen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich (WZW) sein. Im Gegensatz zu den nichtärztlichen Leistungen muss die Kassenpflicht ärztlicher Leistungen aber nicht flächendeckend geprüft werden, sondern wird bis zum Beweis Gegenteils automatisch angenommen. Dieses Vertrauensprinzip gegenüber den ärztlichen Leistungserbringern macht unbestrittene Innovationen rasch für die Versicherten zugänglich.

Das Vertrauensprinzip ist aber nur gerechtfertigt, wenn Leistungen, die hinsichtlich der WZW-Kriterien umstritten sind, systematisch evaluiert und im negativen Fall aus der OKP ausgeschlossen werden. Diese Ausfilterung funktioniert in der Praxis ­ trotz Verbesserungen in jüngster Zeit ­ nicht hinreichend. Aufgrund eines fehlenden Überblicks über das Leistungsspektrum und mangelnder Anreize auf Seiten der Leistungserbringer und Versicherer wird nur ein Bruchteil der kassenpflichtigen Leistungen evaluiert, und die Auswahl hat arbiträren Charakter.

Der Nachweis, dass eine fragliche Leistung die WZW-Kriterien erfüllt, obliegt im schweizerischen Bringsystem dem Antragsteller. Die Vorgaben an die Antragsteller wurden in den letzten Jahren verbessert. Die aktuellen Antragsformulare tragen aber den häufiger werdenden integrierten Leistungen sowie den nicht indikationenspezifischen Leistungen zu wenig Rechnung.

Die Kriterien der Vorselektion der Gegenstände, die der Eidgenössischen Leistungskommission (ELK) vorgelegt werden, sind zu wenig transparent und zu wenig dokumentiert.

Die externen Reviewer, denen im Bringsystem ein wichtiger Gegenpart zu den Antragstellern zukommen müsste, haben in der Praxis zu wenig Gewicht, und die Qualität der Reviews entspricht infolge ungeeigneter Auftragsmodalitäten nicht den internationalen Standards.

Die ELK hat als Milizkommission ohne verwaltungsunabhängige Ressourcen eine schwache Stellung und ist bei der Selektion und Beurteilung der Evaluationsgegenstände stark vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) abhängig. Dieses hat seinerseits im Verfahren eine diskutable Mehrfachrolle, und die zuständige Sektion Medizinische Leistungen hat gemessen an ihrem Auftrag eindeutig
zu wenig Ressourcen.

Somit fehlt im antragsgesteuerten Bringsystem eine unabhängige Instanz, die die komplexen Sachverhalte neutral zuhanden der ELK aufarbeitet.

Die ELK operiert trotz erheblichen Druckversuchen interessierter Kreise in der Regel sachorientiert. «Politische» Empfehlungen zuhanden des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) sind die Ausnahme. Die Kommission verzichtet auf die Arbeit mit Subkommissionen und verfügt derzeit nicht über eine gültige Geschäftsordnung.

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Die WZW-Kriterien, anhand derer die Entscheide zur Kassenpflicht zu treffen sind, sind nicht hinreichend konkretisiert, operationalisiert und dokumentiert. Insbesondere für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit einer Leistung fehlt ein klarer Massstab, und diese spielt in der Praxis gegenüber der Wirksamkeit eine deutlich untergeordnete Rolle.

Das Assessment (wissenschaftliche Evaluation der Leistung) und das Appraisal (Beurteilung der Angemessenheit der öffentlichen Finanzierung der Leistung im gegebenen Kontext) sind in der Praxis institutionell nicht wirklich getrennt. Für das Appraisal fehlt eine nationale Gesundheitspolitik mit gesundheitspolitischen und budgetären Bezugsgrössen, an denen sich die ELK bei ihren Leistungsentscheiden orientieren könnte.

Die Möglichkeit, Leistungen befristet und mit der Auflage der vertieften Evaluation in die Kassenpflicht aufzunehmen, ist sinnvoll. Aber die Vorgaben an die Evaluation sind nicht immer hinreichend präzis, und es erweist sich als schwierig, in der Praxis etablierte Leistungen aus der Kassenpflicht zu streichen.

Das EDI vertraut in seiner Entscheidung zum Leistungskatalog in hohem Masse den vorberatenden Stufen und folgt in aller Regel den Empfehlungen der ELK. Auf Stufe EDI und BAG fehlt eine systematische Geschäftskontrolle, die für eine angemessene Steuerung und das Controlling des Prozesses notwendig wäre.

Die periodische Überprüfung bestehender Leistungen nach Artikel 32 Absatz 2 des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) wird in der Praxis nicht oder nur ansatzweise umgesetzt.

Die Evaluationen laufen in der Regel vergleichsweise rasch ab. Aufbau- und Ablauforganisation des Systems sind schlank. Das System ist lernfähig und wurde seit Inkrafttreten des KVG immer weiterentwickelt.

Bei der internationalen Zusammenarbeit bestehen vor allem bei der Früherkennung fraglicher Leistungen und der Reevaluation bestehender Leistungen ungenutzte Synergiepotenziale.

Die Evaluation von Leistungen ist nach aussen nicht transparent. Wichtige Entscheidungsgrundlagen und Teilergebnisse sind nicht öffentlich zugänglich.

Zusammenfassend kommt die vorliegende Untersuchung zu einem gemischten Ergebnis. Die konzeptionellen Grundlagen des Systems und das Akteursarrangement sind im Grossen und Ganzen zweckmässig, das System geht mit Innovationen flexibel und
differenziert um, die Zulassungsbehörden agieren in der Regel sachorientiert, und die Evaluationen laufen vergleichsweise rasch ab. Daneben werden vor allem auf der Ebene der Systemumsetzung auch deutliche Schwachstellen sichtbar: Das System filtert fragliche neue oder bestehende Leistungen nicht mit der erforderlichen Konsequenz und Schnelligkeit aus. Die Beurteilungskriterien und -massstäbe sind nicht hinreichend klar, es fehlt eine unabhängige Instanz, welche die komplexen Sachverhalte zuhanden der ELK aufbereitet, Assessment und Appraisal sind nicht hinreichend getrennt, und das Verfahren ist nach aussen nicht genügend transparent.

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Inhaltsverzeichnis Das Wichtigste in Kürze

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Abkürzungsverzeichnis

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1 Einleitung 1.1 Ausgangslage und Auftrag der GPK-N 1.2 Rechtliche Grundlagen 1.3 Stand der Forschung

5595 5595 5597 5598

2 Untersuchungsgegenstand und Methodik 2.1 Gegenstand 2.2 Beurteilungsgrundlagen und Kriterien 2.2.1 Vergleichsebenen 2.2.2 Beurteilungskriterien 2.2.3 Methodisches Vorgehen

5599 5599 5602 5602 5602 5603

3 Ergebnisse 3.1 Grundsatz der offenen Liste 3.2 Früherkennung und Auslösung von Evaluationsverfahren 3.3 Umstrittenheitsabklärung 3.4 Antragstellung 3.5 Aufbereitung auf Stufe BAG und Expertenreview 3.6 Beurteilung auf Stufe ELK 3.6.1 Struktur und Arbeitsweise der ELK 3.6.2 Grundlagen der Beurteilung durch die ELK 3.6.3 Kriterien der Beurteilung durch die ELK 3.6.4 Empfehlungspraxis der ELK 3.7 Entscheidung auf Stufe EDI 3.8 Reevaluation und Pflege des Leistungskatalogs 3.9 Phasenübergreifende Elemente 3.9.1 Akteursarrangement und Verfahrensorganisation 3.9.2 Kooperation zwischen den Akteuren 3.9.3 Internationale Kooperation 3.9.4 Prozessgeschwindigkeit 3.9.5 Lernfähigkeit des Systems 3.9.6 Öffentlichkeit des Verfahrens 3.10 Exkurs zur Komplementärmedizin

5605 5605 5607 5610 5613 5616 5618 5620 5622 5623 5625 5627 5629 5631 5631 5632 5633 5634 5635 5635 5636

4 Zusammenfassende Schlussfolgerungen 4.1 Wichtigste Prozessmerkmale 4.2 Zusammenfassende Beurteilung

5638 5638 5639

Literaturverzeichnis

5644

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Anhänge 1 Verzeichnis der Interviewpartner/innen 2 ELGK, Zusammensetzung Stand 2008

5646 5647

Impressum

5648

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Abkürzungsverzeichnis BAG BSV BGÖ DRG EDI EFK EGK ELGK ELK FMH GBA GPK-N HTA KLV KVG KVV OKP PEK PVK QALY RCT santésuisse WZW

5594

Bundesamt für Gesundheit Bundesamt für Sozialversicherungen Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip in der Verwaltung Diagnosis Related Groups Eidgenössisches Departement des Innern Eidgenössische Finanzkontrolle Eidgenössische Grundsatzkommission Eidgenössische Kommission für allgemeine Leistungen und Grundsatzfragen Eidgenössische Kommission für allgemeine Leistungen Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte Gemeinsamer Bundesausschuss Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats Health Technology Assessment Verordnung des EDI über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Krankenpflege-Leistungsverordnung) Bundesgesetz über die Krankenversicherung (Krankenversicherungsgesetz) Verordnung über die Krankenversicherung obligatorische Krankenpflegeversicherung Programm Evaluation Komplementärmedizin Parlamentarische Verwaltungskontrolle Quality-adjusted Life Year, d.h. qualitätskorrigiertes Lebensjahr Randomized Controlled Trials, d.h. randomisierte, kontrollierte Studien Branchenverband der schweizerischen Krankenversicherer Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit

Bericht 1

Einleitung

1.1

Ausgangslage und Auftrag der GPK-N

Das im Jahre 1996 in Kraft getretene Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG)1 zielt im Wesentlichen darauf, die Solidarität zwischen den Versicherten zu stärken, eine qualitativ hoch stehende medizinische Versorgung sicherzustellen und die Kostenentwicklung zu dämpfen. Zwischen diesen Zielen besteht ein Spannungsverhältnis, das sich unter anderem in der Frage der kassenpflichtigen medizinischen Leistungen manifestiert. Der Leistungskatalog der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) ist seit Bestehen des KVG Gegenstand wiederholter Kontroversen. Während die einen eine zu restriktive Handhabung des Katalogs und Tendenzen zur Zweiklassenmedizin befürchten,2 kritisieren die anderen im Gegenteil die ständige Ausweitung der Pflichtleistungen und die damit verbundenen Kostensteigerungen in der Grundversicherung.3 Neben dem Umfang des Leistungskatalogs wird immer wieder die mangelnde Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Entscheidverfahren und -kriterien bemängelt ­ so beispielsweise in den umstrittenen Entscheiden, die das Eidgenössische Departement des Inneren (EDI) nach Durchführung eines aufwändigen Evaluationsprogramms in Sachen umstrittener Leistungen der Komplementärmedizin im Juni 2005 gefällt hatte.4 Vor diesem Hintergrund beauftragte die nationalrätliche Geschäftsprüfungskommission (GPK-N) die Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) am 2. Juli 2007, die Strukturen und Prozesse der Leistungsbezeichnung der OKP zu evaluieren.

Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) unterscheidet gemäss Abbildung 1 in Artikel 24 ff. verschiedene Leistungsbereiche. Vereinfachend kann man ärztliche und nichtärztliche Leistungen unterscheiden.5 Unter die erstgenannte Kategorie fallen typischerweise Diagnose- und Behandlungsverfahren, unter die zweite Kategorie namentlich Arzneimittel, Analysen sowie Mittel und Gegenstände, die zum Zwecke der Diagnose und Behandlung von Krankheiten und Unfällen eingesetzt werden. Im ärztlichen Bereich kann man grob zwischen Leistungen bei Krankheit und anderen Leistungen (Mutterschaft, Prävention) unterscheiden.

Die zuständige Subkommission hat den Auftrag gemäss Abbildung 1 auf den grau markierten Bereich der ärztlichen Leistungen im Krankheitsfall ohne den Sonderfall der zahnärztlichen Leistungen eingegrenzt. Die Beurteilung der Kassenpflicht der Leistungen im
Bereich der Arzneimittel, der medizinischen Mittel und Gegenstände, der Analysen sowie der ärztlichen Leistungen bei Mutterschaft und im Präventionsbereich sind somit nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Der gewählte 1 2 3

4 5

SR 832.10 Vgl. etwa die Interpellation 05.3324 «Zweiklassenmedizin ist rechtswidrig».

Vgl. etwa die Motion 02.3122 «Überprüfung des Leistungskatalogs» oder 00.451 Pa.Iv.

Fraktion der SVP «Obligatorische Krankenversicherung. Verantwortlichkeit des Parlamentes für die Ausgestaltung des Grundleistungskatalogs».

Vgl. etwa die Motionen 07.3274 «Faire Chancen für die Komplementärmedizin» oder 07.3168 «Überprüfung der ärztlichen Komplementärmedizin in der Grundversicherung».

Vgl. Coullery 2003, S. 375­390 und S. 376 ff

5595

Untersuchungsgegenstand deckt indessen mit einem Anteil von rund 60 % den grössten Kostenblock der OKP ab, deren Bruttoleistungen im Jahr 2006 gut 20 Milliarden Franken betrugen.6 Abbildung 1 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Ärztliche Leistungen bei Krankheit

bei Nichtkrankheit (Prävention, Mutterschaft)

Zahnärztliche Leistungen

Nichtärztliche Leistungen (Mittel & Gegenstände, Analysen, Arzneimittel, Physiotherapie etc.)

Quelle: PVK

Im Zentrum der Untersuchung stehen folgende drei Leitfragen: ­

Wie sind die Verfahren und Prozesse der Leistungsbezeichnung der OKP im Bereich der ärztlichen Massnahmen zu beurteilen?

­

Wie sind die Strukturen (Akteursarrangement, Kompetenzen, Ressourcen etc.) der Leistungsbezeichnung im Bereich der ärztlichen Massnahmen zu beurteilen?

­

Schafft das bestehende System insgesamt die Voraussetzungen für eine leistungsgerechte, transparente und rasche Beurteilung des Pflichtleistungscharakters ärztlicher Leistungen?

Zu beurteilen sind gemäss Mandat der Subkommission somit die Durchführung des Evaluationsverfahrens der Kassenpflicht ärztlicher Leistungen sowie die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen des Verfahrens.7 Nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist jedoch die materielle Angemessenheit der Entscheidungen zum Leistungsumfang der OKP. Ebenfalls nicht zu untersuchen ist, wie die Entscheidungen zum Leistungskatalog von den Anspruchsgruppen im konkreten Einzelfall genutzt werden,8 welche Kostenfolgen sie haben und welches ihre Auswirkungen auf das Verhalten der Anspruchsgruppen9 und das Gesundheitswesen insgesamt sind.

6 7

8 9

BAG, 2007 Darin eingeschlossen ist auch Frage 4 des Antrags Graf-Litscher, in dem die gleichnamige Nationalrätin von der GPK-N die Klärung einer Reihe von Fragen zum umstrittenen Evaluationsprogramm Komplementärmedizin (PEK) verlangte.

Also z.B. die Frage, ob die kassenpflichtigen Leistungen im Einzelfall angemessen verschrieben werden.

Auch die Anfechtung von Leistungsentscheiden der Versicherer im Einzelfall und die entsprechende Rechtsprechung werden hier nicht weiter untersucht.

5596

Der Untersuchungszeitraum umfasst die Jahre 2006/7. Per Anfang 2008 übernahm die vormalige Eidgenössische Leistungskommission (ELK) einige Aufgaben der aufgelösten Grundsatzkommission (EGK). Die neu konstituierte Eidgenössische Kommission für allgemeine Leistungen und Grundsatzfragen (ELGK) wurde in ihrer Zusammensetzung leicht verändert;10 ausserdem wurde per Anfang 2008 der Beurteilungsprozess leicht angepasst. Da es für eine Beurteilung dieser Reformen noch zu früh ist, halten wir uns an den genannten Untersuchungszeitraum 2006/7 und sprechen deshalb folgerichtig von der ELK.11 Wo es geboten ist, verweisen wir auf wichtige Änderungen per Anfang 2008. Ebenso blenden wir punktuell auf die Zeit vor 2006 zurück, wenn es für das Verständnis des Gegenstands erforderlich ist.

1.2

Rechtliche Grundlagen

Die rechtlichen Grundlagen der Leistungsvoraussetzungen OKP sind in Artikel 24 ff. KVG und den darauf aufbauenden Vollzugsbestimmungen, namentlich der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV)12 und der KrankenpflegeLeistungsverordung (KLV),13 geregelt.

10 11 12 13 14

­

Die OKP gewährt Leistungen bei Krankheit, Geburtsgebrechen, Unfällen, Mutterschaft und bei bestimmten Fällen der medizinischen Prävention (Artikel 24 ff. KVG). Alle Krankenversicherer, welche die OKP durchführen, müssen den gleichen gesetzlich vorgeschriebenen Leistungsumfang übernehmen, dürfen aber darüber hinaus keine weitergehenden «freiwilligen» Leistungen vergüten (Art. 34 Abs. 1 KVG).

­

Die von der OKP vergüteten Leistungen müssen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich (WZW) sein, und die Wirksamkeit muss mit wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein. Die Erfüllung der WZW-Kriterien der bestehenden Leistungen ist periodisch zu prüfen (Art. 32 KVG).

­

Im Bereich der hier interessierenden ärztlichen Leistungen gilt im Gegensatz zu anderen Leistungsbereichen das so genannte Vertrauensprinzip (Art. 33 Abs. 1 KVG). Der Pflichtleistungscharakter einer ärztlich erbrachten Leistung wird bis zum Nachweis des Gegenteils als gegeben angenommen. Erst wenn eine Leistung angefochten oder zur Prüfung beantragt wird, kommt ein Evaluationsprozess in Gang. Dessen Ergebnis wird in Anhang 1 KLV festgehalten. Der Anhang 1 KLV bildet demzufolge bei Weitem nicht alle kassenpflichtigen Leistungen ab, sondern stellt lediglich eine offene Liste dar; diese enthält jene Leistungen, die von der zuständigen Kommission geprüft wurden und deren Kosten übernommen, unter bestimmten Voraussetzungen übernommen oder nicht übernommen werden (Art. 1 KLV).14

­

Der Bundesrat bestimmt, in welchem Umfang die OKP die Kosten einer neuen bzw. umstrittenen Leistung übernimmt, die sich bezüglich WZW noch in Abklärung befindet (Art. 33 Abs. 3 KVG).

Vgl. Artikel 37d KVV Auch die zitierten Gesetzes- und Verordnungsartikel beziehen sich auf diesen Zeitraum.

SR 832.102 SR 832.112.31 Die Botschaft über die Revision des KVG spricht von einem «beschränkten Ausschlussoder Voraussetzungskatalog» (Bundesrat 1991, S. 159).

5597

­

Der Bundesrat setzt Kommissionen ein, die ihn bei der Bezeichnung der Leistungen beraten (Art. 33 Abs. 4 KVG). Diese sollen sicherstellen, dass der Bundesrat seine Entscheide zum Leistungskatalog mit der gebotenen Sachkenntnis trifft.15 Für den hier interessierenden Bereich der ärztlichen Leistungen im Krankheitsfall war im Untersuchungszeitraum 2006/7 die ELK zuständig.

­

Der Bundesrat kann die oben genannten Aufgaben der Leistungsbezeichnung nach Artikel 33 KVG dem EDI oder dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) übertragen (Art. 33 Abs. 5 KVG).

1.3

Stand der Forschung

Die Leistungsbezeichnung in der OKP ist in der Schweiz im Vergleich zum Ausland wenig untersucht; im Rahmen der Wirkungsanalyse KVG16 wurden Ende der 1990er Jahre verschiedene Teilprojekte zur Umsetzung und den Wirkungen des KVG durchgeführt, die aber die hier im Zentrum stehende Frage nicht oder nur am Rande berühren und deren Ergebnisse zudem inzwischen teilweise veraltet sind.

Nennenswert in unserem Zusammenhang ist die stark juristisch orientierte Studie von Ayer et al.17 Diese moniert in erster Linie gewisse Transparenz- und Effizienzmängel im Antragsverfahren sowie mangelnde Einflussmöglichkeiten der Patienten auf das Verfahren. Erwähnung verdient auch die Studie von Haari/Schilling,18 derzufolge Kostenberechnungen für neue Leistungen seitens der Antragsteller oft mangelhaft sind. Trotz unsicherer Datenbasis kommen die Autoren zum Schluss, dass neue Leistungen, die von den Zulassungsbehörden geprüft und in die Leistungspflicht aufgenommen werden, gemessen am Gesamtaufwand der OKP nur sehr geringe Kostenfolgen haben. In der Folge dieser Studie wurde immer wieder kolportiert, die Kostensteigerung in der OKP als Folge der Zulassung19 neuer Leistungen sei vernachlässigbar und hätte seit Einführung des neuen KVG nie ein wirklich prämiensteigerndes Element dargestellt.20 Diese Interpretation der genannten Studie von Haari/Schilling ist irreführend, da schon die Autoren darauf hinweisen, dass aufgrund des erwähnten Vertrauensprinzips der OKP nur ein Bruchteil der neu aufgenommenen Leistungen von den Zulassungsbehörden evaluiert werden, während beim weitaus grösseren Teil der ärztlichen Leistungen die Kassenpflicht bis zum Beweis des Gegenteils automatisch angenommen wird.

Ferner zu erwähnen sind die vergleichenden Beiträge von Sprumont u.a.21 und von Neumann u.a.,22 die beide das Zulassungsverfahren in der Schweiz einem summarischen Vergleich mit ausgewählten Modellen im Ausland unterziehen.

15 16 17 18 19 20 21 22

Bundesrat 1991, S. 160 Für einen Überblick vgl. Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) 2001.

Ayer et al. 2001 Haari/Schilling 2001 Damit meinen wir in diesem Bericht nicht eine Marktzulassung, sondern die Aufnahme in den Katalog kassenpflichtiger Leistungen.

So auch das EDI in den Unterlagen zur Bundesratsklausur vom 22. Mai 2002 betreffend die OKP (EDI 2002, S. 21).

Sprumont et al. 2005 Neumann et al. 2007

5598

2

Untersuchungsgegenstand und Methodik

2.1

Gegenstand

Die Bezeichnung ärztlicher Leistungen in der OKP ist ein Prozess, dessen Ziel darin besteht, Leistungen, die die WZW-Kriterien erfüllen, in den Pflichtleistungskatalog aufzunehmen und solche, die diese Kriterien nicht erfüllen, auszuscheiden. Die besonderen Herausforderungen an diesen Prozess bestehen namentlich darin, dass sich das Leistungsangebot aufgrund des medizinischen Fortschritts laufend verändert und die Beurteilung der WZW einer Leistung methodisch sehr anspruchsvoll und aufwändig ist. Zudem besteht ein Zielkonflikt zwischen der möglichst breiten Zugänglichkeit zu Leistungen der OKP und der Kontrolle der damit verbundenen Kosten; nicht zuletzt deshalb erfolgen viele Entscheidungen zum Leistungskatalog der OKP in einem stark politisierten Umfeld. Typische Fehlleistungen des Evaluationsprozesses könnten darin bestehen, dass im Vergleich mit Alternativmethoden besonders wirksame und/oder kostengünstige Methoden zurückgewiesen werden, dass umgekehrt teure Scheininnovationen in die Leistungspflicht aufgenommen werden oder dass Leistungserbringer bzw. Anbieter neue, ungesicherte Methoden unkontrolliert zulasten der Grundversicherung in der Praxis erproben.

Aus einer länderübergreifenden Perspektive zeigt sich, dass sich bei aller Vielfalt der Verfahren und Akteure eine Systematik der Leistungsbestimmung in der OKP entwickelt hat, die etwa den folgenden Schritten folgt:

5599

Tabelle 1 Schematischer Ablauf der Ermittlung der Leistungspflicht OKP «Horizon Scanning» «Assessment»

«Appraisal»

«Decision» Reevaluation/Pflege des Katalogs

Ermittlung der zu überprüfenden Leistungen; Vorprüfung; Priorisierung der Evaluationsgegenstände und des Ressourceneinsatzes wissenschaftlich fundierte Ermittlung der Leistungsvoraussetzungen anhand bestimmter Kriterien wie Nutzen, Wirksamkeit, Sicherheit, Zweckmässigkeit etc.

Bewertung der Leistung innerhalb des rechtlichen, politischen, finanziellen, ethischen Rahmens sowie im Hinblick auf Fragen der öffentlichen Gesundheit Formelle Entscheidung über die Aufnahme in die Kassenpflicht nochmalige Evaluation der kassenpflichtigen Leistungen im Lichte aktueller Evidenz; Umgang mit bestehenden Leistungen

Quelle: PVK, basierend auf Slembeck/Mächler 2008, S. 1 und BAG 2008, S. 6.

Auch wenn diese Systematik im Einzelfall nicht immer eingehalten wird, kann sie uns als nützliches Raster für die Darstellung unseres Gegenstandes und für Quervergleiche mit ausländischen Systemen dienen.

Abbildung 2 zeigt den zu untersuchenden Prozess der Leistungsbezeichnung in der Schweiz im Bereich der ärztlichen Leistungen in schematischer Form. Wir schildern kurz die wichtigsten Etappen im Ablauf: ­

Leistungserbringer und Hersteller bringen neue Leistungen hervor oder entwickeln bestehende Leistungen weiter bzw. dehnen diese auf neue Indikationen aus. Wenn diese Innovationen nicht in Frage gestellt oder von den Innovatoren selbst zur Prüfung vorgeschlagen werden, sind sie automatisch kassenpflichtig.

­

Wenn Leistungen angefochten oder von den Innovatoren zur Prüfung vorgeschlagen werden, kommt ein Evaluationsprozess in Gang.

­

Wichtige Akteure im Prozess sind namentlich die Antrag stellenden Innovatoren (im Folgenden «Antragsteller»), das BAG, die medizinischen Leistungserbringer, die Versicherer, die externen Reviewer, die ELK und das EDI.

­

Erhält das BAG Kenntnis von einer Innovation, nimmt es eine erste Triage vor und leitet bei offensichtlich kontroversen Fällen direkt ein Evaluationsverfahren ein. In den anderen Fällen nimmt das BAG mit Unterstützung der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) und santésuisse eine so genannte Umstrittenheitsabklärung vor. Erweist sich die Leistung als kontrovers, eröffnet das BAG ein Evaluationsverfahren. Erweist sich die Leistung als unbestritten, bleibt sie ohne weitere Evaluation kassenpflichtig.

5600

­

Der Antragsteller wird vom BAG aufgefordert, die WZW der Leistung auf der Grundlage eines standardisierten Antragsformulars detailliert nachzuweisen.

­

Das BAG prüft den Antrag formell und inhaltlich mittels Literaturreviews und Recherchen. In manchen Fällen wird ein externer Experte zu einer zusätzlichen Review eingeladen. Das BAG kommentiert den Antrag schriftlich und leitet Antrag, externe Review und seinen eigenen Kommentar an die ELK weiter.

­

Die ELK ist eine aus 20 Personen bestehende Verwaltungskommission, die das EDI in Sachen Leistungskatalog berät. Vertreten sind namentlich die Ärzteschaft und die Spitäler, die Versicherer, die Patienten, die Spitäler, die Kantone, andere einschlägige Kommissionen sowie das BAG, das die ELK präsidiert und ihr Sekretariat führt.23 Die ELK prüft die Unterlagen und formuliert zuhanden des EDI eine Empfehlung. Zusammen mit einer Einschätzung des BAG wird die Empfehlung der ELK an das EDI geleitet.

Abbildung 2

Prozessablauf der Evaluation ärztlicher Leistungen im Krankheitsfall

Leistungerbringer Hersteller

Ablauf Innovation WZW nicht angefochten / zur Prüfung beantragt

alle Akteure

Initiierung

Vortriage BAG

WZW unbestritten

Santésuisse / FMH

Antragsteller

BAG Externe Experten

ELK

EDI

Reevaluation bestehender Leistungen

Umstrittenheitsabklärung Stellungnahme

WZW anfechtbar

Antragstellung

Aufbereitung zuhanden ELK Externe Review

Leistungspflicht ja / eingeschränkt / nein

Akteure

Empfehlung der ELK

Entscheid EDI

Quelle: PVK

23

Wie bereits erwähnt, wurde die vormalige ELK per Anfang 2008 als Eidgenössische Kommission für Leistungen und Grundsatzfragen (ELGK) neu konstituiert, wobei diese einige Aufgaben der vormaligen Grundsatzkommission übernahm.

5601

­

Der Vorsteher des EDI entscheidet auf der Basis der Empfehlung der ELK und des Begleitschreibens des BAG. Leistungen werden entweder generell aufgenommen, unter bestimmten Einschränkungen24 aufgenommen oder abgelehnt. Das Ergebnis der Entscheidung wird im Anhang 1 KLV festgehalten.

­

Als Verordnungsbestimmungen sind die Anhang 1-Entscheide des EDI nicht rekursfähig. Ein Versicherter kann aber im konkreten Einzelfall gegen den Versicherer klagen, wenn Letzterer die Kosten einer Leistung nicht übernimmt, da aus seiner Sicht die WZW-Kriterien nicht erfüllt sind; die Klage kann über die kantonale Stufe bis vor das Bundesgericht gezogen werden.

­

Gemäss Artikel 32 Absatz 2 KVG sind die WZW-Kriterien bestehender Leistungen periodisch zu überprüfen, womit theoretisch ein neuer Prozessdurchlauf beginnt. Abgelehnte Leistungen können jederzeit neu beantragt werden.

2.2

Beurteilungsgrundlagen und Kriterien

2.2.1

Vergleichsebenen

Die vorliegende Analyse der Leistungsbezeichnung in der OKP erfolgt auf verschiedenen Vergleichsebenen: ­

Auf einer ersten Ebene werden die rechtlichen Normen gemäss KVG sowie die Ausführungsbestimmungen mit den verfahrensinternen Standards verglichen. Hier geht es vor allem um die Frage, ob die sehr sparsamen gesetzlichen Bestimmungen zur Leistungsbezeichnung in der OKP angemessen konkretisiert werden;

­

auf einer zweiten Ebene werden die rechtlichen Normen und die verfahrensinternen Standards mit dem tatsächlichen Prozessablauf verglichen. Im Fokus steht somit die Frage, ob die geltenden rechtlichen und administrativen Standards angemessen in die Praxis umgesetzt werden;

­

auf einer dritten Ebene wird der festgestellte Zustand in der Schweiz mit ausgewählten ausländischen Systemen verglichen. Hier geht es primär um eine Beurteilung der konzeptionellen Grundlagen und deren Umsetzung des hiesigen Modells im Vergleich mit anderen Modellen.

2.2.2

Beurteilungskriterien

Das übergeordnete Ziel des zu untersuchenden Prozesses besteht in der angemessenen Triage von kassenpflichtigen und nichtkassenpflichtigen Leistungen. Dabei werden namentlich folgende Beurteilungskriterien an den Prozess gelegt:

24

Darunter fällt typischerweise die Einschränkung der Leistungspflicht auf bestimmte Indikationen oder Leistungserbringer oder die Befristung der Leistungspflicht zwecks vertiefter Evaluation.

5602

Tabelle 2

Kriterium

Beschreibung

Evidenzbasiertheit

Das Verfahren gewährleistet die Beschaffung grösstmöglicher Evidenz25 und stützt die Entscheide auf diese ab Beteiligung der Anspruchsgruppen und Möglichkeit, ihre Standpunkte einzubringen Klarheit und Nachvollziehbarkeit des Prozesses und der Ergebnisse für Anspruchsgruppen und Öffentlichkeit Ausgewogene Beteiligung und Einflusschancen der Anspruchsgruppen, Austarierung von Partikularinteressen rasche Beurteilung und Entscheidung der zu behandelnden Fälle Fähigkeit des Systems bzw. der zentralen Akteure, Strukturen und Prozesse zu optimieren und an neue Gegebenheiten anzupassen

Partizipation Transparenz Unparteilichkeit, Chancengleichheit Geschwindigkeit Lernfähigkeit

Rechtmässigkeit

Beurteilungskriterien der vorliegenden Untersuchung

Quelle: PVK/Slembeck

Da sie mehrere der hier genannten Kriterien betrifft, ist die Rechtmässigkeit des Verfahrens hier in einem vertikal verlaufenden Balken aufgelistet.

Wenn diese genannten Kriterien kumuliert erfüllt sind, sind die Chancen für eine nachvollziehbare, transparente, effiziente und leistungsgerechte Triagewirkung des Verfahrens gemäss WZW-Kriterien gut.

2.2.3

Methodisches Vorgehen

Abb. 2 zeigt das gewählte methodische Vorgehen im Überblick. Zunächst wurden die Leitfragen, Unterfragen und Beurteilungskriterien definiert. Um zu einem umfassenden Bild zu kommen, wurde der Gegenstand mit folgenden vier Modulen analysiert: Im ersten Modul wurden umfangreiche Dokumentenanalysen durchgeführt. Zu den konsultierten Dokumenten zählen etwa die Rechtsgrundlagen, Geschäftsordnungen, verfahrensinterne Leitlinien oder die Protokolle der ELK.

25

Unter dem Begriff «evidenzbasiert» verstehen wir die Abstützung von Entscheidungen zum Leistungskatalog auf wissenschaftlich ermittelte Fakten. Diese beruhen im Idealfall auf randomisierten kontrollierten Studien (RCT), können aber auch auf andere Studiendesigns zurückgreifen, wenn RCT aus methodischen Gründen oder infolge mangelnder Datenverfügbarkeit nicht möglich sind.

5603

Abbildung 3 Überblick Methodenansatz

Leitfragen Unterfragen

Dokumentenstudium

Interviews

Wen?

Auswertung

Fallstudien

Internationaler Vergleich

Auswertung

Auswertung

Welche?

Auswertung

Synthese Schlussbericht

Quelle: PVK/Slembeck

Im zweiten Modul wurden 20 Interviews mit Schlüsselakteuren und Experten geführt (vgl. Anhang 1).26 Die Auswahl der Gesprächspartner konzentrierte sich einerseits auf die Repräsentation wichtiger Anspruchsgruppen in der ELK,27 andererseits wurden im Sinne einer 180-Grad-Bewertung auch Akteure ausserhalb der ELK befragt.

Im dritten Modul wurden drei summarische Fallstudien zu konkreten Entscheidungsprozessen durchgeführt. Bei der Auswahl waren folgende fünf Kriterien ausschlaggebend: ­

26

27 28

Umstrittenheit

­

Kostenfolgen

­

Repräsentativität

­

Aktualität28

­

Dokumentationsniveau des Falles Da manche Schlüsselpersonen doppelt und einige Interviews mit zwei Personen gleichzeitig geführt wurden, sind die Anzahl Interviews und die Anzahl Interviewpartner nicht identisch.

Ein weiteres geplantes Leitfadeninterview mit dem Spitalverband H+ konnte von Seiten des Verbandes im Erhebungszeitraum nicht realisiert werden.

Relevante Entscheide des EDI im Untersuchungszeitraum 2006/7.

5604

Auf Wunsch des BAG, das auf den Schutz der Daten zu konkreten Antragsverfahren Wert legt, werden die drei Fallstudienobjekte hier anonym mit A, B und C bezeichnet. Im Fall A handelt es sich um eine Intervention bei krankhaftem Übergewicht (Adipositas), im Fall B um eine Massnahme bei degenerativen Erkrankungen der Wirbelsäule und im Fall C um eine Methode zur Senkung übermässiger Cholesterinwerte (familiäre Hypercholesterinämie).29 Im vierten Modul wurde der Ablauf in der Schweiz mit jenem in Deutschland, Grossbritannien und Australien verglichen. Für die Auswahl dieser drei Vergleichsländer ausschlaggebend waren insbesondere der vergleichbare medizinische Entwicklungsstand sowie das Vorliegen etablierter, dokumentierter Verfahren und Prozesse.

Die Ergebnisse der vier Module wurden separat mit den Methoden der Inhaltsanalyse ausgewertet, dokumentiert und in einer Synthese zusammengeführt.

Auf eine separate Ausweisung der Teilergebnisse aus den verschiedenen Modulen wird zugunsten einer komprimierten Ergebnispräsentation verzichtet. Sofern die Teilergebnisse widersprüchliche Resultate zeigen, weisen wir im Text darauf hin.

Um die erforderliche gesundheitsökonomische Expertise einzubringen, ging die PVK eine Projektpartnerschaft mit dem Gesundheitsökonomen Prof. Dr. Tilman Slembeck ein. Als externer Projektcoach wirkte Dr. Heinz Locher (vgl. Impressum).

3

Ergebnisse

In diesem Kapitel schildern wir die zentralen Untersuchungsergebnisse. Zuerst gehen wir auf den Grundsatz der offenen Liste ein, da dieser für den ganzen Prozessablauf wichtige Konsequenzen hat. Dann beurteilen wir die einzelnen Phasen gemäss Abbildung 2. Die Darstellung folgt im Wesentlichen dem Innovationszyklus medizinischer Leistungen. Während die Kapitel 3.2 bis 3.7 primär auf neue Leistungen und die Indikationenerweiterung von Leistungen fokussieren, beschäftigt sich Kapitel 3.8 mit der Reevaluation bestehender Leistungen gemäss Artikel 32 Absatz 2 KVG. Der markierte Bereich im sich wiederholenden Schema gemäss Abbildung 1 zu Beginn des jeweiligen Kapitels zeigt, von welchem Prozessabschnitt das jeweilige Kapitel handelt. Abschnitt 3.9 handelt von phasenübergreifenden Merkmalen des Prozesses, und Abschnitt 3.10 geht kurz auf den Sonderfall der Komplementärmedizin ein.

3.1

Grundsatz der offenen Liste

Wie bereits geschildert, wird im Gegensatz zu anderen Leistungsbereichen die Leistungspflicht ärztlicher Leistungen bis zum Nachweis des Gegenteils als gegeben angenommen. Anhang 1 KLV ist in diesem Sinne keine abschliessende Positivliste, sondern ein offener und beschränkter «Ausschluss- oder Voraussetzungskatalog».30

29 30

Die Grundlagen der Fallstudien werden wie alle anderen Projektunterlagen archiviert; das Vorgehen und die Ergebnisse der Fallstudien sind für Berechtigte somit rekonstruierbar.

Bundesrat 1991, S. 159

5605

Demgegenüber kennen gewisse ausländische Modelle zumindest für einen Teil der ärztlichen Leistungen explizite gesetzliche Leistungskataloge. So gilt zum Beispiel im ambulanten Sektor in Deutschland der so genannte «Erlaubnisvorbehalt», wonach die Kassenpflicht neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden vom zuständigen Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) explizit festgestellt werden muss, währenddem im stationären Sektor gemäss dem «Verbotsvorbehalt» neue medizinische Methoden grundsätzlich einsetzbar sind, wenn sie vom GBA nicht ausdrücklich ausgeschlossen werden.31 In der Schweiz ist die Zulassung der Arzneimittel, Analysen, Mittel und Gegenstände über echte Positivlisten, und vereinzelt wird eine Positivliste auch für die medizinischen Leistungen gefordert.32 Beurteilung Das hiesige Modell der offenen Liste mit Genehmigungsvorbehalt beurteilen wir für den hier zur Diskussion stehenden Bereich der ärztlichen Leistungen im Krankheitsfall grundsätzlich als zweckmässig. Das in diesem Leistungsbereich geltende Vertrauensprinzip ermöglicht ein offenes, flexibles und schnelles System, das dem dynamischen Charakter der Medizin Rechnung trägt; die Leistungserbringer verfügen über einen angemessenen Handlungsspielraum, unbestrittene Innovationen werden den Versicherten rasch und unbürokratisch zugänglich gemacht. Diese Vorteile sind auch in ausländischen Systemen anerkannt.

Vor allem aufgrund der zahlreichen Spezifikationen zur Kassenpflicht einzelner Indikationen wird der Anhang 1 KLV immer detaillierter und weist inzwischen eine sehr hohe Regelungsdichte auf. Dies erschwert die Übersichtlichkeit des Katalogs und führt manchmal bei Leistungserbringern und Versicherern zu Unsicherheiten bzgl. der Kassenpflicht. Hier zeigen sich die Grenzen eines auf einzelnen Leistungen und Indikationen basierenden Zulassungssystems. Würde sich dieses lediglich auf die Marktzulassung beschränken und die Methodenwahl den Leistungserbringern im Rahmen definierter Leistungspauschalen frei überlassen, stellte sich das genannte Problem so nicht.

Eine echte Positivliste für ärztliche Leistungen brächte einen grossen Verwaltungsund Evaluationsaufwand mit sich, da ein System mit Tausenden von Positionen gewartet und angesichts des medizinischen Fortschritts ständig aktualisiert werden müsste. Die Regulierungsdichte würde noch
bedeutend zunehmen, und die erhoffte Erwartungssicherheit wäre nicht gewährleistet, da sich etwa bei der Indikationenstellung auslegungsbedürftige Abgrenzungen ergeben würden. Kommt nach Angaben des BAG hinzu, dass die Leistungserbringer und Hersteller bei den mit Positivlisten geregelten Leistungsbereichen teilweise widerrechtlich analog abrechnen, um so einer Evaluation zu entgehen. Die im folgenden Abschnitt geschilderte Problematik der Früherkennung fraglicher Leistungen kann also auch mit Positivlisten nicht einfach ausgeräumt werden.

Das geltende Prinzip der offenen Liste mit Genehmigungsvorbehalt ist somit sinnvoll, aber in der Umsetzung sehr anspruchsvoll. Damit das System seine Filterfunktion erfüllt, muss insbesondere gewährleistet sein, dass neu aufkommende fragliche Leistungen rechtzeitig erkannt und einer Evaluation zugeführt werden. Zudem

31 32

Slembeck/Mächler 2008, S. 8 Vgl. z.B. Motion Stähelin 02.3122

5606

müssen bestehende Leistungen periodisch reevaluiert werden. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, untersuchen wir in den folgenden Abschnitten.

3.2

Früherkennung und Auslösung von Evaluationsverfahren

In diesem Prozessschritt geht es um die Frage, wie und durch wen Evaluationen ausgelöst werden und wie die Auswahl und Priorisierung der Evaluationsgegenstände erfolgt.

Abbildung 4 Initiierung des Verfahrens Ablauf

Leistungerbringer Hersteller

Innovation WZW nicht angefochten / zur Prüfung beantragt

alle Akteure

Initiierung

Vortriage BAG

WZW unbestritten

Santésuisse / FMH

Antragsteller

BAG Externe Experten

ELK

EDI

Reevaluation bestehender Leistungen

Umstrittenheitsabklärung Stellungnahme

WZW anfechtbar

Antragstellung

Aufbereitung zuhanden ELK Externe Review

Leistungspflicht ja / eingeschränkt / nein

Akteure

Empfehlung der ELK

Entscheid EDI

Quelle: PVK

Das Vertrauensprinzip bei den ärztlichen Leistungen bewirkt, dass in der Praxis nur kleiner Teil medizinischer Innovationen evaluiert wird. Gemäss der BAG-Fallstatistik zuhanden der PVK beurteilte die ELK zwischen 1996 und 2007 abzüglich der von ihr vertagten Fälle jährlich rund 12 Geschäfte.33 In den PVK-Interviews ist mehrfach von der «Spitze des Eisbergs» die Rede;34 eine Quantifizierung des Anteils der evaluierten an der Gesamtheit der medizinischen Innovationen ist schwierig, da kein einheitlicher Begriff einer medizinischen Innovation besteht und 33 34

Bei der ELK gingen gemäss BAG-Statistik im Zeitraum 1996­2007 insgesamt 195 Geschäfte ein, von denen 53 vertagt wurden (vgl. Abschnitt 3.6.4).

Vgl. auch Haari/Schilling 2001

5607

ein Gesamtüberblick über die kassenpflichtigen medizinischen Leistungen fehlt.35 Vorhandene Systematiken wie der TARMED oder die so genannten Diagnosis Related Groups (DRGs) liefern eine solche Übersicht nur partiell. Vor diesem Hintergrund ist für das Funktionieren des Systems entscheidend, dass die prioritären Gegenstände für die Evaluation ausgewählt werden.

Beurteilung Analog zu Grossbritannien und Australien, aber anders als in Deutschland, ist in der Schweiz der Kreis jener, die eine Evaluation auslösen können, bewusst offen gehalten; dies ist aus der Optik der Beteiligung der Anspruchsgruppen positiv zu werten.

Im Prinzip können alle Anspruchsgruppen ein Verfahren auslösen; dieser Umstand ist aber nicht allen Akteuren bekannt. In der Praxis werden Evaluationen in den meisten Fällen durch die Leistungserbringer bzw. Hersteller neuer Leistungen sowie die Versicherer ausgelöst.

Die Leistungserbringer und Hersteller neuer Leistungen lösen Evaluationen aus, um mehr Erwartungssicherheit bezüglich der Marktchancen einer Innovation zu haben.

Andererseits ist die mit der Evaluation verbundene Antragstellung sehr aufwändig, und die Anbieter können darauf spekulieren, dass sich eine Leistung ohne Evaluation via Vertrauensprinzip in der Praxis etabliert. Die Leistungserbringer und Hersteller neuer Leistungen haben also gemischte Anreize, eine Evaluation auszulösen und werden Pro und Kontra einer Antragstellung sorgfältig abwägen.

Von ihrer institutionellen Rolle her wären die Versicherer dazu bestimmt, die WZW fraglicher Leistungen anzufechten und diese einer Evaluation zuzuführen. Die Versicherer nehmen aber ihre Rolle bzgl. der Anfechtung fraglicher Leistungen nicht immer konsequent wahr; dies mag damit zusammenhängen, dass sich aufgrund fehlender Wettbewerbselemente in der Grundversicherung Kostenansteigerungen in der OKP mehr oder weniger direkt auf die Prämien überwälzen lassen; aus Furcht vor Imageverlusten und allfälligen juristischen Auseinandersetzungen um den WZW-Nachweis von Leistungen winken die Versicherer zudem im Zweifelsfall eher eine Leistung durch, anstatt sie zu bestreiten. Schliesslich fehlt den Versicherern (wie den anderen Akteuren auch) der Überblick über die kassenpflichtigen Leistungen; die einzelnen Gesellschaften betreiben kein systematisches Monitoring fragwürdiger
Leistungen, und es gibt in diesem Punkt auch keine nennenswerte Zusammenarbeit zwischen den Versicherern.

Insbesondere im stationären Bereich können sich fragliche Leistungen im Rahmen pauschal verrechneter Behandlungspakete etablieren, ohne dass die Versicherer oder die Zulassungsbehörden davon Kenntnis erhalten. Gemäss der geltenden Abgeltungsstruktur wissen die Versicherer nicht, was eine Pauschale im Einzelnen konkret enthält. In diesem Punkt besteht eine Ungleichbehandlung zwischen dem stationären und dem ambulanten Sektor, wo fragliche Leistungen eher entdeckt werden. Vor allem inkrementelle Innovationen im stationären Bereich werden vor diesem Hintergrund manchmal eher zufällig und mit erheblicher Zeitverzögerung bemerkt. Sofern

35

Im Rahmen unserer Umfrage schätzten die Interviewpartner mehrheitlich, dass rund 90 % der neuen Leistungen ohne formelle Evaluation in die Kassenpflicht gelangen.

5608

es angemessen eingeführt wird, dürfte im stationären Bereich das Fallpauschalensystem SwissDRG gewisse Transparenz- und Effizienzverbesserungen bringen.36 Die Zulassungsbehörden spielen in der Schweiz eine eher reaktive Rolle und betreiben kein systematisches «Horizon Scanning» mit entsprechender Priorisierung der potenziellen Evaluationsgegenstände. Das BAG, die ELK oder das EDI verfügen nicht über eine entsprechende Monitoring- und Selektionsstrategie. Das BAG erhält zwar durch seine Vernetzung im In- und Ausland Hinweise auf kritische Leistungen, es hat aber keinen Überblick über punkto WZW besonders heikle neue Leistungen und löst selbst kaum Evaluationen aus. Das Argument, die dafür notwendigen Ressourcen würden fehlen, trifft für die zuständige Sektion im BAG sicherlich zu. Aus übergeordneter Sicht gewinnt man aber den Eindruck, dass die verantwortlichen Stellen im BAG und EDI die Mobilisierung der erforderlichen Ressourcen nicht entschlossen verfolgen und andere Prioritäten setzen.

In der Folge werden fragliche Leistungen nicht immer bzw. manchmal zu spät entdeckt. So war etwa das Fallstudienobjekt B der PVK schon jahrelang auf dem Markt, bevor ein Versicherer im Jahr 2004 die Kassenpflicht in Frage stellte. Die ELK empfahl per Anfang 2007 die Aufnahme der Leistung mit Evaluationspflicht und verlängerte per Anfang 2008 die Evaluationsfrist mit modifizierten Vorgaben bis Ende 2008; bis ein definitiver Entscheid zur Leistungspflicht in diesem Fall vorliegt, dürfte die Technologie aufgrund von Neuentwicklungen ihren Höhepunkt längst überschritten haben.

In Deutschland, Grossbritannien und Australien ist die Früherkennung und Priorisierung potenzieller Evaluationsgegenstände deutlich strukturierter als in der Schweiz. So betreibt z.B. Australien ein Früherkennungsprogramm, das den Auftrag hat, neue medizinische Leistungen zu identifizieren. Die Durchführung des Programms erfolgt durch spezialisiertes Netzwerk mittels regelmässiger Revues von Zeitschriften, Datenbanken und Internetquellen. Die Themenvorschläge des Netzwerks werden zusammen mit weiteren Themeninputs an einen Triageausschuss des Medical Services Advisory Committee (entspricht ungefähr der ELK) geleitet, der über vertiefte Abklärungen beschliesst.37 Insgesamt ergibt sich, dass das Schweizer System Leistungen, die den WZW-Kriterien
offenkundig widersprechen, zwar in der Regel erkennt und ausschliesst. Im Umgang mit der grossen Grauzone von Leistungen mit diskutabler WZW fehlt aber ein systematisches Monitoring. Das System ist stark von den eingehenden Anträgen der Leistungserbringer und Hersteller getrieben und setzt kaum eigene Schwerpunkte. Die Auswahl der Evaluationsgegenstände ist eher zufällig, und fragliche Leistungen werden nicht immer bzw. manchmal mit erheblicher Zeitverzögerung evaluiert.

36

37

Dabei handelt es sich um ein Klassifizierungssystem, das stationär behandelte Patienten jeweils einer diagnosebezogenen Gruppe zuordnet, die mit einer Pauschale vergütet wird.

Dies verstärkt den Anreiz für die Leistungserbringer, die Behandlung effizient durchzuführen.

Slembeck/Mächler 2008, S. 19

5609

Das BAG selbst hat bei der strategisch wichtigen Früherkennung fraglicher Leistungen Handlungsbedarf erkannt. Per Anfang 2008 wurde der offiziellen Antragstellung eine «niederschwellige» Meldung mittels eines standardisierten Meldeformulars vorgeschaltet mit dem Ziel, die Hürden der Antragstellung zu senken. Am stark von Anträgen getriebenen Evaluationsinput und am ambivalenten Anreiz der Anspruchsgruppen, überhaupt Evaluationen auszulösen, ändert diese zusätzliche Verfahrensstufe aber nichts Grundsätzliches. Ferner verbesserte das BAG die Zusammenarbeit mit den Vertrauensärzten, und die personellen Ressourcen im BAG wurden (in sehr bescheidenem Masse)38 aufgestockt. Insgesamt gehen diese Schritte in die Richtung, entsprechen aber noch nicht einem Früherkennungssystem, das dem Vergleich mit fortgeschrittenen ausländischen Systemen standhält.

3.3

Umstrittenheitsabklärung

Dieser Abschnitt handelt von der Vorselektion potenzieller Evaluationsgegenstände.

Abbildung 5 Vortriage und Umstrittenheitsabklärung

Leistungerbringer Hersteller

Ablauf Innovation WZW nicht angefochten / zur Prüfung beantragt

alle Akteure

Initiierung

Vortriage BAG

WZW unbestritten

Santésuisse / FMH

Antragsteller

BAG Externe Experten

ELK

Reevaluation bestehender Leistungen

Umstrittenheitsabklärung Stellungnahme

WZW anfechtbar

Antragstellung

Aufbereitung zuhanden ELK Externe Review Empfehlung der ELK

EDI

Quelle: PVK

38

Es handelt sich lediglich um 50 zusätzliche Stellenprozente.

5610

Entscheid EDI

Leistungspflicht ja / eingeschränkt / nein

Akteure

Bevor eine Evaluation in Gang kommt, wird die fragliche Leistung zunächst seitens der Initianten der Evaluation39 beim BAG gemeldet. Bis Anfang 2008 erfolgte diese Meldung eher informell per Brief oder Telefon, seit Anfang 2008 steht ein auf der BAG-Homepage zugängliches standardisiertes Meldeformular zur Verfügung. Auf der Basis dieser Meldung einer fraglichen Leistung erfolgt zunächst eine Triage auf der Stufe BAG. Wenn eine Leistung offensichtlich kontrovers ist oder ein formeller Entscheid des EDI möglichst rasch vorliegen soll, wird sofort ein Evaluationsverfahren eingeleitet. In den übrigen Fällen prüft das BAG im Rahmen einer so genannten Umstrittenheitsabklärung, ob ein eigentliches Evaluationsverfahren notwendig ist oder nicht. Zu diesem Zweck führt es eine summarische Literaturanalyse durch und holt die Stellungnahmen von FMH40 und santésuisse ein. Wird die WZW der betreffenden Leistung einhellig als unbestritten beurteilt, bleibt diese ohne weitere Evaluation durch die ELK und ohne Vermerk in Anhang 1 KLV kassenpflichtig. Beurteilt einer der drei genannten Akteure die Leistung als umstritten,41 erfolgt eine formelle Evaluation durch die ELK. Zwischen 1996 und 2007 gingen gemäss der Geschäftsstatistik des BAG jährlich durchschnittlich 7 Fälle in die Umstrittenheitsabklärung ein. Diese führte in knapp 20 Prozent aller Fälle infolge Unbestrittenheit zu einer direkten Aufnahme in die Leistungspflicht und im Rest der Fälle zu einer formellen Prüfung durch die ELK.

Beurteilung Angesichts der Vielzahl potenzieller Evaluationsgegenstände ist eine Selektion der Fälle, die der ELK vorgelegt werden, im Grunde zweckmässig; auf diese Weise können die knappen Ressourcen der Kommission besser auf die prioritären Gegenstände gelenkt werden. Auch andere Länder kennen eine solche Vorselektion. In Deutschland etwa werden Anträge zunächst darauf hin geprüft, ob die Studienlage eine Beratung des Themas überhaupt zulässt, und ein Unterausschuss des GBA nimmt eine Priorisierung der eingegangenen Anträge vor.

In der Praxis sind bei dieser Vorselektion im Schweizer System noch Verbesserungspotenziale auszumachen.42

39 40 41 42

­

Die Triage in Fälle, die einer Umstrittenheitsabklärung zugeführt werden und jene, die direkt der ELK unterbreitet werden, ist nicht klar. Letzteres kommt der BAG-Geschäftsstatistik 1996­2007 häufig vor, aber es gibt bis dato keine expliziten Triagekriterien, und die Triage wurde je nach zuständiger Person im BAG in den letzten Jahren unterschiedlich gehandhabt.

­

Auch das Ergebnis der Umstrittenheitsabklärung, also die Triage in unbestrittene Fälle und solche, die der ELK unterbreitet werden, ist besonders in Grenzfällen der WZW nicht immer transparent.

Also typischerweise Produkthersteller, medizinische Leistungserbringer oder Versicherer.

Seitens der Ärzteschaft nimmt typischerweise die betroffene Fachgesellschaft Stellung.

Eine Evaluation wird auch dann ausgelöst, wenn sich die Leistung im Rahmen der Umstrittenheitsabklärung nur als partiell umstritten (z.B. für bestimmte Indikationen) erweist.

Die Interviewergebnisse sind in diesem Punkt kontrovers. Eine Minderheit beurteilt die Praxis positiv, eine deutliche Mehrheit jedoch kritisch.

5611

­

Die Vorselektion ist im BAG, das hier Schlüsselrolle spielt, nicht formalisiert; es gibt interne Fallbesprechungen und es scheint eine gewisse «unité de doctrine» innerhalb der zuständigen Sektion zu geben, aber es sind keine expliziten, dokumentierten Triagekriterien und Informationsgrundlagen für diesen wichtigen Prozessschritt verfügbar.43

­

Die Triage des BAG vertraut stark auf die Einschätzungen von FMH und santésuisse; auch diese verfügen aber nicht über explizite Beurteilungsrichtlinien; zudem umfassen die der PVK vorliegenden Beispiele ihrer Stellungnahmen teilweise nur wenige Zeilen, und sie wirken informell und wenig strukturiert.

­

Gemäss Artikel 33 Absatz 3 KVG regelt der Bundesrat, in welchem Umfang die OKP die Kosten einer neuen oder umstrittenen Leistung übernimmt, die sich aufgrund fraglicher WZW in Abklärung befindet. In der Praxis bestehen hier aber offenbar gewisse Unklarheiten, und die Deckung solcher Leistungen wird von den Versicherern unterschiedlich gehandhabt.

­

Auch nach der Umstrittenheitsabklärung entspricht die Praxis der Zulassungsbehörden nicht immer dem definierten Prozessablauf. Im Fallbeispiel B der PVK wurde die Leistung im Umstrittenheitsverfahren als nicht umstritten beurteilt und galt somit als kassenpflichtig. Gleichzeitig verlangte man vom Leistungserbringer einen Antrag, leitete also ein ELK-Verfahren ein.

Insgesamt ist der Grundsatz einer Vorselektion der potenziellen Evaluationsgegenstände angesichts knapper Ressourcen zu begrüssen, aber in der Umsetzung besteht hinsichtlich Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Partizipation der Anspruchsgruppen noch deutliches Verbesserungspotenzial.

Das per Anfang 2008 neu eingeführte Meldeformular ist eine sinnvolle Neuerung im Prozessablauf; es ist der eigentlichen Antragstellung vorgeschaltet und erleichtert insbesondere die Zuteilung zur zuständigen vorberatenden Kommission.

43

Nach Angaben des BAG ist das Amt derzeit dabei, solche Kriterien zu entwickeln.

5612

3.4

Antragstellung

In diesem Abschnitt geht es um die Antragstellung.

Abbildung 6 Antragstellung

Leistungerbringer Hersteller

Ablauf Innovation WZW nicht angefochten / zur Prüfung beantragt

alle Akteure

Initiierung

Vortriage BAG

WZW unbestritten

Santésuisse / FMH

Antragsteller

BAG Externe Experten

ELK

EDI

Reevaluation bestehender Leistungen

Umstrittenheitsabklärung

WZW anfechtbar

Stellungnahme

Antragstellung

Aufbereitung zuhanden ELK Externe Review

Leistungspflicht ja / eingeschränkt / nein

Akteure

Empfehlung der ELK

Entscheid EDI

Quelle: PVK

In Ländern wie Deutschland oder Grossbritannien werden Zulassungsgremien bei der Abklärung der Leistungspflicht selbst aktiv und führen (selbst oder via beauftragte Forschungsinstitute) unabhängige Analysen durch. Die Schweiz hat ähnlich wie Australien ein Bringsystem; die Evidenzbeschaffung und der Nachweis der WZW liegen im antragsgesteuerten System fast ausschliesslich beim Antragsteller, die Zulassungsbehörden führen selten eigene Evaluationen durch.

Wer also möchte, dass eine neue Leistung kassenpflichtig wird oder dass Einschränkungen bzgl. Indikationen oder zugelassene Leistungserbringer aufgehoben werden, muss in der Schweiz, ähnlich wie in Australien, an dem sich das hiesige System orientiert, einen umfangreichen Antrag einreichen.

Beurteilung Die Bringschuld des Antragstellers entlastet die Zulassungsbehörden von aufwändigen Abklärungen. Diese fallen andererseits beim Antragsteller an. Pro Antrag ist gemäss PVK-Umfrage mit einem Aufwand von 30­60 Personentagen (manchmal auch mehr) zu rechnen, was bei branchenüblichen Tagesansätzen Kosten in der 5613

Grössenordnung von 60 000 bis 120 000 Franken pro Antrag verursacht. Dieses Setting bringt eine gewisse Chancenverzerrungen mit sich; es bevorteilt ressourcenstarke Antragsteller und benachteiligt solche ohne solide finanzielle Basis ­ auch solche, deren Innovationen aus einer Optik der öffentlichen Gesundheit sehr wertvoll wären. Zwar ist vorgesehen, dass der Bund subsidiär einspringen kann, wenn wertvolle Innovationen aus Ressourcengründen nicht von den Akteuren selbst beantragt werden können. In der Praxis kommt es bisher aber selten vor, dass die Behörden die Kosten der Antragstellung ganz oder teilweise übernehmen.44 Im antragsgesteuerten Bringsystem haben die Vorgaben der Zulassungsbehörden an die Antragsteller wichtige Konsequenzen für den gesamten weiteren Prozess. Diese Vorgaben wurden mehrfach revidiert, was als Zeichen der Lernfähigkeit des Systems positiv zu würdigen ist. In den 1990er Jahren wurde schrittweise ein Handbuch mit dem Ziel entwickelt, eine Grundlage für eine standardisierte Bewertung medizinischer Leistungen durch die ELK zu schaffen. Eine einflussreiche Station in diesem Entwicklungsprozess war die Ausgabe 2000 des «Handbuchs zur Standardisierung der medizinischen und wirtschaftlichen Bewertung medizinischer Leistungen», im Folgenden abgekürzt mit «Handbuch WZW 2000»;45 dieses verlangte von den Antragstellern eine Art Assessment, also eine wissenschaftlich fundierte Bewertung der Leistung anhand vorgegebener Kriterien. Per 2005 wurde dieses Handbuch nach dem australischen Vorbild durch ein Antragsformular plus Wegleitung, beide provisorischen Charakters, ersetzt. Per Anfang 2008 wurden diese Vorlagen nochmals geringfügig modifiziert und offizialisiert.46 Da es sich bei der Version 2008 vorwiegend um formelle Bereinigungen sowie um die Aufhebung gewisser Redundanzen der Antragsunterlagen handelte, beurteilen wir im Folgenden die für unseren Erhebungszeitraum 2006/2007 relevante Version 2005 und die aktuelle Version 2008 in einem.

Das Handbuch WZW 2000 war mit über 200 Seiten Instruktionen sehr umfassend, aber auch unübersichtlich und stellte für manchen Antragsteller eine Überforderung dar. Dies begünstigte mangelhaft strukturierte, wenig übersichtliche und teilweise unvollständige Anträge, die in Qualität und Umfang eine effiziente Beurteilung durch die Zulassungsbehörden
erschwerten. Das neue Antragsformular plus Wegleitung sind demgegenüber formalisierter, kompakter und benutzerfreundlicher. Das Formular verlangt in standardisierten Modulen eine Beschreibung der fraglichen Leistung, Angaben über mögliche Indikationen, Informationen zur Notwendigkeit und Relevanz der Leistung, Angaben zum Behandlungspfad, Vergleiche mit Alternativtherapien sowie Informationen zu Kosten und Wirtschaftlichkeit. Der Antragsteller muss die verfügbare Literatur zur Beantwortung dieser Fragen sammeln, ordnen, zusammenfassen und hinsichtlich ihrer Qualität und ihres wissenschaftlichen Evidenzgrades bewerten. Neben diesen Unterlagen können auch Expertenmeinungen in einem separaten Modul präsentiert werden.

44

45 46

Eine prominente Ausnahme ist das Programm PEK, das nach dem vorläufigen Aufnahmeentscheid vom BAG finanziert wurde. Zwei weitere Evaluationen, die nach einem vorläufigen Aufnahmeentscheid vom Bund finanziert worden sind, betreffen eine künstliche Gelenkflüssigkeit bei Kniebeschwerden (Viskosesupplementation) sowie Messmethoden des osteoporotischen Frakturrisikos.

BSV, 2000 BAG, 2008a

5614

Das KVG lässt die für die Beurteilung der Kassenpflicht entscheidenden Kriterien WZW unbestimmt; während das Handbuch WZW 2000 noch grobe Definition dieser Begriffe und entsprechende Messangaben enthielt, sind in der aktuellen Wegleitung für Antragsteller in diesem Punkt Lücken auszumachen. Die Unterlagen verweisen zwar auf einschlägige Methoden in der Fachliteratur,47 dokumentieren die erforderlichen Messgrundlagen und Konzepte aber nicht explizit. Dies erschwert die Antragstellung und die transparente, evidenzbasierte Beurteilung der Anträge. Vor allem die Vorgaben zur Messung der Wirtschaftlichkeit lassen Fragen offen; es fällt auf, dass diese stark auf die Messung der Kostenfolgen zielen, ohne einen klaren Bezug zwischen Kosten und Nutzen im Sinne der Kosteneffektivität48 herzustellen.

Wir kommen in Abschnitt 3.6.3 nochmals auf diesen Punkt zurück.

Das Antragsformular ist auf indikationenspezifische, medizinisch-technische Einzelleistungen zugeschnitten, die bislang den Grossteil der Anträge ausmachen.

Daneben treten aber in Diagnose und Therapie aber zunehmend auch Methoden, organisatorische Leistungen oder ganze Therapiesysteme auf, die sehr breit und/oder unabhängig von spezifischen Indikationen eingesetzt werden. Beispiele dazu gibt es in der Rehabilitationsmedizin, der Psychotherapie/Psychiatrie, der Prävention oder der Komplementärmedizin. Die Eignung des neuen Formulars für diese integrierten und/oder nicht indikationenspezifischen Leistungen ist sehr umstritten. Vor allem komplementärmedizinische Kreise fühlen sich durch das neue Antragsformular diskriminiert und zum Vornherein von einer aussichtsreichen Antragstellung ausgeschlossen. Die ELK will demgegenüber die Trends der neu eingehenden Anträge vorerst verfolgen, das neue Formular nach zweijährigem Gebrauch evaluieren und nur bei einer Häufung «spezieller» Anträge im oben genannten Sinne gegebenenfalls ein modifiziertes Formular entwickeln. Diese Argumentation wirft aus Sicht der PVK Fragen auf; im revidierten Handbuch für Antragsteller49 räumen die Behörden selbst ein, dass sich das neue Formular für die Beantragung der genannten Leistungen nicht oder nur bedingt eignet; Antragsteller solcher Leistungen sollen sich bis auf Weiteres an den Wegleitungen im ­ eigentlich ausser Kraft gesetzten ­ Handbuch WZW 2000 und seinen Supplementen
orientieren. Die gezielte Evidenzbeschaffung und ein berechenbarer, transparenter Bewertungsprozess sind bei den genannten integrierten und/oder nicht indikationenspezifischen Leistungen mit den vorhandenen Grundlagen nicht hinreichend gewährleistet. Wir gehen in Abschnitt 3.10 nochmals auf diesen Punkt ein.

Aufgrund des Bringprinzips ist das Evaluationssystem als Ganzes stark auf einzelne Leistungen und Indikationen ausgerichtet und in verschiedene Leistungsbereiche, die von verschiedenen Kommissionen betreut werden, segmentiert. Mit dem Aufkommen integrierter Methoden sind aber zunehmend mehrere Einzelleistungen und manchmal auch mehrere Listen betroffen, was im heutigen System nicht adäquat aufgefangen werden kann. Das deutsche und das britische System evaluieren demgegenüber neben indikationenspezifischen Einzelleistungen auch ganze Versorgungssysteme.

47 48 49

Z.B. die Vorgehenshinweise der GRADE Working Group betreffend die Messung und Darstellung wissenschaftlicher Evidenz im Bereich des Health Technology Assessments.

Verhältnis zwischen aufgewendeten Kosten zum gewonnenen Nutzen einer Intervention.

BAG, 2008a, S. 5f

5615

3.5

Aufbereitung auf Stufe BAG und Expertenreview

Im nächsten Prozessschritt folgt die Aufbereitung der Anträge durch das BAG zuhanden der ELK.

Abbildung 7 Aufbereitung zuhanden der ELK

Leistungerbringer Hersteller

Ablauf Innovation WZW nicht angefochten / zur Prüfung beantragt

alle Akteure

Initiierung

Vortriage BAG

WZW unbestritten

Santésuisse / FMH

Antragsteller

BAG Externe Experten

ELK

EDI

Reevaluation bestehender Leistungen

Umstrittenheitsabklärung Stellungnahme

WZW anfechtbar

Antragstellung

Aufbereitung zuhanden ELK Externe Review

Leistungspflicht ja / eingeschränkt / nein

Akteure

Empfehlung der ELK

Entscheid EDI

Quelle: PVK

Unvollständige Anträge werden zwecks Vervollständigung an die Antragsteller zurückgesandt. Das BAG stützt sich bei der Aufbereitung des Antrags auf externe Reviewer und auf eigene Recherchen. Antrag, Review und zusammenfassende Beurteilung des BAG werden dann der ELK unterbreitet.

Für die vertiefte Abklärung der Leistungspflicht einzelner ärztlicher Leistungen zieht das BAG im Bedarfsfall50 externe Experten bei; diese sollen die Methodik und die Qualität des vorgelegten Antrags beurteilen und allfällige Verzerrungen im Antrag aufdecken. Im früheren Regime war es üblich, dass die externen Reviewer zuhanden der ELK eine Empfehlung bzgl. der Leistungsaufnahme machten, seit 2005 beschränken sich die Reviewer nach Angaben des BAG auf die Beurteilung des Antrags hinsichtlich der WZW-Kriterien.

50

Davon zu unterscheiden sind Anträge aus Bereichen wie Pflege, Geburtshilfe, Chiropraktik oder Zahnmedizin, bei denen der Expertenbeizug obligatorisch ist, da die betroffenen Kreise nicht in der ELK vertreten sind. Auf diesen Fall gehen wir gemäss unserem Gegenstand nicht weiter ein.

5616

Beurteilung Der Beizug externer Reviewer für die Begutachtung von Anträgen im Bereich der ärztlichen Leistungen wurde in den letzten Jahren im BAG je nach Führungspersonal unterschiedlich gehandhabt. In der Geschäftsordnung der ELK sind die Modalitäten des Expertenbezugs nicht näher geregelt, obwohl dies in Artikel 37b KVV so verlangt wird. Teils wurden nach Angaben des BAG bei allen Anträgen an die ELK, teils nur bei komplexeren Fällen externe Reviews eingeholt, teils stützte man sich vor allem bei Kapazitätsengpässen im BAG auf externe Experten. Nach Angaben des BAG schwindet die Bedeutung der externen Reviewer, da die überarbeiteten Antragsformulare zu einem gezielteren Informationsinput der Antragsteller führe und das BAG die nötigen Kompetenzen zur Beurteilung der Anträge in den vergangenen Jahren zunehmend selbst aufgebaut habe. Seit 2007 werden Reviews nach Angaben des BAG nur im besonderen Bedarfsfall eingeholt. Diesen unklaren und tendenziell schwindenden Stellenwert der externen Reviewer beurteilen wir kritisch: Im Rahmen des Bringsystems sind die Grundlagen der Leistungsbeurteilung stark von den Antragstellenden geprägt. Diese müssen die Evidenz für die Beurteilung beschaffen und verfügen dadurch über Informationsvorteile. Vor diesem Hintergrund und angesichts der bescheidenen Ressourcen der zuständigen Sektion im BAG erweist sich eine unabhängige externe Review der Qualität der Anträge als besonders wichtig,51 und den externen Experten wäre ähnlich wie im deutschen oder britischen Modell ein bedeutenderer Stellenwert einzuräumen.

Die externen Experten des BAG werden trotz des manchmal grossen Drucks, dem sie seitens Industrie und Interessengruppen ausgesetzt sind, im Rahmen der PVKUmfrage mehrheitlich als unabhängig und auch als fachkompetent bezeichnet.

Kritisch vermerkt wird der mangelnde Beizug von Reviewern mit gesundheitsökonomischer Kompetenz.

Der Kreis der beigezogenen Experten ist auffallend klein und rekrutierte sich bisher ausschliesslich aus dem Inland. Gemäss den der PVK vorliegenden Expertenliste wurden zwischen 1996 und 2007 nicht mehr als fünf Institutionen mit der Erstellung externer Reviews beauftragt; die Beauftragung erfolgte ohne Einholung von Konkurrenzofferten mittels Verträgen für bestimmte Zeitfenster und mit pauschalen Kostendächern von jeweils rund 40 000
Franken; teils handelte es sich bei den Auftragnehmern um universitäre Einrichtungen, teils um private Beratungsfirmen; in zwei weiteren Fällen wurden Reviewaufträge sogar BAG-intern vergeben. Das BAG erklärt diese enge Rekrutierungspraxis von Reviewern mit der geringen Zahl an verfügbaren Experten, der Unbeliebtheit der Reviewerrolle und den erforderlichen Kenntnissen der spezifisch schweizerischen Kontextbedingungen. Dies wirkt nicht überzeugend, zumal es auf dieser Beurteilungsstufe in den Begriffen von Tabelle 1 um das Assessment, also die wissenschaftliche Beurteilung der für die Leistungspflicht relevanten Merkmale einer Leistung geht; das Assessment ist in beträchtlichem Masse länderübergreifend austauschbar, während das Appraisal in höherem Masse Kontextwissen erfordert.

51

Das BAG selbst verweist in einer Präsentation zum HTA auf die oftmals nicht gegebene Unabhängigkeit der Anträge und die damit zusammenhängende Bedeutung der externen Review (BAG 2006).

5617

Die Reviewer operieren anonym, nicht einmal der ELK sind ihre Namen bekannt.

Aufgrund der Kleinräumigkeit der Schweiz ist ein gewisser Schutz der Experten vor dem Druck der Antragsteller angezeigt. Auf der anderen Seite reduziert diese Anonymität die Transparenz des Prozesses und kann sich negativ auf die Qualität der Review auswirken. Ausserdem ist in den einschlägigen Kreisen gemäss PVK-Umfrage die Identität der Reviewer trotz Geheimhaltung ohnehin bekannt.

Die Pflichtenhefte an die Experten sind sehr summarisch und offen formuliert; entsprechend deckten sich in der Vergangenheit die Ergebnisse nicht immer mit den Erwartungen des BAG als Auftraggeber.

In der PVK-Umfrage wird die Qualität der externen Reviews mehrheitlich als gut bezeichnet. Die drei PVK-Fallstudien zeigen ein kritischeres Ergebnis: Die näher betrachteten externen Reviews können den Kriterien der Evidenzbasierung, der Transparenz und der Nachvollziehbarkeit im strengen Sinne nicht genügen. Die Reviews sind mit jeweils rund zwei Textseiten ausgesprochen summarisch und wenig strukturiert; auf die WZW-Kriterien wird nicht explizit Bezug genommen, und die gemachten Beurteilungen werden nicht explizit begründet. Wissenschaftliche Literatur, auf die sich die Review bezieht, ist nicht aufgelistet oder unkommentiert angehängt. Sicher hängen diese Schwächen auch mit dem engen Kostenrahmen zusammen, der gemäss den der PVK vorliegenden Verträgen mit maximal 1800 Franken pro Review ausgesprochen bescheiden ist. Es fragt sich, ob in einem solchen Kostendach und den oftmals engen Lieferfristen eine Review, die diesen Namen verdient, überhaupt veranlasst werden kann.52 Die im Rahmen unserer drei Fallstudien konsultierten Zusammenfassungen des BAG zuhanden der ELK folgen einem mehr oder weniger standardisierten Aufbau.

Die Vorgeschichte und die zur Diskussion stehende Leistung werden kurz vorgestellt. Es folgen eine medizinische Bewertung des Gegenstandes und ein Vorschlag für den entsprechenden Verordnungstext in Anhang 1 KLV. Auffällig ist, dass die Aspekte der Wirtschaftlichkeit in der Zusammenfassung des BAG erst nach der Empfehlung, gewissermassen als summarischer Anhang und nicht als integraler Teil der BAG-Empfehlung, erörtert werden. Per Anfang 2008 erfolgt die Zusammenfassung des Geschäfts des BAG zuhanden der ELK in Anlehnung an die Sektionen des revidierten Antragsformulars einer stärker formalisierten Struktur.

3.6

Beurteilung auf Stufe ELK

In diesem Prozessabschnitt erfolgt die Beurteilung der fraglichen Leistung durch die ELK.

Typische Vorlagen zuhanden der ELK sind Anträge betreffend

52

­

die Kassenpflicht für neue Leistungen, mit oder ohne Einschränkung der Indikationen,

­

die Ausweitung der Kassenpflicht einer Leistung für zusätzliche Indikationen, Nach Angaben des BAG erachtet das Amt selbst die Modalitäten des Beizugs externer Reviews als unbefriedigend. Das neu eingeführte Meldeformular (vgl. Abschnitt 3.3) soll die frühzeitige Planung des Expertenbeizugs erleichtern, und künftig sollen Reviewmandate zu attraktiveren finanziellen und organisatorischen Bedingungen vergeben werden.

5618

­

die Entlassung einer bedingt aufgenommenen Leistung aus der Evaluationspflicht,

­

die Spezifikationen betreffend die Leistungserbringer, welche die fragliche Leistung zulasten der OKP erbringen dürfen.

Abbildung 8

Beurteilung auf Stufe ELK

Leistungerbringer Hersteller

Ablauf Innovation WZW nicht angefochten / zur Prüfung beantragt

alle Akteure

Initiierung

Vortriage BAG

WZW unbestritten

Santésuisse / FMH

Antragsteller

BAG Externe Experten

ELK

EDI

Reevaluation bestehender Leistungen

Umstrittenheitsabklärung Stellungnahme

WZW anfechtbar

Antragstellung

Aufbereitung zuhanden ELK Externe Review

Leistungspflicht ja / eingeschränkt / nein

Akteure

Empfehlung der ELK

Entscheid EDI

Quelle: PVK

Die ELK stützt sich bei ihrer Beurteilung auf den Input des Antragstellers, die externe Review und die ergänzenden Vorarbeiten des BAG, macht aber keine eigenen Expertisen und verfügt abgesehen von einem knapp dotierten Sekretariat im BAG über keinerlei eigene Ressourcen.

Die ELK stellt wie bereits skizziert eine so genannte Verwaltungskommission dar; sie hat den Auftrag, das EDI bei Fragen der Leistungsbezeichnung zu beraten.

Resultat einer ELK-Beratung ist eine Empfehlung zuhanden des EDI, wie die fragliche Leistung im Anhang 1 KLV gehandhabt werden soll.

Die ELK besteht aus Vertretern aller wichtiger Anspruchsgruppen, namentlich der Ärzteschaft und der Spitäler, der Versicherer, der Patienten, der Kantone sowie anderer Kommissionen, die das EDI in Fragen der Leistungsbezeichnung beraten.

Das BAG präsidiert die ELK und führt deren Sekretariat. Per Anfang 2008 wurde die ELK als Eidgenössische Kommission für allgemeine Leistungen und Grundsatzfragen (ELGK) neu konstituiert, wobei sie einige Aufgaben der aufgelösten Grund-

5619

satzkommission übernahm und in ihrer Zusammensetzung leicht verändert wurde.53 Angesichts unseres Untersuchungszeitraums 2006/7 beziehen sich unsere Beurteilungen, wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt, im Folgenden auf die vormalige ELK.

Die Leistungsbeurteilung vor dem Hintergrund der WZW-Kriterien und die Entscheidungsvorbereitung sind in diesem Prozessschritt gebündelt, dass dieser als Herzstück des gesamten Prozesses der Leistungsbeurteilung in der OKP gelten kann.

Wir beurteilen diesen Prozessschritt deshalb etwas ausführlicher in folgenden vier Unterabschnitten.

3.6.1

Struktur und Arbeitsweise der ELK

Die ELK ist kein reines Fachgremium, Expertise und institutionelle Interessen sind in dieser Kommission in eigentümlicher Weise gemischt. Da die Beantwortung der Frage der Kassenpflicht medizinischer Leistungen nicht rein wissenschaftlich zu beantworten ist, sondern im Rahmen des Appraisals auch Überlegungen gesundheitspolitischer, ethischer etc. Art erfordert, wäre ein reines Expertengremium auch gar nicht angemessen. Trotz Interessenorientierung ihrer Mitglieder arbeitet die ELK insgesamt relativ sachorientiert.54 Durch die breite Einbindung der Anspruchsgruppen sind die verschiedenen Interessenlagen zudem relativ gut gegeneinander ausbalanciert. Die einzelnen Kommissionsmitglieder sind ad personam gewählt und agieren teilweise recht unabhängig von ihrer Herkunftsorganisation. Die manchmal konfliktträchtige Tarifierung erfolgt zudem in einem anderen Verfahren, was allfällige Interessenkonflikte, insbesondere bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit von Leistungen, in der ELK mindert.

Die ELK ist von Grösse und Zusammensetzung her angemessen und ähnlich wie vergleichbare Konsultationsorgane im Ausland zusammengesetzt. In der PVKUmfrage wird vereinzelt die Untervertretung spezifischer medizinischer Fachbereiche kritisiert; andere Befragte empfinden die ELK hingegen als «ärztelastig» und monieren namentlich die fehlende gesundheitsökonomische Expertise, aber auch die schwache Vertretung der Patienten sowie die Untervertretung paramedizinischer Bereiche in der Kommission.

Die ELK-Mitglieder stehen insbesondere bei der Behandlung heikler Geschäfte bisweilen unter beträchtlichem Druck. Interessierte Kreise laden zu Demonstrationen und Kongressen ein und versuchen, die Mitglieder zu beeinflussen. In der Regel halten die Kommissionsmitglieder diesem Druck stand und argumentieren sachorientiert und nachvollziehbar. Sie beziehen sich in ihren Argumentationen auf die verfügbare Evidenz und stellen bei der WZW-Beurteilung Vergleiche zwischen den zu bewertenden Leistungen und Alternativtherapien an. In Ausnahmefällen kommt es in der ELK zur selektiven Interpretation von Daten und interessenorientierten Empfehlungen.

Die ELK hat von der in Artikel 37b KVV genannten Möglichkeit, Ausschüsse einzusetzen, nur in der Anfangsphase des neuen KVG Gebrauch gemacht. In den Jahren 1996­2000 waren drei Ausschüsse in den Bereichen Präventivmedizin, 53 54

Zur aktuellen Zusammensetzung der ELGK siehe Anhang 2.

Eine Minderheit der Interviewpartner sieht in der ELK indessen primär ein Interessenausgleichsorgan.

5620

Komplementärmedizin und Psychotherapie mit dem Auftrag aktiv, die Bewertungskriterien für Leistungen in ihrem jeweiligen Fachbereich zu konkretisieren.55 Seither wurden weder für die Beurteilung konkreter Anträge noch für die Verbesserung der Arbeitsgrundlagen der ELK Subkommissionen eingesetzt. Unter dem Aspekt der Effizienz der Plenarkommission der ELK und der breiteren Abstützung ihrer Entscheide56 ist dieser Verzicht auf eine Arbeit mit Ausschüssen zu hinterfragen; das Argument, das BAG habe nicht die nötigen Ressourcen, die Ausschusssekretariate zu betreuen und es würden Redundanzen zwischen Kommission und Subkommissionen entstehen, kann aus übergeordneter Sicht nicht überzeugen. In den ausländischen Vergleichsfällen haben Subkommissionen demgegenüber einen wichtigen Stellenwert.

Gemäss Artikel 37b Absatz 2 KVV geben sich die vorberatenden Kommissionen eine vom EDI zu genehmigende Geschäftsordnung, welche unter anderem die Organisation und die Arbeitsweise der Kommission, Richtlinien und Verfahren der Leistungsbezeichnung und den Beizug externer Experten regelt. Angesichts der sehr sparsamen Regulierung der auf Gesetzesstufe wären solche Präzisierungen zu den Strukturen und Abläufen der Leistungsbestimmung wichtig. Die per Anfang 2008 operationell gewordene neue ELGK verfügt indes bis dato nicht über eine gültige Geschäftsordnung, und die Erarbeitung einer solchen ist auf Stufe EDI offenbar nicht dringend. Es entsteht der Eindruck, die Verwaltung verstehe die Kommission nicht als unabhängiges Konsultativgremium, sondern als verlängerter Arm ihrer selbst. In den ausländischen Modellen wird auf den externen und unabhängigen Charakter der beratenden Kommissionen und der beigezogenen Experten zu Recht deutlich mehr Wert gelegt.

Zwischen ELK und BAG besteht ein Informations- und Einflussgefälle. Der Milizkommission, deren Mitglieder höchstens dreimal pro Jahr zusammentreffen, steht eine professionelle Verwaltungseinheit gegenüber, welche die ELK präsidiert und ihr Sekretariat bestellt. Die Kommission verfügt über das Sekretariat im BAG hinaus über keine eigenen Ressourcen. Sie hat keine eigene Strategie oder Prioritätensetzung, sondern behandelt die ihr vorgelegten Geschäfte. Deren Auswahl, Priorisierung und materielle Aufbereitung wird massgeblich durch das BAG gesteuert; auch bei der Beurteilung
der komplexen und umfangreichen Evaluationsgegenstände ist die Kommission stark vom BAG abhängig. In den drei von der PVK genauer untersuchten Fällen wird ein grosser Einfluss des BAG auf die Handlungsempfehlungen der ELK zuhanden des EDI sichtbar.57 Gemäss Tabelle 1 ist es sinnvoll, Assessment, Appraisal und die formelle Entscheidung zu Leistungsfragen institutionell zu trennen, und das ist in manchen ausländischen Modellen auch der Fall. Nach offizieller Darstellung58 erfolgt im Schweizer Bringsystem das Assessment weitgehend durch den Antragsteller, ergänzt durch die externe Review sowie die zusammenfassende Beurteilung durch das BAG, während 55 56 57

58

Das Arbeitsergebnis dieser Ausschüsse ist in Kapitel 4 des Handbuchs WZW 2000 festgehalten (BSV 2000, S. 30ff).

Gemäss Artikel 37b Absatz 3 KVV können in Ausschüsse auch Personen gewählt werden, die nicht Mitglied der Kommission sind. Das EDI wählt die Mitglieder.

Im Fallbeispiel A nimmt das BAG auf die Gewichtung der entscheidungsrelevanten Kriterien starken Einfluss, im Beispiel B verlagert es den Fokus der Diskussion weg von der Frage der WZW im Einzelfall hin zu einer generellen Diskussion zu den Standards und Methoden der Wirksamkeitsprüfung.

BAG, 2008a, S. 6

5621

die ELK für das Appraisal zuständig ist. In der Praxis sind Assessment und Appraisal im Schweizer Modell aber nicht wirklich getrennt. Durch seine prägende Stellung in der Kommission nimmt das BAG auf das Appraisal der ELK massgeblichen Einfluss, während sich die ELK häufig in den Details der WZW-Messung einer einzelnen Leistung verliert, die eigentlich zum Assessment gehören.

3.6.2

Grundlagen der Beurteilung durch die ELK

Da die ELK keine eigenen Recherchen macht, hängt die Beurteilungsgrundlage der Kommission stark von der Qualität des Antrags, der externen Review und der zusammenfassenden Beurteilung des BAG ab. Auf der Basis der PVK-Umfrage und vertiefenden Fallstudien ergibt sich bezüglich der Beurteilungsgrundlagen, welche der ELK zur Verfügung stehen, ein gemischtes Bild.

In den Interviews werden die Informationsgrundlagen der ELK mehrheitlich als ausreichend bis gut bezeichnet; es wird aber auch darauf hingewiesen, dass im antragsgesteuerten System der Schweiz neue Leistungen im internationalen Vergleich oft relativ früh evaluiert werden.59 Dies hat Folgen für die Qualität der Datenbasis der Evaluation, da im Frühstadium eines Technologiezyklus oft die für die Durchführung einer soliden Studie nötigen Patientenzahlen oder Outcomedaten60 fehlen. Vor diesem Hintergrund entscheidet die ELK in manchen Fällen auf einer recht dünnen Faktenbasis. Anders in diesem Punkt das deutsche System, welches das Verfahren aussetzt, wenn keine ausreichende Evidenz für die zu bewertende Methode vorliegt. Immerhin kann die ELK einen Antrag zur Überarbeitung zurückweisen und sie hat die Möglichkeit, eine Leistung befristet in die Kassenpflicht aufzunehmen und bis Ablauf der Frist vom Antragsteller eine vertiefte Evaluation der fraglichen Aspekte zu verlangen. Hiervon wird in der Praxis auch oft Gebrauch gemacht (vgl. auch Abschnitt 3.6.4).

Zwischen dem Antragsteller und der ELK als Beurteilungsinstanz besteht im schweizerischen Bringsystem eine Informationsasymmetrie zugunsten des Antragstellers. Vor allem bei Anträgen aus der Medizinalindustrie ist die Faktenbasis stark durch die technologiefreundliche Optik des Antragstellers geprägt, welche durch die nur punktuellen und summarischen externen Reviews kaum relativiert werden kann.

Auch sind die Anträge zum Teil derart umfangreich, dass die Informationsmenge seitens der ELK kaum zu bewältigen ist. Die Anträge der Fallstudienobjekte A und B umfassen jeweils zwischen 500 und 1000 Seiten. In diesem Punkt wird nochmals der bereits erwähnte grosse Einfluss sichtbar, den das BAG bei der Priorisierung, Aufbereitung und Entscheidungsvorbereitung der ELK-Geschäfte im heutigen System hat.

Die überarbeiteten Antragsformulare in den Versionen 2005 und 2008 haben gemäss PVK-Umfrage insgesamt
zu einer besseren Qualität der Anträge geführt. Diese sind im Durchschnitt strukturierter und vollständiger als früher. Das BAG muss weniger Anträge infolge Unvollständigkeit an die Antragsteller zurückweisen. Auch die im Rahmen der PVK-Fallstudien betrachteten Anträge erweisen sich in formeller Hinsicht als korrekt und den Vorgaben des BAG entsprechend. In materieller Hinsicht 59 60

Dies ist kein Widerspruch zu der in Abschnitt 3.2 gemachten Aussage, dass nicht alle fraglichen Leistungen (rechtzeitig) einer Evaluation zugeführt werden.

Das sind Daten zum Ergebnis einer medizinischen Massnahme.

5622

fällt unsere summarische Beurteilung der Anträge der drei untersuchten Fallstudienobjekte gemischt aus. Teils fehlen die Datengrundlagen aus den oben genannten Gründen, teils sind auch Qualitätsmängel in den Anträgen zu beobachten. Namentlich die Darlegung der Wirtschaftlichkeit liegt in allen drei unter den erwartbaren Standards.61

3.6.3

Kriterien der Beurteilung durch die ELK

Die Beurteilung der Leistungspflicht hat nach Artikel 32 Absatz 1 KVG anhand der drei Kriterien Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW) zu erfolgen. Diese Kriterien sind in den gesetzlichen Grundlagen nicht konkret definiert und werden auch auf der Stufe der Zulassungsbehörden nicht hinreichend konkretisiert und operationalisiert; zwar kann die Prüfung der Kassenpflicht medizinischer Leistungen in der Phase des Appraisals nicht rein schematisch erfolgen und erfordert Ermessensspielräume. Aber gerade deshalb sind klare Kriterien, Kasuistiken und Richtlinien nötig, an denen sich die Entscheidungsträger orientieren können. Diese Konkretisierungen sind nicht hinreichend vorhanden. Die Fachleute im BAG und der ELK orientieren sich zwar an den Definitionen und Konzepten der internationalen Fachgemeinschaft, und auf diese ist implizit auch das Antragsformular ausgerichtet. Aber für die Antragsteller und die interessierten Kreise sind diese Kriterien zu wenig explizit und zu wenig dokumentiert. Dadurch leidet die Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Verfahrens; zudem steigt die Gefahr von Ungleichbehandlungen, wenn die Ermessensspielräume zu gross sind.

Insbesondere für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit einer Leistung fehlt ein klarer Massstab, und Kosten und Nutzen einer Leistung werden nicht systematisch im Sinne einer Kosteneffektivitätsbetrachtung62 zueinander in Bezug gesetzt. Das britische System, in dem die Kosteneffektivität eine bedeutende Rolle spielt, arbeitet z.B. bei der Beurteilung medizinischer Leistungen mit Nutzenkennzahlen wie QALY63 und ordnet diesen finanzielle Grenzwerte zu. In der Schweiz fehlen solche Ansätze, und es ist umstritten, ob solche aus sozialpolitischer und ethischer Sicht überhaupt statthaft sind. Die ELK oder die vormalige EGK haben die Frage, wie viel ein zusätzliches beschwerdefreies Lebensjahr zulasten der Grundversicherung kosten darf, bisher nicht beantwortet und verlangen, dass diese Frage politisch geklärt wird.64 Aber auch auf der politischen Ebene hat bisher niemand die Initiative für eine Klärung ergriffen. Kommt hinzu, dass die schweizerische OKP im Gegensatz etwa zum britischen System keinen festen Budgetrahmen kennt; Kostensteigerungen der OKP können relativ leicht auf die Prämien überwälzt werden, auch wenn sie deutlich über dem Wirtschaftswachstum liegen. Das bestehende System trägt vor 61

62 63 64

Im Fall A wurden auch bei der zweiten Antragstellung nur wenige und nicht nachvollziehbare Zahlen und keine Angaben zur Kosteneffektivität, die für die Beurteilung dieser Leistung besonders wichtig wären, vorgelegt. Im Fall B erfolgte nur eine grobe Schätzung von Preisen und Mengengerüst.

Verhältnis zwischen aufgewendeten Kosten und gewonnenem Nutzen einer Intervention.

Bei der Kennzahl QALY (Quality-adjusted Life Year) werden die Quantität und die Qualität der Restlebenserwartung eines Patienten zu einer Messgrösse zusammengezogen.

Aus Sicht der Kommissionen sind zunächst die bestehenden Rationalisierungspotenziale auszuschöpfen, bevor den OKP-Versicherten sinnvolle Leistungen aus Kostengründen vorenthalten werden. Ausserdem soll verhindert werden, dass sich die Preisbildung im Tarifierungsverfahren an den explizit festgelegten Frankenwerten pro QALY orientiert.

5623

diesem Hintergrund Züge einer Maximal- statt Optimalmedizin, wie es ein Interviewpartner ausdrückt.

Insgesamt spielt die Wirtschaftlichkeit in der Beurteilung der Kassenpflicht von Leistungen eine eher untergeordnete Rolle; es bestehen keine Mechanismen für den Umgang mit Zielkonflikten zwischen Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit. Wenn eine Alternativbehandlung mit vergleichbarem Nutzen fehlt, lehnt die ELK auch eine sehr teure Leistung in der Regel nicht ab, obschon auch letzteres offenbar vorkommt. Die Wirtschaftlichkeit einer Leistung ist für die ELK vor allem dann wichtig, wenn zwei Leistungen eine fast identische Wirksamkeit aufweisen; dann sollte die Wirtschaftlichkeitsanalyse allfällige Kostenvorteile der einen Methode aufzeigen. In der Praxis ist aber eine neue Leistung selten günstiger als die bestehende Alternative. Die Rente, die sich durch effizientere Technologien und Methoden ergibt, wird aufgrund des Tarifierungssystems oft durch die Leistungserbringer abgeschöpft und somit nicht an die Versicherten weiter gegeben.

Anders als bei den Medikamenten werden bei ärztlichen Leistungen die Leistungspflicht und der Tarif nicht im selben Verfahren festgelegt. Dies erschwert die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit einer Leistung zusätzlich, weil auf der Stufe der ELK mit groben Schätzwerten bezüglich der Preise operiert werden muss. Da die ELK Leistungen im internationalen Vergleich relativ früh evaluiert, lässt sich auch die Mengenentwicklung oft schwer abschätzen, so dass die Kostenabschätzung zum Zeitpunkt der ELK-Empfehlung regelmässig auf einer schwachen Basis steht.

Während für die naturwissenschaftlich orientierte Bewertung einer Leistung im Rahmen des Assessments relativ klare internationale Standards existieren, muss die Frage der Angemessenheit der Finanzierung einer Leistung im Rahmen der OKP im Rahmen des Appraisals anhand zusätzlicher, national geprägter Kriterien beantwortet werden. Typische Themen sind hier zum Beispiel die Kosteneffektivität einer Leistung auf der Ebene der Gesamtpopulation, Kosten-Nutzen-Beurteilungen vor dem Hintergrund der Prämienentwicklung oder Gerechtigkeitsüberlegungen ­ etwa dann, wenn es um den breiten Zugang zu einer medizinisch wichtigen, aber auch sehr teuren Leistung geht. Für dieses Appraisal fehlen aber im Modell Schweiz klare Bezugsgrössen
und Kriterien, und die Angaben in den Anträgen erlauben die Beantwortung dieser Fragen nur teilweise. Das KVG ist ein Finanzierungsgesetz, das keinen übergeordneten gesundheitspolitischen Rahmen vorgibt, an dem sich die ELK beim Appraisal orientieren könnte. Die Schweiz verfügt im Gegensatz zu anderen Ländern über keine nationale Gesundheitspolitik, und auch auf der Stufe der Verwaltung (EDI, BAG) fehlen diesbezüglich gesundheitspolitische Strategievorgaben.

5624

3.6.4

Empfehlungspraxis der ELK

Bei der Leistungsbezeichnung in Anhang 1 KLV stehen nach Artikel 1 KLV grundsätzlich folgende Optionen offen: Die Leistung kann übernommen, unter bestimmten Voraussetzungen übernommen oder nicht übernommen werden. An diesen Optionen orientieren sich auch die Empfehlungen der ELK, wobei sich bei der bedingten Aufnahme in der Praxis noch Differenzierungen etabliert haben, so dass vereinfachend folgende fünf Optionen möglich sind: ­

Leistungspflicht ohne Auflagen

­

Leistungspflicht mit Auflagen; Letztere beziehen sich auf eingeschränkte Indikationen der Leistungspflicht und/oder auf eine Einschränkung der zugelassenen Leistungserbringer65

­

befristete Aufnahme mit der Verpflichtung des Antragstellers, die Leistung vertieft zu evaluieren

­

vorläufig keine Aufnahme, aber Empfehlung einer vertieften Evaluation zulasten des Antragstellers und danach Neubeurteilung durch die ELK

­

keine Leistungspflicht

Der ELK wurden gemäss der BAG-Fallstatistik im Zeitraum 1996­2007 insgesamt 195 Geschäfte vorgelegt. In 53 Fällen vertagte die Kommission das Geschäft und verlangte zusätzliche Unterlagen.66 In den übrigen 142 Fällen sprach die Kommission Empfehlungen aus, die sich im Anhang 1 KLV niederschlugen. In rund zwei Drittel dieser Fälle plädierte die Kommission grundsätzlich für eine Aufnahme in die Leistungspflicht, beim restlichen Drittel dagegen. Bei den grundsätzlich positiven Empfehlungen wurden aber fast immer Einschränkungen bzgl. Indikationen und/oder Leistungserbringer getroffen oder es wurde eine bedingte Aufnahme mit Evaluationspflicht empfohlen.67 Beurteilung Die Möglichkeit eines differenzierten Urteils der ELK ist ein Vorteil des Schweizer Modells, der auch in anderen Ländern wie Frankreich, Grossbritannien, Belgien oder Australien zur Anwendung kommt.

Angesichts der begrenzten Ressourcen beim ELK-Sekretariat und der geringen Sitzungsfrequenz der Kommission (2­3 Sitzungen pro Jahr) wird der Output der ELK in quantitativer Hinsicht positiv beurteilt und nimmt sich auch im internationalen Vergleich gut aus (vgl. auch Abschnitt 3.9.4).

Gemäss der BAG-Geschäftsstatistik empfiehlt die ELK in über einem Drittel der Fälle eine befristete Aufnahme der Leistungspflicht und verlangt, dass die fragliche Leistung binnen einer bestimmten Frist durch den Antragsteller genauer evaluiert wird. Dass die ELK Wissenslücken aufspürt und deren Schliessung mittels zusätzlicher Evaluation verlangt, ist positiv zu würdigen. Die sorgfältige Evaluation einer fraglichen Leistung ist gerade in der Schweiz angezeigt, da hier Leistungen im internationalen Vergleich eher früh in die Leistungspflicht aufgenommen werden. Ande65 66 67

Z.B. Fachärzte oder medizinische Zentren mit entsprechender Zertifizierung.

Diese Vertagungen waren vor allem in den Jahren nach Einführung des neuen KVG gängig. Seit einer Praxisänderung im Jahr 2002 kommen sie nur noch selten vor.

Uneingeschränkte Aufnahme nur in 2 % aller Empfehlungen.

5625

rerseits zeigt sich, dass die zuständige Fachsektion im BAG bei der Begleitung der Evaluationen an ressourcenbedingte Grenzen stösst.

Befristet aufgenommene Leistungen mit Evaluationspflicht werden nach erfolgter Evaluation mehrheitlich unbefristet übernommen, allerdings oft mit Auflagen bezüglich Leistungserbringer und/oder Indikationsstellung. Das BAG erklärt die hohen Erfolgschancen befristet aufgenommener Leistungen mit einer zielsicheren Vorselektion. Gemäss der PVK-Umfrage schaffen Evaluationen aber manchmal auch vollendete Tatsachen. Im Anhang 1 KLV finden sich verschiedene kassenpflichtige Leistungen, die schon seit Jahren68 in Evaluation sind. Die Gefahr besteht, dass sich solche Leistungen im Laufe der Zeit in der ärztlichen Praxis de facto etablieren und nicht mehr aus der Leistungspflicht genommen werden, auch wenn sie die WZW-Kriterien nicht hinreichend erfüllen. Gemäss der BAG-Geschäftsstatistik steigt mit der 3. und 4. ELK-Lesung tendenziell der Anteil der in die Kassenpflicht aufgenommenen Leistungen. Aus den vorliegenden Daten lässt sich jedoch nicht präzise ablesen, in welchem Zahlenverhältnis evaluierte Leistungen nach Vorliegen der Evaluationsergebnisse unbefristet in die Leistungspflicht aufgenommen bzw. abgelehnt werden.69 Einigen Interviewpartnern zufolge veranlasst die ELK offenbar manchmal auch dann weitere Evaluationen, wenn sie intern keinen Konsens findet oder die mangelnde Akzeptanz einer ablehnenden Entscheidung bei einflussreichen Leistungserbringern oder Patientengruppen befürchtet. Diese Entscheidungshemmung verzögert und verteuert die Verfahren, ohne am Ende zu einer den Aufwand rechtfertigenden Verbesserung der Entscheidungsgrundlagen zu führen.

Schliesslich ist festzuhalten, dass die Vorgaben der ELK bezüglich des Evaluationskonzepts nicht immer hinreichend präzis sind oder aufgrund neu aufgetauchter Erkenntnisse während der Evaluation verändert werden, wie dies im Fallbeispiel B der PVK sichtbar wurde.

Die Empfehlungen der ELK sind nicht öffentlich; dies mindert die Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Verfahrens. Wir gehen in Abschnitt 3.9.6 nochmals auf diesen Punkt ein.

68 69

Erste Anhang-1-Einträge von aktuell in Evaluation befindlichen Leistungen erfolgten zum Teil zu Beginn des laufenden Jahrzehnts, zum Teil noch in den 1990er Jahren.

Gemäss einer BAG-internen Aufstellung waren von allen 33 Leistungen, die sich im Zeitraum 2001­2007 in Evaluation befunden hatten, zum Zeitpunkt Juni 2008 30 % weiterhin in Evaluation, gut 60 % waren mit Auflagen in die Kassenpflicht aufgenommen und nur knapp 10 % waren aus der Kassenpflicht ausgeschlossen worden. (vgl. BAG, 2008b)

5626

3.7

Entscheidung auf Stufe EDI

Dieser Abschnitt handelt von der formellen Entscheidung, die der EDI-Vorsteher auf der Basis der Empfehlung der ELK trifft.

Abbildung 9 Entscheidung auf Stufe EDI

Leistungerbringer Hersteller

Ablauf Innovation WZW nicht angefochten / zur Prüfung beantragt

alle Akteure

Initiierung

Vortriage BAG

WZW unbestritten

Santésuisse / FMH

Antragsteller

BAG Externe Experten

ELK

EDI

Reevaluation bestehender Leistungen

Umstrittenheitsabklärung Stellungnahme

WZW anfechtbar

Antragstellung

Aufbereitung zuhanden ELK Externe Review

Leistungspflicht ja / eingeschränkt / nein

Akteure

Empfehlung der ELK

Entscheid EDI

Quelle: PVK

Der Vorsteher des EDI entscheidet auf der Basis der ELK-Empfehlung, einem Begleitschreiben des BAG («EDI-Notiz») sowie einem Entwurf des KLV-Anhang 1-Textes. Die Entscheidungsgrundlagen werden vom Generalsekretariat EDI in enger Zusammenarbeit mit dem BAG aufbereitet und bzgl. ihres Diskussionsbedarfs priorisiert. Wenn die Positionen innerhalb der ELK oder zwischen ELK und BAG nicht einheitlich sind, wird dies dem EDI-Vorsteher so unterbreitet. In 80­90 % der Fälle erfolgt eine diskussionslose Verabschiedung; kleinere und Routinegeschäfte werden oft en bloc verabschiedet. In heiklen, öffentlich diskutierten Fällen stellt der EDI-Vorsteher Rückfragen an das BAG oder holt zusätzliche Expertise ein.

Die Entscheide des EDI in Sachen medizinische Leistungen werden im Anhang 1 der KLV publiziert. Sie treten in der Regel auf den 1. Januar des Folgejahres, in dringlichen Fällen auch per Anfang Juli des laufenden Jahres in Kraft. Die Argumente, die zum Entscheid geführt haben, sind nicht öffentlich. Der Antragsteller erhält vom BAG eine Mitteilung mit kurzer Begründung.

5627

Beurteilung Das EDI folgt in aller Regel den Empfehlungen der ELK. Gemäss BAG-Geschäftsstatistik wich der Entscheid des EDI im Zeitraum 1996­2007 lediglich fünfmal von den Empfehlungen der ELK ab. Auch in den drei Fallstudien der PVK entsprach der Entscheid des EDI den Empfehlungen der ELK. Dies in den internationalen Vergleichsländern ähnlich. In Australien, das eine ähnliche Entscheidungsstruktur aufweist wie die Schweiz, folgte der Gesundheitsminister im Zeitraum 1998­2004 immer der vorberatenden Kommission.70 Die weitgehende Aufgabendelegation des EDI an die ELK und das BAG in Sachen Leistungsbezeichnung ist grundsätzlich zweckmässig und in Artikel 33 Absatz 4 und 5 KVG ausdrücklich vorgesehen. Diese Delegation geht aber so weit, dass eine eigentliche strategische Führung durch das Departement ausbleibt. Das EDI verlässt sich weitestgehend auf die Vorarbeiten von BAG und ELK und trifft auf deren Basis den formellen Verordnungsentscheid. Im Rahmen der regelmässigen Führungsgespräche werden vor allem konkrete Fälle der Leistungsbezeichnung, aber kaum übergeordnete Fragen zur Evaluationsstrategie besprochen. Auch bei der gesamten Prozessabwicklung der Leistungsbezeichnung verlässt sich das Departement voll auf das BAG und die ELK. Eine systematische Geschäftskontrolle, Stichproben zu Einzeldossiers oder Ähnliches existieren nicht; die departementale Aufsicht über das BAG erfolgt nach Angaben des Generalsekretariats rein finanziell, nicht fachlich.

Wenn das EDI weitere Abklärungen zu einzelnen Geschäften verlangt, ist oft deren Umstrittenheit in der Öffentlichkeit impulsgebend. Das Ausmass solcher öffentlichen Diskussionen ist jedoch nicht immer deckungsgleich mit der gesundheitspolitischen und finanziellen Bedeutung von anstehenden Entscheidungen zum Leistungskatalog.

Die Entscheidungsgrundlagen des EDI sind in der Regel sehr komprimiert; bei den drei Fallstudien der PVK betrugen sie jeweils wenige Zeilen; die Qualität der Entscheidungsgrundlage hängt aufgrund des oben Gesagten praktisch vollständig von der Arbeit der vorberatenden Stufen ab. Sie wird analog zu den Feststellungen in Abschnitt 3.6.2 in der PVK-Umfrage in der Mehrheit der Fälle als ausreichend, in gewissen Fällen aber auch als «dünn» und «lückenhaft» bezeichnet.

Die Entscheidungsfindung des Departementsvorstehers stützt sich in
der Regel auf die im Verfahren aufbereiteten Fakten, was unter dem Aspekt der Evidenzbasierung positiv zu würdigen ist. Daneben gibt es Einzelfälle, in denen das EDI die Entscheidung auch nach Aspekten wie der vermuteten Akzeptanz der Entscheide bei einflussreichen Leistungserbringern oder Patientengruppen trifft, was durch die gesetzlichen WZW-Kriterien nicht abgedeckt ist.

In den (seltenen) Fällen, in denen das EDI ergänzend zu den verfügbaren Unterlagen eigene Expertise einholt, ist nicht klar, aus welchen Quellen diese Information stammt; zum Teil soll diese aus dem persönlichen Umfeld des Departementsvorstehers stammen. Dies genügt den Transparenzansprüchen an das Verfahren nicht.

70

Neumann et al. 2007, S. 72 und Slembeck/Mächler 2008, S. 22

5628

3.8

Reevaluation und Pflege des Leistungskatalogs Abbildung 10

Reevaluation bestehender Leistungen

Leistungerbringer Hersteller

Ablauf Innovation WZW nicht angefochten / zur Prüfung beantragt

alle Akteure

Initiierung

Vortriage BAG

WZW unbestritten

Santésuisse / FMH

Antragsteller

BAG Externe Experten

Reevaluation bestehender Leistungen

Umstrittenheitsabklärung

ELK

EDI

Stellungnahme

WZW anfechtbar

Antragstellung

Aufbereitung zuhanden ELK Externe Review

Leistungspflicht ja / eingeschränkt / nein

Akteure

Empfehlung der ELK

Entscheid EDI

Quelle: PVK

Bisher haben wir uns mit neuen Leistungen befasst, deren Leistungspflicht auf Antrag überprüft und im Anhang 1 KLV festgehalten wird. Artikel 32 Absatz 2 KVG verlangt zusätzlich, dass auch bestehende Leistungen periodisch überprüft werden. Zusammen mit den WZW-Kriterien als dreifache Voraussetzung der Kostenübernahme wird diese periodische Überprüfung bestehender Technologien in der KVG-Botschaft als Sicherheitsriegel gegen ein übermässiges Kostenwachstum in der OKP bezeichnet.71 Dies wird damit begründet, dass Leistungen aufgrund des medizinischen Fortschritts u.U. rasch überholt sind und aus dem Katalog entfernt werden müssen. Artikel 32 Absatz 2 KVG zielt «auf ein anforderungsgerechtes Leistungsangebot und damit auf die Ausmusterung medizinisch nicht mehr zweckmässiger Leistungen ab»;72 die Überprüfung bestehender Technologien wird in der Botschaft vor dem genannten Hintergrund gar als «unbedingte Notwendigkeit» bezeichnet.

71 72

Bundesrat, 1991, S. 133 Ebenda, S. 160

5629

Von dieser periodischen Reevaluation kassenpflichtiger Leistungen ist die in Abschnitt 3.6.4 erwähnte Überprüfung viel versprechender, aber bisher nicht etablierter Leistungen zu unterscheiden, die typischerweise befristet mit aufgenommen und nach einer vertieften Evaluation neu beurteilt werden.

Beurteilung Zwischen 2000 und 2005 wurden im BAG verschiedene Projekte zur Evaluation bestehender medizinischer Leistungen bzw. ganzer Leistungsgruppen gestartet, aufgrund fehlender Ressourcen und inhaltlicher Kontroversen aber wieder zurückgestellt. Ein Teilprojekt zur Reevaluation psychotherapeutischer Methoden nahm einen vom ursprünglichen Ziel abweichenden Verlauf, indem es zum Schluss kam,73 dass psychotherapeutische Methoden nicht unabhängig von der Person des Therapeuten evaluiert werden können. Im Sinne eines Case Review-Ansatzes führte dies in der Folge zu, dass der Leistungserbringer Psychotherapien nach Ablauf einer bestimmten Anzahl Sitzungen beim Vertrauensarzt des zuständigen Versicherers melden und ihre allfällige Verlängerung begründen muss.74 Im Gegensatz zu entsprechenden Projekten bei den Analysen, Arzneimitteln sowie den Mittel und Gegenständen waren im Bereich der ärztlichen Leistungen in den letzten Jahren im Bereich der Reevaluation bestehender Leistungen trotz gesetzlichem Auftrag keine nennenswerten Aktivitäten zu verzeichnen.

Erklärt wird dies in der PVK-Umfrage unter anderem mit damit, dass die Ressourcen für diese weit reichende Aufgabe fehlten,75 veraltete Leistungen von den Leistungserbringern ohnehin aus dem Behandlungsprogramm genommen würden bzw.

die Identifikation veralteter Technologien über die Qualitätssicherung nach Artikel 58 KVG und nicht über die Leistungsbestimmung zu steuern sei. Andererseits wird in der Umfrage auch argumentiert, dass viele kassenpflichtige Leistungen einer konsequent auf WZW-Kriterien ausgerichteten Überprüfung nicht standhalten würden, die Zulassungsbehörden unangenehme Auseinandersetzungen fürchteten bzw. die Streichung etablierter Leistungen aus der Leistungspflicht in der Praxis gar nicht durchsetzbar wäre.

Das neue Antragsformular verlangt von den Antragstellern, die beantragte neue Leistung hinsichtlich der WZW-Kriterien systematisch mit bestehenden Leistungen zu vergleichen. Dies ist im Vergleich zu den früheren Vorgaben an die
Antragstellung ein klarer Fortschritt und würde unter Annahme einer guten Datenqualität neben der Evaluation der beantragten Leistung auch die begleitende Reevaluation des bereits kassenpflichtigen Komparators76 erlauben. Zwar gehen die Zulassungsbehörden hier in die richtige Richtung,77 aber man ist noch nicht am Ziel. Im Untersuchungszeitraum der PVK sind zwar teilweise punktuelle Vergleiche einzelner Parameter, aber keine systematischen Reevaluationen bestehender Leistungen, die 73 74 75 76 77

Vgl. jedoch ein Verfahren in Deutschland, das genau dies machte.

Artikel 3, 3a und 3b KLV Nach Aussage des BAG können ressourcenbedingt über verschiedene Leistungsbereiche der OKP hinweg nicht mehrere Reevaluationen gleichzeitig durchgeführt werden.

Darunter versteht man eine Alternativbehandlung, die ähnliche Eigenschaften wie die zu evaluierende Leistung aufweist.

So zeigt ein entsprechender Vergleich einer derzeit in der ELK noch hängigen Leistung im Bereich der Hautersatzprodukte offenbar Qualitätsprobleme beim kassenpflichtigen Komparator (einem chirurgischen Eingriff) auf; diese sollen nach Angaben des BAG mit entsprechenden Vorgaben im Anhang 1 KLV nun behoben werden.

5630

angesichts der Dynamik der Medizin im einen oder anderen Fall zu Einträgen im Anhang 1 KLV führen müssten, sichtbar.

Wie gesehen, beurteilt die ELK die Kassenpflicht von neuen Leistungen im internationalen Vergleich eher früh, was häufig mit Qualitätseinbussen in den Beurteilungsgrundlagen einhergeht. So lassen sich etwa die Mengenentwicklung und damit auch die Kostenentwicklung zum Zeitpunkt der ELK-Empfehlung oft schwer abschätzen. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass die den ELK-Empfehlungen zugrunde liegenden Schätzungen bezüglich Kostenentwicklung und Wirtschaftlichkeit, aber auch bezüglich Wirksamkeit und Zweckmässigkeit, später nicht überprüft werden. Somit bleibt letztlich unklar, ob die an eine medizinische Leistung gestellten Erwartungen später in der Praxis erfüllt werden oder nicht. Aufgrund der in der Fachliteratur gut dokumentierten Diskrepanz zwischen den Ergebnissen klinischer Studien und der Anwendung medizinischer Leistungen in der täglichen Praxis wäre eine nachträgliche Überprüfung der Schätzparameter im Sinne einer Versorgungsforschung angezeigt.78 Versicherer und Leistungserbringer hätten im Kooperationsfall ein gutes Datenpotenzial für Versorgungsstudien, nutzen dieses aber höchstens fallweise. Auch dieses Manko wird in den PVK-Interviews mehrheitlich mit fehlenden Ressourcen bzw. unklaren Zuständigkeiten erklärt.

Unter dem Strich ist festzuhalten, dass im Bereich der ärztlichen Leistungen der Auftrag der periodischen Überprüfung bestehender Leistungen nach 32 Absatz 2 KVG nicht oder nur ansatzweise wahrgenommen wird (vgl. auch Abschnitt 3.10).

3.9

Phasenübergreifende Elemente

In diesem Abschnitt geht es um Elemente in der Struktur und im Ablauf der Leistungsbezeichnung, die in mehreren Phasen eine Rolle spielen und darum dem Phasenschema in Abschnitt 3.3 bis 3.8 nicht unmittelbar zugeordnet werden können.

3.9.1

Akteursarrangement und Verfahrensorganisation

In den gesetzlichen Grundlagen sind die institutionellen Zuständigkeiten des Verfahrens insgesamt transparent und zweckmässig definiert; diese Feststellung trifft jedoch nicht auf die Schnittstelle zwischen dem BAG und der ELK zu. Das BAG hat im Verfahren eine diskutable Mehrfachrolle in folgender Hinsicht:

78

­

es erfüllt in der Phase der Umstrittenheitsabklärung eine dem Verfahren vorgelagerte Triagefunktion, präsidiert die ELK und nimmt bei der Beratung der Antragsteller, der ELK und des EDI in allen Phasen des Verfahrens eine wichtige Rolle ein

­

es führt subsidiär zu den Antragstellern oder im Auftrag der ELK Analysen und Recherchen durch, bewertet die Anträge und bereitet diese für die ELK auf

Zum so genannten Efficacy-Effectiveness-Gap vgl. z.B. Glasgow et al. 2003 und die dort zitierte Literatur.

5631

­

es führt das Sekretariat der ELK, vergibt Expertenaufträge und moderiert den gesamten Evaluationsprozess von der Antragstellung bis zu Entscheid des EDI.

Diese Mehrfachrolle führt wie in Abschnitt 3.6.1 bereits gesehen dazu, dass das BAG im Vergleich zur ELK im Verfahren ein übermässiges Gewicht bekommt und Assessment und Appraisal institutionell nicht getrennt sind, was der Unabhängigkeit und der breiten fachlichen Abstützung des Verfahrens nicht zuträglich ist.79 Ausserdem führt die Mehrfachrolle des BAG in der zuständigen Sektion Medizinische Leistungen zu einem klaren Missverhältnis zwischen Aufgaben und Ressourcen. In den Vergleichsländern verfügen die zuständigen Verwaltungsstellen für die Bewältigung vergleichbarer Aufgaben über ein Vielfaches an personellen und finanziellen Mitteln. Die Folge davon ist, dass sich die Sektion stark auf das operative Tagesgeschäft konzentriert und die Weiterentwicklung sowie strategische Aufgaben tendenziell vernachlässigt. Es fehlen Prozessdokumentationen und Entscheidungshilfen, eine rudimentäre Geschäftsstatistik musste extra auf Wunsch der PVK erstellt werden, und auch das Wissens- und Dokumentenmanagement weist klares Verbesserungspotenzial auf. Die befragen ELK-Mitglieder sind mit den Serviceleistungen des BAG insgesamt zufrieden, einzelne Mitglieder beklagen aber auch, dass Kommissionsprotokolle aufgrund von Arbeitsüberlastungen des Sekretariats manchmal erst mit monatelanger Verspätung vorliegen. Nicht zuletzt führt die Ressourcenausstattung der Sektion auch zu Überlastungserscheinungen beim Personal.

Gewisse strategische Aufgaben sind in der Praxis nicht klar zugeordnet, die Akteure verweisen in der PVK-Umfrage hier gegenseitig aufeinander; dies betrifft insbesondere die Früherkennung und Auswahl von Evaluationsthemen, die Konkretisierung und Operationalisierung der WZW-Kriterien, die Strategie der Reevaluation bestehender Leistungen oder auch die Frage, wer im antragsgesteuerten Bringsystem vermehrt Verantwortung für die Forschung, Entwicklung und Evaluation von Leistungen übernimmt, die im allgemeinen Interesse, für die Leistungserbringer und -hersteller unter den heutigen Anreizstrukturen aber wenig lukrativ sind (z.B. Prozessinnovationen).

3.9.2

Kooperation zwischen den Akteuren

Die Kooperation zwischen den Akteuren in der Praxis ist mehrheitlich als gut zu bezeichnen; in der PVK-Umfrage werden folgende Reibungspunkte beschrieben: ­

79

Der Kontakt zwischen dem BAG und den medizinischen Fachgesellschaften ist nicht immer gut und ausreichend. Das BAG möchte den Fachgesellschaften ­ etwa bei der Erarbeitung von leistungsspezifischen Qualitätsstandards ­ mehr Verantwortung übertragen, was aber durch die Zwitterstellung der Gesellschaften als Fach- und Interessenvertretungsorgane erschwert wird. Kommt hinzu, dass manche Fachgesellschaften die FMH, die als Dachverband der Ärzteschaft im Verfahren eine wichtige Rolle spielt, tendenziell als Grundversorgerin sehen und sich von ihr nur begrenzt vertreten fühlen.

Gemäss der BAG-Stellungnahme sind die Rollen zwischen dem Amt und seinen Partnern hinreichend geklärt, und Assessment und Appraisal sind hinreichend getrennt. Die PVK bleibt auf der Basis der Interviews und Dokumente bei ihrer Darstellung.

5632

­

Mit der Neukonstituierung der vormaligen ELK in der ELGK hat sich die Vertretung des Spitalverbands in der ELGK von früher zwei auf nunmehr ein Mitglied reduziert. Aus Protest auf diese Sitzreduktion hat sich H+, die Vereinigung der Schweizer Spitäler, bis auf weiteres aus der ELGK zurückgezogen. Obschon die Vertretung der Ärzteschaft auch die Spitalmedizin abdeckt, widerspricht dieser Zustand der in Artikel 37d Absatz 2 KVV definierten Zusammensetzung der Kommission und ist auch deshalb unhaltbar, weil dadurch eine wichtige Perspektive für die besonders anspruchsvolle Beurteilung stationärer Leistungen fehlt.

­

In der Folge des Evaluationsprogramms Komplementärmedizin (PEK) und den daraus resultierenden Entscheiden des EDI entwickelten sich zwischen den Zulassungsinstanzen und komplementärmedizinischen Kreisen ernsthafte Spannungen, und das Vertrauensverhältnis muss als gestört bezeichnet werden. Wir kommen in Abschnitt 3.10 noch einmal in Kürze auf den besonderen Fall der Komplementärmedizin zurück.

3.9.3

Internationale Kooperation

Die Klärung der Leistungspflicht medizinischer Leistungen ist methodisch sehr anspruchsvoll und aufwändig. Da sie auch in ausländischen Gesundheitssystemen vorgenommen werden muss, liegt eine enge internationale Zusammenarbeit nahe, um die Ressourcen effizient zu nutzen.

Beurteilung Das BAG ist Mitglied verschiedener nationaler und internationaler Netzwerke. Dazu gehören namentlich das schweizerische80 und das europäische81 Netzwerk für Health Technology Assessment (HTA), das Technologie-Früherkennungs-Netzwerk EUROSCAN82 sowie die multinationale Fachorganisation Health Technology Assessment International.83 Dass die Schweiz aktiv am Erfahrungsaustausch partizipiert, zeigt etwa das revidierte Formular für Antragssteller, dessen Version 2005 sich am australischen Vorbild orientiert und dieses an das Schweizerische System anpasst. Als Netzwerkpartner hat die Schweiz auch Zugang zu verfügbaren HTABerichten der Partnerländer und berücksichtigt diese in der Regel in ihren eigenen Verfahren. So wurde etwa im Fallbeispiel B der PVK auf ein bereits vorliegendes HTA des britischen NICE Bezug genommen.

Trotz dieser fallweisen und eher informellen Zusammenarbeit sind die Kooperationspotenziale nicht ausgeschöpft, zumal die Schweiz international ein attraktiver Partner ist, der aufgrund seines medizintechnologischen Potenzials in den Entwicklungszyklus von Leistungen oft früh involviert ist. Dass die internationalen Kooperationsmöglichkeiten bei der Beurteilung der Leistungspflicht eng begrenzt seien, weil spezifisch schweizerische Gegebenheiten zu berücksichtigen sind, überzeugt nur zum Teil. Während das Appraisal auf spezifische nationale oder regionale Bedingungen Rücksicht zu nehmen hat, sind das Horizon Scanning, das Assessment 80 81 82 83

www.snhta.ch www.eunethta.net www.euroscan.bham.ac.uk www.htai.org

5633

und auch die Reevaluation von der Methodik her länderübergreifend oft mit ähnlichen Fragen konfrontiert. Insbesondere beim Horizon Scanning, beim Austausch von Assessments, bei der Durchführung von öffentlichen Forschungsprogrammen mit OKP-Relevanz oder bei der Reevaluation bestehender Leistungen besteht durchaus noch ungenutztes Kooperationspotenzial. Offenbar ist die vermehrte internationale Zusammenarbeit manchmal durch banale Probleme wie fehlende Englischversionen relevanter Dokumente eingeschränkt.

3.9.4

Prozessgeschwindigkeit

Die Frage der Prozessgeschwindigkeit bewegt sich in einem Spannungsfeld. Einerseits sollen Innovationen zulasten der OKP nicht vorschnell und nur nach sorgfältiger Prüfung der WZW-Kriterien erfolgen. Andererseits sind die Antragsteller angesichts der begrenzten Lebensdauer von Technologien und gebundener Investitionen an raschen und berechenbaren Verfahren interessiert. Zudem begünstigen längere Verfahren die unkontrollierte Einführung einer neuen Technologie.

Beurteilung In Ermangelung statistischer Daten muss sich die Beurteilung der Prozessgeschwindigkeit auf Expertenmeinungen und Schätzungen abstützen. Gemäss den meisten PVK-Interviewpartnern läuft die Evaluation der Leistungspflicht in der Regel rasch und effizient ab.84 Je nach Komplexität kann ein Verfahren zwischen Einreichung der Unterlagen beim BAG und dem Verordnungsentscheid des EDI zwischen wenigen Monaten und zwei Jahren85 dauern, wobei längere Fristen oft mit der Rückweisung unvollständiger Anträge erklärt werden können. Auch die drei Anträge, die den PVK-Fallstudien zugrunde liegen, wurden in nützlicher Frist bearbeitet und entschieden.

Im internationalen Vergleich ist bezüglich der Dauer der Evaluationsverfahren eine grosse Bandbreite festzustellen, und der Vergleich steht angesichts unterschiedlicher Verfahrensabläufe und Qualitätsniveaus auf unsicheren Füssen. In den grossen Linien schneidet die Schweiz im Vergleich etwa mit Deutschland oder Grossbritannien punkto Prozessgeschwindigkeit gut ab.86 Umstrittene Leistungen, die mit positivem Ergebnis evaluiert wurden, kommen in der Schweiz oft früher ins System als in anderen Ländern.87 In Deutschland dauern vor allem Zulassungen im ambulanten Bereich lange, da hier der so genannte Erlaubnisvorbehalt des GBA gilt.

Auch unter Effizienzgesichtspunkten schneidet die Schweiz gut ab ­ im Vergleich zu Deutschland etwa behandeln die hiesigen Zulassungsinstanzen trotz bescheidener Ressourcenausstattung mehr Geschäfte in kürzerer Zeit.88 In diesem Vergleich bleiben allerdings der Aufwand der Antragsteller im Schweizer Bringsystem sowie die Qualität der Zulassungsentscheide unberücksichtigt.

84 85 86 87

88

Nur eine Minderheit der Interviewpartner findet, der Prozess laufe langsam und schwerfällig ab und die Verfahrensdauer sei mit den klinischen Bedürfnissen oft nicht vereinbar.

In Einzelfällen auch mehr als zwei Jahre.

Neumann et al. 2007, S. 107 Eine nennenswerte Ausnahme sind spezifische Public Health-Programme (bspw. im Bereich der Onkologie), die im Gegensatz zur Schweiz im Ausland teilweise angestossen werden.

Neumann et al., 2007, S. 107

5634

3.9.5

Lernfähigkeit des Systems

Das System der Leistungsbezeichnung wurde seit Bestehen des KVG im Austausch mit der Fachgemeinschaft im In- und Ausland immer weiterentwickelt; deutlich sichtbar ist dies etwa bei den Revisionen des Antragsprozesses. Dies zeugt von einer Fähigkeit des Systems, zu lernen und sich an neue Gegebenheiten anzupassen.

Allerdings ist keine langfristig ausgerichtete Strategie für die Weiterentwicklung des Systems erkennbar.

Andererseits erschwert die dauernde inkrementelle Weiterentwicklung die Übersichtlichkeit des Systems, zumal die jeweiligen Etappen manchmal nur provisorischen Charakter haben und oft nicht hinreichend dokumentiert sind. Generell fällt auf, dass verschiedene Akteure (unter ihnen sogar solche, die in der ELK vertreten sind), zum Teil erhebliche Wissenslücken zum Verfahrensablauf haben. Vor diesem Hintergrund ist positiv zu würdigen, dass das BAG kürzlich einen Informationsworkshop zum Verfahren der Leistungsbeurteilung in der OKP durchgeführt hat.89

3.9.6

Öffentlichkeit des Verfahrens

Die Frage der Öffentlichkeit des Verfahrens bewegt sich in einem Spannungsfeld.

Grundsätzlich ist im Sinne der Transparenz und der Verfahrenspartizipation eine öffentliche Zugänglichkeit des Verfahrens wünschenswert. Andererseits müssen in manchen Geschäften Firmengeheimnisse gewahrt werden, und die Öffentlichkeit des Verfahrens kann den politischen Druck auf die Zulassungsinstanzen erhöhen.

Beurteilung Der internationale Vergleich zeigt auch hier eine grosse Bandbreite: Während etwa in Grossbritannien die Verfahrensschritte, Entscheidungsgrundlagen und Ergebnisse weitestgehend im Internet nachvollziehbar sind, zeichnet sich das Schweizer Verfahren im Vergleich durch einen auffallend geringen Grad an Öffentlichkeit aus.90 Die Priorisierung und Auswahl der Evaluationsgegenstände, die Identität und die Gutachten der externen Reviewer, die Geschäftsordnung der ELK, die Argumente und Empfehlung der Kommission ­ all dies ist nicht öffentlich sichtbar. Im Anhang 1 KLV ist lediglich der Verordnungsentscheid, also das Ergebnis des gesamten Verfahrens, aufgelistet. Das Verfahren bindet zwar über die ELK die wichtigsten Anspruchsgruppen ein, der Prozess selbst läuft aber hinter verschlossenen Türen ab, was die Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Prozesses mindert.

Das per 1. Juli 2006 in Kraft getretene Bundesgesetz vom 17. Dezember 2004 (BGÖ)91 zielt auf mehr öffentliche Transparenz der Abläufe und Tätigkeiten in der Verwaltung. Artikel 7 BGÖ sieht aber verschiedene Ausnahmen und Einschränkungen beim Zugang zu amtlichen Dokumenten vor,92 die bei Einsichtsbegehren in die Bezeichnung medizinischer Leistungen in der OKP durchaus ins Feld geführt wer89 90 91 92

Vgl. www.bag.admin.ch/themen/krankenversicherung/index.html?lang=de Neumann et al. 2007, S. 110 Bundesgesetz vom 17. Dezember 2004 über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung (Öffentlichkeitsgesetz, BGÖ), SR 152.3 Z.B. Beeinträchtigung der freien Meinungs- und Willensbildung der zuständigen Behörde oder Offenbarung von Berufs-, Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnissen.

5635

den können und ggf. juristische Auseinandersetzungen nach sich ziehen.93 In den fast zwei Jahren seit Inkrafttreten des BGÖ wurde denn auch auf dieser Basis nie Einsicht in ein Verfahren beantragt, was sicher nicht allein mit dem mangelnden Interesse der Anspruchsgruppen zu erklären ist.

3.10

Exkurs zur Komplementärmedizin

Mit dem EDI-Beschluss vom 9. Juli 1998 wurden fünf umstrittene komplementärmedizinische Massnahmen94 mit Befristung bis zum 30. Juni 2005 in die Leistungspflicht aufgenommen. Im Jahr 1999 lancierte das EDI das «Programm Evaluation Komplementärmedizin» (PEK) mit dem Ziel, offene Fragen der WZW der genannten Leistungen in Hinblick auf die Frage ihrer Kassenpflicht zu klären. Per Anfang Juni 2005 beschloss das EDI, die provisorische Leistungspflicht der fünf genannten Methoden infolge ungenügendem WZW-Nachweis per 30. Juni 2005 auslaufen zu lassen.95 Dieser Entscheid des EDI und das im zugrunde liegende Beurteilungsverfahren wurde in der Öffentlichkeit sehr kontrovers aufgenommen und führte zu bis heute anhaltenden Streitigkeiten zwischen komplementärmedizinischen Kreisen und den Zulassungsbehörden, auf die wir hier nicht näher eingehen. Am 4. Oktober 2005 kam vor diesem Hintergrund die Volksinitiative «Ja zur Komplementärmedizin» zustande, die von Bund und Kantonen verlangt, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für die umfassende Berücksichtigung der Komplementärmedizin zu sorgen. Aufgrund von Differenzen zwischen den beiden Kammern befindet sich die Initiative gegenwärtig noch in der Phase der parlamentarischen Beratung.

Der Auftrag der zuständigen Subkommission der GPK-N an die PVK lautete ausdrücklich nicht, das Programm PEK und den daraus resultierenden Entscheid des EDI zu beurteilen. Gemäss dem Antrag Graf-Litscher vom 3. Oktober 2006 zuhanden der GPK-N sollte die PVK in ihrer Untersuchung den Blick nach vorne richten und beurteilen, ob die Zulassungsbehörden sicherstellen, dass bei der Evaluation medizinischer Methoden objektive und nachvollziehbare Kriterien angewendet werden.96 Im Folgenden geben wir deshalb nur die am Rande der PVK-Umfrage getätigten Aussagen zum Fall der Komplementärmedizin vor dem Hintergrund unserer übergeordneten Fragestellung wieder.

Beurteilung Das Vorgehen der Zulassungsbehörden im Fall der fünf genannten komplementärmedizinischen Anwendungen wird im Rahmen der PVK-Umfrage hinsichtlich Transparenz, Evidenzbasiertheit und Unabhängigkeit mehrheitlich skeptisch beurteilt. Auch die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) kritisiert in ihrem Bericht vom 93

94 95 96

Um die Beurteilung allfälliger Einsichtsbegehren nach dem BGÖ zu erleichtern, verlangt das BAG seit 2008 in den Anträgen auf Kostenpflicht medizinischer Leistungen eine entsprechende Kennzeichnung schützenswerter Informationen.

Anthroposophische Medizin, Homöopathie, Neuraltherapie, Phytotherapie und traditionelle chinesische Arzneimitteltherapie.

EDI, 2005 Das Anliegen, im Rahmen der drei PVK-Fallstudien ein aktuelleres Verfahren zu einer komplementärmedizinischen Anwendung zu untersuchen, konnte in Ermangelung von entsprechenden Anträgen im Untersuchungszeitraum nicht erfüllt werden.

5636

14. September 2007 klare Schwachstellen im Projektmanagement des PEK. Sie moniert unter anderem, dass das Projekt nach aussen zu wenig transparent war, der in jahrelanger Arbeit erstellte PEK-Schlussbericht der ELK in der entscheidenden Sitzung nicht schriftlich vorlag, sondern lediglich mündlich präsentiert wurde, das Review Board des Programms in die Publikation nicht einbezogen wurde und das Programm PEK nicht in geordneter Art und Weise beendet wurde.97 Die PVK-Umfrage weist darauf hin, dass das Programm PEK viele Besonderheiten aufwies und keine pauschalen Rückschlüsse auf die Arbeitsweise der Zulassungsbehörden zulässt. Andererseits zeigen sich in den Auseinandersetzungen um die Komplementärmedizin auch ein paar hier bereits erwähnte konzeptionelle Probleme der Beurteilung der Kassenpflicht medizinischer Leistungen, auf die wir rückblickend auf das oben Gesagte nochmals kurz eingehen möchten: ­

Die Antragsformulare für neue Leistungen sind auf indikationenspezifische Einzelleistungen ausgerichtet; für integrierte Leistungen und Therapiesysteme, die unabhängig von bestimmten Indikationen eingesetzt werden und zu neben anderen Leistungen auch viele komplementärmedizinische Anwendungen gehören, ist das neue Antragsformular ungeeignet. Trotzdem offerieren die Zulassungsbehörden für diese Leistungen bis auf weiteres kein passendes Antragsformular und verweisen die Antragsteller auf die eigentlich ausser Kraft gesetzten Vorgaben des Handbuchs WZW aus dem Jahr 2000. Dies ist aus Sicht der Gleichbehandlung der Antragsteller sowie der Transparenz und Berechenbarkeit des Verfahrens kritisch zu beurteilen (vgl.

Abschnitt 3.4).

­

Der Streit um die Kassenpflicht komplementärmedizinischer Leistungen verweist auf Unklarheiten bzgl. der konkreten Auslegung und Messung der WZW-Kriterien, namentlich beim Kriterium der Wirksamkeit. Die Wirksamkeit komplementärmedizinischer Methoden kann in der Regel nicht mit RCTs,98 dem «Goldstandard» der evidenzbasierten Medizin, nachgewiesen werden. Einschlägigen KVG-Kommentaren99 und der Rechtsprechung100 zufolge wird dieser Standard bei schwieriger Datenlage vom KVG aber auch nicht zwingend verlangt. Auch die Zulassungsbehörden räumen explizit ein,101 dass die Wirksamkeit gewisser unter Umständen durchaus sinnvoller medizinischer Interventionen nicht mit RCT-Studien nachweisbar ist und andere Formen des wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweises in solchen Fällen grundsätzlich anerkannt sind. Zudem betonen sie, dass neben der Wirksamkeit unter Studienbedingungen («efficacy») die Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen («effectiveness») bei der Beurteilung eine wichtige Rolle spielt. Welche Evidenz aber im konkreten Fall beigebracht werden muss und wie die unterschiedlichen Evidenzgrade in der Praxis der Zulassungsbehörden gewichtet werden, ist gegenwärtig nicht hinreichend transparent und dokumentiert (vgl. Abschnitt 3.6.3).

97

EFK 2007, S. 4f. Vor dem Hintergrund dieser kritischen Einzelpunkte verwundert sehr, dass die EFK die Projektorganisation und -leitung des PEK zusammenfassend als zufrieden stellend beurteilt.

98 Randomized Controlled Trials, d.h. randomisierte, kontrollierte Studien.

99 Koller 1998, S. 92; vgl. auch Britt et al. 2004, S. 162 100 Bundesgerichtsurteil BGE 123 V 65 E. 4a 101 BAG 2008a, S. 7f

5637

­

4

Der Fall der fünf abgelehnten komplementärmedizinischen Methoden illustriert nochmals die in Abschnitt 3.2 erwähnte Willkürtendenz bei der Auswahl der Evaluationsgegenstände sowie die in Abschnitt 3.8 skizzierten Lücken bei der Reevaluation bestehender Leistungen. Mehrfach und nicht nur von Seiten komplementärmedizinischer Kreise wird in der PVK-Umfrage betont, dass auch viele etablierte Methoden der Schulmedizin, deren Leistungspflicht bisher nie hinterfragt wurde, den im Rahmen einer ELKEvaluation verwendeten WZW-Massstäben nicht genügen könnten. Bei der Veröffentlichung des Ablehnungsentscheids der fünf komplementärmedizinischen Methoden im Juni 2005 kündigte das EDI an, dass «mit der gleichen methodisch-juristischen Konsequenz in den kommenden Jahren der gesamte Leistungskatalog der OKP überprüft und die notwendigen Konsequenzen gezogen werden». Diese Ankündigung wurde aber bisher nicht eingelöst.

Nicht zu Unrecht wird vor diesem Hintergrund eine Ungleichbehandlung zwischen evaluierten und (bisher) nicht evaluierten Methoden moniert.

Zusammenfassende Schlussfolgerungen

In diesem Abschnitt fassen wir die wichtigsten Merkmale des Prozesses der Bezeichnung medizinischer Leistungen in der OKP zusammen und bewerten diese.

4.1

Wichtigste Prozessmerkmale

Die Bezeichnung medizinischer Leistungen in der OKP zeichnet sich durch folgende grundlegenden Merkmale aus: ­

Während bei den Analysen, Arzneimitteln sowie den von der OKP vergüteten Mitteln und Gegenständen die Kassenpflicht von Leistungen explizit festgestellt werden muss, gilt bei den ärztlicher Leistungen der Pflichtleistungscharakter bis zum Beweis des Gegenteils automatisch als gegeben (Vertrauensprinzip). Erst wenn eine Leistung angefochten oder zur Prüfung beantragt wird, kommt ein Evaluationsprozess in Gang. Dessen Ergebnis wird im Anhang 1 der KLV festgehalten.

­

Die von der OKP vergüteten Leistungen müssen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich (WZW) sein.

­

Im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen die Zulassungsbehörden von selbst aktiv werden, obliegt im schweizerischen Bringsystem die Beschaffung der für die Zulassung erforderlichen wissenschaftlichen Evidenz weitestgehend dem Antragsteller.

­

Im Rahmen einer so genannten Umstrittenheitsabklärung wird unter Leitung des BAG und unter Beizug von FMH und santésuisse zunächst unterschieden, welche Fälle überhaupt einer eigentlichen Evaluation unterzogen werden müssen und welche als unumstritten gelten dürfen.

­

Die ELK, eine aus den wichtigsten Anspruchgruppen zusammengesetzte Verwaltungskommission, beurteilt die Kassenpflicht von Leistungen gemäss den gesetzlichen WZW-Kriterien und unterbreitet dem EDI eine entsprechende Empfehlung.

5638

­

Der Vorsteher des EDI entscheidet auf der Grundlage der Empfehlung der ELK. Grundsätzlich kann eine evaluierte Leistung in die Kassenpflicht generell aufgenommen, mit bestimmten Auflagen (z.B. bezüglich definierter Indikationen oder zugelassener Leistungserbringer) aufgenommen oder nicht aufgenommen werden. Der Entscheid des EDI ist abschliessend, der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Beim Vorliegen neuer Erkenntnisse kann aber jederzeit ein neuer Antrag gestellt werden.

­

Die WZW bestehender Leistung muss periodisch reevaluiert werden.

4.2

Zusammenfassende Beurteilung

Grundsatz der offenen Liste Das Vertrauensprinzip trägt dem dynamischen Charakter der Medizin Rechnung und macht den Versicherten unbestrittene Innovationen rasch zugänglich.

Aufgrund der zahlreichen Spezifikationen zur Kassenpflicht einzelner Indikationen weist der Anhang 1 KLV eine hohe Regelungsdichte auf. Dies erschwert die Übersichtlichkeit des Katalogs und führt bei den Leistungserbringern und den Versicherern zu Unsicherheiten bzgl. der Kassenpflicht.

Früherkennung und Auslösung von Evaluationen Aufgrund des Vertrauensprinzips wird nur ein sehr kleiner Teil neuer medizinischer Leistungen bzgl. der gesetzlichen Leistungsvoraussetzungen evaluiert. Der weitaus grösste Teil gelangt durch ärztliche Anwendung direkt in die Leistungspflicht.

Seitens der Zulassungsbehörden fehlen ­ trotz Verbesserungen in jüngster Zeit ­ ein systematisches Monitoring und eine Früherkennung potenzieller Evaluationsgegenstände. Das Evaluationssystem ist stark von den eingehenden Anträgen getrieben und setzt kaum eigene Prioritäten.

Die Hürden der Antragstellung für eine Evaluation sind hoch, und das Verfahren bringt Unwägbarkeiten mit sich. Für Hersteller und Leistungserbringer bestehen Anreize, einen Evaluationsprozess zu vermeiden und stattdessen via Vertrauensprinzip direkt in die Leistungspflicht zu gelangen.

Das per Anfang 2008 eingerichtete Meldeformular für neue Leistungen senkt die Hürden für eine Antragstellung, ändert aber an der Anreizstruktur der Antragsteller nichts Grundsätzliches.

Den Versicherern als potenzielle Kontrollinstanz fehlt der Überblick, fragliche Leistungen systematisch einer Evaluation zuzuführen; da sie Kostensteigerungen auf die Prämien überwälzen können und zur Konfliktvermeidung neigen, winken sie im Zweifelsfall eine Leistung eher durch, anstatt sie überprüfen zu lassen.

Die zuverlässige und rechtzeitige Identifikation und Evaluation fraglicher Leistungen sind vor diesem Hintergrund noch nicht hinreichend gewährleistet.

5639

Umstrittenheitsabklärung Die dem eigentlichen Verfahren vorgelagerte Triage in unbestrittene und von der ELK zu beurteilende Fälle ist grundsätzlich sinnvoll.

Die Grundlagen und Kriterien der Umstrittenheitsabklärung sind aber zu wenig klar dokumentiert, und die Triage wird nicht immer transparent gehandhabt. Auch fragt es sich, ob diese wichtige Vorselektion bei den Anspruchsgruppen nicht breiter abgestützt werden müsste.

Die Kassenpflicht von Leistungen, die als umstritten bezeichnet wurden, bedarf der Klärung.

Antragstellung Das Bringprinzip schützt die Zulassungsinstanzen vor aufwändigen Abklärungen; der Nachweis, dass eine Leistung die gesetzlichen WZW-Kriterien erfüllt, ist durch den Antragsteller zu erbringen.

Dadurch resultieren gewisse Chancenverzerrungen zugunsten finanziell starker und gut organisierter Akteure.

Die revidierten Formulare für die Antragstellung fragen die für Evaluation erforderlichen Informationen gezielter ab als frühere Vorgaben.

Das Antragsformular und das System an sich sind auf Einzelleistungen und einzelne Indikationen ausgerichtet. Die häufiger werdenden integrierten Leistungen sowie Leistungen ohne spezifischen Indikationenbezug sind mit dem heutigen System nicht angemessen zu erfassen.

Aufbereitung auf Stufe BAG, Expertenbeizug Die externen Reviewer, denen im Bringsystem ein wichtiger Gegenpart zu den Antragstellern zukommen müsste, haben in der Praxis zu wenig Gewicht.

Die Rekrutierungsbasis der externen Reviewer ist schmal und ausschliesslich national. Die Anonymität der Reviewer und der unangemessen tiefe Budgetrahmen führen zu Gutachten, die nicht dem internationalen Standard entsprechen.

Beurteilung auf Stufe ELK Trotz Druckversuchen interessierter Kreise operiert die ELK in der Regel sachorientiert und entscheidet auf der Grundlage der im Verfahren aufbereiteten Fakten.

«Politische» Empfehlungen zuhanden des EDI bleiben die Ausnahme.

Die ELK entscheidet je nach Fall auf einer soliden, manchmal aber auch auf einer dünnen Faktenbasis. Dies liegt auch daran, dass die ELK Innovationen oft früh im Technologiezyklus aufgreift.

Die Möglichkeit, Leistungen befristet und mit Evaluationspflicht aufzunehmen, ist sinnvoll. Die Vorgaben an die Evaluation sind aber nicht immer hinreichend präzis, und es erweist sich in der Praxis als schwierig, befristet
aufgenommene Leistung bei negativem Evaluationsergebnis aus der Kassenpflicht zurückzuweisen.

Die ELK macht von der Möglichkeit, mit Subkommissionen zu arbeiten, keinen Gebrauch.

5640

Die neu konstituierte ELGK hat bis dato keine gültige Geschäftsordnung. Eine solche wird aber nicht nur in Artikel 37b KVV verlangt, sondern ist angesichts der spärlichen Regulierung des Prozesses der Leistungsbezeichnung auch materiell dringend nötig.

Die für die Beurteilung der Leistungspflicht zentralen WZW-Kriterien nach Artikel 32 KVG sind nicht hinreichend konkretisiert, operationalisiert und dokumentiert.

Insbesondere für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit einer Leistung fehlt ein klarer Massstab, und diese spielt bei der Beurteilung gegenüber der Wirksamkeit eine deutlich untergeordnete Rolle.

Assessment und Appraisal sind in der Praxis institutionell nicht getrennt. Durch seine prägende Stellung im Verfahren nimmt das BAG auf das Appraisal Einfluss, während sich die ELK häufig um Einzelheiten des Assessments kümmert. Dadurch wird die wissenschaftliche Beurteilung einer Leistung mit der Beurteilung der Angemessenheit ihrer Finanzierung im Rahmen der OKP vermischt.

Für das Appraisal ­ die Beurteilung der Angemessenheit einer Leistung im gegebenen rechtlichen, finanziellen und ethischen Rahmen sowie im Hinblick auf Aspekte der öffentlichen Gesundheit ­ fehlen gesundheitspolitische und budgetäre Bezugsgrössen und Massstäbe.

Entscheidung auf Stufe EDI Das EDI vertraut in seiner Entscheidung in hohem Masse den vorberatenden Stufen und folgt in aller Regel den Empfehlungen der ELK.

In als schwierig erachteten Einzelfällen zieht das EDI zusätzliche Expertise bei, deren Herkunft nicht transparent ist.

Eine eigentliche strategische Führung und fachliche Aufsicht des EDI über die Bestimmung und Überprüfung der medizinischen Leistungen in der OKP findet nicht statt.

Reevaluation bestehender Leistungen Die periodische Überprüfung bestehender Leistungen nach Artikel 32 Absatz 2 KVG wird nicht oder nur ansatzweise umgesetzt.

Erklärt wird dies primär mit mangelnden Ressourcen. Gleichzeitig scheint der Auftrag der Reevaluation bestehender Leistungen bei den Zulassungsinstanzen, aber auch bei den Versicherern keine hohe Priorität zu geniessen.

In der Konsequenz werden überholte Leistungen nicht zuverlässig im Sinne von Artikel 32 Absatz 2 KVG aus der Kassenpflicht ausgeschlossen.

5641

Phasenübergreifende Aspekte Die wichtigsten Akteure sind im Verfahren vertreten und haben die Möglichkeit, ihren Standpunkt einzubringen.

Insgesamt sind die Zuständigkeiten im Verfahren zweckmässig definiert. Diskutabel ist jedoch die Mehrfachrolle des BAG. Dieses moderiert den Prozess, präsidiert die ELK, führt deren Sekretariat, rekrutiert die externen Experten, berät die ELK und das EDI und steuert die Vorselektion der Evaluationsgegenstände.

Die ELK hat vor diesem Hintergrund als Milizkommission eine schwache Stellung und ist bei der Auswahl der Evaluationsgegenstände und der Evaluation selbst stark vom BAG abhängig.

Im antragsgesteuerten Bringsystem fehlt eine unabhängige Instanz, welche die komplexen Sachverhalte neutral beurteilt und der ELK vorlegt. Angesichts mangelnder Ressourcen können weder das BAG noch die externen Reviewer diesen wichtigen Gegenpart zum Antragsteller wahrnehmen.

Gewisse strategische Aufgaben (Früherkennung potenzieller Evaluationsgegenstände, Reevaluation etc.) sind zwischen BAG, ELK und EDI nicht klar zugeteilt.

In der zuständigen Sektion Medizinische Leistungen des BAG besteht ein klares Missverhältnis zwischen Auftrag und Ressourcenausstattung.

Die sparsamen gesetzlichen Normen zur Leistungsbestimmung werden nicht hinreichend in verfahrensinternen Leitlinien und Standards konkretisiert.

Trotz gewissen Verbesserungen in jüngster Zeit sind die Kernprozesse, Entscheidungsgrundlagen und Kriterien des Verfahrens nicht ausreichend dokumentiert.

Es fehlt eine systematische Geschäftskontrolle der ELK-Geschäfte, die für eine angemessene Steuerung und das Controlling des Prozesses notwendig wären.

Die Kooperation zwischen den Akteuren ist generell als gut zu bezeichnen.

Die Zusammenarbeit zwischen den medizinischen Fachgesellschaften und den Zulassungsinstanzen kann noch verbessert werden, und das Vertrauensverhältnis zwischen Letzteren und komplementärmedizinischen Kreisen ist gestört.

Das Fernbleiben von H+ in der neuen ELGK widerspricht der gesetzlich definierten Zusammensetzung der Kommission.

Die internationale Zusammenarbeit wurde in jüngerer Zeit verbessert, aber es bestehen noch beträchtliche ungenutzte Synergiepotenziale, z.B. bei der Früherkennung fraglicher neuer Leistungen oder bei der Reevaluation bestehender Leistungen.

Die Aufbau- und Ablauforganisation
des Verfahrens der Leistungsbezeichnung sind schlank.

Anträge werden in nützlicher Frist behandelt, und mit positivem Ergebnis evaluierte Leistungen sind im internationalen Vergleich eher früh zugänglich.

Das System ist lernfähig und wurde seit in Krafttreten des KVG immer weiterentwickelt.

Das Verfahren ist nach aussen nicht transparent. Wichtige Entscheidungsgrundlagen und Teilergebnisse sind nicht öffentlich zugänglich.

5642

Zusammenfassend kommt die vorliegende Untersuchung zu einem gemischten Ergebnis. Die konzeptionellen Grundlagen des Systems und das Akteursarrangement sind im Grossen und Ganzen zweckmässig, das System geht mit Innovationen flexibel und differenziert um, die Zulassungsbehörden agieren in der Regel sachorientiert, und die Evaluationen laufen vergleichsweise rasch ab. Daneben werden vor allem auf der Ebene der Systemumsetzung auch deutliche Schwachstellen sichtbar: Das System filtert fragliche neue oder bestehende Leistungen nicht mit der erforderlichen Konsequenz und Schnelligkeit aus; die Beurteilungskriterien und -massstäbe sind nicht hinreichend klar, es fehlt eine unabhängige Instanz, welche die komplexen Sachverhalte zuhanden der ELK aufbereitet, Assessment und Appraisal sind nicht hinreichend getrennt, und das Verfahren ist nach aussen nicht genügend transparent.

5643

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EDI, 2002: Soziale Krankenversicherung, Analyse, Bundesratsklausur vom 22. Mai 2002, Bern.

EDI, 2005: Krankenversicherung: Fünf komplementärmedizinische Leistungen werden nicht in die Grundversicherung aufgenommen, Medienmitteilung vom 3. Juni 2005.

EFK, 2007: Bundesamt für Gesundheit, Projektmanagement Programm Evaluation Komplementärmedizin (PEK) 2002­2005, Bern, unveröffentlichtes Dokument.

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Anhang 1

Verzeichnis der Interviewpartner/innen Leitfadeninterviews Brunner, Hans Heinrich de Haller, Jacques Ferroni, Bruno Guetg, Reto Gurtner, Felix Indra, Peter Kaufmann, Stefan Kuhn, Hanspeter Laufer, Daniel Pfammatter, Jürg Schneider, Sandra Ziltener, Erika Züllig, Maya

ehem. Präsident FMH, ehem. Vizedirektor BAG, ehem.

ELK-Präsident Präsident FMH, Mitglied ELK Union schweizerischer komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen, Mitglied ELGK, Gründungsmitglied der Initiative «Ja zur Komplementärmedizin» Vertrauensarzt santésuisse, Mitglied ELK stv. Leiter Sektion medizinische Leistungen, BAG Vizedirektor BAG, Leiter Direktionsbereich Krankenund Unfallversicherung, Präsident der ELK Direktor santésuisse stv. Generalsekretär FMH Kantonsarzt Kanton Waadt, ehem. Mitglied der ELK Fachreferent Gesundheit und Soziales, Generalsekretariat EDI Leiterin Abteilung Leistungen, BAG Präsidentin Dachverband schweizerischer Patientenstellen, Mitglied der ELK Leiterin Sektion medizinische Leistungen, BAG

Explorative Interviews Breyer, Elisabeth Britt, Fritz Gurtner, Felix Gyger, Pius Mitscherlich, Florian Kuhn, Hanspeter Kessler, Margrit Luginbühl, Rudolf Stüdeli, Walter Wild, Claudia

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Ludwig Boltzmann Institut für HTA, Wien ehem. Direktor santésuisse, ehem. Vizedirektor BAG, ehem. Präsident der ELK stv. Leiter Sektion medizinische Leistungen, BAG Leiter Gesundheitsökonomie und -politik, Helsana Krankenversicherung CEO ICHI GmbH (Institute for Collaborating HTA and Implementation) stv. Generalsekretär FMH Präsidentin Stiftung SPO Patientenschutz, ehem. Mitglied der ELK Ombudsmann der sozialen Krankenversicherung Geschäftsführer Köhler, Stüdeli & Partner, Nationale Medienstelle Volksinitiative «Ja zur Komplementärmedizin» Leiterin Ludwig Boltzmann Institut für HTA, Wien

Anhang 2

ELGK, Zusammensetzung Stand 2008 Name, Vorname

Beruf, Funktion

Indra, Peter Baumann, Max Bille, Jacques Burnand, Bernard Centlivres, Delphine Decollogny, Anne Ferroni, Bruno Guetg, Reto Hayoz, Philippe Keberle, Silva Kocher, Thomas Pesenti, Patrizia Roos, Andreas Seiler, Beat

Dr. med., Vizedirektor BAG, Präsident ELK Prof. Dr. iur., Rechtsanwalt Professeur ordinaire Dr en méd.

Avocate, Secrétaire générale FRC Pharmacienne diplômée Dr en méd., médecin général FMH, homéopathe SSMH Dr. med., Vertrauensarzt Betriebsökonom Dr. med.

Prof. Dr. med.

Consigliere di Stato Dr. med., MHA, Leiter Departement Produkte Dr. med., FMH Allgemeine Medizin, MHA, Vertrauensarzt Dr. med., Facharzt FMH für Chirurgie, Chefarzt SVV Dr. med., Spezialärztin für Innere Medizin, Oberärztin am Kantonsspital Basel Sozialversicherungsfachfrau, MHA, Leiterin Ressort Schaden Historikerin, Pflegefachfrau, Präsidentin des Dachverbandes Schweiz. Patientenstellen (DVSP) Dr en méd., Président de la FMH Dr. iur., Rechtsanwältin

Soltermann, Bruno Stöhr, Susanna Trachsel, Valeria Ziltener, Erika de Haller, Jacques von der Crone, Brigitte

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Impressum Durchführung der Untersuchung Janett, Daniel: Projektleitung Slembeck, Tilman, Prof. Dr.: Projektmitarbeit, insbes. bei Untersuchungskonzept, Interviews, Fallstudien, internationaler Vergleich Locher, Heinz, Dr.: Coaching und Qualitätssicherung Dank Die PVK dankt allen Interviewpartnern für ihre Auskunftsbereitschaft und der Sektion Medizinische Leistungen des BAG, namentlich Herrn Dr. Felix Gurtner, für die Bereitstellung der umfangreichen Dokumentation.

Kontakt Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) Parlamentsdienste CH-3003 Bern Tel. +41 31 323 09 70 Fax +41 31 323 09 71 E-Mail pvk.cpa@pd.admin.ch www.parlament.ch > Kommissionen > Aufsichtskommissionen Originalsprache des Berichts: deutsch

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