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Bundesrathsbeschluß über

die Rekursbeschwerden betreffend die Großrathswahlen vom 3. März 1889 im tessinischen Wahlkreise Bellinzona.

(Vom 21. Juli 1891.)

Der schweizerische Bundesrath hat

in Sachen der Rekursbeschwerden betreffend die Großrathswahlen vom 3. März 1889 im tessinischen Wahlkreise Bellinzona nach dem Bericht des Justiz- und Polizeidepartements folgenden T h a t b e s t a n d gefunden: A. Betreffend die Gemeinde Bellinzona.

I. Mittelst gedruckten, handschriftlich ausgefüllten Formulars d. d. 5. Februar 1889 verlangte Von Mentlen, Carlo, beim Regierungskommissär, daß auf das Stimmregister dieser Gemeinde für die Großrathswahlen vom 3. März u. A. noch a u f g e n o m m e n werden : Christen, Isidoro, fu Antonio, von Andermatt, und Bernasconi, Elvezio, di Giorgio, von Carona.

Die Munizipalität antwortete darauf: Bernasconi hat uns gestern die in Abschrift mitfolgende Erklärung übergeben, daß er in Carona auf dem Stimmregister steht, wo er den letzten Sonntag an den Munizipalitätswahlen Theil genommen habe. Er hat uns auch mündlich erklärt, daß er sein dortiges Domizil beizubehalten gedenke. Er hat auch in der That

1161 hier keinen bleibenden Wohnsitz, hat seine Gegenwart auch nicht angezeigt und keinerlei Steuern bezahlt.

Christen ist erst seit dem 16. Dezember 1888 hier, wie seine Aufenthaltskarte vom 19. desselben Monats, für einen halbjährigen Aufenthalt ausgestellt, zeigt.

Mit Dekret vom 12. Februar erklärte der Kommissär: Christen hat sein Domizil seit mehreren Jahren in Bellinzoua, geht nur ein paar Monate im Jahr fort als Kutscher und hat auch schon da gestimmt.

Bernasconi ist in Bellinzona domizilirt, hat in Carona mit Unrecht gestimmt; es liegt nicht in der Willkür des Bürgers, sein Stimmrecht da oder dort auszuüben.

Diese Beiden sind also in Bellinzona einzutragen, der Munizipalität von Carona wird die Streichung von Bernasconi befohlen.

Hiegegen rekurrirte die Munizipalität an den Staatsrath unter Verweisung auf ihre dern Kommissär gemachten Bemerkungen, denen sie beifügte: Christen. Hier liegt wahrscheinlich ein Irrthum in der Person vor. Der Kommissär spricht von einem Christen, Isidoro, fu Antonio, während der Vater des streitigen Bürgers Antonio, fu Giuseppe Maria, noch am Leben ist und an Abstimmungen Theil genommen hat; der Sohn Jsidoro hat nie gestimmt, ist niemals eingeschrieben gewesen, hat nie ein testatico bezahlt, besitzt keine Niederlassungsbewilligung und hält sich nur vorübergehend seit einiger Zeit bei seinem Vater auf, leistet auch seinen Militärdienst im Kanton Uri.

Bernasconi hat in seiner dern Kommissär eingereichten Erklärung ausdrücklich angegeben, daß er in Bellinzona nur vorübergehend Aufenthalt zu nehmen beabsichtige. Nach Art. 2 des Gesetzes vom 15. Juli 1880 soll der Bürger, der sich in eioer Gemeinde niederlassen will, der Munizipalität ein Zeugniß darüber vorweisen, daß er im Besitze des Aktivbürgerrechtes sei Bernasconi hat das mit Absicht nicht gethan. Er hat seine Familie und seine Hauptinteressen in Carona.

Eine Abschrift dieser Eingabe wurde dem Bundesrathe eingereicht.

V o n m e n t l e n entgegnete: Christen ist in Bellinzona domizilirt seit 1887; wenn er keine Steuern bezahlt hat, so geschah dies, weil man keine von ihm verlangt hat.

1162 Bernasconi. Wenn er der Munizipalität erklärt hat, daß er sein Domizil in Carona beibehalten wolle, hat er Andern das Gegentheil erklärt; daß er im Januar in Carona gestimmt hat, ist unerheblich, da er in der That erst seit wenigen Monaten in Bellinzone dornizilirt ist.

Der S t a a t s r a t h erklärte: Christen. Es ist notorisch, daß er in Bellinzona bei seiner Familie domizilirt ist. Diese zahlt regelmäßig die Steuern. Wenn die Munizipalität vergessen hat, von ihm ein testatico zu verlangen, so kann er darunter nicht leiden.

Bernasconi. Er ist seit mehr als 3 Monaten domizilirt in Bellinzona, vgl. Art. 2, lemma 2, des Gesetzes vom 15. Juli 1880, Ziffer 4 in fine des Zirkulars vom 28. Januar 1881.

Demgemäß sind die beiden Genannten einzutragen.

Die Untersuchung des B u n d e s d e l e g i r t e n hat Folgendes ergeben : Christen, Isidor, von Andermatt, Sohn des lebenden Antonio, Kutscher, hat nie Steuern bezahlt, besitzt keine Niederlassungskarte, hält sich immer nur vorübergehend (saltuariamente) in Bellinzona auf. Er kam nach Bellinzona am 16. Dezember 1888, ist unverheiratet.

Bernasconi, Elvezio, di Giorgio, Angestellter in der katholischen Buchhandlung, von Carona, in Bellinzona seit Ende September 1888, unverheiratet, hat bis dahin in Bellinzona keine Steuern bezahlt.

Auf die Frage an Bernasconi, warum er sich nicht bei der Munizipalität präsentirt habe, antwortete er, er habe nicht die Absicht, in Bellinzona zu bleiben und wolle daher hier nicht eingeschrieben sein, darum habe er auch 2--3 Wochen vorher in Carona gestimmt.

Nach dem amtlich publizirten Protokoll der Verhandlungen des tessinischen Großen Rathes vom 8. Mai 1889, pag. 230, erklärte in dieser Sitzung auch der Abgeordnete Gabuzzi, daß C h r i s t e n in Bellinzona nur die bloße Aufenthaltskarte erhalten habe.

U. Mittelst gedruckten, handschriftlich ausgefüllten Formulars, d. d. 5. Februar 1889, verlangte der Gendarmeriekommandant L. Righini beim Kommissär die A u f nah m e von Pedrazzi, Giovanni, von Intragna, Sergeant der Kantonalpolizei, stationirt in Bellinzona, und 12 anderen daselbst stationirten Polizeisoldaten, welche hier nicht weiter in Frage kommen.

Die Munizipalität widersetzte sieh derselben mit der Bestreitung, daß Pedrazzi in Bellinzona sein Domizil habe, und unter Verweisung auf das Gesetz vom 15. Juli 1880.

1163 Der Regierungskommissär jedoch ordnete die Aufnahme an mit der Begründung, daß dieses Gesetz auf Polizeimannschaften keine Anwendung finde, weil es ihnen nicht möglich sei, ein festes Domizil zu begründen, und ihr Dienst sie auch daran hindere, in ihre Heimat zu gehen, um ihr Stimmrecht auszuüben; ja die Ausübung desselben außerhalb ihres Stationsortes sei ihnen gar nicht zu gestatten.

Hiegegen rekurrirte die Munizipalität an den Staatsrath, indem sie zugleich den Bundesrath um seinen Schutz anrief. Sie legte ihrem Rekurse ein Dekret des Staatsrathes vom 28. Februar 1881 bei, in welchem gesagt wird : ,,Der Staatsrath hat als allgemeine Regel aufgestellt, daß die Polizeisoldaten ihr Wahlrecht nicht da auszuüben haben, wo sie stationirt sind, sondern in ihrer Heimat, beziehungsweise da, wo sie, wie jeder andere Bürger, ihr dauerndes Domizil aufgeschlagen, mit ihren Familien sich niedergelassen haben, was auch für die Grenzwächter gilt."

Der Staatsrath bestätigte das Dekret des Kommissärs.

Die Untersuchung des Bundesdelegirten hat ergeben : Pedrazzi, seit einem Jahr in Bellinzoua, hat seine Familie in Brissago, hat in Bellinzona nie irgend welche Steuern bezahlt.

III. Mit Eingabe vom 8. März 1889 vvandteu sich an den Buudeskommissär folgende Bürger: Egger, Giovanni, von Capolago, Zugführer, Meroni, Griov., di Benigno, von Muralto, Eisenbahuangestellter, Pflffner, Anton, di Anton, von Mels (St. Gallen), Eisenbahnangestellter, Hofstetter, Jakob, Schriftsetzer, Carminé, Paolo, fu Venauzio.

Sie brachten vor, sie haben erst in letzter Stunde zu ihrem Erstaunen erfahren, daß sie nicht auf dem Stimmregister von Bellinzona stehen, wo sie doch dornizilirt seien und die Gremeindelasten tragen; sie protestiren gegen ihre Ausschließung.

Meroni fügt ein Zeugniß der Munizipalität von Muralto d. d.

15. Februar bei, wonach er dort nicht auf dem Stimmregister steht.

Die Untersuchung des Bundesdelegirten ergab: Egger wohnt in Bellinzona seit 3 Jahren und zahlt dort die Steuern; er erklärt, er habe vor 10 bis 11 Monaten die Munizipalität mündlich angefragt, ob er in Bellinzona oder in Capolago zu stimmen habe; es sei ihm geantwortet worden, er sei in Bei-

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linzona eingeschriebea. Der Sindaco erklärt, er sei vergessen worden, ·habe sich dann am 7. oder 8. Februar gemeldet, es sei »ber eben 7M spät gewesen.

Moroni hat seine Familie in Bellinzona und zahlt da die Steuern, wurde ebenfalls von der Munizipalität vergessen und präsentirte sich erst am 7. oder 8. Februar.

Pfiffner wohnt seit mehr als 3 Jahren in Bellinzona, aber ohne Niederlassungsbewilligung, erschien auf der Munizipalität am 20. Februar; es wurde ihm gesagt, daß es zu spät sei.

Hofstetter, von Utznach, seit einem Jahre mit Niederlassungsbewilligung in Bellinzona wohnhaft, unverheirathet, zahlt dort die Steuern, wurde ebenfalls im Stimmregister vergessen und erschien zu spät hei der Munizipalität, um noch eingesehrieben werden zu können.

Vor dem Bnndesdelegirteu wurde ferner Beschwerde darüber geführt, daß Moreri, Carl«, fu Giuseppe, in Bellinzona mit Familie wohnend und daselbst die Steuern zahlend, Sindaco von Signóra, in Bellinzona gestrichen worden sei. weil in Signora eingeschrieben; sein Sohn aber habe in Bellinzoua gestimmt: in Bellinzona seien alle im Auslande domizilirten Bürger eingeschrieben worden, so 6 Familienglieder des apostolischen Vikars Molo, die in Mailand wohnen.

B. Betreffend die Gemeinde Darò.

IV. Am 8. März 1889 reichte Antouioli, Pietro, fu Giuseppe, von Taverne, dem Bundeskommissär eine Protestation ein, welche mit der unter Nr. III erwähnten im Wesentlichen gleichlautend ist.

Nach fier Untersuchung des Buuclesdelemirtcn ist Antouioli, Eisenhahnkoudukteur, seit Jahren in Darò wohnhaft, war dort immer im Stimmregister eingetragen, stimmte auch daselbst und zahlt dort seine Steuern, wurde aber diesmal von der Munizipalitätskanzlei vergessen und reklamirte erst am Wahltage selbst hiegegen.

C. Betreffend die Gemeinde Lumino.

V. Das kantonale liberale Kornite in Lugano übermittelte dem Bundesrathe eine an dasselbe gerichtete Zuschrift, d. d. 4. Marx 1889, welche sich darüber besehwert, daß 12 mit N;imen genannte Bürger in dieser Gemeinde nicht auf dus Stimmregister genommen worden seien, obgleich daselbst domiziliii und mit den Steuern vollkommen in Ordnung. Zwei von ihnen, Della Monica, Luigi, und Bronzini, Ernesto, haben schon hei der Wahl Verhandlung seihst gegen ihren Ausschluß protestili.

1165 D. Betreffend den ganzen Wahlkreis.

Auf das Wahlresultat dieses Wahlkreises kann die Entscheidung über die im Obigen behaupteten und bestrittenen Stimmrochte bei dem großen Unterschiede zwischen der Stimmenzahl der Gewählten und derjenigen ihrer Gegenkandidaten von keinem Einflüsse sein.

Der B u n d e s r a t h zieht in Erwägung: 1. Betreffend C h r i s t e n . Der Staatsrath des Kantons Tessin hat selbst durch ein Dekret vom nämlichen Tage, an welchem er die Aufnahme Christens in's Stimmregister von Bellinzona verfügte, erklärt, daß die Bürger Seiler und Lutiger in Biasca nicht aufgenommen werden können, weil sie nicht eine Niederlassungsbewilligung, sondern nur eine Aufenthaltskarte verlangt und erhalten haben, und es kann gegen diese Argumentation nichts eingewendet werden. Die durch die Bundesverfassung garantirle Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze verlangt aber, daß das gleiche Recht auch gegenüber Christen in Anwendung gebracht werde, und dieser ist daher auf dem Stimmregister von Bellinzona zu s t r e i c h e n .

2. Betreffend B er n äs co n i. Es steht fest, daß dieser Bürger am Orte seines bisherigen Domizils sich noch nicht vom Stimmregister hat streichen, in Bellinzona noch nicht aufnehmen lassen, an ersterem Orte vielmehr noch an der letzten Abstimmung, kurz vor dem 3. März, Theil genommen hat ; der Erklärung der Munizipalität, er habe ihr angezeigt, er wolle in Bellinzona nicht bleiben, ist amtlicher Glaube beizumessen, und es steht dem Kommissär und dem Staatsrath nicht an, sie zu bezweifeln; mit ihr steht in Uebereinstimmung, daß ßernasconi in Bellinzona weder Gemeinde- noch Kantonalsteuern bezahlt hat, sie dagegen in Carona bezahlt, da sie am Orte des Domizils bezahlt werden müssen. Er hat nach der Erklärung der Munizipalität seine Angehörigen in Carona, während er selbst unverheirathet ist. Es ist daher klar, daß er sein Domizil in der That in Carona beibehalten hat, und er ist demnach in Bellinzona zu s t r e i ch en.

3. Betreffend P e d r a z z i . Davon kann keine Rede sein, daß ein für alle Bürger erlassenes Gesetz von einem Regierungskommissär aus irgend welchen Gründen nach seinem Belieben im einzelnen Kali für nicht anwendbar erklärt werden dürfe. Daß der Polizeisoldat sein wahres Domizil nicht am Orte, wo er stationirt ist, hat, sondern da, wo er seinen Haushalt führt und seine Familie hat, ist von diesseitiger Stelle anläßlich der Rekurse des Bnndesblatt. 43. Jahrg. Bd. III.

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1166 Wahlkreises Locamo ausgeführt, übrigens auch vom tessinischen Staatsrathe schon im Jahre 1881 ganz richtig erkannt worden. Bei Pedrazzi ist dieser Ort aber Brissago und nicht Bellinzoaa, und er ist daher an letzterem Orte zu s t r e i c h e n .

4. Was die Reklamationen betreffend andere vom Kommissär in Bellinzona ausgeschlossene oder aufgenommene Bürger betrifft, so kann auf dieselben nicht eingetreten werden, weil diesfalls nicht vorher der kantonale Instanzenzug durchgemacht, ja nicht einmal an den Regierungskommissär rekurrirt worden ist. Das Nämliche gilt mit Bezug auf die Reklamationen aus den Gemeinden Darò und Lumino.

Demnach hat der Bundesrath beschlossen: 1. Die Rekurse sind mit Bezug auf die Eintragung der Bürger Christen, Bernasconi und Pedrazzi in das Stimmregister von Bellinzona begründet:, im Uebrigen wird auf dieselben nicht eingetreten.

2. Mittheilung an den Staatsrath des Kantons Tessin für sich und zu Händen der beteiligten Behörden und Bürger.

B e r n , den 21. Juli

1891.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

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Bundesrathsbeschluß über die Rekursbeschwerden betreffend die Großrathswahlen vom 3.

März 1889 im tessinischen Wahlkreise Bellinzona. (Vom 21. Juli 1891.)

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