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Kreisschreiben des

Bundesrates an sämtliche Kantonsregierungen, betreffend die Ausführung von Art. 65, Abs. 2, der Bundesverfassung (Verbot der körperlichen Strafen).

(Vom 25. Mai 1894.)

Getreue, liebe Eidgenossen !

Die Herren. Jeanhenry und Mitunterzeichner haben mit ihrer Interpellation im Nationalrate vom 16. Juni 1893 die Aufmerksamkeit des Bundesrates auf die Thatsache hingelenkt, daß die Bestimmung von Artikel 65 der Bundesverfassung, wonach die körperlichen Strafen untersagt sind, nicht in allen Schweizerkantonen beobachtet werde.

Wir wollen den Befugnissen des Bundesgerichts, dem unzweifelhaft kraft Artikel 175, Ziffer 3, des Gesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege die Aufgabe zukommt, die Beobachtung der vorerwähnten Verfassungsbestimmung zu überwachen und insbesondere allfällige hierauf bezügliche Beschwerden zu beurteilen, nicht zu nahe treten, glauben aber doch, diese Angelegenheit Ihrer "Würdigung unterbreiten zu sollen.

Wir ersuchen. Sie deshalb, die Frage zu prüfen, oh Ihre Gesetzgebung und Ihre Verordnungen mit Artikel 65 der Bundesverfassung im Einklänge stehen, und, wenn dies nicht der Fall sein sollte, ob es nicht am Platze wäre, diese Übereinstimmung herzustellen.

Unserer Ansicht nach ist das in Artikel 65 der Bundesverfassung aufgestellte Verbot der körperliehen Strafen (Prügelstrafe) ein unbeschränktes und bezieht sich ebensowohl auf die als Disciplinarmittel angewandten körperlichen Züchtigungen, als auf die eigentlichen, vom Richter ausgesprochenen körperlichen Strafen.

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Diese Auslegung ergiebt sich unseres Erachtens aus der Diskussion über den Antrag des Herrn Eytel, die im Nationalrat am 19. Dezember 1871 stattgefunden hat.

Die Kommentatoren unseres Strafrechts seheinen der nämlichen Ansicht zu sein (siehe insbesondere : Stooß, ,,Grundzuge des schweizerischen Strafrechts", Band I, Seite S8 und 59).

Diese Anschauung wird übrigens von der großen Mehrheit der schweizerischen Kantone geteilt, denn die meisten derselben haben seit 1874 ihre Gesetzgebung in diesem Sinne den Bestimmungen der Bundesverfassung angepaßt.

Endlich ist diese Auslegung wohl auch diejenige, welche allein der Entwicklung unserer Kultur und geläuterten Ansichten über das Recht zu strafen entspricht.

Die wohlwollende Aufnahme, welche das Kreisschreiben des Bundesrates vom 27. Dezember 1869, betreffend die Anwendung körperlicher Strafen gegenüber Angeklagten, bei allen Kantonsregierungen gefunden hat, ermutigt uns, heute in gleicher Weise vorzugehen. Wir zweifeln nicht daran, daß die Kantone heute ebenso einmütig geneigt sein werden, einen Verfassungsartikel in richtiger Weise anzuwenden, als sie im Jahre 1869, zu einer Zeit also, wo noch keinerlei Verfassungabestimtnung hierüber bestand, sich bereit erklärt hatten, auf die Anschauungen der Bundesbehörde einzugehen.

Wir unterbreiten deshalb zutrauensvoll diese Frage den Kantonsregierungen und benutzen im übrigen auch diesen Anlaß, um Sie, getreue, liebe Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 25. Mai 1894.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

E. Frey.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Kreisschreiben des Bundesrates an sämtliche Kantonsregierungen, betreffend die Ausführung von Art. 65, Abs. 2, der Bundesverfassung (Verbot der körperlichen Strafen).

(Vom 25. Mai 1894.)

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1894

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30.05.1894

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687-688

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