10.086 Bericht des Bundesrates über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik (in Beantwortung des Postulats Markwalder [09.3560] «Europapolitik.

Evaluation, Prioritäten, Sofortmassnahmen und nächste Integrationsschritte») vom 17. September 2010

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Wir unterbreiten Ihnen den vom Postulat 09.3560 Markwalder gewünschten Bericht zur Kenntnisnahme.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

17. September 2010

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Doris Leuthard Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2010-1419

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Übersicht Mit dem vorliegenden Bericht entspricht der Bundesrat einem von Nationalrätin Markwalder eingereichten Postulat1, das ihn beauftragt, die Vor- und Nachteile der europapolitischen Instrumente zu evaluieren sowie einen Prioritätenkatalog mit konkreten Massnahmen für die künftige Europapolitik der Schweiz vorzulegen.

In der vorliegenden Studie untersucht der Bundesrat, aufbauend auf seinem Europabericht 20062 und seinem Aussenpolitischen Bericht 20093, die verschiedenen europapolitischen Instrumente im Lichte der eingetretenen Entwicklungen und unter dem Aspekt der bestmöglichen Interessenwahrung. Dabei geht er von den Kriterien aus, die er im Europabericht 2006 aufgestellt hatte (Ziff. 1.1). Diese lauten: 1.

Teilnahme an der Entscheidungsfindung: Die Schweiz besitzt einen angemessenen Grad an Mitentscheidung im Rahmen der bilateralen Verträge mit der EU und hat einen genügenden Handlungsspielraum für eigene Politiken.

2.

Aussenpolitische Machbarkeit: Die EU ist bereit, zu bilateralen sektoriellen Lösungsansätzen Hand zu bieten.

3.

Wirtschaftliche Rahmenbedingungen: Die wirtschaftlichen ­ namentlich auch monetären ­ Rahmenbedingungen verändern sich nicht zum Nachteil der Schweiz.

Kontext und aktuelle Entwicklungen (Ziff. 1.3) Obwohl der Anteil Europas an der globalen Bevölkerung und Wirtschaftsleistung abnimmt, bleibt die EU die grösste Volkswirtschaft der Welt und die dominierende Macht auf dem Kontinent. Als bedeutsame Handelsmacht, als geografische Nachbarin und als Institution, die in zunehmendem Mass Normen mit internationaler Geltung schafft, stellt sie einen zentralen Bezugspunkt für die Aussenpolitik und die Aussenwirtschaftspolitik der Schweiz dar. Eine aktive, sich an die stets wandelnden Bedürfnisse anpassende Europapolitik ist für die Schweiz umso mehr von zentraler Bedeutung, als die EU vermehrt auch in Bereichen tätig wird, die traditionell in den Zuständigkeitsbereich von Organisationen gehören, bei denen die Schweiz Vollmitglied ist.

Mit dem Vertrag von Lissabon4 (Ziff. 1.3.2.1) hat die EU einen weiteren wichtigen Schritt in Richtung Vertiefung und Verstärkung ihrer Union getan. Sie wird durch vereinfachte Entscheidungsverfahren (Prinzip der qualifizierten Mehrheit) handlungsfähiger. Durch die aufgewertete Rolle des Europäischen Parlaments verstärkt sich auch die demokratische Kontrolle.

1 2 3 4

Postulat Markwalder Bär (09.3560) «Europapolitik. Evaluation, Prioritäten, Sofortmassnahmen und nächste Integrationsschritte».

Europabericht 2006 vom 28. Juni 2006, BBl 2006 6815 ff.

Aussenpolitischer Bericht 2009 vom 2. Sept. 2009, BBl 2009 6291 ff.

ABl. C 115 vom 9. Mai 2008.

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Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ist auch die Gemeinschaftswährung Euro unter Druck geraten (Ziff. 1.3.2.2). Es ist denkbar, dass das Problem der wirtschafts- und fiskalpolitischen Diskrepanzen in der Euro-Zone, die der Krise zugrunde liegen, über einen erneuten, bedeutenden Integrationsschritt gelöst wird, welcher die Staaten der EU ­ oder zumindest der Euro-Zone ­ einer politischen Union näher bringt. Die mit der EU aufs Engste verflochtene Schweizer Exportwirtschaft sieht sich mit neuen Unsicherheiten konfrontiert, sowohl was die zukünftige Wirtschaftsdynamik der wichtigsten Handelspartnerin als auch was den Wechselkurs des Euro gegenüber dem Schweizerfranken betrifft.

Auch im bilateralen Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU haben sich in den letzten Jahren eine Reihe von Entwicklungen ergeben, die unter Ziffer 1.3.3 beschrieben werden.

Analyse der jüngsten Entwicklungen im Lichte der drei Kriterien (Ziff. 2) Die Analyse der Situation in Bezug auf die drei Kriterien zeigt eine klare Tendenz zur Erosion des Handlungsspielraums der Schweiz im bilateralen Verhältnis mit der EU.

Zwar ist die EU im Grundsatz nach wie vor interessiert am Abschluss bilateraler sektorieller Abkommen, verlangt aber nicht nur die vollständige Übernahme des relevanten Rechtsbestandes («acquis communautaire»), sondern auch von dessen Weiterentwicklungen. Zudem stellen sich vermehrt gewisse Fragen betreffend die Überwachung sowie die Gerichtsbarkeit im Falle unterschiedlicher Anwendung und Interpretation der Abkommen.

Ein weiteres Problem ist die Rechtssicherheit. Aufgrund der raschen Rechtsentwicklung in der EU besteht für Schweizer Anbieter beim Zutritt zum EU-Markt jederzeit das Risiko, als Drittstaatsangehörige von Hindernissen betroffen zu sein, sei es, weil die EU in Bereichen legiferiert, die nicht von bilateralen Abkommen abgedeckt sind, sei es, weil in einem Bereich, der von einem bilateralen Abkommen betroffen ist, eine Weiterentwicklung des EU-Rechtsbestandes stattgefunden hat, die nicht ins entsprechende Abkommen übernommen wurde.

Diese Entwicklungen dürften den bilateralen Weg nicht verunmöglichen. Angesichts der überaus engen Beziehungen kann davon ausgegangen werden, dass beide Seiten ein Interesse haben, vertragliche Lösungen zu suchen und diese den sich verändernden Gegebenheiten
anzupassen. Die jüngsten Entwicklungen vermindern aber die Handlungsspielräume der Schweiz und erschweren somit den Abschluss neuer Abkommen.

Analyse der Herausforderungen für die europapolitischen Instrumente der Schweiz (Ziff. 3) Die folgenden sechs europapolitischen Optionen ­ die Szenarien «Alleingang» und «Zollunion» werden von vornherein als wenig realistisch beurteilt und von der Analyse ausgeschlossen (Ziff. 3.2) ­ werden im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf gewisse Schlüsselthemen wie z.B. die schweizerischen Institutionen, den Parallelismus zwischen den einzelnen Verhandlungsdossiers, die Forderungen der EU im

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Steuerbereich, den Marktzutritt, die Wirtschafts- und Geldpolitik sowie die Sozialund Umweltpolitik analysiert; auch werden die Kosten jeder Option grob geschätzt.

Weiterführung des bilateralen Wegs ohne neue Abkommen (Ziff. 3.3) Der bewusste Verzicht auf neue Abkommen, unter Beibehaltung und Entwicklung der bestehenden, könnte vordergründig die Problematik des Parallelismus abschwächen. Dies würde potenziellen Druck aber nur scheinbar abfedern, da die EU bei nötigen Weiterentwicklungen bestehender Abkommen Forderungen stellen und im Extremfall gar mit der Kündigung bestehender Abkommen drohen könnte. Der bestehende Marktzugang zur EU könnte erodieren, bspw. aufgrund regulatorischer Entwicklungen in der EU, sodass ein Festhalten am vertraglichen Status quo potenziell zu einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen führen könnte. Die wirtschafts- und geldpolitische Autonomie bliebe erhalten, der faktische Anpassungsdruck wäre aber nicht gemindert.

Weiterführung und Ausbau des bilateralen Wegs (Ziff. 3.4) Wenn der bilaterale Weg weitergeführt und ausgebaut werden soll, d.h. wenn in Bereichen von gegenseitigem Interesse neue Verhandlungen in Angriff genommen werden, gilt es, den Kontext der sich entwickelnden Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU zu berücksichtigen. Dabei muss ein Gleichgewicht zwischen einer wirksamen Anpassung der Abkommen an die Weiterentwicklungen des EU-Rechtes und der Wahrung der schweizerischen Souveränität gefunden werden.

Für die Schweiz ist jeder Automatismus bei der Übernahme von Rechtsentwicklungen ausgeschlossen; sie erhebt den Anspruch, an sie betreffenden Entscheidungen beteiligt zu sein («decision shaping»), und die innenpolitischen Entscheidungsprozesse, inkl. Referendumsmöglichkeit, müssen respektiert werden. Falls die Schweiz eine Weiterentwicklung nicht übernimmt, sollen angemessene Ausgleichsmassnahmen möglich sein, ohne aber im Grundsatz die Kündigung des ganzen Abkommens nach sich zu ziehen. Diese Prinzipien, für die es in einigen bestehenden Abkommen bereits Vorbilder gibt, sollen bei jeder neuen Verhandlung mit der EU zur Anwendung kommen. Auch bezüglich der Überwachung und der Gerichtsbarkeit im Falle unterschiedlicher Anwendung und Interpretation der Abkommen sollen Lösungen gefunden werden. Angesichts der Tatsache, dass beide Seiten
ein Interesse an einer homogenen Auslegung der Verträge haben, sollte dies möglich sein.

Auf der Ebene der Institutionen und des Föderalismus könnte es sinnvoll sein, bei einer allgemeinen Einführung dieser Prinzipien gewisse Reformen anzudenken, um eine optimale Wahrung der schweizerischen Interessen sowie ein gutes Funktionieren der Abkommen sicherzustellen.

Mit dem Vertrag von Lissabon ist der Kreis der für die Schweiz relevanten Akteure innerhalb der EU gewachsen. Insbesondere das Europäische Parlament erhält neue Kompetenzen beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge. Kontakten zum Europäischen Parlament im Vorfeld von für die Schweiz relevanten Entscheidungen kommt daher eine besondere Bedeutung zu.

Eine erfolgreiche Weiterführung des bilateralen Wegs bedingt eine Ausgewogenheit der Interessen beider Parteien im Gesamtzusammenhang ihrer bilateralen Bezie-

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hungen. Dies bedeutet, dass die Schweiz bei ihren Bemühungen um neue Abkommen in Bereichen, die für sie von Interesse sind, auch die Anliegen der EU, etwa im Steuerbereich, beachten muss. Andererseits sind von der EU vorgebrachte Anliegen durch unser Land ebenfalls in den erwähnten Gesamtkontext der Beziehungen zu stellen. In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis von Bedeutung, dass sich die Schweiz als solidarische Partnerin bei der Verfolgung der gemeinsamen europäischen Ziele einbringt, etwa durch wichtige Infrastrukturarbeiten (NEAT), und dass sie durch ihre Teilnahme an multilateralen Friedensmissionen die Schaffung von Frieden und Wohlstand auf dem Kontinent unterstützt. Und schliesslich leistet sie einen Beitrag zur Verminderung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten im erweiterten Europa.

Der Ausbau des bilateralen Wegs umfasst namentlich auch den Abschluss von Abkommen zum verbesserten gegenseitigen Marktzutritt beider Partner. Verhandlungen laufen in den Bereichen Energie sowie Landwirtschaft, Produktesicherheit, Lebensmittelsicherheit und öffentliche Gesundheit. Eine Zusammenarbeit im Chemikalienbereich (REACH) ist in Diskussion. In diesen Bereichen ist ein autonomer Nachvollzug allein nicht ausreichend. Die sich ständig weiterentwickelnden Rechtsbestimmungen der EU setzen die Schweizer Wirtschaft dem ständigen Risiko einer Diskriminierung aus und sind so Quelle von Rechtsunsicherheit, der es durch den Ausbau des bilateralen Vertragswerks zu begegnen gilt.

Auch bei einem Ausbau des bilateralen Wegs bleibt die Schweiz grundsätzlich in ihrer Aussenwirtschafts-, Geld-, Konjunktur-, Arbeitsmarkt- sowie Struktur- und Wachstumspolitik autonom, mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen. Die Möglichkeit, neue Abkommen abzuschliessen, bietet eine wichtige Chance für die Schweizer Wirtschaft.

Schaffung eines institutionellen Rahmens (Ziff. 3.5) Angesichts der sich immer wieder stellenden institutionellen Fragen ist die Überlegung berechtigt, ob es im Interesse der Schweiz ist, die Fragen bezüglich der Übernahme von Rechtsentwicklungen, der Marktüberwachung und der Rechtsprechung in jedem Abkommen neu zu verhandeln, oder ob eine horizontale Lösung nicht vorzuziehen wäre. Eine solche Lösung (Rahmenabkommen oder ähnliches Arrangement) würde durch einheitliche Mechanismen die Transparenz
und Effizienz der Entscheidfassung in den Gemischten Ausschüssen fördern und letztlich die Rechtssicherheit des bilateralen Wegs erhöhen. Sie müsste Mechanismen zur Eingliederung von EU-Rechtsentwicklungen umfassen, die beide Parteien in angemessener Weise an der Entscheidfindung beteiligen, die schweizerische Souveränität und die innenpolitischen Entscheidungsprozesse respektieren und verhältnismässige Ausgleichsmechanismen im Falle einer abweichenden Rechtsentwicklung vorsehen. Unabhängige Überwachungs- und Streitschlichtungsmechanismen wären ebenfalls denkbar.

Schliesslich würden regelmässige hochrangige politische Kontakte, die ein solches Abkommen ebenfalls einschliessen könnte, das gegenseitige Verständnis fördern und böten eine Plattform für die Besprechung von Problemen, die auf technischer Ebene nicht gelöst werden können.

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Es wird sich in allfälligen exploratorischen Gesprächen zeigen müssen, ob ein für die Schweiz annehmbares horizontales Arrangement machbar ist. Tatsache ist aber, dass die EU an einer horizontalen Lösung der wiederkehrenden institutionellen Fragen interessiert ist.

EWR-Beitritt (Ziff. 3.6) Das EWR-Abkommen versucht, in Bezug auf die Acquis-Übernahme zwei gegensätzliche Zielsetzungen in Einklang zu bringen: einerseits die legislative Autonomie der Vertragsparteien, andererseits die Homogenität des EWR-Rechts. Dies ist nicht ohne Ungleichbehandlung der beiden Parteien zu haben. Die EFTA/EWR-Staaten haben ein Mitspracherecht bei den Vorbereitungen der Geschäfte durch die Europäische Kommission, können aber an den formellen Entscheidungen durch die EU nicht teilnehmen. Sie sind aber verpflichtet, die beschlossenen Weiterentwicklungen zu übernehmen. Die Hindernisse im Falle einer Nicht-Übernahme sind derart hoch, dass dies in der fast zwanzigjährigen Geschichte des EWR noch nie vorgekommen ist.

Bei einem EWR-Beitritt würde sich die Schweiz im EWR-relevanten Bereich dieser quasi-automatischen Rechtsübernahme fügen. Die nicht vom EWR abgedeckten Bereiche (bspw. Schengen, Zinsbesteuerung, Betrugsbekämpfung) blieben hingegen ihren eigenen Regelungen unterstellt.

Was die zentrale Frage der Übernahme von Rechtsentwicklungen im Rahmen der bilateralen Verträge angeht, brächte ein EWR-Beitritt zu einem gewissen Grad eine Schwächung der schweizerischen Autonomie, würde andererseits aber die Rechtssicherheit erhöhen. Das Problem der Überwachung der Abkommen und der Streitbeilegungsmechanismen wäre durch die Anwendung der entsprechenden EWRInstrumente weitgehend gelöst. Auch wäre die vollwertige Teilnahme der Schweiz an den verschiedenen EU-Programmen ­ die gegenwärtig einzeln nach Programmkategorie und Programmgeneration verhandelt werden müssen ­ gewährleistet.

Ein EWR-Beitritt würde die verfassungsmässige Ordnung unseres Landes grundsätzlich nicht tangieren. Allerdings würde der Handlungsspielraum von Bundesrat und Parlament durch die Verpflichtung zur Rechtsübernahme eingeschränkt. Diese Einschränkung würde nicht durch ein Mitentscheidungsrecht auf EU-Ebene kompensiert. Die Auswirkungen auf die Handlungsfreiheit der Schweiz dürften ausgeprägter sein als beim bilateralen Weg.

Die Frage des Parallelismus
wäre für die Bereiche, die vom EWR-Abkommen abgedeckt sind, gelöst. In den übrigen Bereichen würde sie indessen weiter bestehen; dies betrifft insbesondere den Steuerbereich. Dieser Bereich wird vom EWR-Vertrag zwar nicht geregelt. Dennoch erstreckt sich die Rechtsprechung des EuGH zu staatlichen Beihilfen auch auf die Frage, ob nationale Steuerregimes ungerechtfertigte staatliche Beihilfen darstellen.

Was den Marktzugang betrifft, würde der EWR eine deutliche Verbesserung gegenüber der gegenwärtigen Situation bieten. Allerdings könnten Zutrittshindernisse etwa im Landwirtschaftsbereich, der vom EWR ausgenommen ist, weiter bestehen.

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EU-Beitritt (Ziff. 3.7) Ein Beitritt zur Europäischen Union würde die Frage der Rechtsübernahme insofern lösen, als die Schweiz als Mitgliedstaat alle Entwicklungen des EU-Rechtsbestandes übernehmen würde, an deren Ausformulierung und Entscheidung aber vollwertig beteiligt wäre. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wäre verbindlich.

Freilich hätte die Schweiz als mittelgrosser Mitgliedstaat keine Garantie, dass die Entscheidungen der EU immer in ihrem Sinne wären. Die Erfahrungen vergleichbarer EU-Mitgliedstaaten zeigen aber, dass auch kleinere Staaten durchaus Einflussmöglichkeiten haben können, die über ihre numerische Vertretung in den EU-Gremien hinausgehen. Die Politik der EU bestimmt in wachsendem Ausmass auch die Handlungsoptionen der Schweiz, ob wir dies wollen oder nicht; die Möglichkeit, diese Politik direkt mitzugestalten würde in diesem Sinn eine Verbesserung gegenüber der aktuellen Situation darstellen.

Ein EU-Beitritt hätte aber Implikationen auf die föderalen und direktdemokratischen Institutionen der Schweiz. Die Umsetzung des ­ von der Schweiz mitgestalteten ­ EU-Rechts wäre Aufgabe von Bund, Kantonen und Gemeinden. Die Kompetenzen der Bundesversammlung und der Kantone sowie die Volksrechte wären betroffen. Im Falle von EU-Richtlinien etwa wäre es die Aufgabe des Parlaments und des Volkes, die vorgegebenen Zielsetzungen ins Landesrecht zu überführen. Dabei hätte die Schweiz darauf zu achten, dass die gesetzten Fristen die Organisation allfälliger Abstimmungen erlauben würden. Was die Frage eventueller Volksinitiativen angeht, die im Widerspruch zu EU-Recht stehen, stellt sich der Bundesrat auf den Standpunkt, dass es unverhältnismässig wäre, dem Parlament die Möglichkeit zu geben, diese für ungültig zu erklären. Im Extremfall bliebe die Option eines Austrittes offen.

Angesichts der Auswirkungen eines EU-Beitritts auf die schweizerischen Institutionen und auf den Föderalismus dürften gewisse interne Reformen unumgänglich sein.

Aus Sicht des Bundesrates wäre ein EU-Beitritt auf der Grundlage des geltenden Vertrags von Lissabon mit den neutralitätsrechtlichen Pflichten der Schweiz jedoch vereinbar.

Ein EU-Beitritt würde bedeutende Veränderungen der volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen nach sich ziehen. Wichtige Instrumente der Wirtschafts-, Geld- und
Finanzpolitik würden entweder delegiert oder auf neue Grundlagen gestellt; die autonome Aussenwirtschaftspolitik müsste weitgehend aufgegeben werden. Die Schweiz wäre gehalten, den Euro zu übernehmen, die SNB müsste ihre eigenständige Geld- und Währungspolitik aufgeben, das Zinsniveau in der Schweiz würde sich an dasjenige der Euro-Zone anpassen, was sich zumindest kurzfristig dämpfend auf die Wirtschaftsleistung auswirken dürfte. Ein EU-Beitritt hätte auch nachhaltige Auswirkungen auf das schweizerische Steuersystem (z.B. Erhöhung der Mehrwertsteuer auf mindestens 15 %, Anwendbarkeit der EU-Regelungen über staatliche Beihilfen, Übernahme des Verhaltenskodex im Bereich der Unternehmensbesteuerung). Der innereuropäische Handel dürfte sich aufgrund des Wegfalls der verbleibenden Hemmnisse positiv entwickeln, der Handel mit Drittstaaten könnte demgegenüber an Dynamik verlieren. Und schliesslich würde ein EU-Beitritt zur

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Übernahme aller gemeinsamen Politiken der EU führen, was sicherlich Auswirkungen auf bestehende Politikbereiche hätte (z.B. auf die Migrationspolitik oder die Sozialpolitik).

EU-Beitritt mit Ausnahmen (Ziff. 3.8) Prinzipiell bedingt ein Beitritt zur EU die Übernahme des gesamten EU-Rechtsbestandes durch das Beitrittsland. Im Hinblick auf eine weitere Erweiterung der EU ist es allerdings denkbar, dass Beitrittskandidaten ­ zumindest in sensitiven Bereichen wie der Sicherheitspolitik ­ in gewissen Bereichen Möglichkeiten des opt-in oder des opt-out zugestanden werden.

Im Falle der Schweiz könnte versucht werden, in einigen sensitiven Bereichen Ausnahmeregelungen oder längere Übergangsfristen auszuhandeln. Betroffen sein könnten z.B. die Rücksichtnahme auf die innerstaatlichen Prozeduren (Föderalismus und direkte Demokratie) bei der Rechtsübernahme; die Neutralität; das Steuersystem oder die Währung.

Schlussfolgerungen (Ziff. 4) Die Europapolitik ist ein fester Bestandteil der schweizerischen Aussenpolitik, deren Ziele in Artikel 54 der Bundesverfassung festgelegt sind. In Bezug auf die Beziehungen zur EU bedeuten die aussenpolitischen Ziele, dass die Schweiz darum bemüht sein muss, ihren Handlungsspielraum bei der Entscheidfindung zu erhalten, einen angemessenen Marktzugang ihrer wirtschaftlichen Akteure zum EU-Markt aufrechtzuerhalten und bei der Wahrung und Förderung gemeinsamer Werte ein zuverlässiger und solidarischer Partner in Europa zu sein.

Bisher wurden diese Ziele dank des bilateralen Weges weitgehend erreicht, auch wenn dieser gewisse Schwächen aufweist. Diese betreffen die mangelnden Einflussmöglichkeiten auf Normen, die die Schweiz direkt betreffen, die Beschränkungen der Souveränität dort, wo die Schweiz ihr Recht an jenes der EU anpassen muss, um Wettbewerbsnachteile zu vermeiden, das Fehlen eines vollumfänglichen Zutritts zum EU-Binnenmarkt und schliesslich eine latente Rechtsunsicherheit. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Zusammenarbeit mit der EU weitergeführt werden soll und dass es legitim ist, zu erwarten, dass auch die EU im gegenseitigen Interesse zur Lösungsfindung Hand bietet, sei es in der Frage des Handlungsspielraums der Schweiz bei der Entscheidfindung, beim Marktzugang oder bei der Förderung gemeinsamer Werte.

Unter den aktuellen Gegebenheiten ist der Bundesrat
der Ansicht, dass der bilaterale Weg dazu geeignet bleibt, die Interessen der Schweiz in Europa zu wahren, nämlich ihre Handlungsfreiheit, ihren Wohlstand und ihre Werte zu erhalten. In Bezug auf die grundsätzlichen Ausrichtungen der Europapolitik soll die Schweiz ihr aktives und solidarisches Engagement zur Lösung der gemeinsamen Probleme des Kontinentes fortsetzen. Zu diesem Zweck wird sich der Bundesrat weiterhin für die Konsolidierung und Weiterentwicklung des bilateralen Weges einsetzen. Der bilaterale Weg bleibt gegenwärtig das am besten geeignete Instrument zur Wahrung der schweizerischen Interessen in Europa. Dies könnte sich aber in Zukunft ändern; aus

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diesem Grund sind die europapolitischen Instrumente weiterhin einer permanenten Überprüfung zu unterziehen, um in der Lage zu sein, sie wenn nötig anzupassen.

Was die kurz- und mittelfristigen Prioritäten anbelangt, beabsichtigt der Bundesrat, die gegenwärtig in Verhandlung oder in Vorbereitung stehenden Dossiers abzuschliessen. Er wird darüber hinaus die Opportunität prüfen, auf das Gesuch der EU nach einem Dialog über diverse Steuerthemen (Verhaltenskodex in der Unternehmensbesteuerung, Revision der Zinsbesteuerung, Aspekte des Informationsaustauschs auf Anfrage) einzutreten. Gemeinsam mit der EU werden die institutionellen Fragen erörtert werden, um beidseitig annehmbare Lösungen zu finden, die die Souveränität der Vertragspartner und das gute Funktionieren ihrer Institutionen gebührend berücksichtigen. In diesen Punkten wird der Bundesrat einen koordinierten Ansatz verfolgen, insbesondere im Hinblick auf künftige Verhandlungen.

Angesichts der Tatsache, dass uns unser immer dichter werdendes Beziehungsnetz mit der EU vor institutionelle Herausforderungen stellt ­ insbesondere was den sich intensivierenden Gesetzgebungsprozess der EU und seine Auswirkungen auf die Schweiz betrifft ­, wird der Bundesrat zusammen mit der Bundesversammlung und den Kantonen vertiefte Überlegungen über Massnahmen zur Anpassung der Arbeitsmethoden der Exekutive und der Legislative sowie über die Mitwirkung der Kantone in der Europapolitik machen.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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Abkürzungsverzeichnis

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1 Einleitung 1.1 Hintergrund der Analyse 1.2 Gliederung des Berichts 1.3 Kontext und aktuelle Entwicklungen 1.3.1 Die EU in Europa und in der Welt zwischen Dominanz und Erosion 1.3.2 Entwicklungen in der EU seit dem Europabericht 2006 1.3.2.1 Der Vertrag von Lissabon 1.3.2.2 Die gemeinsame Währung gerät in die Krise 1.3.2.3 Die Zukunft des EWR und der EFTA 1.3.3 Entwicklung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU seit dem Europabericht 2006 1.3.3.1 Einleitung 1.3.3.2 Verhandlungen in den Bereichen Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit, Produktesicherheit und öffentliche Gesundheit 1.3.3.3 Swissmedic-EMA 1.3.3.4 Strom 1.3.3.5 Globale Satellitennavigation Galileo und European Geostationary Navigation Overlay Service (EGNOS) 1.3.3.6 Emissionshandel 1.3.3.7 Zusammenarbeit im Bereich der Chemikalienregulierung (REACH/CLP) 1.3.3.8 Zusammenarbeit mit der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA) 1.3.3.9 Rahmenabkommen im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik 1.3.3.10 MEDIA-Abkommen 1.3.3.11 Abkommen über die Bildungs-, Berufsbildungs- und Jugendprogramme 1.3.3.12 Abkommen über die Zusammenarbeit im Wettbewerbsbereich 1.3.3.13 Steuerbereich 1.3.3.14 Dienstleistungsbereich

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2 Analyse der jüngsten Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU anhand der Kriterien des Europaberichts 2006 2.1 Kriterium 1: Teilnahme an der Entscheidungsfindung 2.2 Kriterium 2: aussenpolitische Machbarkeit 2.3 Kriterium 3: wirtschaftliche Rahmenbedingungen 2.4 Zusammenfassung

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7259 7261 7261 7263 7264 7265 7265 7268 7269 7269 7270 7271 7271 7272 7272 7273 7273 7274 7274 7275 7275 7276 7278 7281 7284

3 Analyse der Herausforderungen und Konsequenzen für die europapolitischen Instrumente der Schweiz 3.1 Gliederung des Kapitels 3.2 Nicht berücksichtigte Instrumente 3.2.1 Der Alleingang 3.2.2 Die Zollunion 3.3 Weiterführung des bilateralen Wegs ohne neue Abkommen 3.3.1 Institutionelle Aspekte 3.3.2 Die Frage des Parallelismus 3.3.3 EU-Forderungen im Steuerbereich 3.3.4 Marktzutritt 3.3.5 Wirtschafts- und Währungspolitik 3.3.6 Direkte Kosten 3.3.7 Sozialpolitik 3.3.8 Umweltpolitik 3.4 Weiterführung und Ausbau des bilateralen Wegs 3.4.1 Institutionelle Aspekte 3.4.2 Die Frage des Parallelismus 3.4.3 EU-Forderungen im Steuerbereich 3.4.4 Marktzutritt 3.4.5 Wirtschafts- und Währungspolitik 3.4.6 Direkte Kosten 3.4.7 Sozialpolitik 3.4.8 Umweltpolitik 3.5 Schaffung eines institutionellen Rahmens 3.5.1 Institutionelle Aspekte 3.5.2 Die Frage des Parallelismus 3.5.3 EU-Forderungen im Steuerbereich, Marktzutritt, Wirtschafts- und Währungspolitik, direkte Kosten, Sozialpolitik, Umweltpolitik 3.6 Beitritt zum EWR 3.6.1 Institutionelle Aspekte 3.6.2 Die Frage des Parallelismus 3.6.3 EU-Forderungen im Steuerbereich 3.6.4 Marktzutritt 3.6.5 Wirtschafts- und Währungspolitik 3.6.6 Direkte Kosten 3.6.7 Sozialpolitik 3.6.8 Umweltpolitik 3.7 Beitritt zur EU 3.7.1 Institutionelle Aspekte 3.7.2 Gemeinsame Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik 3.7.3 Die Frage des Parallelismus 3.7.4 EU-Forderungen im Steuerbereich 3.7.5 Marktzutritt 3.7.6 Wirtschafts- und Währungspolitik 3.7.7 Direkte Kosten 3.7.8 Sozialpolitik

7286 7286 7287 7287 7289 7290 7290 7291 7292 7293 7294 7294 7296 7297 7298 7298 7304 7304 7305 7306 7306 7306 7307 7307 7308 7312 7312 7312 7313 7316 7316 7316 7317 7317 7318 7319 7319 7320 7323 7328 7328 7328 7328 7331 7331 7249

3.7.9 Umweltpolitik 3.7.10 Verkehrspolitik 3.8 Beitritt zur EU mit Ausnahmeregelungen 3.8.1 Institutionelle Aspekte 3.8.2 Gemeinsame Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik 3.8.3 Die Frage des Parallelismus 3.8.4 EU-Forderungen im Steuerbereich 3.8.5 Marktzutritt 3.8.6 Wirtschafts- und Währungspolitik 3.8.7 Direkte Kosten 3.8.8 Sozialpolitik 3.8.9 Umweltpolitik 3.8.10 Verkehrspolitik 4 Schlussfolgerungen/kurz- und mittelfristige europapolitische Prioritäten 4.1 Die Europapolitik als fester Bestandteil der schweizerischen Aussenpolitik 4.2 Der bilaterale Weg bleibt das am besten geeignete Instrument der schweizerischen Europapolitik 4.3 Ausrichtungen und Prioritäten für die nächsten Schritte in der Europapolitik

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7332 7333 7334 7335 7336 7336 7336 7337 7337 7338 7338 7339 7339 7340 7340 7341 7343

Abkürzungsverzeichnis ABl.

APK AEUV BAZL BGMK BIP BRIC BSE BSP CEDEFOP CFCA CIP CLP CMS CPVO CST DAA EACEA EAHC EASA EAWI ECDC ECHA e-customs EDA EDI EEN EFR EFSA

Amtsblatt der Europäischen Union Aussenpolitische Kommissionen Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Bundesamt für Zivilluftfahrt Bundesgesetz vom 22. Dezember 1999 über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes (BGMK, SR 138.1) Bruttoinlandprodukt Brasilien, Russland, Indien, China Bovine spongiforme Enzephalopathie («Rinderwahn») Bruttosozialprodukt Europäisches Zentrum für die Förderung der Berufsbildung/Centre européen pour le développement de la formation professionnelle Europäische Fischereiaufsichtsbehörde/Community Fisheries Control Agency Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation/ Competitiveness and Innovation Framework Programme Verordnung über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung («Classification, Labelling and Packaging») von chemischen Stoffen und Gemischen Gemeinsame Sicherheitsmethoden/Common Security Methods Gemeinsames Sortenamt/Community Plant Variety Office gemeinsame Sicherheitsziele/Common Security Targets Dublin-Assoziierungsabkommen Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur/ Education, Audiovisual and Culture Executive Agency Exekutivagentur für Gesundheit und Verbraucher/ Executive Agency for Health and Consumers Europäische Agentur für Luftsicherheit/European Aviation Safety Agency Exekutivagentur für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation/ Executive Agency for Competitiveness and Innovation (EACI) Europäisches Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten/European Centre for Disease Prevention and Control Europäische Chemikalienagentur/European Chemicals Agency Projekt der EU zur Elektronisierung der Zollverfahren Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten Eidgenössisches Departement des Innern Enterprise Europe Network Exekutivagentur des Europäischen Forschungsrates/ European Research Council Executive Agency (ERC) Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit/European Food Safety Agency 7251

EFTA EGNOS

EG-Vertrag EI EIONET EIP EJPD EMA EMCDDA EMSA ENCA ENISA EntsRL EP EPA EpG EPLN ERA ERTMS ESA ETCS ETS EUA EuGH EULEX EUPM Euratom EURO 08

7252

European Free Trade Association Navigations-Ergänzungsdienst für Europa, basierend auf der Kombination eines Satelliten- und Bodensystems, welches präzisere Daten zur Positionsbestimmung liefert/ European Geostationary Navigation Overlay Service Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Eco-innovation Europäisches Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetz/ European Environment Information and Observation Network Unternehmerische Initiative und Innovation (Teilprogramm des CIP)/Entrepreneurship and innovation programme Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement Europäische Arzneimittelagentur/European Medicines Agency Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht/ European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs/ European Maritime Security Agency Europäische Naturschutzbehörden/European Nature Conservation Agencies Europäische Agentur für Netz- und Informationssicherheit/ European Network and Information Security Agency Entsendungsrichtlinie Europäisches Parlament Europäische Polizeiakademie/Collège Européen de Police (CEPOL) Bundesgesetz vom 18. Dezember 1970 über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiegesetz, SR 818.101) Europäisches Netzwerk für die Polizeiausbildung/ European Police Learning Network Europäische Eisenbahnagentur/European Railway Agency Europäisches Eisenbahnverkehrsmanagementsystem/ European Railway Traffic Management System Europäische Weltraumorganisation/European Space Agency Europäisches Zugsicherungssystem/European Train Control System Emissionshandelssystem/Emission Trading System Europäische Umweltagentur Europäischer Gerichtshof Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union Polizeimission der Europäischen Union Europäische Atomgemeinschaft Fussball Europameisterschaft 2008

EUROFUND EUROJUST EuropeAid EUROPOL EUSC EUV EVA EVD EWRS EZB EZV FHAL&GesA FRA FRONTEX FRP FZA G-8 G-20 Galileo GASP GATS GATT GD GD SANCO GD TREN GHS GLONASS GMES

Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen Einheit für justizielle Zusammenarbeit der Europäischen Union Europäisches Amt für Zusammenarbeit Europäisches Polizeiamt Satellitenzentrum der Europäischen Union/European Union Satellite Centre Vertrag über die Europäische Union Europäische Verteidigungsagentur/European Defence Agency (EDA) Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement Frühwarn- und Reaktionssystem/Early Warning and Response System Europäische Zentralbank Eidgenössische Zollverwaltung Abkommen Schweiz-EU in den Bereichen Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit, Produktsicherheit, und öffentliche Gesundheit Agentur der Europäischen Union für Grundrechte/European Union Agency for Fundamental Rights Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen/European Agency for the Management of Operational Cooperation at the External Borders EU-Forschungsrahmenprogramm Freizügigkeitsabkommen Group of Eight Group of Twenty Name des europäischen Satellitennavigationssystems Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union General Agreement on Trade in Services General Agreement on Tarifs and Trade Generaldirektion der Europäischen Kommission Generaldirektion der Europäischen Kommission für Gesundheit und Verbraucher Generaldirektion der Europäischen Kommission für Energie und Verkehr Global harmonisiertes System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien/Globally Harmonized System of Classification and Labelling of Chemicals Russisches Akronym für Globales Satellitennavigationssystem (Globalnaja Nawigazionnaja Sputnikowaja Sistema) Globale Umwelt- und Sicherheitsüberwachung/Global Monitoring for Environment and Security

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GNSS GPS GSA GSM-R GSVP GVO GWK H1N1 H5N1 HMG ICT PSP IEE ISS IWF KdK KMU LVA

MEDIA MWSt NATO NEAT NGO/NGOs OECD OHIM OSZE Par.

Po.

RABIT

7254

Globales Satellitennavigationssystem/Global Navigation Satellite System Globales Positionierungssystem/Global Positioning System Europäische GNSS-Aufsichtsbehörde/European GNSS Supervisory Authority Globales Eisenbahn-Mobilfunksystem/Global System for Mobile Communications ­ Rail(way) Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union Gentechnisch veränderter Organismus/Genetically Modified Organism (GMO) Grenzwachtkorps Influenza A-Virus («Schweinegrippe») Influenza A-Virus («Vogelgrippe») Bundesgesetz vom 15. Dezember 2000 über Arzneimittel und Medizinprodukte (Heilmittelgesetz, SR 812.21) Unterstützungsprogramm für die Politik im Informations- und Kommunikationstechnologiebereich/ICT Policy Support Programme Programm «Intelligente Energie ­ Europa»/Intelligent Energy Europe Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien Internationaler Währungsfonds Konferenz der Kantonsregierungen Klein- und Mittelunternehmen Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Güter- und Personenverkehr auf Schiene und Strasse (Landverkehrsabkommen, SR 0.740.72) Förderprogramm für den europäischen audivisuellen Sektor Mehrwertsteuer North Atlantic Treaty Organization Neue Eisenbahn-Alpentransversale Nichtregierungsorganisation/en Organisation for Economic Co-operation and Develpment Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt/Office for the harmonisation of the internal market Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Paragraph Postulat Soforteinsatzteams der EU für Grenzsicherungszwecke/ Rapid Border Intervention Teams

RAPEX RASFF REA REACH

RTVG RVOG SAA SARS SBF TEN-T THG UNO UVEK WEAG WEAO WTO

Schnellwarnsystem der EU für gefährliche Konsumgüter (mit Ausnahme von Nahrungs- und Arzneimitteln sowie medizinischen Geräten)/Rapid Alert System for Non-Food Products Schnellwarnsystem der EU für Lebens- und Futtermittel/ Rapid Alert System for Food and Feed Exekutivagentur für Forschung/Research Executive Agency Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (am 1. Juni 2007 in Kraft getreten im Hinblick auf die sichere Herstellung und Verwendung chemischer Stoffe in der Europäischen Union)/Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals Bundesgesetz vom 24. März 2006 über Radio und Fernsehen (Radio- und Fernsehgesetz, SR 784.40) Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997 (RVOG, SR 172.010) Schengen-Assozierungsabkommen Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom Staatssekretariat für Bildung und Forschung Programm für das transeuropäische Verkehrsnetz/Trans-European Transport Network Programme Bundesgesetz vom 6. Oktober 1995 über die technischen Handelshemmnisse (THG, SR 946.51) United Nations Organization Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation Western European Armaments Group Western European Armaments Organisation World Trade Organization

7255

Bericht 1

Einleitung Der Bericht untersucht die verschiedenen politischen Instrumente, welche die Schweiz im Rahmen ihrer Beziehungen zur EU zur Verfügung stehen, im Hinblick auf die seit 2006 eingetretenen Entwicklungen. Eine solche Evaluation nimmt der Bundesrat regelmässig vor. Konkreter Anlass zur Ausarbeitung der vorliegenden Untersuchung war ein Postulat von Nationalrätin Christa Markwalder vom 10. Juni 2009.

1.1

Hintergrund der Analyse

Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäische Union (EU) haben sich im vergangenen Jahrzehnt stark intensiviert. Der dabei verfolgte Ansatz, die Zusammenarbeit in spezifischen Bereichen mit dem Abschluss von bilateralen Abkommen zu vertiefen, hat sich insgesamt bewährt. Dennoch ist der Bundesrat überzeugt, dass eine vorausschauende Politik ihre europapolitischen Instrumente einer permanenten Überprüfung unterziehen muss. Gleiches fordert ein am 10. Juni 2009 von Nationalrätin Markwalder und 100 mitunterzeichnenden Nationalrätinnen und Nationalräten eingereichtes Postulat5. Darin wird der Bundesrat beauftragt, die Vor- und Nachteile der europapolitischen Instrumente zu evaluieren sowie einen Prioritätenkatalog mit konkreten Massnahmen für die künftige Europapolitik der Schweiz vorzulegen. Schliesslich sollen die künftigen Etappen der schweizerischen Europapolitik für die Legislaturperiode 2011­2015 festgelegt werden.

Mit Ausnahme des letzten Punktes, der operativer Natur ist und den Rahmen dieses Berichts sprengen würde, entspricht der Bundesrat mit dem vorliegenden Bericht dem genannten Postulat.

Der Bericht erscheint vier Jahre nach dem vorhergehenden Europabericht von 20066. Seit dessen Publikation hat sich das politische Umfeld in der Schweiz, in Europa und weltweit verändert ­ mit entsprechenden Folgen für die Europapolitik der Schweiz. So ist zum Beispiel eine fortschreitende Erosion der Stellung des europäischen Kontinents und insbesondere der EU auf globaler Ebene zu beobachten, und zwar zugunsten wirtschaftlich dynamischerer Regionen. Dennoch ist die EU nach wie vor die mit Abstand wichtigste wirtschaftliche und politische Partnerin der Schweiz und steht damit im Zentrum unserer Aussenbeziehungen. Zwar sind unsere Beziehungen zur EU ausgezeichnet und besonders eng, doch sie wurden durch verschiedene Entwicklungen in Mitleidenschaft gezogen. So sind beispielsweise die bilateralen Beziehungen in den letzten Jahren durch die Kontroverse zwischen der Schweiz und der EU um die kantonale Unternehmensbesteuerung geprägt worden. Auch hat die Finanz- und Wirtschaftskrise Europa frontal getroffen.

5 6

Postulat Markwalder Bär (09.3560) «Europapolitik. Evaluation, Prioritäten, Sofortmassnahmen und nächste Integrationsschritte».

Europabericht 2006 vom 28. Juni 2006, BBl 2006 6815.

7256

Das Risiko einer Rückkehr von Protektionismus und volatileren Wechselkursen hat sich erhöht. Generell ist im internationalen Kontext ein bewusstes Ausnützen der unterschiedlichen Kräfteverhältnisse zu verzeichnen, was die Dauerhaftigkeit und Stabilität der von der Schweiz abgeschlossenen Staatsverträge infrage stellt. Zusätzlich könnte die allfällige EU-Mitgliedschaft von Island das Gleichgewicht der EFTA und deren politisches Gewicht stark verändern. Diese Entwicklungen werden in die nachfolgenden Untersuchungen einbezogen.

Die vorliegende Studie baut auf dem genannten Europabericht 20067 sowie auf dem Aussenpolitischen Bericht 20098 auf. Sie bezweckt, die verschiedenen politischen Instrumente, welche der Schweiz im Rahmen ihrer Beziehungen zur EU zur Verfügung stehen, aufgrund der eingetretenen Entwicklungen zu untersuchen. Dabei wird auf den Aspekt der bestmöglichen Interessenwahrung besonderes Gewicht gelegt.

Wie im zugrunde liegenden Postulat gefordert, geht der Bericht von den Kriterien aus, die im Europabericht 20069 aufgestellt wurden und an denen sich der Bundesrat orientiert, um zu prüfen, welches das beste Instrument für die Wahrung der Schweizer Interessen gegenüber der EU ist. Es handelt es sich um die folgenden drei Kriterien: 1.

Die Schweiz besitzt einen Grad an Mitentscheidung im Rahmen ihrer bilateralen Verträge mit der EU und einen Handlungsspielraum für die Durchführung ihrer eigenen Politiken, die beide als genügend angesehen werden (Teilnahme an der Entscheidungsfindung).

2.

Die EU ist bereit, bei der Ausgestaltung ihrer Drittlandpolitik mit der Schweiz Lösungen im Rahmen von bilateralen sektoriellen Abkommen zu finden (aussenpolitische Machbarkeit).

3.

Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere auch im monetären Bereich, verändern sich nicht zum Nachteil der Schweiz (wirtschaftliche Rahmenbedingungen).

1.2

Gliederung des Berichts

Das einleitende Kapitel (Ziff. 1.3) skizziert den gegenwärtigen Kontext der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU und gibt einen Überblick über den Stand der seit dem Europabericht 200610 begonnenen, geplanten oder abgeschlossenen Verhandlungen. Es erläutert auch die in der EU erfolgten Veränderungen und ihre Implikationen für die Schweiz.

Kapitel 2 analysiert die Veränderungen in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU anhand der Kriterien, die der Bundesrat in seinem Europabericht 2006 aufgestellt hat und die im Rahmen der Evaluierung des bilateralen Wegs als Orientierungshilfen dienen sollen.

7 8 9 10

BBl 2006 6815 ff.

Aussenpolitischer Bericht 2009 vom 2. Sept. 2009, BBl 2009 6291 ff.

BBl 2006 6815 ff.

BBl 2006 6815 ff.

7257

Kapitel 3 erläutert sodann die Antworten, die die verschiedenen möglichen europapolitischen Instrumente auf die Fragen geben könnten, die durch die wichtigsten Entwicklungen seit dem Europabericht 2006 aufgeworfen wurden. Zu diesem Zweck untersucht der Bericht die Hauptthemen in unseren Beziehungen zur EU, verzichtet aber darauf, sämtliche der zahlreichen Themen anzusprechen, die in dieser oder jener Weise für die Beziehungen der Schweiz zur EU relevant sind. Die folgenden Themen werden erörtert: ­

die institutionellen Aspekte (Übernahme des EU-Besitzstandes und seiner Weiterentwicklungen; Auswirkungen im Hinblick auf die direkte Demokratie, den Föderalismus und die Institutionen; Auswirkungen des Vertrags von Lissabon11);

­

der von der EU verfolgte Ansatz des «Parallelismus»;

­

die Forderungen der EU im Steuerbereich;

­

die Schwierigkeiten beim Zugang zum EU-Binnenmarkt;

­

die Wirtschafts- und Währungspolitik;

­

die direkten Kosten;

­

die Sozialpolitik;

­

die Umweltpolitik.

In Kapitel 4 folgen die Schlussfolgerungen und eine allgemeine Würdigung der vorhergehenden Analyse. Schliesslich findet sich dort auch eine Prioritätensetzung für die künftige Europapolitik der Schweiz.

1.3

Kontext und aktuelle Entwicklungen

Im weltweiten Rahmen verschieben sich die Schwergewichte zugunsten von aufstrebenden Schwellenländern wie China und Indien. Für die Schweiz ist aber weiterhin die Europäische Union die bedeutendste Partnerin. Die EU macht mit dem Vertrag von Lissabon einen weiteren Integrationsschritt, gleichzeitig stellt die Euro-Krise die Union vor eine grosse Herausforderung. Es wird sich weisen, ob die Krise zu weiteren Integrationsschritten innerhalb der EU führen wird.

11

Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 9. Mai 2008, ABl. C 115.

7258

1.3.1

Die EU in Europa und in der Welt zwischen Dominanz und Erosion

Zahlen & Fakten Wirtschaftskraft ­ Vergleich des Bruttoinlandprodukts (in Mrd. US-Dollar, laufende Preise) 1990

Schweiz

2008

Veränderung (in Prozent)

238,2

492,0

+106,5

EU-27

7 284,1

18 328,6

+151,6

USA

5 757,2

14 093,3

+144,8

317,5

4 327,0

+1281,7

China Quellen: Worldbank, Eurostat

Die Wirtschafts- und Finanzkrise machte eine Entwicklung deutlich, die sich schon seit mehreren Jahren abzeichnet: Im Zuge der Neuausrichtung der Kräfteverhältnisse in der Welt12 findet eine dauerhafte Verlagerung der wirtschaftlichen und politischen Schwerpunkte statt. China und Indien gehören heute zu den Grossmächten.

Mehrere andere asiatische Länder verzeichnen dank der Entwicklung ihrer Industrie und ihrer Dienstleistungen einen starken Aufschwung. Von der steigenden Nachfrage nach Rohstoffen wie Erdöl, Erdgas und wichtigen Industriemetallen profitieren die Golfstaaten und Russland, aber auch einige lateinamerikanische und afrikanische Länder. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Anteil der Industriestaaten am Wachstum der Weltwirtschaft deutlich zurückgegangen ist; er sank von 60 % im Jahr 1981 auf rund 30 % im Jahr 2008. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil Asiens von 14 auf 46 % und hat sich damit mehr als verdreifacht. 2007 betrug allein der Anteil Chinas am weltweiten Wirtschaftswachstum 33 %13. Prognosen für das jährlich erwirtschaftete BIP stützen diese Beobachtung. Gemessen an dem im Jahr 1980 erwirtschafteten weltweiten BIP hatte die EU noch einen Anteil von knapp 32 %, während die Gesamtheit der 149 vom IWF als Entwicklungs- und Schwellenländer bezeichneten Staaten einen Anteil von 30 % erreichte. Für 2015 prognostiziert der IWF, dass der Anteil der EU nur noch 24 % ausmacht, während sich der Beitrag der Entwicklungs- und Schwellenländer auf 39 % belaufen dürfte. Allein der Anteil der asiatischen Entwicklungs- und Schwellenländer am weltweiten BIP soll von 8,3 % im Jahr 1980 auf 21 % im Jahr 2015 zulegen.14 Auf diese Entwicklungen und die globalen Machtverschiebungen reagiert der europäische Kontinent vor allem mit einer Intensivierung der europäischen Integration im Rahmen der EU, die nach wie vor die erste Wirtschaftsmacht der Welt ist. Selbst wenn Europa im Vergleich zu anderen Regionen an Einfluss verliert, so stellt die Europäische Union (EU) dennoch die dominierende Macht auf diesem Kontinent dar und nimmt gewissermassen die Rolle eines Wortführers Europas in der Welt ein. So 12 13 14

BBl 2009 6306 BBl 2009 6306 Aggregiertes BIP zu laufenden Preisen, in US-Dollars (Internationaler Währungsfonds, 2010, www.imf.org).

7259

hat sie in den letzten Jahren kontinuierlich ihre Kapazitäten in den Bereichen Aussenpolitik, Sicherheit und Verteidigung ausgebaut. Die wichtigsten Entscheidungen für die künftige Entwicklung Europas werden heute im Rahmen der EU gefällt.

Zudem wird immer deutlicher, dass die EU bestrebt ist, mit der Entwicklung neuer und allgemein akzeptierter Rechtsnormen international Massstäbe zu setzen und hiermit auf europäischer Ebene zu beginnen.

Ein Land wie die Schweiz, das geografisch im Herzen des Kontinents liegt, ohne dessen wichtigster Organisation anzugehören, muss diese beiden scheinbar gegenläufigen Entwicklungen ­ zum einen ein gewisser Bedeutungsverlust des europäischen Kontinents auf globaler Ebene, zum andern die Profilierung der EU als dominierende Macht und als Trägerin einer Harmonisierung von Rechtsnormen auf dem Kontinent und weltweit ­ mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen.

Zahlen & Fakten Intensive Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU ­ In die EU exportiert die Schweiz Waren im Volumen von 111,9 Mrd. Fr. ­ das sind 59,7 % aller Schweizer Exporte.

­ Aus der EU führt die Schweiz Waren im Wert von 131,7 Mrd. Fr. ein ­ das sind 78 % aller Schweizer Importe (Zahlen 2009).

­ Die EU ist die mit Abstand wichtigste Handelspartnerin der Schweiz. Für die EU ist die Schweiz die zweitwichtigste Kundin (hinter den USA, vor China und Russland), die viertwichtigste Lieferantin sowie die viertwichtigste Handelspartnerin (jeweils hinter den USA, China und Russland).

Quellen: EZV, Eurostat

Als bedeutsamste Handelsmacht, geografische Nachbarin und in zunehmendem Mass auch als Institution, die Normen mit internationaler Geltung schafft, wird die EU auch künftig unsere wichtigste Partnerin bleiben. Sie stellt folglich einen zentralen Bezugspunkt für die schweizerische Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik dar.

Eine effiziente Interessenwahrung erfordert eine aktive, sich stets an die sich wandelnden Bedürfnisse anpassende Europapolitik. Dies umso mehr, als die EU vermehrt auch in Bereichen tätig wird, die traditionell in den Zuständigkeitsbereich von Organisationen wie der OSZE, der OECD oder dem Europarat fallen, denen auch die Schweiz angehört15.

Die Schweiz muss also immer ein Gleichgewicht sicherstellen zwischen den Spielräumen, die Nicht-EU-Mitgliedstaaten für autonome Politiken gegenüber anderen Weltregionen besitzen, und der Notwendigkeit, unsere Beziehungen zur EU zu erhalten und weiterzuentwickeln.

15

So hat zum Beispiel die Europäische Kommission im März 2010 offiziell vorgeschlagen, Verhandlungen über einen Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats aufzunehmen. Sollte dies zu einer Stärkung der gemeinsamen Politikgestaltung der 27 EU-Mitgliedstaaten in den Angelegenheiten führen, die im Europarat behandelt werden, dann steht zu erwarten, dass die EU im Europarat, dem 47 Mitgliedstaaten (darunter die Schweiz) angehören, entscheidenden Einfluss ausüben wird.

7260

1.3.2

Entwicklungen in der EU seit dem Europabericht 2006

Im Zusammenhang mit den nachfolgenden Analysen muss man sich stets vor Augen halten, dass die EU seit Abschluss der bilateralen Verträge II einen grossen internen Wandel durchgemacht hat: Ihre Erweiterung im Jahre 2004 von 15 auf 25 und 2007 schliesslich auf 27 Mitgliedstaaten war und ist für die EU eine grosse institutionelle wie wirtschaftliche Herausforderung. Diese Entwicklungen haben Auswirkungen auf die Arbeitsmethoden der EU und auf die Art und Weise, wie sie ihre Beziehungen zu Drittstaaten versteht, und zwar insbesondere zu denjenigen Drittstaaten, die wie die Schweiz besonders enge Beziehungen zu ihr unterhalten. Die wichtigsten dieser Entwicklungen werden im Folgenden untersucht.

1.3.2.1

Der Vertrag von Lissabon

Zahlen & Fakten Vertrag von Lissabon ­ wichtige Neuerungen aus Schweizer Sicht ­ Neue Funktion der Hohen Vertreterin der Union für die Gemeinsame Aussenund Sicherheitspolitik ­ Neue Kompetenzen des Europäischen Parlaments ­ Mehr Bereiche mit Mehrheitsprinzip statt Einstimmigkeitsprinzip beim Entscheidverfahren Um bei einem erweiterten Kreis von Mitgliedern ihre Handlungsfähigkeit zu bewahren und den Bedürfnissen ihrer Bürgerinnen und Bürger besser gerecht zu werden, unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs am 13. Dezember 2007 den Vertrag von Lissabon16, nachdem dessen Vorgängerprojekt, eine Europäische Verfassung, an den Stimmberechtigten Frankreichs und der Niederlande gescheitert war.

Der Vertrag von Lissabon ist am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten. Er ersetzt keinen der bisherigen Verträge, sondern ändert mehrere von ihnen. Die Staats- und Regierungschefs einigten sich mit dem Vertrag auf neue Regeln, welche die künftigen Aufgabenbereiche der Union und ihr Funktionieren festlegen. So ermöglicht es der Vertrag von Lissabon, die europäischen Institutionen und ihre Arbeitsverfahren anzupassen, die demokratische Legitimität der Europäischen Union zu stärken und ihre Grundwerte zu festigen. Die wichtigsten Neuerungen sind folgende:

16

­

Die EU hat nun eigene Rechtspersönlichkeit.

­

Die Europäische Union tritt an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft.

Die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) hingegen bleibt bestehen.

­

Das frühere Drei-Säulen-Modell besteht nicht mehr.

­

Die Rolle des Europäischen Rates wurde gestärkt. Eine neue Funktion des Präsidenten des Europäischen Rates wurde geschaffen. Er hat den Vorsitz ABl. C 115 vom 9. Mai 2008.

7261

der EU-Gipfel inne und wird jeweils vom Europäischen Rat für einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren (einmal erneuerbar) ernannt, was für mehr Kontinuität und Stabilität bei der Arbeit des Europäischen Rates sorgen soll.

17

­

Es wurde das neue Amt eines Hohen Vertreters für Aussen- und Sicherheitspolitik geschaffen, der zugleich Vizepräsident der Europäischen Kommission ist. Ihm wird ein eigener diplomatischer Dienst der EU zur Seite gestellt.

­

Die EU erhält neue Kompetenzen, namentlich im Bereich Weltraum.

­

Bezüglich des Abstimmungsverfahrens im EU-Rat weicht die Einstimmigkeit in den meisten Fällen der qualifizierten Mehrheit (z.B. in den Bereichen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit17, Landwirtschaft und Fischerei).

­

Das Einstimmigkeitsprinzip gilt jedoch weiterhin für die folgenden Bereiche: Steuern, Aussenpolitik, Verteidigung und soziale Sicherheit. Das gleiche gilt für bestimmte spezifische Aspekte (z.B. familienrechtliche Fragen oder Massnahmen im Rahmen der operativen polizeilichen Zusammenarbeit).

­

Ab 2014 wird die qualifizierte Mehrheit durch die doppelte Mehrheit ersetzt.

Diese berechnet sich aufgrund der Mitgliedstaaten und deren Bevölkerung und bedingt, dass 55 % der Mitgliedstaaten, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedstaaten, die gemeinsam mindestens 65 % der europäischen Bevölkerung auf sich vereinen, einer Entscheidung zustimmen. Für eine Sperrminorität sind mindestens vier Mitglieder des EU-Rates erforderlich.

­

Das Europäische Parlament (EP) ist gestärkt. Es erhält erweiterte Kompetenzen in Bezug auf Gesetzgebung, Haushalt und internationale Übereinkommen. Zudem ist neuerdings das Mitentscheidungsverfahren ­ welches das EP dem EU-Rat faktisch gleichstellt ­ in weiten Bereichen das reguläre Entscheidungsinstrument der EU-Gesetzgebung. Ausgeschlossen vom Mitentscheidungsverfahren sind weiterhin die Politikfelder soziale Sicherheit, Familienrecht, Vorschriften steuerlicher Art oder der Kapitalverkehr mit Drittstaaten.

­

Neu ist auch die Zustimmung des EP zu internationalen Abkommen erforderlich.

­

Mit dem Vertrag von Lissabon wird zudem die Europäische Bürgerinitiative eingeführt. Diese neue Bestimmung zur partizipativen Demokratie beinhaltet, dass eine Million Bürgerinnen und Bürger aus einer bestimmten Zahl von Mitgliedstaaten die Kommission auffordern kann, einen angemessenen Vorschlag zu Angelegenheiten zu unterbreiten, in denen ihres Erachtens ein Rechtsakt der Union für die Umsetzung des Vertrags erforderlich ist.

­

Mit der Kohäsionspolitik will die EU den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt verstärken und die Lücke zwischen den Entwicklungsniveaus der verschiedenen Regionen verringern. Die Schweiz beteiligt sich mit dem Erweiterungsbeitrag ebenfalls autonom an diesem Ziel und nimmt an verschiedenen Programmen der territorialen Zusammenarbeit teil. Im Vertrag Allerdings ohne die operationelle Schengener-Zusammenarbeit in diesem Bereich (Art. 87 AEUV).

7262

von Lissabon wird die Förderung des territorialen Zusammenhalts als grundlegendes Ziel der EU festgeschrieben.

Die voraussichtlichen Auswirkungen der mit dem Vertrag von Lissabon eingeführten Neuerungen auf die europapolitischen Instrumente der Schweiz werden weiter unten (Kapitel 3) erörtert.

1.3.2.2

Die gemeinsame Währung gerät in die Krise

Im Verlauf des Frühjahrs 2010 weitete sich eine Schuldenkrise des EU-Mitglieds Griechenland immer weiter aus, um beinahe die gesamte Währungsunion zu erfassen, nachdem ein Vertrauensschwund an den Kapitalmärkten die Refinanzierung der staatlichen Schulden auch von anderen Mitgliedern der 16 EU-Mitgliedstaaten umfassenden Euro-Zone in Frage stellte. Die Euro-Staaten und die restliche EU reagierten mit einem beispiellosen Rettungsschirm für die gesamte Währungsunion sowie einem speziellen Rettungspaket zugunsten Griechenlands, um die schwindende Marktliquidität wiederherzustellen. Sekundiert wurden diese Massnahmen durch Interventionen der Europäischen Zentralbank und eine Unterstützung seitens des IWF.

Es gibt unterschiedliche Einschätzungen bezüglich der rechtlichen Grundlage für diese ausserordentlichen Schritte, die vom EU-Vertragsrecht vermutlich nicht vorgesehen sind. Auf jeden Fall haben sie die EU an einen Scheideweg geführt. Die EuroKrise hat augenfällig gemacht, dass selbst im 12. Jahr der Währungsunion die an ihr teilnehmenden Volkswirtschaften nach wie vor zu unterschiedlich geprägt sind, um eine gemeinsame Währung spannungsfrei tragen zu können.

Die EU erörtert deshalb Reformvorschläge, die nebst den kurzfristigen Rettungsmassnahmen die Währungsunion vor allem längerfristig auf ein solides Fundament stellen sollen. Dabei geht es um eine griffigere Durchsetzung des bereits bei der Schaffung der gemeinsamen Währung vereinbarten Stabilitäts- und Wachstumspakts im Hinblick auf eine bessere Haushaltsdisziplin. Im Sinne einer gemeinsamen fiskalpolitischen Verantwortung sollen die in der Not beschlossenen Rettungsmassnahmen in einen permanenten Krisenmechanismus überführt und geplante Staatshaushalte der Euro-Staaten auf Ebene der Währungsunion in Brüssel jeweils vorberaten werden, bevor sie in die nationalen Parlamente zur Verabschiedung gelangen. Zwar wird davon abgesehen, die Fiskal- oder Wirtschaftspolitik der EuroStaaten vollständig zu vergemeinschaften. Um mehr Konvergenz der heterogenen Mitglieder der Euro-Zone zu erreichen, sollen jedoch auch makroökonomische Ungleichgewichte sowie Gefälle im Bereich der Wettbewerbsfähigkeit unter den Teilnehmern der Währungsunion gemeinsam geprüft und beraten werden. Eine Konkretisierung dieser Vorschläge wäre gleichbedeutend mit einem weitgehenden
Integrationsschritt, der zumindest die Euro-Staaten der EU zusätzlich zur Währungsund Wirtschaftsunion noch stärker in Richtung einer politischen Union zusammenführen würde.

Es lässt sich zurzeit nicht abschätzen, inwieweit die Notmassnahmen erfolgreich sein werden und die lancierte Reform konkretisiert werden wird. Zahlreiche Staaten der Euro-Zone haben sich zunächst angeschickt, die Staatshaushalte zu konsolidieren, um die hohe Verschuldung zu verringern. Auch ist noch offen, ob die EU strukturelle Änderungen mit dem Ziel vornehmen wird, die wirtschaftlichen Rahmenbe7263

dingungen für den gesamten Binnenmarkt zu verbessern. Ein dynamisches Wirtschaftswachstum ist unabdingbar für eine Überwindung der staatlichen Schuldenfalle. Eine unsichere Zukunft des Euro könnte dazu beitragen, dass die Stellung der EU in der Weltwirtschaft weiter erodiert. Heute sieht sich die mit der EU aufs engste verflochtene Schweizer Exportwirtschaft mit neuen Unsicherheiten konfrontiert, die sowohl die zukünftige Wirtschaftsdynamik des wichtigsten Handelspartners der Schweiz als auch den Wechselkurs des SchweizerfrankenSchweizerfrankens gegenüber dem Euro betreffen. Ein anhaltender Aufwertungsdruck auf den SchweizerfrankenSchweizerfranken im Verhältnis zum Euro wäre zudem mit Risiken für die Preisstabilität in der Schweiz verbunden.

1.3.2.3

Die Zukunft des EWR und der EFTA

Zahlen & Fakten Die Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) 1990

2010

­ ­ ­ ­ ­ ­ ­

­ ­ ­ ­

Finnland Island Liechtenstein Österreich Norwegen Schweden Schweiz

Island Liechtenstein Norwegen Schweiz

Die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) begeht in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen. Der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) wurde 1994 ins Leben gerufen.

Seit der Gründung der EFTA 1960 wird über das Fortbestehen dieses geografisch nicht zusammenhängenden Verbandes debattiert. Schon bald nach dem Inkrafttreten des EFTA-Übereinkommens stellten alle EFTA-Mitglieder einen Antrag auf Assoziierung an oder auf Aufnahme in die damals sechs Mitgliedstaaten umfassende Europäische Gemeinschaft. Frankreich lehnte ab, weil es eine Schwächung der politischen Ziele des Gemeinsamen Marktes befürchtete. Grossbritannien und Dänemark schieden 1973, Portugal 1986 aus der EFTA aus, um der Gemeinschaft beizutreten.

Hingegen traten Island und Finnland sowie Liechtenstein der EFTA bei.

Im Januar 1989 schlug der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, den EFTA-Staaten vor, zusammen mit der EG einen dynamischen und homogenen Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit gemeinsamen Entscheidungs- und Verwaltungsorganen zu errichten. Jacques Delors wollte eine Struktur schaffen, die ­ zumindest im Sinne einer Vorbereitung und Annäherung ­ alle Staaten aufnehmen sollte, die Interesse an einem Beitritt zur EG hätten. Er dachte namentlich an die mittel- und osteuropäischen Länder, doch diese zogen es später vor, unmittelbar der EU beizutreten. Der Vorschlag von Jacques Delors fand zunächst ein sehr positives Echo. Das änderte sich jedoch zehn Monate später, als die Europäische Kommission erklärte, es komme nicht in Frage, zusammen mit der 7264

EFTA Organe und Verfahren einzuführen, die die Entscheidungsautonomie der EG gefährden könnten. Der EWR erwies sich für mehrere Länder sehr bald als Übergangslösung: Im Juli 1989 beantragte Österreich die Aufnahme in die Gemeinschaft, und die meisten anderen EFTA-Staaten folgten. Doch nur Österreich, Finnland und Schweden traten 1995 der EG bei, nachdem sie nur ein Jahr lang am EWR teilgenommen hatten.

2009 stellte Island einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft. Im Juni 2010 beschloss der Rat der EU die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island. Zurzeit ist es allerdings sehr ungewiss, ob dieser Beitritt Tatsache werden könnte. Ein Beitritt Islands würde Fragen hinsichtlich der Zukunft und insbesondere der Arbeitsweisen der EFTA und des EWR aufwerfen. Angesichts der Tatsache, dass die Tätigkeit des EWR im Wesentlichen von zwei supranationalen Organen geleitet wird, die die Aufsicht über die Umsetzung sowie die Auslegung des EWR-Abkommens durch die drei EFTA/EWR-Mitgliedstaaten wahrnehmen, und angesichts der Tatsache, dass diese beiden supranationalen Organe ihre Beschlüsse mit einfacher Mehrheit fassen, müsste im Falle des Ausscheidens von Island eine Lösung für die Beschlussfassung gefunden werden. Wenn es nur noch zwei EFTA/EWR- Mitgliedstaaten gäbe, wäre das Gleichgewicht der beiden Partner noch geringer; bereits heute trägt einer der Partner lediglich 1 % der Kosten des EWR. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die EFTA keine Erweiterung auf andere Länder beabsichtigt. Die konkreten Auswirkungen, die ein EU-Beitritt Islands für die Schweiz und die EFTA hätte, werden von der Schweiz und den verbleibenden Mitgliedern der EFTA zu prüfen sein, wenn dieser Fall eintritt.

1.3.3

Entwicklung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU seit dem Europabericht 2006

Zahlen & Fakten Schweiz ­ eine wichtige solidarische Partnerin der EU ­ zweitwichtigste Wirtschaftspartnerin der EU ­ intensive Mobilität dank freiem Personenverkehr ­ Beitrag zur Verminderung der sozialen Disparitäten in der EU (Erweiterungsbeitrag) ­ Beteiligung an Friedensförderungsmissionen der EU ­ erleichterter EU-Gütertransitverkehr dank Bau der NEAT

1.3.3.1

Einleitung

Die EU unterhält mit der Schweiz Beziehungen wie mit keinem andern Staat. Um diese Beziehungen zu konsolidieren, verfolgt die Schweiz seit der Ablehnung des EWR im Jahre 1992 ihre Interessen gegenüber der EU auf bilateralem Wege. In den letzten Jahren ist somit ein enges Netz von rund 20 grundlegenden Abkommen und mehr als 100 Abkommen von geringerer Tragweite entstanden. Dieses Netz hat es 7265

beiden Seiten in hohem Masse erlaubt, ihre Ziele zu erreichen. Der bilaterale Weg geniesst überdies grosse Unterstützung im Volk und wurde in einer Reihe von Abstimmungen regelmässig bestätigt ­ seit dem Jahr 2000 insgesamt in sechs Abstimmungen.

Am 21. Oktober 2009 befasste sich der Bundesrat im Rahmen einer Klausur mit seiner gegenwärtigen Europapolitik. Dabei analysierte er auf der Grundlage des Aussenpolitischen Berichts 2009 den Stand der Beziehungen zur Europäischen Union sowie der verschiedenen bilateralen Dossiers. Er bestätigte, die laufenden Verhandlungen in den Bereichen Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit, Produktesicherheit und öffentliche Gesundheit sowie Strom und Beteiligung an den europäischen GNSS-Programmen Galileo und EGNOS fortführen zu wollen. Zudem bekräftigte er auch seinen Willen, in weiteren Bereichen die Vorbereitungen möglicher Verhandlungen voranzutreiben. Dies betrifft insbesondere den Handel mit Emissionsrechten (ETS), die Zusammenarbeit bei der Chemikalienregulierung (REACH/CLP) und schliesslich die Zusammenarbeit mit der Europäischen Verteidigungsagentur. Die EU ihrerseits hat in den letzten Jahren zahlreiche Steuerthemen aufgegriffen, so etwa bestimmte Aspekte der kantonalen Unternehmensbesteuerung, eine Revision des Zinsbesteuerungsabkommens und Fragen zum Informationsaustausch in Steuersachen, und erst kürzlich bekundete sie die Absicht, mit der Schweiz einen Dialog über die Anwendung des EU-Verhaltenskodexes für die Unternehmensbesteuerung zu führen.

Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass die Schengen/Dublin-Abkommen zwischen der Schweiz und der EU operationell in Kraft getreten sind: Am 12. Dezember 2008 wurden die Binnengrenzkontrollen und am 19. März 2009 die Luftgrenzkontrollen (Flughäfen) aufgehoben. Im Rahmen der Schengen-Zusammenarbeit wird der Reiseverkehr erleichtert, indem die systematischen Personenkontrollen an den gemeinsamen Grenzen zwischen den Schengen-Staaten (Binnengrenzen) aufgehoben werden. Gleichzeitig verbessern eine Reihe von Massnahmen die internationale Justizund Polizeizusammenarbeit im Kampf gegen die Kriminalität. Dazu gehören Sicherheitsmassnahmen wie verschärfte Kontrollen der Schengen-Aussengrenzen, eine verstärkte grenzüberschreitende Polizeizusammenarbeit, namentlich mit dem elektronischen Fahndungssystem SIS, oder eine
verbesserte Rechtshilfe. Die Dubliner Zusammenarbeit soll sicherstellen, dass Asylsuchende im Dubliner Raum nur ein Asylgesuch stellen können. Die Dubliner Kriterien legen fest, welcher Staat für die Behandlung eines Asylgesuchs zuständig ist, und sorgen so für eine gewisse Lastenverteilung. Dank der elektronischen Fingerabdruck-Datenbank Eurodac können Personen, die mehrere Asylgesuche stellen, identifiziert und an das zuständige Land zurück überwiesen werden. Dadurch wird die Behandlung von kostenintensiven und langwierigen Mehrfachgesuchen vermieden, was die nationalen Asylsysteme entlastet.

Auf operativer Ebene haben sich die neuen Abläufe gut eingespielt, der Bundesrat wertet die ersten Erfahrungen mit Schengen/Dublin als durchwegs positiv: So haben sich für die Schweizer Behörden die Fahndungsdatenbank SIS und die Fingerabdruck-Datenbank Eurodac als effiziente zusätzliche Arbeitsinstrumente im Kampf gegen grenzüberschreitende Kriminalität und illegale Migration erwiesen. In der Schweiz werden bei Abfragen im SIS (durch die Polizei und das Grenzwachtkorps) täglich rund 20 Treffer erzielt. Vom 1. Januar 2009 bis 31. Mai 2010 hat die Schweiz bei 8408 Personen um Übernahme in einen anderen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Dublin-Staat ersucht. Bei 6724 Personen wurde die 7266

Zustimmung zur Überstellung erteilt, 1214 Anfragen wurden abgelehnt. Bis Ende Mai 2010 konnten insgesamt 2920 asylsuchende Personen den zuständigen DublinStaaten zugeführt werden. Die Schweiz hat im genannten Zeitraum von anderen Dublin-Staaten 1116 Ersuchen um Übernahme erhalten. 787 Anfragen wurde zugestimmt, 303 wurden abgelehnt. 416 Personen wurden der Schweiz bereits überstellt.

Im Rahmen der Überlegungen zu den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU können mehrere kürzlich erfolgte Beiträge erwähnt werden: ­

Die Kantonsregierungen haben am 25. Juni 2010 ihre europapolitische Standortbestimmung neu beurteilt18 und dabei folgende Haltungen geäussert: Derzeit und längerfristig würden zur Wahrung der Interessen der Schweiz nur der bilaterale Weg oder eine EU-Mitgliedschaft der Schweiz in Frage kommen. Kurz- und mittelfristig soll der bilaterale Weg mittels eines Rahmenabkommens zur Regelung der institutionellen Fragen weitergeführt werden. Für die Kantonsregierungen hat die Beibehaltung und effiziente Umsetzung der bestehenden Abkommen mit der EU oberste Priorität. In Bereichen von wirtschaftlichem und politischem Vorteil für die Schweiz soll die bilaterale Zusammenarbeit mit der EU weiter vertieft werden. Neue Verhandlungsmandate sollen aber so lange zurückgestellt werden, bis in einem Rahmenabkommen ein einheitlicher Mechanismus zur Übernahme von relevantem EU-Recht bei künftigen Abkommen gefunden sei. Nicht zielführend erscheint den Kantonsregierungen die Neuverhandlung dieser Modalitäten in jedem einzelnen bilateralen Dossier. Ferner soll ein koordinierender Gemischter Ausschuss eingesetzt werden, in welchem die Kantone vertreten wären, und der auch als Forum für einen regelmässigen politischen Dialog mit der EU dienen würde. Schliesslich könnte nach Ansicht der Kantonsregierungen die Beteiligung der Schweiz an verschiedenen Programmen der EU in dieser Rahmenvereinbarung verankert werden.

Parallel zu einer weiteren Vertiefung der Beziehungen zur EU erachten die Kantonsregierungen innerstaatliche Reformen zur Festigung der föderalistischen und demokratischen Staatsorganisation als notwendig. Im Vordergrund stehen die Stärkung der Mitwirkung der Kantone in der Europapolitik und die Anpassung bestehender Organisationsstrukturen. Eine politische Beurteilung der erwünschten innerstaatlichen Reformen wollen die Kantonsregierungen demnächst vornehmen.

­

18 19

Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse hat am 18. Mai 2010 verschiedene europapolitische Szenarien aus vorwiegend wirtschaftlicher und wirtschaftspolitischer Sicht überprüft.19 Economiesuisse setzt sich für eine Fortsetzung des bilateralen Wegs ein, verbunden mit Verbesserungen und Erweiterungen des Marktzutritts. Nach Ansicht des Verbands ist der bilaterale Ansatz im Verhältnis zur EU unter den gegenwärtigen Bedingungen am besten geeignet, die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz in den zentralen Bereichen zu wahren. Ein Rahmenabkommen begrüsst Economiesuisse nur dann als Effizienzgewinn in den Beziehungen mit der EU, wenn dieses nicht die automatische Übernahme des EU-Rechts mit sich zieht, so wie es im Vgl. hierzu «Europapolitische Standortbestimmung», angenommen von der Konferenz der Kantonsregierungen am 25. Juni 2010 (www.kdk.ch).

Vgl. Economiesuisse, «Schweiz­EU: Bilateralismus im gegenseitigen Interesse», 18. Mai 2010 (www.economiesuisse.ch)

7267

EWR der Fall ist. Ein Beitritt zum EWR würde nach Ansicht des Wirtschaftsdachverbands keine nennenswerten Vorteile gegenüber dem bilateralen Weg bringen, ausser für bestimmte Finanzdienstleistungen. Ein EU-Beitritt der Schweiz würde zwar einen ungehinderten Marktzugang gewähren, aber auch unerwünschte Regulierungen zur Folge haben. Zudem müsste die Schweiz als EU-Mitglied nach Ansicht des Verbands ihre Autonomie in der Geld- und Währungs- sowie in der Aussenwirtschaftspolitik aufgeben. Unter diesen wirtschaftlichen Gesichtspunkten unterstützt Economiesuisse deshalb neue bilaterale Abkommen mit der EU insbesondere in den Bereichen Landwirtschaft und Lebensmittel, Chemikalienrecht sowie Stromhandel und wünscht sich Verbesserungen beim Marktzugang von grenzüberschreitenden Finanzdienstleistungen.

­

Der Think Tank Avenir Suisse hat am 15. Juli 2010 die Gestaltungsspielräume der Schweiz unter dem Aspekt der Souveränität in der Aussenpolitik ­ verstanden als Möglichkeit der internationalen Einflussnahme zur Erhaltung von Wohlstand, Freiheit und Sicherheit ­ sowie in der Geld- und Steuerpolitik untersucht und daraus drei Szenarien abgeleitet.20 Demnach könnte die Schweiz mit einem Beitritt zum EWR die Vorteile des Binnenmarkts übernehmen, aber ihre geld- und aussenhandelspolitische Autonomie wahren.

Als zweite Option sieht Avenir Suisse den Beitritt zur EU, aber nicht zur Währungsunion, damit die Schweiz ihre geldpolitische Selbstbestimmung wahren kann. Als dritte Möglichkeit und mit Blick nach Europa, Asien und Lateinamerika schlägt der Think Tank die Schaffung einer weltweiten Allianz von wirtschaftlich offenen kleinen und mittleren Staaten vor. Dem bilateralen Weg mit der EU gibt Avenir Suisse aus institutionellen Gründen wenig Chancen in der Zukunft.

Im Folgenden wird ein Überblick über die wichtigsten derzeit zur Debatte stehenden Dossiers gegeben:

1.3.3.2

Verhandlungen in den Bereichen Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit, Produktesicherheit und öffentliche Gesundheit

Der Bundesrat verabschiedete am 14. März 2008 ein Mandat für umfassende Verhandlungen in den Bereichen Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit, Produktesicherheit und öffentliche Gesundheit und bestätigte dasselbe am 27. August 2008.

Das Mandat umfasst folgende vier Verhandlungsbereiche: Marktzutritt im Agrarund Lebensmittelbereich, Lebensmittelsicherheit, allgemeine Produktesicherheit sowie öffentliche Gesundheit. Das angestrebte Abkommen umfasst die Schweizer Teilnahme an drei Agenturen21, drei Früh- und Schnellwarnsystemen und am EUAktionsprogramm im Bereich der Gesundheit22. Die Verhandlungen wurden am 4. November 2008 eröffnet. Bisher fanden über alle vier Pfeiler drei umfassende 20 21

22

Vgl. Gentinetta K. und Kohler G. (Hrsg.) «Souveränität im Härtetest: Selbstbestimmung unter neuen Vorzeichen», Zürich, 2010 (www.avenirsuisse.ch).

Vgl. hierzu den Bericht des Bundesrates vom 17. Sept. 2010 zum Verhältnis der Schweiz zu den europäischen Agenturen («Agenturbericht») in Erfüllung des Postulates David (08.3141), Ziff. 3.2.2 (www.europa.admin.ch).

Vgl. hierzu auch den Agenturbericht, Ziff. 3.3.2.1 (www.europa.admin.ch).

7268

Verhandlungsrunden sowie zahlreiche technische Expertengespräche statt. Hinsichtlich des Marktzutritts im Agrar- und Lebensmittelbereich fanden vier weitere Verhandlungsrunden statt, anlässlich derer der Abbau der tarifären sowie nicht-tarifären Handelshemmnisse diskutiert wurde.

Ein Abkommen in diesem Bereich soll die Märkte für Landwirtschaftsprodukte und Lebensmittel öffnen. Es würde sowohl tarifäre (Zölle, Zollkontingente, Exportsubventionen) als auch nicht-tarifäre Handelshemmnisse abbauen und ginge folglich über eine reine Weiterentwicklung der bestehenden bilateralen Verträge im Agrarbereich (Landwirtschaftsabkommen, Abkommen über landwirtschaftliche Verarbeitungsprodukte) hinaus. Grenzkontrollen würden nur noch aufrechterhalten in Bezug auf den Ursprungsnachweis und die Formalitäten zur Mehrwertsteuer. Ein solches Abkommen würde klare Langzeitperspektiven für die Schweizer Landwirtschaft, die Verarbeitungsindustrie und den Handel bieten mit dem Ziel, diese international wettbewerbsfähiger zu machen. Grundlage der Verhandlungen über dieses Abkommen ist das einschlägige EU-Recht, doch es wird festzulegen sein, in welchem Umfang dieses Recht berücksichtigt werden muss, um die Ziele des geplanten Abkommens zu verwirklichen.

1.3.3.3

Swissmedic-EMA

Im Zusammenhang mit der pandemischen Grippe H1N1 erteilte der Bundesrat dem Schweizerischen Heilmittelinstitut Swissmedic am 27. November 2009 ein Verhandlungsmandat, das den Austausch vertraulicher Informationen zwischen Swissmedic und der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) ermöglichen sollte.

In der Folge fanden Verhandlungen zwischen Swissmedic und der EMA statt. Am 15. Februar 2010 unterzeichneten die Direktoren von Swissmedic und EMA eine nicht verbindliche Vereinbarung, die den Austausch vertraulicher Informationen im Bereich der pandemischen Grippe H1N1 erlaubte. Dank dieser Vereinbarung haben beide Seiten Zugang zu den Entscheidgrundlagen der jeweils anderen Seite und können Informationen über Gutachten und Änderungen der bestehenden Zulassungen austauschen, bei der Überwachung des Marktes für Pandemieimpfstoffe (Überwachung unerwünschter Nebenwirkungen) zusammenarbeiten und bei anderen Pandemien erworbenes Wissen austauschen.

1.3.3.4

Strom

Unter dem Eindruck des Blackouts vom September 2003 in Italien hat die Europäische Kommission der Schweiz vorgeschlagen, den Stromtransit vertraglich zu regeln. So soll das derzeit in Verhandlung stehende Elektrizitätsabkommen insbesondere den grenzüberschreitenden Stromhandel regeln sowie den gegenseitigen Marktzugang ermöglichen. Gleichzeitig soll damit die Versorgungssicherheit gewährleistet bleiben.

Für die Schweiz steht im Vordergrund, über ein Abkommen ihre bedeutende Rolle im grenzüberschreitenden Stromhandel in Europa abzusichern. Dazu gehören u.a.

die Ausgestaltung der Engpassverfahren an den Grenzen sowie die Entschädigungsregelung für Transitdienstleistungen. Es ist ausserdem absehbar, dass das Elektrizitätsabkommen auch gewisse horizontale Bestimmungen enthalten wird, beispiels7269

weise hinsichtlich des für den Stromsektor relevanten Umweltrechts sowie im Bereich des Wettbewerbsrechts.

In der Zwischenzeit hat die EU ihre Energiepolitik allerdings grundlegend reformiert: Ende Juni 2009 hat sie ein drittes Liberalisierungspaket für den Energiebinnenmarkt verabschiedet, das neu als Verhandlungsgrundlage dienen soll23. Die EU zeigt zunehmend die Tendenz, den für Verhandlungen relevanten Besitzstand des EU-Rechts weit zu definieren. So möchte sie ausserdem die Verhandlungen auf die neue Richtlinie zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Energiequellen24 ausweiten, welche Bestandteil des Klima- und Energiepakets der EU ist.

Die in der Schweiz nötige Mandatsanpassung wurde vom Bundesrat am 12. Mai 2010 unter Vorbehalt der Stellungnahmen der Aussenpolitischen Kommissionen beider Räte und der Kantone genehmigt. Neu soll ein eigenständiges und erweiterbares Energie-Abkommen angestrebt werden, das zunächst auf den Strombereich und die erneuerbaren Energien begrenzt und in späteren Verhandlungen auf weitere Themen wie Energieeffizienz oder Energieinfrastrukturen ausgedehnt werden könnte.

1.3.3.5

Globale Satellitennavigation Galileo und European Geostationary Navigation Overlay Service (EGNOS)

Mit Galileo wollen die EU und die Europäische Weltraumorganisation (ESA) ein ziviles Satellitennavigationssystem neuster Generation schaffen. Dieses soll der faktischen Abhängigkeit europäischer Benutzer von dem durch das US-Militär kontrollierten GPS und anderen Systemen ein Ende setzen und die Verfügbarkeit der Daten sowohl in Friedens- als auch in Krisenzeiten sicherstellen. EGNOS ist ein regionales Satellitennavigationssystem, das Signale von globalen Satellitenkonstellationen hinsichtlich ihrer Genauigkeit und Zuverlässigkeit verbessert.

Ziel des Verhandlungsmandates des Bundesrates vom 13. März 2009 ist es, mit einem Abkommen die kontinuierliche und umfassende Teilnahme der Schweiz an den genannten Programmen sicherzustellen25. Die Wünschbarkeit eines vertraglichen Einbezugs der Schweiz bei Galileo und EGNOS sowie in den entsprechenden GNSS-Gremien (Global Navigation Satellite Systems) ergibt sich vorab aus wirtschafts- und forschungspolitischen Absichten, aber auch aus sicherheits-, aussenund europapolitischen Interessen sowie aus den Vorlieben von potenziellen Nutzern.

Seitens der EU wurde das Verhandlungsmandat am 29. Juni 2010 verabschiedet.

23

24 25

Das von der Kommission 2007 präsentierte Paket umfasst folgenden Erlasse: Richtlinie 2009/72/EG über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt; Verordnung (EG) Nr. 714/2009 über die Netzzugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel; Richtlinie 2009/73/EG über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt; Verordnung (EG) Nr. 715/2009 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen; Verordnung (EG) Nr. 713/2009 zur Gründung einer Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden.

Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen.

Vgl. hierzu auch den Agenturbericht, Ziff. 3.2.4 (www.europa.admin.ch).

7270

1.3.3.6

Emissionshandel

Die Klimapolitik der Schweiz und der EU orientieren sich bereits heute an vergleichbaren Zielen. Für den Zeitraum 2013­2020 will die Schweiz ­ wie die EU ­ eine Reduktion der CO2-Emissionen von mindestens 20 % gegenüber 1990 erreichen. Das bestehende nationale Emissionshandelssystem soll weitergeführt und im Rahmen der Revision des CO2-Gesetzes so ausgestaltet werden, dass eine Verknüpfung mit dem Emissionshandelssystem der EU möglich wird. Am 16. Dezember 2009 hat der Bundesrat ein entsprechendes Verhandlungsmandat verabschiedet.

Seitens der EU ist dieser Schritt noch ausstehend. Ziel eines künftigen Abkommens ist es, über eine gegenseitige Anerkennung der Emissionsrechte die Marktgrenzen zwischen dem Schweizer und dem EU-Emissionshandelssystem aufzuheben. Für die Schweiz ist zentral, dass mit einer Verknüpfung Schweizer Unternehmen Zugang zum deutlich grösseren und liquideren europäischen Emissionsmarkt hätten. Sie gewännen mehr Flexibilität bei der Erfüllung ihrer Emissionsziele. Gleichzeitig würden ungleiche Wettbewerbsbedingungen ­ insbesondere gegenüber den europäischen Konkurrenten ­ vermindert.

Die EU wird ab 2012 auch den internationalen Flugverkehr in das Emissionshandelssystem einbinden. Falls eine Verknüpfung der beiden Emissionshandelssysteme gelingt, wird die Schweiz diesen Schritt ebenfalls vollziehen. Die Ausgestaltung und der Zeitpunkt des Einbezugs der Luftfahrt hängen wesentlich vom Verlauf der Verhandlungen über die Verknüpfung der beiden Emissionshandelssysteme ab.

1.3.3.7

Zusammenarbeit im Bereich der Chemikalienregulierung (REACH/CLP)

Seit dem Inkrafttreten des neuen EU-Chemikalienrechts26 am 1. Juni 2007 sind neue Abweichungen zwischen dem EU-Chemikalienrecht und dem bis dahin weitgehend mit dem EU-Recht harmonisierten Schweizer Chemikalienrecht entstanden. Dies hat technische Handelshemmnisse zur Folge, die insbesondere die KMU belasten.

Zudem erleiden verschiedene Teile der Schweizer Wirtschaft signifikante Nachteile gegenüber ihren Konkurrenten innerhalb der EU (Registrierungspflichten für die Recycling-Industrie, grössere Abhängigkeit der Schweizer Händler und Verteiler von ihren EU-Importeuren). Ein bilaterales Abkommen im Bereich der Chemikalienregulierung wäre grundsätzlich geeignet, diese Probleme zu lösen. Die Schweizer Firmen könnten direkt mit der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA)27 korrespondieren (Registrierungen, Zulassungen etc.). Doppelspurigkeiten könnten beseitigt werden. Durch die Übernahme von REACH könnte zudem das Schutzniveau für Mensch und Umwelt in der Schweiz auf jenes der EU angehoben werden.

Der Bundesrat hat am 18. August 2010 ein Verhandlungsmandat für die Zusammenarbeit mit der EU in diesem Bereich beschlossen.

26

27

Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH) und zur Schaffung einer Europäischen Agentur für chemische Stoffe; Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen (CLP).

Vgl. hierzu auch den Agenturbericht, Ziff. 3.2.3 (www.europa.admin.ch).

7271

1.3.3.8

Zusammenarbeit mit der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA)28

Die Rüstungskooperation in Europa findet heute vor allem im Rahmen der Europäischen Verteidigungsagentur statt, die seit Ende 2004 besteht. Die EVA ist eine Plattform für Wissensaustausch und projektbezogene Zusammenarbeit. Eine Schweizer Teilnahme an dieser Plattform ist grundsätzlich möglich; geregelt würde sie in einer Administrativen Vereinbarung. Diese ermöglicht es Drittstaaten, Zugang zur multilateralen Rüstungskooperation in Europa zu erhalten, und regelt den Informationsaustausch zwischen der EVA und dem Drittstaat. Zudem ermöglicht sie, an konkreten Rüstungsprojekten und -programmen teilzunehmen. Eine Verpflichtung der Schweiz, sich an Projekten zu beteiligen oder bestimmte Informationen zu übermitteln, würde hingegen nicht bestehen.

Der Zugang zur multilateralen Rüstungszusammenarbeit in Europa und die Beteiligung am Wissenstransfer wäre für den Forschungs- und Technologiestandort Schweiz und für unsere Rüstungsindustrie von grossem Nutzen.

Die Rüstungsdirektoren der EVA-Mitgliedstaaten haben informell signalisiert, dass sie Interesse am Abschluss einer Administrativen Vereinbarung mit der Schweiz haben. Am 16. Dezember 2009 hat der Bundesrat das schweizerische Verhandlungsmandat verabschiedet.

1.3.3.9

Rahmenabkommen im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Die Europäische Union übernimmt seit 2003 eine immer grössere Rolle auf dem Gebiet der Friedensförderung. Im Rahmen ihrer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) hat sie inzwischen zahlreiche zivile und militärische Friedensförderungsmissionen inner- und ausserhalb Europas durchgeführt. Die Schweiz beteiligt sich an mehreren dieser Missionen, darunter EUFOR Althea und EUPM in Bosnien-Herzegowina sowie EULEX im Kosovo. Die europäischen Staaten, aber auch die Schweiz, stehen vor neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Bislang muss die Schweiz jeweils für die Beteiligung an jeder dieser Friedensförderungsmissionen ein spezielles Abkommen mit der EU abschliessen.

Ein Rahmenabkommen im Bereich der GSVP würde die grundsätzlichen Modalitäten regeln, die für alle Einsätze der Schweiz in zivilen und militärischen Friedensförderungsoperationen der EU gelten. Die EU hat die Schweiz bereits im Herbst 2004 zum Abschluss eines solchen Abkommens eingeladen. Mit einem solchen Abkommen würde die Beteiligung unseres Landes an Friedensförderungsmissionen der EU in keiner Weise präjudiziert, da es allein Sache der Schweiz ist, im Einzelfall zu entscheiden, ob eine Teilnahme opportun ist. Bei militärischen Friedensförderungsmissionen würde ein Rahmenabkommen allerdings nichts daran ändern, dass Zusatzvereinbarungen abgeschlossen werden müssten, dies einerseits mit der EU und andererseits mit weiteren an einer Mission teilnehmenden Ländern. Der Bundesrat betrachtet den Abschluss eines solchen GSVP-Rahmenabkommens grundsätzlich

28

Vgl. hierzu auch den Agenturbericht, Ziff. 3.2.5 (www.europa.admin.ch).

7272

als sinnvoll. Er hat jedoch noch kein entsprechendes Verhandlungsmandat verabschiedet.

1.3.3.10

MEDIA-Abkommen

Die Teilnahme der Schweiz am Filmförderungsprogramm MEDIA wurde im Rahmen der Bilateralen II vereinbart. Das MEDIA-Abkommen trat am 1. April 2006 in Kraft. Da das MEDIA-Programm Ende 2006 auslief, musste die Schweiz erneut verhandeln, nunmehr über ihre Teilnahme am Folgeprogramm (2007­2013). Da die Teilnahme an «MEDIA 2007» eine gewisse Harmonisierung der gesetzlichen Vorschriften der Schweiz mit dem EU-Recht im Bereich des Fernsehens erforderte, wurden Gespräche mit der Europäischen Union geführt. Das Abkommen konnte allerdings ab 1. September 2007 provisorisch angewendet werden. Als die Verhandlungspartner eine befriedigende Lösung gefunden hatten, behandelte das Parlament in der Frühlings- und der Sommersession 2009 die Teilnahme der Schweiz an «MEDIA 2007». Die beiden Bundesbeschlüsse zur Teilnahme der Schweiz am MEDIA-Programm und zu dessen Finanzierung fanden breite Zustimmung und wurden von den eidgenössischen Räten in der Sommersession verabschiedet. Bei der dadurch notwendig gewordenen Änderung des Radio- und Fernsehgesetzes (RTVG) hingegen gab es Differenzen zwischen den beiden Kammern. Nachdem in der Frühlingssession eine Änderung des RTVG beschlossen wurde, können nunmehr alle Schweizer Radio- und Fernsehsender Werbung für Bier und Wein senden. Am 15. Dezember 2009 hat die Schweiz das Generalsekretariat des Rates der EU über den Abschluss des schweizerischen Verfahrens für die Inkraftsetzung des Abkommens informiert. Das Abkommen ist am 1. August 2010 in Kraft getreten.

1.3.3.11

Abkommen über die Bildungs-, Berufsbildungs- und Jugendprogramme

Der Abschluss eines Abkommens zur offiziellen Teilnahme der Schweiz an den EU-Bildungs-, Berufsbildungs- und Jugendprogrammen steht seit den Bilateralen I auf dem europapolitischen «Wunschkatalog» der Schweiz. Mit einem Abkommen soll eine direkte und integrale schweizerische Teilnahme an den genannten Programmen verwirklicht werden.

Der Bundesrat hat am 2. September 2009 die Botschaft zur Genehmigung des Abkommens und der Teilnahmefinanzierung an das Parlament überwiesen29 und die Zustimmung für die Unterzeichnung des Abkommens erteilt. Die parlamentarische Behandlung der Vorlage wurde in der Frühlingssession 2010 abgeschlossen30. Das Bildungsabkommen wurde am 15. Februar 2010 in Brüssel unterzeichnet. Es sieht eine Teilnahme der Schweiz an den Programmen ab 2011 vor.

29 30

BBl 2009 6245 ff.

BBl 2010 2105

7273

1.3.3.12

Abkommen über die Zusammenarbeit im Wettbewerbsbereich

Die Bedeutung der Zusammenarbeit von Wettbewerbsbehörden nimmt mit der Verflechtung der jeweiligen Wirtschaftsräume zu. Nachdem interne Abklärungen die wettbewerbsrechtlichen Vorteile eines Abkommens mit der EU als wichtigstem Handelspartner der Schweiz bestätigt haben, wurden in einem informellen exploratorischen Gespräch mit der EU-Kommission Modalitäten eines möglichen Kooperationsabkommens erörtert. Dazu gehören insbesondere die Beschränkung des Informationsaustauschs auf die Wettbewerbsbehörden der EU-Kommission, die Wahrnehmung der Parteirechte sowie die Opportunität des Austausches auch von vertraulichen Informationen nach Massgabe der beidseitigen Rechtssysteme. Eine Übernahme von EU-Recht wird ausdrücklich ausgeschlossen. Die auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit gestützte Gewährleistung des Wettbewerbs entspricht einer auf Marktöffnung und damit auf den Abbau von Wettbewerbsbeschränkungen ausgerichteten Aussenwirtschaftspolitik, wie sie etwa auch durch die Teilrevision vom 12. Juni 200931 des Bundesgesetzes über die technischen Handelshemmnisse (Einführung des Cassis-de-Dijon-Prinzips) oder die Einführung der regionalen Erschöpfung im Patentrecht angestrebt wird. Der Bundesrat hat am 18. August 2010 ein entsprechendes Verhandlungsmandat verabschiedet.

1.3.3.13

Steuerbereich

Aufgrund des seit dem 1. Juli 2005 umgesetzten Zinsbesteuerungsabkommens32 überweist die Schweiz jedes Jahr gemäss den Bestimmungen des Vertrags den Nettoertrag aus der Erhebung des Steuerrückbehalts auf Zinserträgen an die Mitgliedstaaten der EU. Das bilaterale Abkommen über Ruhegehälter33 vermeidet seit seinem Inkrafttreten am 31. Mai 2005 die Doppelbesteuerung von Rentenzahlungen an ehemalige EU-Beamte mit Wohnsitz in der Schweiz. Die Schweiz ratifizierte am 23. Oktober 2008 das Betrugsbekämpfungsabkommen mit der EU34, das eine moderne Zusammenarbeit der Behörden zur Bekämpfung von Delikten im Bereich der indirekten Steuern anbietet. Dieses Abkommen kann jedoch erst in Kraft treten, wenn alle EU-Mitgliedstaaten ihre Ratifizierungsinstrumente hinterlegt haben, was noch nicht der Fall ist. Seit dem 8. April 2009 wendet die Schweiz das Abkommen gegenüber denjenigen EU-Mitgliedstaaten vorzeitig an, die wie die Schweiz ratifiziert und eine Erklärung über eine vorzeitige Anwendung abgegeben haben.

Seit dem Februar 2007 vertritt die EU-Kommission offiziell die Ansicht, dass bestimmte Regeln der Unternehmensbesteuerung in schweizerischen Kantonen zugunsten von Holdinggesellschaften, gemischten Gesellschaften und Verwaltungsgesellschaften eine Form von staatlicher Beihilfe darstellen und mit dem guten Funktionieren des Freihandelsabkommens von 197235 unvereinbar sind. Die Schweiz lehnt die von der EU in dieser Frage gewünschten Verhandlungen mit gutem Grund ab, da die kritisierten Steuerbestimmungen nicht unter den Anwen31 32 33 34 35

BBl 2009 4463 SR 0.641.926.81 SR 0.672.926.81 SR 0.351.926.81 SR 0.632.401

7274

dungsbereich des Freihandelsabkommen fallen. Sie bot der EU einen Dialog an, den sie dazu nutzte, um ihren Standpunkt zu erläutern.

In einer Mitteilung der EU-Kommission vom 28. April 2009 über verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich stellte die EU eine verstärkte Durchsetzung steuerlicher Prinzipien der EU gegenüber Drittstaaten zur Vermeidung von «schädlichem Steuerwettbewerb» in Aussicht. Der ECOFIN-Rat lud die Kommission am 8. Juni 2010 dazu ein, mit der Schweiz und Liechtenstein in einen Dialog über den EU-internen Verhaltenskodex über die Unternehmensbesteuerung zu treten. Aufgrund des EU-internen Verhaltenskodex, der politisch bindende, gemeinsame Steuerregeln festlegt, mussten die EU-Mitgliedstaaten bereits zahlreiche ihrer Steuerpraktiken ändern.

1.3.3.14

Dienstleistungsbereich

Im Dienstleistungsbereich wurden die im Rahmen der Bilateralen II geführten Verhandlungen in gegenseitigem Einvernehmen unterbrochen. Angesichts der zu unterschiedlichen Positionen erschien der Abschluss eines Abkommens damals nicht möglich. Nach den Ereignissen im Zusammenhang mit der jüngsten Krise der Finanzmärkte und insbesondere nach dem Beschluss des Bundesrates, im Bereich des Informationsaustauschs auf Anfrage den OECD-Standard zu übernehmen, wurde erneut eine Analyse der einschlägigen Interessen der Schweiz erstellt. Auf dieser Grundlage beschloss der Bundesrat am 24. Februar 2010, die Verhandlungen nicht wieder aufzunehmen, wegen der grossen Komplexität der Materie und da viele der einschlägigen EU-Rechtsvorschriften horizontaler Natur sind, sodass es schwierig sein dürfte, im Rahmen eines Abkommens ihren Geltungsbereich auf bestimmte Bereiche zu beschränken. Der Bundesrat prüft deshalb andere Möglichkeiten des verbesserten Marktzutritts.

2

Analyse der jüngsten Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU anhand der Kriterien des Europaberichts 2006 Mitgestaltungsmöglichkeit der Schweiz, Verhandlungsbereitschaft der EU, wirtschaftliche Rahmenbedingungen: Die Kriterien für eine erfolgreiche Weiterführung des bilateralen Wegs sind grundsätzlich erfüllt. Doch der Handlungsspielraum wird für die Schweiz enger.

In seinem Europabericht 200636 stellte der Bundesrat drei Kriterien auf, an denen er sich jeweils orientiert, wenn er beurteilt, welches das geeignetste Instrument für die Wahrung der Schweizer Interessen gegenüber der EU ist. Hierbei geht er davon aus, dass er je nach den Ergebnissen der Verhandlungen im jeweiligen Bereich entscheidet (und auch in Zukunft entscheiden wird), ob er den Entwurf eines Abkommens 36

BBl 2006 6815 ff.

7275

mit der EU dem eidgenössischen Parlament zur Abstimmung unterbreitet. Dieses Kapitel untersucht die Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU anhand dieser drei Kriterien, auch wenn deren Einhaltung und deren Relevanz in Zukunft nicht unbedingt garantiert werden können. Das Kapitel schliesst mit einer Zusammenfassung.

2.1

Kriterium 1: Teilnahme an der Entscheidungsfindung

Zahlen & Fakten Grad an Mitentscheidung Es liegt grundsätzlich im Interesse der Schweiz und der EU, bilaterale Verträge an neue Entwicklungen anzupassen. Wenn die Schweiz Rechtsentwicklungen übernimmt, muss sie an deren Ausarbeitung teilnehmen. Den Entscheid, eine Rechtsentwicklung zu übernehmen, fällt alleine die Schweiz (kein Automatismus).

Seit der Publikation des Europaberichts 2006 ist beim Handlungsspielraum der Schweiz für die Durchführung ihrer eigenen Politiken eine gewisse Erosion festzustellen. Hauptverantwortlich für diese Entwicklung ist die sich verstärkende Forderung der EU, wonach die Schweiz das EU-Recht («EU-Acquis») mitsamt seiner Weiterentwicklung in neue bilaterale Abkommen (und wohl auch in die bestehenden Abkommen) zu übernehmen hat. Diese Haltung hat der Rat der EU erstmals im Dezember 2008, im Rahmen seiner Schlussfolgerungen zu den Beziehungen zwischen der EU und den EFTA-Ländern, explizit formuliert, indem er daran erinnerte, dass die Teilnahme am Binnenmarkt «eine einheitliche und gleichzeitige Anwendung und Auslegung des sich ständig weiter entwickelnden gemeinschaftlichen Besitzstands erfordert»37. Seither hat die EU im Rahmen bilateraler Verhandlungen mit der Schweiz mehrmals Vertragsbestimmungen vorgeschlagen, die das automatische Dahinfallen oder die automatische Sistierung eines Abkommens für den Fall vorsehen, dass die Schweiz neues EU-Recht nicht übernehmen könnte38.

Die Schweiz kann und will der Forderung der EU nach automatischer Übernahme von EU-Recht aus souveränitätspolitischen Gründen nicht nachkommen. Es gilt deshalb, nach Möglichkeiten zu suchen, um den Interessen beider Partner Rechnung zu tragen: denjenigen der EU nach möglichst einheitlicher Anwendung des EU-Rechts auch durch Drittstaaten, die mit ihr Abkommen abgeschlossen haben, und denjenigen der Schweiz nach Respektierung ihrer Souveränität als Nichtmitglied der EU. In diesem Zusammenhang spricht das beiderseitige Interesse an einer Vermeidung von Verzerrungen des geltenden Rechts in Bereichen, die durch Abkommen erfasst werden, ebenfalls für die Suche nach Konsenslösungen.

37 38

Schlussfolgerungen des Rates zu den Beziehungen zwischen der EU und den EFTA-Ländern, Dok. 16651/1/08 vom 8. Dez. 2008.

BBl 2009 6334

7276

Im Sinne eines ausgewogenen Interessenausgleichs orientiert sich der Bundesrat, wie er auch in seinem Aussenpolitischen Bericht 200939 erklärte, an den folgenden fünf Prinzipien: ­

Die Schweiz ist bereit zu akzeptieren, dass sich die Verhandlungen auf den relevanten EU-Besitzstand stützen, sofern die Abkommen die schweizerische Souveränität respektieren.

­

Die ­ nicht automatische ­ Übernahme des relevanten EU-Rechts in unsere Abkommen muss durch eine angemessene Teilnahme an der Entscheidfindung im vom Abkommen betroffenen Bereich, d.h. an der Arbeit der zuständigen Ratsarbeitsgruppen, Komitologie-Ausschüsse (EU-Ausschüsse, die den Besitzstand weiterentwickeln) und Expertengruppen, ausgeglichen werden.

­

Der vorgesehene Mechanismus muss eine Anpassung der Abkommen an die Weiterentwicklung des «Acquis communautaire» erlauben, die Fristen müssen jedoch der Dauer der für die schweizerische Rechtsetzung vorgesehenen Verfahren Rechnung tragen.

­

Vertragsanpassungen müssen immer in gegenseitigem Einvernehmen erfolgen.

­

Kann die Schweiz den Weiterentwicklungen des relevanten EU-Rechts ausnahmsweise nicht Rechnung tragen und besteht die EU darauf, für diesen Fall Ausgleichsmassnahmen zu ergreifen, so dürfen diese nicht über das Mass hinausgehen, das notwendig ist, um das Gleichgewicht des jeweiligen Abkommens aufrechtzuerhalten; die Verhältnismässigkeit dieser Massnahmen kann in einem Schiedsverfahren überprüft werden.

Diese Prinzipien sind bei der Änderung des Abkommens über die Erleichterung der Kontrollen und Formalitäten im Güterverkehr und über zollrechtliche Sicherheitsmassnahmen, mit der das Problem der «24-Stunden-Regel»40 beigelegt werden sollte, eingehalten worden. Mit Ausnahme des letzten Punktes entsprechen auch die Abkommen von Schengen und Dublin diesen Prinzipien. Der Bundesrat hat die Absicht, diese Prinzipien mutatis mutandis in den derzeitigen und künftigen Verhandlungen anzuwenden.

Dies erfordert allerdings ein Eintreten der EU. Nach dem Abschluss des Abkommens über Zollerleichterungen und Zollsicherheit haben jedoch mehrere Vertreterinnen und Vertreter der Europäischen Kommission erklärt, die darin enthaltene institutionelle Lösung könne aus der Sicht der EU nicht als Präzedenzfall gelten und in den Beziehungen zur Schweiz nicht allgemein angewandt werden. Deshalb kann nicht von der Annahme ausgegangen werden, die EU sei bereit, bei künftigen Verhandlungen mit der Schweiz diese Prinzipien generell zu übernehmen. Dennoch haben sowohl die EU als auch die Schweiz Interesse daran, ein reibungsloses Funktionieren der bilateralen Abkommen sicherzustellen und insbesondere bei der laufenden Anpassung ihrer vertraglichen Beziehungen an neue Bedürfnisse flexibel zu sein. In diesem Sinne müssten also Lösungen gefunden werden, die für beide Seiten akzeptabel sind. Falls keine zufriedenstellenden Lösungen gefunden werden, könnte 39 40

Idem.

Botschaft vom 27. Nov. 2009 über die Genehmigung und die Umsetzung des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über Zollerleichterungen und Zollsicherheit, BBl 2009 8929.

7277

der Bundesrat im Lichte aller relevanten Umstände erwägen, die Verhandlungen über das betreffende Abkommen zu sistieren.

Der Lissabonner Vertrag41 stellt auch in dieser Hinsicht eine relevante Entwicklung dar. Die institutionelle Reform der EU dient dem Ziel, die Kohärenz, Handlungsfähigkeit und Durchsetzungskraft der EU zu stärken. Sie bestätigt erneut die Bedeutung der EU als normative Kraft, die die Weiterentwicklung von Regeln auf kontinentaler und selbst auf globaler Ebene beeinflusst. Die Kritik der EU an bestimmten Aspekten der kantonalen Unternehmensbesteuerung oder die immer deutlichere Tendenz, einen automatischen Informationsaustausch zwischen Steuerbehörden durchzusetzen, bieten anschauliche Beispiele hierfür. So verringert sich der Spielraum für Nicht-EU-Mitgliedstaaten, in verschiedenen Bereichen eine Nischenpolitik zu verfolgen.

2.2

Kriterium 2: aussenpolitische Machbarkeit

Zahlen & Fakten Aussenpolitische Machbarkeit Verträge können nur geschlossen oder revidiert werden, wenn beide Vertragspartner dazu bereit sind. Dies ist bei der Schweiz und der EU grundsätzlich der Fall. Die Bereitschaft ist aber nur gegeben, wenn die Anliegen beider Seiten berücksichtigt werden.

Die Abkommen von 1999, 2004 und 2009 zeigen, dass die EU grundsätzlich bereit ist, durch den Abschluss von sektoriellen bilateralen Abkommen mit der Schweiz Lösungen zu finden. Wie in Kapitel 1 erläutert, konnten seit dem Europabericht 200642 mehrere Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden (Unterzeichnung des Abkommens über Zollerleichterungen und Zollsicherheit zur Änderung des Abkommens von 1990; Unterzeichnung des Abkommens über Bildung und Forschung, Unterzeichnung des Abkommens «MEDIA 2007», Vereinbarung mit der EMA etc.). Darüber sollte jedoch nicht vergessen werden, dass im Hinblick auf die aussenpolitische Machbarkeit zunehmende Schwierigkeiten aufgetreten sind. Die Gründe hierfür liegen sowohl bei der EU als auch bei der Schweiz selber.

Seitens der EU wirkt sich die unter Ziffer 2.1 erläuterte zunehmende Tendenz, von der Schweiz die automatische Übernahme von bestehendem, aber auch künftigem EU-Recht zu verlangen, erschwerend auf die weitere Verfolgung des bilateralen Wegs aus. Gefordert wird zudem nicht nur die Berücksichtigung der derzeitigen, sondern auch der künftigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) über die Anwendung von Teilen des EU-Rechts, die in die Abkommen mit der Schweiz integriert wurden. Diese Forderungen werfen in unseren Beziehungen zur EU Schwierigkeiten auf (dieses Thema wird weiter unten in Ziff. 3.4.1 behandelt).

In der Vergangenheit akzeptierte die EU, dass die Umsetzung der Verpflichtungen, die sich aus den mit der Schweiz geschlossenen Verträgen ergeben, von jeder Partei 41 42

ABl. C 115 vom 9. Mai 2008.

BBl 2006 6815

7278

auf ihrem Gebiet selber überwacht wurde. Heute hingegen fordert sie in zunehmendem Masse, dass namentlich im Hinblick auf Abkommen über den Marktzugang supranationale Instanzen mit der Aufsicht betraut werden. Bei weiteren Verhandlungen mit der EU wird die Schweiz diesen Anliegen Rechnung tragen müssen. Es wird also notwendig sein, Lösungen zu finden, die eine einheitliche Anwendung und Auslegung der Abkommen gewährleisten.

Hinzu kommt, dass die EU ebenso wie die Schweiz Entscheide zu einzelnen Fragen immer im Lichte einer Gesamtbeurteilung der Beziehungen vornimmt. Im Dezember 2008 erklärte der Rat der EU, er werde «bei der Bewertung des Interessenausgleichs beim Abschluss zusätzlicher Abkommen bedenken, dass parallele Fortschritte in allen Bereichen der Zusammenarbeit notwendig sind»43. Der Verweis auf «alle Bereiche der Zusammenarbeit», statt nur von Bereichen zu sprechen, in denen verhandelt wird, lässt erkennen, dass die EU im Fall einer konsequenten Anwendung dieses Parallelismus-Prinzips die Annahme von Abkommen, insbesondere wenn sie vor allem für die Schweiz von Interesse sind, so lange blockieren könnte, bis sie ihre Positionen bei Fragen durchgesetzt hat, über die die Schweiz nicht zu verhandeln wünscht. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Kontroverse um die kantonale Besteuerung gewisser Unternehmenstypen.

Auch muss noch die konkrete Bedeutung des Lissabonner Vertrages für die aussenpolitische Machbarkeit des bilateralen Wegs geklärt werden: Einerseits vermindert die Ausdehnung des Prinzips qualifizierter Mehrheitsentscheidungen tendenziell die Bereitschaft der EU zu Sonderlösungen für die Schweiz. Andererseits sind auch Situationen denkbar, in denen der Widerstand eines einzelnen Mitgliedstaates gegen eine der Schweiz genehme Lösung dank Mehrheitsentscheidung überwunden wird.

Was die neuen Zuständigkeiten des Europäischen Parlaments hinsichtlich der Genehmigung internationaler Übereinkünfte der EU44 betrifft, so lassen sie die Verhandlungen mit der EU noch komplexer werden. Zwar ist angesichts der grossen Bandbreite der im Europäischen Parlament vertretenen Ideen und Interessen nicht auszuschliessen, dass manche Positionen der Schweiz hier ein positives Echo finden, doch es ist zu bedenken, dass diese Institution sehr engagiert für die Homogenität des Rechts eintritt, ganz
besonders in Bereichen, die den Binnenmarkt betreffen45.

Es kommt hinzu, dass die EU ihre Zuständigkeitsbereiche ständig weiter ausdehnt (Ziff. 1.3.1), und zwar auch in Bereichen, für die bisher andere regionale Organisationen zuständig waren, in denen die Schweiz Mitglied ist, darunter zum Beispiel die OSZE, der Europarat oder die Europäische Weltraumorganisation (ESA). Dies schränkt den Handlungsspielraum unseres Landes teilweise ganz erheblich ein. So hat zum Beispiel im Bereich der globalen Navigationssysteme die Übertragung der Verantwortung für das Projekt Galileo von der ESA an die EU dazu geführt, dass die Schweiz ihre Beteiligung mit der EU neu verhandeln musste, und zwar zu weniger günstigen Bedingungen als in der ESA, bei der sie Mitglied ist.

Ein weiteres, nicht zu unterschätzendes Problem, mit dem die Schweiz auf dem bilateralen Weg konfrontiert ist, ist die wachsende Rechtsunsicherheit. Dies betrifft 43 44 45

Schlussfolgerungen des Rates zu den Beziehungen zwischen der EU und den EFTA-Ländern, Dok. 16651/1/08 vom 8. Dez. 2008.

Art. 218 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. C 115 vom 9. Mai 2008.

Vgl. «Binnenmarkt jenseits der EU-Grenzen: EWR und Schweiz», Themenpapier der Generaldirektion für Innenpolitik des Europäischen Parlaments, Jan. 2010 (IP/A/IMCO/NT/2009-13, PE 429.993).

7279

Bereiche, die nicht durch einen Vertrag mit der EU geregelt sind. Ein Beispiel hierfür sind die potenziellen Folgen der derzeitigen Entwürfe für Regelungen von Investmentfonds oder Hedgefonds, die für Schweizer Finanzakteure den Zugang zum Markt einschränken könnten. Es betrifft aber auch Bereiche, die vertraglich geregelt sind. Dies ist dann der Fall, wenn Weiterentwicklungen des EU-Rechts in Kraft treten, die Auswirkungen auf die vertraglich geregelten Bereiche haben können. So schreibt zum Beispiel die REACH-Verordnung, mit der die EU zum Schutz von Gesundheit und Umwelt beitragen will, für den Bereich des freien Warenverkehrs vor, dass in der EU chemische Stoffe ab einer Jahresproduktion oder bei Importmengen von mindestens einer Tonne durch die Hersteller oder Importeure auf ihre Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt hin getestet und registriert werden müssen. Diese Vorschrift wird dazu führen, dass Schweizer Firmen, die in die EU exportieren wollen, gegenüber ihren Konkurrenten in der EU erheblich benachteiligt sind, und dies wiederum hätte möglicherweise Hemmnisse und Kosten, wenn nicht sogar die Auslagerung von wirtschaftlichen Aktivitäten und von Arbeitsplätzen zur Folge. Schweizer Unternehmen und vor allem KMU könnten Kunden in der EU verlieren, weil diese die bürokratischen Komplikationen vermeiden wollen, die aufgrund der REACH-Vorschriften mit Einfuhren aus Drittländern verbunden sind.

Um eine Vorstellung von den durch das REACH-Projekt verursachten Kosten zu geben, sei daran erinnert, dass die Exporte der Schweizer Chemie in die EU sich 2009 auf 42,7 Milliarden Schweizerfranken beliefen. Dieses Beispiel zeigt, welche Kosten nicht nur die für die Schweiz potenziell diskriminierenden Weiterentwicklungen des EU-Rechts zu Folge haben können, sondern auch die Rechtsunsicherheit angesichts solcher Entwicklungen in einem Umfeld, in dem die Modalitäten unseres Zugangs zum EU-Binnenmarkt jederzeit in Frage gestellt werden können. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die EU nach dem GATS-Abkommen zwar verpflichtet ist, Zugang zu ihrem Markt zu gewähren, dass sie jedoch nach dem Grundsatz der Inländergleichbehandlung nicht verpflichtet ist, Schweizer Wirtschaftsteilnehmer mit den in der EU ansässigen Akteuren immer gleichzustellen, solange es zwischen der EU und der Schweiz keine gegenseitige
Anerkennung oder Harmonisierung der Normen gibt.

Die Wahrnehmung der Schweiz als zuverlässige und solidarische Partnerin ist ebenfalls eine wichtige Voraussetzung für die Zukunft des bilateralen Wegs. Die Mitwirkung der Schweiz an der Verwirklichung von Zielen, die für den ganzen Kontinent von Interesse sind, und damit auch die Teilnahme an den Bemühungen der EU im sicherheitspolitischen Bereich sowie ein Solidaritätsbeitrag zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der erweiterten EU tragen dazu bei, dass die Schweiz als Partnerin wahrgenommen wird, auf die sich die EU verlassen kann. Diese Wahrnehmung konsolidiert den bilateralen Weg, ihre Infragestellung hingegen würde ihn schwächen.

7280

2.3

Kriterium 3: wirtschaftliche Rahmenbedingungen

Zahlen & Fakten Aktuelle Herausforderungen für die europäische Einheitswährung Da die Schweiz einen intensiven Handel mit Waren und Dienstleistungen betreibt, sind für sie stabile Währungen von zentraler Bedeutung. Die monetäre Stabilität in Europa ist derzeit aber in Frage gestellt.

Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Schweiz haben sich zwar in den letzten Jahren verändert. Doch erscheinen die Eckwerte in einer europapolitischen Perspektive innerhalb des verflossenen halben Jahrzehnts nicht derart verschoben, dass von einer erheblich unterschiedlichen oder gar deutlich schlechteren Lage gesprochen werden könnte. Dennoch ist das Augenmerk auf gewisse neue oder sich akzentuierende Tendenzen zu richten und sind deren längerfristige wirtschaftliche Implikationen für die Europapolitik zu beleuchten. Die noch unbekannte Zukunft der in Bedrängnis geratenen europäischen Währungsunion birgt ein ernstzunehmendes Gefahrenpotenzial für die eng mit der EU verbundene Schweizer Volkswirtschaft.

Heute ist die EU nach wie vor die mit Abstand wichtigste Handelspartnerin der Schweiz. Die Schweiz bezog 2009 78,0 % ihrer Warenimporte aus der EU und lieferte 59.7 % ihrer Exporte dorthin. Aus Sicht der EU ist die Schweiz 2009 ihr zweitwichtigster Kunde, hinter den USA, aber vor China und Russland, und absorbiert 8,1 % der EU-Exporte. Umgekehrt ist die Schweiz die viertwichtigste Warenlieferantin und auch insgesamt die viertwichtigste Handelspartnerin (jeweils hinter USA, China, Russland). Die EU erwirtschaftet im Handel mit der Schweiz ihren zweitgrössten Handelsbilanzüberschuss unter allen wichtigen Handelspartnern, mit einem Wert von 14,8 Milliarden Euro. Auch bei den Direktinvestitionen und bei den Dienstleistungen sind die EU und ihre 27 Mitglieder nach wie vor die mit Abstand wichtigsten Partner der Schweiz.

Wie unter Ziffer 1.3.1 dargelegt, bewegt sich als eine Folge der Globalisierung der Wirtschaft das Zentrum des weltweiten Wirtschaftsgeschehens insgesamt vermehrt von Europa und dem euro-atlantischen Raum weg in Richtung Schwellenländer, vor allem nach Asien. Die einzelnen Volkswirtschaften sind noch enger miteinander vernetzt. Dies führt dazu, dass wirtschaftliche Probleme leicht von einem Land auf ein anderes überschwappen. Dies hat sich insbesondere im Kontext der US-Hypothekenkrise gezeigt, die
weltweit Finanzdienstleister in Schwierigkeiten brachte, mit beträchtlichen Folgen auch für Europa und die Schweiz. Durch die Finanzkrise wurde auch die Realwirtschaft in Mitleidenschaft gezogen. Der Staat war gefordert, den Finanzsektor zu sichern und die Nachfrage in der Realwirtschaft mittels expansiver Ausgabenpolitik zu stützen, wobei die konjunkturellen Stabilisierungsmassnahmen in der Schweiz im Rahmen der Schuldenbremse blieben.

Als Resultat dieser Entwicklung zeigen sich im europäischen Kontext zuerst ein Ende der langen Phase der Deregulierung und ein klarer Trend zur Re-Regulierung der Wirtschaft, namentlich des Finanzdienstleistungsbereichs. Die Ursachen für die durchlebte und noch nicht abgeschlossene tiefe Krise sollen sich nicht wiederholen.

Dies betrifft insbesondere die EU, wo gemeinschaftsweit kongruente und teilweise einschneidende Regulierungen für Banken und Finanzdienstleister Einzug halten mit 7281

­ im Vergleich zum Status quo ante ­ indirekter Schlechterstellung von drittländischen Konkurrenten. Damit erscheint in Zukunft die Breite der Palette zur Erbringung von Dienstleistungen zugunsten von in der EU ansässigen Kunden durch Schweizer Unternehmen juristisch zusehends eingeschränkt und erschwert. Es sind hier verstärkt Marktzutrittshindernisse absehbar.

Mit der Krise geht auch ein markanter Anstieg der Staatsverschuldung in zahlreichen Ländern der EU einher mit erhöhten Begehrlichkeiten in Richtung im Ausland liegenden Steuersubstrats. Dies betrifft die Schweiz und ihren Finanzplatz mit der hier praktizierten Form des Bankgeheimnisses, bei welchem bis vor Kurzem für gewisse Tatbestände der Steuerhinterziehung keine Amts- und Rechtshilfe gewährt wurde. Nachdem sich hier eine Anpassung der bestehenden Doppelbesteuerungsabkommen auf die nach Artikel 26 des OECD-Musterabkommens bestehende Form der Amtshilfe abzeichnet und umsetzt, bewegen sich EU-intern die entsprechenden Regulierungen schon weiter in Richtung des automatischen Informationstausches zwischen Steuerbehörden von Angaben über Kapitaleinkommen. Weil hier der schweizerische Finanzplatz in Konkurrenz zu EU-Finanzplätzen agiert, ist von verstärktem Druck auf unser Land auszugehen, in naher Zukunft eine EU-interne Regulierung zu übernehmen (siehe Ziff. 3).

Insgesamt zeigt sich, dass die Schweiz, trotz ihrer guten Vertretung in den internationalen Finanzinstitutionen und den standardsetzenden Gremien nur beschränkt auf Grundsatzentscheide zur internationalen Finanzarchitektur Einfluss nehmen kann.

Dies, weil sie im massgebenden informellen Gremium ­ der G-20 ­ nicht vertreten ist. Die Etablierung der G-20 als vorrangiges Gremium für Wirtschafts- und Finanzfragen und die diesbezügliche Ablösung der G-8 ist nicht zuletzt Ausdruck des wirtschaftlichen Erstarkens neuer Akteure wie etwa der BRIC-Staaten. Die Mitgliedschaften im IWF oder der OECD erwiesen sich nicht immer als geeignet, anderswo getroffene und für die eigene Entwicklung wenig massgeschneiderte Entscheidungen abzufedern. Dabei bestätigt die Ausnahme der Mitwirkung im Financial Stability Board wohl diese Regel.

Die Schweizer Wirtschaft ist an einem stabilen Währungsgefüge im europäischen Raum interessiert, das voraussehbare Verhältnisse für den Handel mit Waren und
Dienstleistungen begünstigt. Stellte in der Nachkriegszeit die Deutsche Mark den Stabilitätsanker dar, so hat die europäische Einheitswährung, der Euro, seit seiner Einführung bis vor Kurzem diese Rolle übernommen. Es ist ungewiss, ob dies auch weiterhin der Fall sein wird.

Die Verwerfungen der globalen Finanzkrise haben interne Spannungsfelder der Währungsunion zutage gebracht, die durch die bisher im Schnitt erfolgreiche Stabilitätspolitik der gemeinsamen Währung lange Zeit verdeckt blieben. Die Heterogenität und die unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit der Teilnehmer an der gemeinsamen Währung führten zu belastenden Ungleichgewichten innerhalb der Zahlungsbilanzen der Euro-Zone, die durch die mangelnde Durchsetzung der für die Währungsunion festgelegten Regeln zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin sowie einen für einige Mitglieder der Euro-Zone relativ niedrigen Realzins akzentuiert wurden. Die Folge war eine private oder öffentliche Verschuldung in Teilen der Währungsunion, die für Ertragsbilanzdefizite und übermässige Einfuhren verantwortlich zeichnete, die nicht durch entsprechende Exporterlöse, sondern vielerorts durch einen Import von ausländischem Kapital über die Kapitalbilanz gegenfinanziert wurden. Im Zuge der Finanzkrise und angesichts steigender Budgetdefizite und

7282

zunehmender Staatsverschuldung versiegte dieser Kapitalimport oder war mit exorbitanten Risikoprämien verbunden.

Die EU sah sich gezwungen, die am Markt ausbleibende Liquidität durch einen grossen Rettungsschirm, bestehend aus Kreditgarantien, Kreditfazilitäten oder Liquiditätsspritzen der EZB, vorläufig zu ersetzen. Der IWF beteiligt sich an den Rettungsmassnahmen. Nur wenn es der EU zusätzlich gelingt, auch längerfristige Reformen zur Stabilisierung des Euro und zur Förderung ihrer Wettbewerbsfähigkeit gemeinsam durchzusetzen, kann davon ausgegangen werden, dass sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Handelsbeziehungen der Schweiz mit der EU insbesondere im monetären Bereich nicht zum Nachteil entwickeln. Die Krise des Euro kann sich negativ auf die Preisstabilität sowohl innerhalb der EU als auch in der Schweiz auswirken. Sie könnte die Wirtschaftsdynamik eines für die Schweiz bedeutenden Absatzmarktes für eine geraume Zeit dämpfen und unberechenbare Verwerfungen sowie für Schweizer Exporteure unvorteilhafte Konditionen beim Wechselkurs zwischen dem Schweizerfranken und dem Euro verursachen. In jüngster Zeit war bereits eine nominelle, aber auch reale Aufwertung des Schweizerfrankens zu verzeichnen. Angesichts dieser Unsicherheiten kommt dem Schweizerfranken wieder vermehrt die Rolle eines sicheren Hafens zu, was sich in dessen Trend zur Aufwertung ausdrückt. Den exportseitigen Belastungen der Wirtschaft stehen gewisse Entlastungen durch tiefere Kosten für Importe von Investitionsgütern und Vorleistungen gegenüber. Hinzu kommt, dass sich der Schweizerfranken gegenüber anderen Weltwährungen in letzter Zeit eher abgeschwächt hat.

Wechselkurs CHF/EUR Monatsmittelwerte seit 1999 1.70

80

1.65

85

1.60

90

1.55

95

1.50

100

1.45

105

1.40

110

1.35

115

1.30 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010

120

nominal (linke Skala)

real (invers, rechte Skala, Januar 1999=100)

Die Schweiz hat die schwere Krise bisher vergleichsweise heil überstanden und bereits wieder zu wirtschaftlicher Dynamik zurückgefunden. Angesichts eines Aufwertungsdrucks auf den Schweizerfranken, namentlich gegenüber dem Euro, trotz historisch tiefer Geld- und auch Kapitalmarktzinsen, sind exportorientierte Branchen wie Handel, Tourismus und Industrie mit einer besonderen Herausforderung konfrontiert. Dieser Druck ist allerdings unter Berücksichtigung der unter7283

schiedlichen Inflationsentwicklungen seit Einführung der Einheitswährung weniger deutlich, als die öffentliche Perzeption dies wahrnimmt.

Umgekehrt ist es der Schweiz im präferenziellen Handelsbereich einerseits gelungen, mittels Abschluss von Freihandelsabkommen mit grösseren Partnern wie Korea, den Staaten des arabischen Golfkooperationsrates und Kanada (im EFTAVerbund) oder Japan (bilateral) einen Marktzutrittsvorsprung gegenüber der EU zu erreichen. In diesem Sinn kommt der Autonomie der Schweiz in ihren weltweiten Handelsbeziehungen heute ein höheres Gewicht zu als noch vor ein paar Jahren.

Uneingeschränkt an der wirtschaftlichen Globalisierung zu partizipieren ist handelspolitisch ebenso wichtig wie eine vertiefte Anbindung an den europäischen Binnenmarkt, dies namentlich auch im Lichte der unterschiedlichen Wachstumsraten in den einzelnen Wirtschaftsregionen der Welt.

Parallel dazu ist die Situation eines Landes vom wirtschaftlichen Gewicht der Schweiz auf internationaler Ebene und insbesondere in der WTO schwieriger geworden. Konnte sich die Schweiz etwa im Rahmen der Uruguay-Runde des GATT noch als Vermittlerin zwischen den Grossen für Kompromisslösungen einsetzen, welche nach Möglichkeit auch unsere Besonderheiten gebührend berücksichtigten, so hat die Institutionalisierung der Prozesse in der Welthandelsorganisation WTO die Situation zugunsten der grossen Handelsblöcke verändert. Diese handeln Lösungen direkt untereinander aus, was die traditionelle Rolle der Schweiz schwächt. Für die kleineren Länder verlangt Interessenwahrung somit vermehrt nach Koalitionen mit grösseren Partnern. Der EU kommt dabei aufgrund ihrer geopolitischen Lage und teilweise mit der Schweiz konvergenten Interessen als Koalitionspartnerin eine wachsende Bedeutung zu. Allerdings ist es der EU in Anbetracht ihrer komplexen Entscheidungsfindungsmechanismen bis heute kaum gelungen, Koalitionen zu bilden und anzuführen.

2.4

Zusammenfassung

Die in diesem Kapitel beschriebenen Entwicklungen lassen deutlich erkennen, dass sich bei der Gestaltung der Beziehungen der Schweiz zur EU mit den Instrumenten des bilateralen Wegs der Handlungsspielraum unseres Landes verringert.

Im Hinblick auf die Wahrung der Interessen der Schweiz war der bisher verfolgte bilaterale und sektorielle Weg zweifellos erfolgreich. Dieser Weg wird von den Schweizerinnen und Schweizern auch klar unterstützt. Allerdings haben die Veränderungen der letzten Jahre die Rahmenbedingungen dieses europapolitischen Instruments erheblich modifiziert. Manche Entwicklungen zeichnen sich bereits seit einiger Zeit ab. So kann nach Auffassung der EU der Grundsatz der Gleichwertigkeit von Schweizer Recht und EU-Recht nicht mehr Grundlage für die vertraglichen Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz sein. Bereits seit mehreren Jahren vertritt die EU den Standpunkt, dass Verträge mit der Schweiz nur mit einer sektoriellen Übernahme des einschlägigen EU-Rechts denkbar sind. Andere Entwicklungen neueren Datums könnten das Wesen des bilateralen Wegs noch tiefgreifender verändern. Die Entwicklungen der 2006 aufgestellten Eckwerte der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, der Möglichkeiten zur Teilnahme an der Entscheidfindung sowie der aussenpolitischen Machbarkeit weisen insgesamt eine je nach Bereich mehr oder weniger ausgeprägte negative Tendenz auf.

7284

Die EU erhebt heute den Anspruch, dass die Schweiz sämtliche Binnenmarktvorschriften inklusive ihrer Weiterentwicklungen einhält, dass sie also diese Vorschriften in der gleichen Weise anwendet und auslegt wie die Organe der EU. In neuen Verhandlungsbereichen ist festzustellen, dass die EU den Begriff des einschlägigen EU-Rechts weit auslegt. Zum Beispiel will die Europäische Kommission im Rahmen der Verhandlungen im Strombereich auch auf bestimmte Aspekte des EU-Umweltrechts eingehen (Ziff. 1.3.3.4). Diese Tendenz bringt für den von der Schweiz vertretenen sektoriellen Ansatz zunehmend Schwierigkeiten mit sich.

Hinzu kommt, dass die EU weniger bereit ist, in ihren Beziehungen zur Schweiz Lösungsvorschläge zu akzeptieren, die nicht mit dem EU-Recht übereinstimmen.

Darüber hinaus besitzen die Forderungen der EU häufig eine allgemeine oder horizontale Tragweite. Sie betreffen mit anderen Worten die institutionellen Aspekte der Verträge und kommen in allen Verhandlungen mit der Schweiz und auch im Rahmen der Nachführung bestehender Abkommen systematisch zur Sprache.

Diese Entwicklungen machen den bilateralen Weg nicht ungangbar. Angesichts ihrer sehr engen Beziehungen müssten die Schweiz und die EU noch immer in vielen Bereichen ein Interesse daran haben, mit spezifischen Abkommen Lösungen zu finden. Dennoch ist es offenkundig, dass eine Weiterführung des bilateralen Wegs schwieriger geworden ist. Denn die EU stellt immer häufiger die Forderung, die Verträge mit der Schweiz müssten auf einer ausnahmslosen Übernahme des einschlägigen EU-Rechts basieren, wobei sie dieses immer umfassender definiert und auch verbindliche Mechanismen in die neuen Verträge einbauen will, die deren Anpassung an Weiterentwicklungen des Besitzstandes gewährleisten. Andererseits kann die EU auch einen gewissen Pragmatismus an den Tag legen wie zum Beispiel unlängst im Zusammenhang mit dem Abkommen über Zollerleichterungen und Zollsicherheit («24-Stunden-Regel»), bei dem für sie ebenso wie für die Schweiz wesentliche Interessen auf dem Spiel standen. Sofern dieser Pragmatismus nicht vorhanden ist, könnte es für die Schweiz angebracht sein, auf den Abschluss bestimmter Abkommen zu verzichten. Auf jeden Fall wird der Bundesrat in jedem Verhandlungsdossier aufgrund einer Interessenabwägung beschliessen, ob er ein neues Abkommen
mit der EU dem Parlament und gegebenenfalls dem Volk zur Abstimmung vorlegen will.

Gerade angesichts der zunehmenden Schwierigkeiten ist eine vergleichende Prüfung der Vor- und Nachteile anderer europapolitischer Instrumente für die Schweiz umso wichtiger. So können nicht allein aufgrund einer Evaluation des bilateralen Wegs, sondern erst durch dessen Vergleich mit anderen Optionen Schlussfolgerungen gezogen werden. Wohlverstanden darf erwartet werden, dass auch die EU zur Suche akzeptabler Lösungen beiträgt, da ja auch sie massgeblich von den Abkommen mit der Schweiz profitiert. Diese Analyse wird in Kapitel 3 dieses Berichts gemacht.

7285

3

Analyse der Herausforderungen und Konsequenzen für die europapolitischen Instrumente der Schweiz

3.1

Gliederung des Kapitels

In diesem Kapitel wird untersucht, ob und in welchem Umfang verschiedene Optionen des europapolitischen Instrumentariums die Möglichkeit bieten, auf die Entwicklungen zu reagieren, die seit der Veröffentlichung des Europaberichts 200646 in den Beziehungen zur EU eingetreten sind oder sich verstärkt haben. Es handelt sich hierbei um Entwicklungen im Bereich der institutionellen Regelungen, um die Forderung nach einem parallelen Vorgehen in den verschiedenen Dossiers, um den Steuerbereich und um Hindernisse beim Zugang zum EU-Binnenmarkt. Die verschiedenen Instrumente werden auch hinsichtlich ihrer zu erwartenden Auswirkungen auf die Wirtschafts- und die Währungspolitik sowie hinsichtlich ihrer Kosten evaluiert. Als Beispiel wird abschliessend ihre sozialpolitische und umweltpolitische Tragweite skizziert47.

Ebenfalls darin eingebettet wurde eine aktualisierte Fassung der 2006 erstellten Analyse der Auswirkungen jedes europapolitischen Instruments auf bestimmte wesentliche Bereiche der institutionellen Organisation wie etwa die Demokratie, den Föderalismus oder Rolle, Organisation und Arbeitsmethoden der Exekutive und der Legislative.

In diesem Bericht werden die folgenden europapolitischen Instrumente analysiert: ­

Weiterführung des bilateralen Wegs einschliesslich der Anpassung der bestehenden Abkommen an die Weiterentwicklungen des EU-Rechts, soweit erforderlich, jedoch ohne den Abschluss neuer Abkommen

­

Weiterführung des bilateralen Wegs und seine Weiterentwicklung durch neue Abkommen in Bereichen von gemeinsamem Interesse

­

Schaffung eines institutionellen Rahmens (rechtsverbindliches Rahmenabkommen oder politisches Referenzdokument), der die Handhabung der Abkommen zwischen der Schweiz und der EU erleichtert und die Verfahren für die Anpassung der Abkommen an die Entwicklungen des EU-Rechts sowie die Tätigkeiten der zahlreichen Gemischten Ausschüsse strafft

­

Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR)

­

Beitritt der Schweiz zur EU

­

Beitritt der Schweiz zur EU mit Ausnahmeregelungen.

Diese Instrumente stellen Reinformen möglicher Kooperationen dar. Sie sind entsprechend nicht so zu verstehen, dass sich die Schweiz für eine von ihnen entscheiden müsste, ohne von der Reinform abweichen und Elemente eines andern Instruments dazunehmen zu können. Einzelne dieser Elemente können, soweit dies den Interessen der Schweiz und der EU entspricht, kombiniert werden. Insbesondere die unterschiedlichen Formen einer bilateralen Zusammenarbeit sind nicht als sich gegenseitig ausschliessende Optionen zu verstehen. Es ist etwa denkbar, dass in gewissen Bereichen der Zusammenarbeit keine weiteren Verträge angestrebt werden 46 47

BBl 2006 6815 ff.

Der Europabericht 2006 untersucht die Auswirkungen der verschiedenen europapolitischen Instrumente in einer Vielzahl von Bereichen, sodass darauf verwiesen werden kann.

7286

sollen, während für andere eine horizontale institutionelle Lösung gesucht wird. Für wieder andere Bereiche könnten spezifische institutionelle Mechanismen vorgesehen werden. Für den Bundesrat stehen die strategischen Entscheide im Vordergrund.

Erst wenn diese gefällt sind, kann über deren konkrete Umsetzung mit der EU verhandelt werden.

3.2

Nicht berücksichtigte Instrumente

3.2.1

Der Alleingang

«Alleingang der Schweiz» Bei einem Alleingang würde die Schweiz die bestehenden Abkommen mit der EU aufkündigen. Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU, namentlich auch im wirtschaftlichen Bereich, sind jedoch heute zu eng, als dass die Schweiz ihre Interessen im Alleingang angemessen wahren könnte.

Ebenso wie der Europabericht 200648 schliesst die vorliegende Untersuchung das Instrument des «Alleingangs»49 aus. Angesichts der vielfältigen vertraglichen Beziehungen zur EU ist dieses Szenario (das in unterschiedlichen Varianten darin bestehen würde, alle oder einen Teil der Abkommen mit der EU zu kündigen oder darauf zu verzichten, sie an die Weiterentwicklungen des einschlägigen EU-Rechts anzupassen) nicht als geeignet zu betrachten: Eine Kündigung der Abkommen mit der EU kommt nicht in Frage. Sie würde klar im Widerspruch zu den Interessen des Landes und seiner Wirtschaft stehen50. Insbesondere würde eine Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens, die in manchen Kreisen diskutiert wird, die automatische Kündigung aller anderen Abkommen der Bilateralen I zur Folge haben, denn sie würde die Guillotineklausel auslösen, welche die Abkommen miteinander verbindet. Wenn wir uns so weitgehend von unserem wichtigsten Partner abgrenzen würden, würde dies zu einem Rückgang der Investitionen und zur Verlagerung eines Teils der Güter- und Dienstleistungsproduktion ins Ausland führen, was negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit, das Wachstum und die Beschäftigung in der Schweiz zur Folge hätte.

Es ist ausserdem höchst fraglich, ob die Option des «Einfrierens» der Beziehungen zur EU in ihrem gegenwärtigen Zustand mittel- und langfristig realisierbar wäre. Sie würde die Abweichungen zum einschlägigen EU-Recht zunehmend vergrössern.

Damit stünde sie im Widerspruch zu den Verpflichtungen, die in zahlreichen Abkommen eingegangen worden sind. Insbesondere wäre diese Option ausgeschlossen für das Schengen/Dublin-Assoziierungsabkommen51 und das Abkommen über 48 49 50

51

BBl 2006 6830 Eine Analyse des Alleingangs findet sich bereits in «Schweiz ­ Europäische Union: Integrationsbericht 1999» vom 3. Febr. 1999, BBl 1999 3935.

Antwort des Bundesrates auf die Frage Fehr Hans (09.5525) «Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens»; Antwort des Bundesrates auf die Motion der SVP-Fraktion (09.4024) «Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens. Neuverhandlungen mit der EU».

Abkommen vom 26.10.2004 über die Assoziierung der Schweiz bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands, SR 0.362.31.

7287

Zollerleichterungen und Zollsicherheit52, denn in diesen Abkommen hat sich die Schweiz verpflichtet, die einschlägigen Weiterentwicklungen des Besitzstandes zu übernehmen, an deren Ausarbeitung sie ohne Mitentscheidungsrecht mitwirken kann53. Für die Mehrzahl der anderen sektoriellen Abkommen, die auf dem Prinzip der Gleichwertigkeit der Rechtsvorschriften beruhen54, könnte dieses Vorgehen eine Pflichtverletzung der Schweiz gegenüber der EU bedeuten. Denn selbstverständlich wäre ein Verzicht auf die regelmässige Anpassung dieser Abkommen an die Weiterentwicklungen des EU-Rechts gleichbedeutend mit einer Infragestellung dieser Gleichwertigkeit und der erforderlichen Homogenität des Rechts. Zudem würde sich auf politischer Ebene die Frage stellen, ob nicht die EU angesichts zunehmender Abweichungen zu den Weiterentwicklungen des EU-Rechts gewisse Abkommen letztlich kündigen würde. Dies könnte dann der Fall sein, wenn sie zum Schluss kommt, dass ihre Rechte und die ihrer Mitgliedstaaten nicht mehr ausreichend gewährleistet sind55. Bei den bilateralen Abkommen I56 könnte die Existenz der «Guillotineklausel», derzufolge die Kündigung eines der sieben Abkommen von 1999 automatisch die Kündigung der anderen sechs nach sich zieht, die EU wahrscheinlich bis zu einem gewissen Grad davon abhalten, eines dieser Abkommen einzig und allein deshalb zu kündigen, weil es nicht an die Weiterentwicklungen des einschlägigen EU-Rechts angepasst wurde. Die anderen bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU enthalten keine solche Klausel ­ die EU indessen macht die Weiterführung bestimmter Abkommen (Schengen/Dublin) und die Verlängerung der Teilnahme an bestimmten Programmen (MEDIA, Bildung) von der Weiterführung des Personenfreizügigkeitsabkommens abhängig. Wenn auf der anderen Seite die wachsenden Abweichungen zwischen dem EU-Recht und einem Abkommen mit der Schweiz negative Auswirkungen für die Schweiz hätten, wäre die autonome Übernahme der entsprechenden Weiterentwicklung des EU-Besitzstandes kaum eine Lösung, da die EU die Gegenseitigkeit nicht garantieren würde.

Zwar können europakompatible Rechtsvorschriften in der Schweiz Diskriminierungen im Verhältnis zu den EU-Mitgliedstaaten mildern, doch würden diese damit nicht beseitigt: Allein die Abkommen garantieren die erforderliche Gegenseitigkeit der
Rechte und Pflichten. Zudem sollte der sogenannte autonome Nachvollzug im Schweizer Recht grundsätzlich nur dort angestrebt werden, wo wirtschaftliche Interessen dies erfordern oder rechtfertigen57. In Ermangelung neuer Abkommen jedoch kann die Notwendigkeit, die negativen Auswirkungen allzu grosser Abwei52 53

54 55

56 57

Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über Zollerleichterungen und Zollsicherheit, SR 0.631.242.05.

Im Fall von Schengen/Dublin kann die Nichtübernahme einer Weiterentwicklung des Acquis letztlich zur Beendigung des Abkommens führen. Im Fall des Abkommens über die Zollerleichterungen kann die EU angemessene Ausgleichsmassnahmen ergreifen.

Filliez F. und Mock H. «La Suisse et l'Union européenne: état des lieux d'une relation sui generis», Journal des Tribunaux, Droit européen, 2006, S. 163.

In den am 8. Dez. 2008 angenommenen Schlussfolgerungen des Rates der EU zu den Beziehungen zwischen der EU und den EFTA-Ländern erinnerte der Rat daran, dass «die Teilnahme am Binnenmarkt eine einheitliche und gleichzeitige Anwendung und Auslegung des sich ständig weiter entwickelnden gemeinschaftlichen Besitzstands erfordert».

Botschaft vom 23. Juni 1999 zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU (Botschaft bilaterale Abkommen), BBl 1999 6128.

Bericht des Bundesrates vom 15. Juni 2007 zu den Auswirkungen verschiedener europapolitischer Instrumente auf den Föderalismus in der Schweiz, BBl 2007 5907, 5920. Ziel ist es, Markthindernisse zu beseitigen und die Schweizer Wirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen. Siehe z.B. Cottier Th., Dzamko D. und Evtimov E. «Die europakompatible Auslegung des schweizerischen Rechts», Schweizerisches Jahrbuch für Europarecht, Zürich/Basel/Genf, 2004, S. 357 ff.

7288

chungen zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen auf die Schweizer Wirtschaft so weit wie möglich zu begrenzen, nur dazu führen, dass immer systematischer auf diesen autonomen Nachvollzug zurückgegriffen wird. Dies wiederum würde eine «Satellitisierung» fördern, deren Merkmal eine zwar autonome, aber durch immer geringere Handlungsspielräume gekennzeichnete Übernahme von Normen ist, auf deren Ausarbeitung die Schweiz keinen Einfluss hat.

Letztlich würde ein Alleingang die bestehenden Abkommen weitgehend in Frage stellen. Sie könnten gekündigt werden (was gegebenenfalls die Anwendung der Guillotineklausel zur Folge hätte, welche die Bilateralen I miteinander verbindet) oder sie wären aufgrund der zu grossen Abweichungen zwischen den innerhalb der EU und den im Verhältnis zur Schweiz geltenden Regelungen einfach nicht mehr umsetzbar58. Dies hätte eine Verschlechterung der Position der Schweiz im weltweiten Wettbewerb zur Folge, und eine solche Entwicklung läge selbst aus souveränitätspolitischen Überlegungen nicht im Interesse des Landes.

3.2.2

Die Zollunion

Anders als im Europabericht 200659 wird das Instrument einer Zollunion als solches nicht mehr in Erwägung gezogen. Sie hätte die vollständige Aufhebung der Zölle und der Warenkontrollen an der Grenze sowie der entsprechenden Gebühren zur Folge, die Schweiz verlöre jedoch ihre Autonomie in der Aussenwirtschaftspolitik und müsste den EU-Zolltarif gegenüber Drittstaaten anwenden. Während ein Beitritt zur EU definitionsgemäss mit einer Zollunion verbunden wäre, ist eine Zollunion auch im Rahmen der bilateralen Zusammenarbeit möglich, wie sie heute mit allen im Europabericht 2006 beschriebenen Vor- und Nachteilen verfolgt wird. Neben markanten Einsparungen bei den Zollformalitäten im Handel mit der EU gilt es hier Konsequenzen in Erinnerung zu rufen wie beispielsweise den Verlust eines massgeschneiderten Grenzschutzes für die Landwirtschaft und Teile der Verarbeitungsindustrie ohne die Vorteile der Übernahme des EU-Lebensmittelrechts, den Verlust der Vertragsfreiheit für Freihandelsabkommen mit Drittstaaten und in der WTO oder die Notwendigkeit einer Anhebung der Mehrwertsteuer auf einen Mindestsatz von 15 %. In dieser Hinsicht hat sich die Situation seit 2006 kaum verändert. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Konzessionen, die mit dieser Option verbunden sind, nur im Rahmen einer sehr weitgehenden Annäherung an die EU gerechtfertigt wären. Eine separate Analyse dieses Instruments rechtfertigt sich aus diesem Grund nicht.

58

59

Zum Abkommen über die Personenfreizügigkeit vom 21. Juni 1999 (SR 0.142.112.681) siehe die Analyse von Dieter Grossen in: Borghi A. «La libre circulation des personnes entre la Suisse et l'UE», Genf, 2010, S. XI ff.

BBl 2006 6830

7289

3.3

Weiterführung des bilateralen Wegs ohne neue Abkommen

«Bilateraler Weg ohne neue Abkommen» Bei dieser Option würden die bestehenden bilateralen Verträge beibehalten, neue Abkommen mit der EU aber nicht geschlossen. Die enge Verflechtung lässt es allerdings als unrealistisch erscheinen, von vornherein auf die Möglichkeit neuer bilateraler Verträge zu verzichten. Denn je nach Entwicklung kann es im Interesse der Schweiz liegen, neue Abkommen mit der EU auszuhandeln.

Als erstes Szenario wird die Weiterführung des sektoriellen bilateralen Wegs in den Beziehungen zur EU untersucht, bei dem das bereits Erreichte erhalten, grundsätzlich jedoch auf neue Abkommen verzichtet wird. Dieses Szenario wäre denkbar, wenn die Schweiz das derzeitige Vertragsnetz für ausreichend und nicht für entwicklungsbedürftig hielte oder wenn die Analyse der Bedingungen für den Abschluss neuer Abkommen (insbesondere auf institutioneller Ebene) zu dem Schluss kommen sollte, dass eine Weiterentwicklung grundsätzlich nicht opportun ist.

3.3.1

Institutionelle Aspekte

Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die EU aufgrund der sehr intensiven und engen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU nach wie vor unsere wichtigste Partnerin ist und dass es daher unrealistisch wäre, das Aushandeln künftiger Abkommen in Bereichen von gemeinsamem Interesse von vornherein auszuschliessen. Obwohl er sich bemüht Prioritäten zu setzen, sind doch gerade die Anzahl der Themen, die zurzeit Gegenstand von Verhandlungen oder Sondierungsgesprächen sind (Ziff. 1.3.3), in dieser Hinsicht aufschlussreich. Zudem können nicht vorhersehbare Situationen einen raschen Abschluss von Abkommen in Bereichen erfordern, die bis anhin nicht berücksichtigt oder nicht als prioritär betrachtet worden waren60. Mit anderen Worten: Eine Politik welche neue Abkommen mit der EU grundsätzlich ausschliesst, würde uns zwingen, auf Abkommen zu verzichten, die a priori in unserem Interesse sein könnten. Sie könnte somit mit dem paradoxen Resultat eines steigenden Drucks zum EU-Beitritt verbunden sein.

Ein grundsätzlicher Verzicht auf den Ausbau des bilateralen Wegs durch weitere Abkommen würde die Schwierigkeiten, die uns die zunehmenden Ansprüche der EU in Bezug auf die Übernahme des EU-Besitzstandes und seiner Weiterentwicklungen bereiten, nur scheinbar beheben. Denn zum einen würde sich die Frage im Zusammenhang mit der Anpassung der bestehenden Abkommen, die durch die Weiterentwicklungen des EU-Rechts notwendig wird, auch weiterhin stellen. Und zum anderen würde sie sich mit noch mehr Dringlichkeit stellen in Fällen, in denen trotz allem Neuverhandlungen notwendig würden, um die Interessen der Schweiz optimal zu wahren. In einem solchen Fall müsste die Schweiz gegenüber der EU als Bittstelle60

So erwies sich zum Beispiel im Zuge der H1N1-Pandemie eine technische Vereinbarung mit der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) als dringend notwendig. Die Vereinbarung wurde Mitte Febr. 2010 unterzeichnet.

7290

rin auftreten. Im einen wie im anderen Fall würden die weiter unten (Ziff. 3.4) erläuterten Überlegungen zur Option eines Ausbaus des bilateralen Wegs zutreffen.

Zudem wäre nicht auszuschliessen, dass die EU schliesslich alle oder einen Teil der bestehenden Abkommen kündigt, wenn die Schweiz nicht bereit ist, neue abzuschliessen (Ziff. 3.2.1).

Auf institutioneller Ebene würde eine Weiterführung des bilateralen Wegs ohne neue Abkommen im Prinzip keine Anpassungen der Schweizer Institutionen erfordern. Der Bericht des Bundesrates vom 15. Juni 200761 zu den Auswirkungen verschiedener europapolitischer Instrumente auf den Föderalismus in der Schweiz geht detailliert auf die potenziellen Auswirkungen einer Weiterführung des bilateralen Wegs auf den Föderalismus in einem Umfeld ein, das von einer beständigen Vertiefung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU geprägt ist. Er macht deutlich, dass im Rahmen des bilateralen Wegs die Mitwirkung der Kantone sichergestellt wird durch den Einsitz von Kantonsvertreterinnen und -vertretern in den Verhandlungsdelegationen für die Gemischten Ausschüsse sowie in den Komitologieausschüssen oder in Expertentreffen (und entsprechend auch in den jeweiligen verwaltungsinternen Vorbereitungs- und Nachbereitungssitzungen). Auch ist durch die jeweiligen Informationsbeauftragten der Kantone im EJPD, im Integrationsbüro EDA/EVD und in der Mission der Schweiz bei der EU der Informationsaustausch garantiert. Schliesslich werden die Kantone in ihren Zuständigkeitsbereichen auch in entsprechende Verhandlungen über zu ändernde oder neue Abkommen einbezogen.

Hinsichtlich der direkten Demokratie wäre vor allem im Rahmen der Schengen/ Dublin-Assoziierung auch weiterhin darauf zu achten, dass bei der Anpassung der Abkommen mit der EU Fristen eingehalten werden, die der Dauer der in der schweizerischen Gesetzgebung vorgesehenen Verfahren einschliesslich allfälliger Referenden Rechnung tragen.

3.3.2

Die Frage des Parallelismus

Eine Weiterführung des bilateralen Wegs wäre in Verbindung mit dem Verzicht auf neue Abkommen insofern von Vorteil, als sie das Problem des Parallelismus verschiedener Verhandlungsdossiers teilweise beheben würde. Die EU könnte zumindest theoretisch keinen Druck auf die Schweiz ausüben, indem sie neue Verhandlungen blockiert. Abgesehen davon könnte sie aber die Aktualisierung der bestehenden Abkommen behindern ­ vor allem dann, wenn sie vorwiegend den Interessen der Schweizer Wirtschaft dient. Und schliesslich könnte sie ein Abkommen auch kündigen. In den bereits zitierten Schlussfolgerungen spricht der Rat der EU von parallelen Fortschritten «in allen Bereichen der Zusammenarbeit» (siehe Ziff. 2). Aus der Sicht der EU betrifft diese Bemerkung sicherlich die Kontroverse um die kantonale Besteuerung gewisser Unternehmenstypen und den Solidaritätsbeitrag zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der erweiterten EU. Dazu kommt, dass es aufgrund der engen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU vor allem im wirtschaftlichen Bereich kaum realistisch ist, die Notwendigkeit neuer Abkommen von vornherein auszuschliessen, wenn es um wichtige Schweizer Interessen geht, so etwa um den Wirtschaftsstandort und den

61

Föderalismusbericht, BBl 2007 5907 ff.

7291

Finanzplatz. In einem solchen Fall ist zu erwarten, dass die EU Gegenforderungen stellt und konsequent das Prinzip des Parallelismus anwendet (Ziff. 3.4).

3.3.3

EU-Forderungen im Steuerbereich

Aufgrund seiner Lage und Bedeutung ist der Schweizer Finanzplatz als direkter Konkurrent im Blickfeld der EU, wenn es darum geht, den Finanzbinnenmarkt der Union zu regulieren. So war die EU von Anfang an bestrebt, Drittstaaten wie die Schweiz in ihr System der grenzüberschreitenden Zinsbesteuerung einzubinden. Der Bundesrat war grundsätzlich bereit, sich an einer Zinsbesteuerung für Bürgerinnen und Bürger der Union, die in der Schweiz eine Bankbeziehung unterhalten, aber nach wie vor in einen EU-Mitgliedstaat ansässig sind, zu beteiligen, um eine Umgehung der EU-internen Besteuerung von Kapitalerträgen via die Schweiz zu verhindern. Doch besteht die Schweiz darauf, dass die Zinserträge von natürlichen Personen mit Sitz in einem EU-Staat einer anonymen Zahlstellensteuer unterliegen, um die Effizienz und den traditionellen Schutz der Privatsphäre des Kunden zu gewährleisten. Das seit 2005 zwischen der Schweiz und der EU umgesetzte Zinsbesteuerungsabkommen62 funktioniert gut, was auch von der EU-Kommission bescheinigt wurde. Im Steuerjahr 2009 wurde den EU-Mitgliedstaaten ein Netto-Steuerrückbehalt von 401,1 Millionen Schweizerfranken überwiesen (2008: rund 554 Mio.

CHF).

Die EU-Zinsbesteuerungsrichtlinie ist jedoch von Anfang an mit Lücken behaftet, die etwa eine Umgehung mittels zwischengeschalteter juristischer Strukturen ermöglichen, da nur natürliche Personen vom System erfasst werden. Ebenfalls kann das System durch Ausweichen auf Produkte mit ähnlichen Eigenschaften wie diejenigen, die vom Zinsbegriff der Richtlinie erfasst werden, umgangen werden. Die EU ist bestrebt, diese Schlupflöcher zu stopfen. Bis jetzt hat die Schweiz signalisiert, dass sie im Grundsatz bereit sei, geeignete technische Anpassungen beim Zinsbesteuerungsabkommen vorzunehmen, nachdem die EU ihr System korrigiert hat. Das sogenannte Koexistenzmodell, d.h. das Nebeneinander der von der Schweiz (und den EU-Mitgliedstaaten Luxemburg und Österreich) praktizierten Zahlstellensteuer und des automatischen Informationsaustauschs unter Steuerbehörden, der von den übrigen EU-Mitgliedstaaten durchgeführt wird, soll dabei nicht in Frage gestellt werden. Dies gilt selbst dann, wenn Vertreter der EU-Kommission gelegentlich auch von der Schweiz die Einführung eines automatischen Informationsaustauschs verlangen. Falls die Schweiz von
der EU formell ersucht würde, in Verhandlungen über eine Revision des Zinsbesteuerungsabkommens einzutreten, und falls der Bundesrat im Sinne einer Politik des Verzichts auf neue Abkommen mit der EU ein Eintreten ablehnen würde, wäre nicht auszuschliessen, dass die EU die bestehenden Abkommen ausdrücklich oder implizit in Frage stellt. Das Gleiche könnte übrigens geschehen, wenn die Europäische Kommission beauftragt würde, mit der Schweiz über eine Änderung des Betrugsbekämpfungsabkommens zu verhandeln und die Übernahme des OECD-Standards bei der Amtshilfe in Steuersachen zu verlangen.

62

SR 0.641.926.81

7292

3.3.4

Marktzutritt

Die Schweizer Volkswirtschaft ist aufgrund der bilateralen Verträge mit der EU heute gut im europäischen Binnenmarkt integriert. Dies gilt güterseitig vor allem für den sogenannten sekundären Sektor. Industrieerzeugnisse können zurzeit relativ ungehindert in die EU exportiert werden. Mit der Personenfreizügigkeit haben sich faktorenseitig die Grundvoraussetzungen für eine auf spezialisierte Fachkräfte angewiesene Wirtschaft zudem markant verbessert.

Verschiedene Beispiele zeigen aber, dass der bestehende Marktzutritt erodieren kann und dass deshalb zur Wahrung des Status quo das bestehende bilaterale Vertragswerk revidiert oder ergänzt werden muss. Dafür sind einerseits Änderungen der Realwirtschaft und anderseits veränderte Regulierungen verantwortlich. Ein Festhalten am Status Quo ginge oft einher mit einer Verschlechterung der äusseren Rahmenbedingungen der Schweizer Exportwirtschaft. Beispielsweise würden sich ohne einen besser geregelten Zugang zum europäischen Markt für Landwirtschaftsprodukte und Lebensmittel die Perspektiven für eine zukunftsorientierte Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft verschlechtern. Neue Regulierungsvorhaben innerhalb der EU können, wie die Beispiele der unlängst eingeführten Sicherheitsvorschriften der EU im Zollbereich oder auf dem Gebiet der Chemikalienregulierung aufzeigen, zu neuen technischen Handelshemnissen führen. Ein Verzicht auf die Beseitigung solcher neuer Hindernisse mittels Vereinbarungen mit der EU würde viele der Vorteile, die mit den bestehenden bilateralen Verträgen errungen wurden, in der Substanz schmälern oder gar in Frage stellen. Dieser Mangel an Rechtssicherheit (siehe Ziff. 2.2) würde die Schweiz weniger attraktiv machen für Unternehmen, die auf dem europäischen Markt tätig sind und die so im Handel mit EU-Ländern schwierigeren Bedingungen ausgesetzt wären als Unternehmen, die in der EU ansässig sind. Dies könnte namentlich zu Auslagerungen führen und sich negativ auf Beschäftigung und Wachstum auswirken.

Umgekehrt gibt es Bereiche, in denen der Marktzutritt heute noch unzureichend ist.

Diese Bereiche könnten bei einem Festhalten am Status quo nicht angemessen ausgebaut werden. Auch hier wäre der Agrar- und Lebensmittelbereich zu erwähnen. Aber auch bezüglich ihres wichtigsten Wirtschaftssektors, des Dienstleistungssektors, hat sich
die Schweiz mit Blick auf die EU bisher lediglich einen partiellen Marktzutritt erschlossen. 2003 wurden Verhandlungen mit der EU über ein umfassendes Dienstleistungsabkommen sistiert. Dieser Verzicht hat u.a. zur Folge, dass Schweizer Finanzdienstleister über keinen vertraglich geregelten Zutritt zu den Märkten der EU verfügen. Die schweizerischen Anbieter von Finanzdienstleistungen stossen in der EU zusehends auf Hindernisse. Nicht zuletzt aufgrund der durch die jüngste Finanzkrise ausgelösten weltweiten Regulierungsbestrebungen hat das Diskriminierungspotenzial in der EU und ihren Mitgliedstaaten gegenüber Drittländern wie der Schweiz zugenommen, obwohl die Schweiz generell über ein ebenbürtiges Aufsichtsrecht über ihre Finanzmärkte verfügt. Probleme im Marktzutritt werden dadurch, gewollt oder ungewollt, akzentuiert, wie etwa die derzeitige Debatte über eine Hedge-Fonds-Richtlinie in der EU über alternative Investmentfondsmanager illustriert. In der Schweiz vermutetes Steuersubstrat, das für die Finanzierung der vielfältigen Rettungsmassnahmen zur Behebung der Krise benötigt wird, hat ferner im Verhältnis zu einigen EU-Mitgliedstaaten zu Fiskalkontroversen geführt, welche die grenzüberschreitende Vermögensverwaltung von der Schweiz aus zusätzlich erschweren. Auch diese Entwicklungen zeigen auf, dass lediglich eine Weiterentwicklung der Vereinbarungen mit der EU und ihren Mitgliedstaaten einer 7293

schleichenden Verschlechterung der bisher günstigen Rahmenbedingungen für unsere exportorientierte Wirtschaft entgegen wirken kann.

3.3.5

Wirtschafts- und Währungspolitik

Auf dem bilateralen Weg ­ mit oder ohne neue Abkommen ­ behält die Schweiz grundsätzlich ihre wirtschaftspolitische Handlungsfreiheit. Dazu gehören namentlich die Aussenwirtschaftspolitik, die Geldpolitik, die Konjunktur- sowie die Strukturund Wachstumspolitik. Demgegenüber stehen als Nachteile ein geringes Gewicht in bilateralen und multilateralen Verhandlungen, Konjunktur- und Währungsrisiken sowie ein wachsender internationaler Druck, der in gewissen Bereichen der Finanzund Steuerpolitik zu einer Einschränkung der bisherigen Autonomie führt.

Wie oben dargelegt (Ziff. 2.2) können Rechtsentwicklungen in der EU zu neuen Marktzutrittshindernissen führen und die Standortattraktivität der Schweiz schmälern. Marktzutritt ist aber in umgekehrter Richtung aufgrund der geringen Grösse des eigenen Binnenmarktes ein essenzieller Aspekt der Struktur- bzw. Wachstumspolitik der Schweiz. Um die Wettbewerbsfähigkeit im Binnenmarkt zu erhalten und um einfuhrseitig preistreibende Effekte von Handelsbarrieren zu minimieren, hat die Schweiz ein volkswirtschaftliches Interesse, ihre Gesetzgebung autonom an jene der EU anzugleichen bzw. einseitig nach europäischen Vermarktungsregeln hergestellte Produkte und Dienstleistungen in der Schweiz zuzulassen. Dies schränkt, wie bereits erwähnt (Ziff. 3.2), die gesetzgeberische Handlungsfreiheit in der Praxis stark ein.

Zudem garantiert dieses Vorgehen weder Gegenseitigkeit von Seiten der EU noch Rechtssicherheit.

3.3.6

Direkte Kosten

Wenn man von der Annahme ausgeht, dass die bestehenden Abkommen sowie die Teilnahme an den verschiedenen EU-Programmen beibehalten werden, aber keine zusätzlichen Abkommen abgeschlossen werden, ergeben sich heute direkte jährliche Kosten für den Bundeshaushalt im Umfang von durchschnittlich ca. 457 Millionen Schweizerfranken.

Hinzu kommen die Schweizer Erweiterungsbeiträge an die neuen EU-Mitgliedstaaten von 2004 und 2007. Die Schweiz unterstützt die zehn Staaten, die der EU 2004 beigetreten sind (EU-10), mit einem Beitrag von insgesamt einer Milliarde Schweizerfranken. Die Umsetzung ist Anfang 2008 angelaufen. Die Verpflichtungsperiode für diesen Beitrag endet im Juni 2012, die Auszahlungsperiode im Juni 2017. Zudem wird die Schweiz künftig auch die beiden neuen Mitgliedstaaten von 2007, Bulgarien und Rumänien, mit einem Beitrag von insgesamt 257 Millionen Schweizerfranken unterstützen. Der entsprechende Rahmenkredit wurde im Dezember 2009 vom Parlament genehmigt; der Beitrag an diese beiden Staaten hat ebenfalls eine Verpflichtungsdauer von fünf und eine Auszahlungsdauer von zehn Jahren. Die bilateralen Rahmenabkommen mit diesen beiden Partnerstaaten sind am 7. September 2010 unterzeichnet worden.

Die nachfolgende Tabelle liefert einen Überblick über die direkten Beteiligungskosten der Schweiz an Agenturen und Programmen aufgrund der bestehenden bilateralen Beziehungen mit der EU. In diesen Zahlen sind indirekte Faktoren wie Entlas7294

tungen für den Bund, politische Aspekte und makroökonomische Effekte nicht berücksichtigt. Die Kostenbeteiligung für den Zeitraum nach 2013 kann heute nicht geschätzt werden; die gesamten Programm- und Agenturkosten unter dem neuen mehrjährigen Finanzrahmen ab 2014 können u.U. erhebliche Änderungen erfahren.

Ausgaben (Millionen CHF pro Jahr) 201063

201164

201265

201365

a) geltende Abkommen Forschung Eurostat Umweltagentur Observatorium Alpenverkehr MEDIA EASA Schengen66

327,00 8,30 2,00 0,08 9,10 2,00 24,30

370,50 7,30 2,00 0,08 9,20 2,00 20,11

414,70 7,30 2,00 0,08 9,40 2,00 24,60

458,40 7,30 2,00 0,08 9,60 2,00 31,22

Total a)

372,78

411,19

460,08

510,60

b) Abkommen, die unterzeichnet, aber noch nicht in Kraft sind Jugend und Bildung 3,50 23,10 24,20

25,40

Total a) und b)

376,28

434,29

484,28

536,00

c) Schweizerischer Beitrag zur Verringerung der Ungleichheiten Beitrag an die EU-1067 140,90 149,90 150,00 Beitrag an Bulgarien/Rumänien 2,00 10,00 22,40

150,00 32,40

Ein erheblicher Teil der Beteiligungskosten für die Programme und Fonds (Forschung, MEDIA, Jugend und Bildung, Schengen) wird in die Schweiz zurückfliessen. Beispielsweise betrugen die Rückflüsse aus dem 6. Forschungsrahmenprogramm rund 200 Millionen Schweizerfranken jährlich; damit liegt der Rückflusskoeffizient bei 114 % der von der Schweiz einbezahlten Mittel.68 Die Rückflüsse aus dem Programm MEDIA betrugen 2008 etwa 5,6 Millionen bei Programmkosten von rund 10 Millionen Schweizerfranken. Hinsichtlich des Aussengrenzenfonds, an dem sich die Schweiz aufgrund des Schengen-Assoziierungsabkommens beteiligt, werden Rückflüsse von rund 3­5 Millionen erwartetSchweizerfranken; dem stehen Beteiligungskosten von rund 15 Millionen Schweizerfranken gegenüber.

63 64 65 66 67

68

Gemäss Voranschlag des Bundes 2010.

Gemäss Botschaft zum Voranschlag 2011.

Gemäss Finanzplan 2012­2014.

Im Jahr 2010 fallen insbesondere Zahlungen an den Aussengrenzenfonds in der Höhe von 8,35 Millionen an, welche noch das Jahr 2009 betreffen.

Im Durchschnitt über die Auszahlungsperiode von jeweils zehn Jahren belaufen sich die Kosten der Beiträge zugunsten der EU-10 und von Bulgarien und Rumänien auf jährlich 100 Millionen CHF bzw. 25,7 Millionen CHF.

Zwischenbericht 2009: «Auswirkungen der Beteiligung der Schweiz an den Europäischen Forschungsrahmenprogrammen», SBF, 2010.

7295

Neben den direkten Kosten der Beteiligung an Programmen und Agenturen der EU entstehen aber auch indirekte Kosten aus der vielfältigen Zusammenarbeit mit der EU (Infrastruktur- bzw. Anschaffungskosten sowie Personalkosten für die Umsetzung und den Vollzug). Gemäss Schätzungen der betroffenen Ämter belaufen sich diese indirekten Kosten 2010 auf insgesamt rund 400 Millionen CHF, wovon rund 80 Millionen CHF für Schengen/Dublin sowie etwa 295 Millionen CHF für Sozialversicherungsbeiträge69 anfallen. Auch unter den anderen Instrumenten der Europapolitik (bspw. EU-Beitritt, EWR) fallen indirekte Kosten an; diese lassen sich aber nicht ohne Weiteres schätzen.

3.3.7

Sozialpolitik

Wie bereits im Europabericht 2006 ausgeführt wurde, hat die Schweiz mit Ausnahme der europäischen Koordination der nationalen Sozialversicherungssysteme im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens (FZA) keine Rechtstexte der EU-Sozialpolitik übernommen.70 Selbst wenn man von einem Szenario ausgeht, das neue Abkommen mit der EU ausschliesst, wird es im Bereich der genannten Koordination in Zukunft darum gehen, die Änderungen des EU-Rechts regelmässig in das FZA zu übernehmen, zumal die Anwendung derselben Regelungen eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren der Koordination und damit der Personenfreizügigkeit an und für sich darstellt. Zurzeit sind die Arbeiten zur Übernahme der Verordnung (EG) 883/200471 ins FZA im Gange. Diese wird unter anderem die Verordnung (EWG) 1408/7172 ablösen.

Ein weiterer Berührungspunkt zur EU-Sozialpolitik besteht im Bereich des Arbeitnehmerschutzes, indem im FZA auf die Entsenderichtlinie 96/71/EG73 (EntsRL) Bezug genommen wird (Art. 22 Abs. 2 Anhang I FZA).74 Die Richtlinie wurde auf 69 70 71

72

73 74

6. Bericht des Observatoriums zum Freizügigkeitsabkommen Schweiz-EU vom 27. Mai 2010.

BBl 2006 6532 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166 vom 30. 4. 2004, S. 1). Mit dieser Verordnung wurde die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten einfacher und klarer gestaltet. Sie verstärkt die Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungen im Bereich der sozialen Sicherheit und soll den Unionsbürger die Freizügigkeit innerhalb der EU erleichtern.

Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. In der Fassung von Anhang II zum Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen), SR 0.831.109.268.1.

Richtlinie 96/71/EG des Rates vom 16. Dez. 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. L 18 vom 21. 1. 1997, S. 1).

Die Richtlinie enthält Vorschriften für die Anwendung von Bestimmungen im Arbeitsrecht der Mitgliedstaaten auf die Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmern, die zur zeitlich beschränkten Erbringung von Dienstleistungen grenzüberschreitend entsandt werden.

Kern der EntsRL bildet die arbeitsrechtliche Gleichstellung der in einen Staat entsandten Arbeitskräfte mit den dort beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hinsichtlich bestimmter Aspekte der Arbeitsbedingungen, soweit sie im Zielland Gegenstand von Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder von allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen sind. Der Rechtstext listet die Schutzbereiche auf, in denen das Recht des Bestimmungslandes auch auf entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anzuwenden ist (s. Art. 3 Richtlinie 96/71/EG).

7296

schweizerischer Seite mit den flankierenden Massnahmen zum FZA umgesetzt. Von Bedeutung für die Schweiz könnte allenfalls eine auf EU-Seite im Gespräch befindliche Revision der EntsRL sein. Eine Präzisierung des Rechtstextes wurde von Gewerkschaftsseite und den Sozialdemokraten im Europäischen Parlament gefordert, nachdem der EuGH in mehreren Urteilen für die Öffnung des Binnenmarkts und gegen die Geltung nationaler arbeitsrechtlicher Vorgaben im Rahmen grenzüberschreitender Entsendungen entschieden hatte.75 In der Frage, inwiefern und wie stark die EntsRL überarbeitet werden soll, existieren EU-intern allerdings grosse Differenzen. Unabhängig vom Ausgang der Revision wird sich die Schweiz zu gegebener Zeit mit der Frage beschäftigen müssen, ob sie die Anpassung der Richtlinie im Rahmen des FZA übernehmen will bzw. muss.

3.3.8

Umweltpolitik

Im Rahmen des Abkommens über die Beteiligung an der Europäischen Umweltagentur (EUA), welches im Rahmen der Bilateralen Abkommen II abgeschlossen wurde und seit 2006 in Kraft ist, hat die Schweiz Zugang zu europaweit standardisierten Umweltdaten erhalten. Sie ist ausserdem in das Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetz EIONET eingebunden, ein zentrales Werkzeug hinsichtlich der Sammlung und Dissemination von Umweltdaten, nicht zuletzt zuhanden der politischen Entscheidungsträger. Im Rahmen dieses Abkommens wurde auch ein Gemischter Ausschuss geschaffen. Die Schweiz hat sich allerdings nicht dazu verpflichtet, auch materielle Regeln hinsichtlich der Ausgestaltung der Umweltpolitik oder der Harmonisierung von Umweltvorschriften zu übernehmen.

In andere bilaterale Abkommen wurden aber punktuell Umweltbestimmungen integriert, so zum Beispiel im Luftverkehrsabkommen, dessen Anhang ein Kapitel zu «Umwelt und Lärmschutz» mit Bestimmungen zur Reduktion von Schallemissionen von Flugzeugen enthält. Darüber hinaus hat der Bundesrat mit der EU verschiedene technische Zusammenarbeitsvereinbarungen in spezifischen Bereichen wie der Prüfung von Fahrzeug- und Antriebsemissionen oder der Bodenbeobachtung und -überwachung abgeschlossen. Eine umfassende Zusammenarbeit im Umweltbereich gibt es aber nicht.

75

S. die Urteile des EuGH in den Fällen Viking (C-438/05), Laval (C-351/05), Luxembourg (C-319/06) und Rüffert (C-346/06). Da die Urteile nationale Bestimmungen betreffen, die nicht mit der rechtlichen Ausgangslage in der Schweiz vergleichbar sind, ergeben sich keine Auswirkungen auf das schweizerische Entsendegesetz. Es wird sich zeigen, ob bzw.

inwiefern die geplante Revision der EntsRL für die Schweiz relevante Änderungen bringen wird.

7297

3.4

Weiterführung und Ausbau des bilateralen Wegs

«Weiterführung und Ausbau des bilateralen Wegs» Wird der bilaterale Weg in der bisherigen Weise fortgeführt, so können die Schweiz und die EU bei Bedarf neue Abkommen aushandeln oder bestehende Verträge revidieren. Die Herausforderung aber bleibt bestehen, dass die Schweiz bei Aushandlung und Weiterentwicklung bilateraler Abkommen den erforderlichen Grad an Mitentscheidung sicherstellen kann.

In diesem zweiten Szenario würde die Schweiz den bilateralen Weg weiterführen und ihn gleichzeitig über neue Abkommen mit der EU ausbauen, wenn dies notwendig und opportun wäre. Wie oben (Ziff. 2) erläutert, ist diese Option nur dann realisierbar, wenn auch der Entwicklung des Umfelds der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU gebührend Rechnung getragen wird.

3.4.1

Institutionelle Aspekte

Im Aussenpolitischen Bericht 2009 unterstrich der Bundesrat die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs zwischen dem reibungslosen Funktionieren der bilateralen Abkommen und gleichzeitiger Respektierung der Souveränität der Schweiz76. In diesem Sinne hat er eine Reihe von Prinzipien aufgestellt, die oben (Ziff. 2.1) aufgeführt wurden. Damit soll sichergestellt werden, dass jeglicher Automatismus bei der Übernahme der Weiterentwicklungen des Besitzstandes vermieden wird und die Wahrung der Souveränität der Schweiz und ihrer innerstaatlichen Entscheidverfahren gewährleistet ist. Das Ziel ist es, diese Prinzipien mutatis mutandis in den Verhandlungen mit der EU immer dann anzuwenden, wenn sich die Frage der Übernahme des Besitzstandes und seiner Weiterentwicklungen stellt. Werden diesbezüglich keine zufriedenstellenden Lösungen gefunden, müsste eine Interessenabwägung vorgenommen werden, die zu einer Aussetzung der Verhandlungen über das betreffende Abkommen führen könnte.

Die Einbindung dieser Prinzipien in neue Abkommen wird mit der EU auszuhandeln sein (Ziff. 2.1). Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass in den bestehenden Abkommen bereits zahlreiche unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten für institutionelle Fragen enthalten sind, die bislang z.T. noch nicht ausgeschöpft wurden. Sie könnten für zukünftige Verhandlungen als Inspirationsquelle dienen. Sollte eine Verallgemeinerung dieser Vorgehensweise akzeptiert werden, würde dies die Mechanismen zur Anpassung der Abkommen an die Weiterentwicklungen des EU-Rechts vereinfachen und beschleunigen. Als Gegenleistung für einen angemessenen Grad an Mitentscheidung bei der Weiterentwicklung des einschlägigen Rechts (Decision Shaping) würde sich die Schweiz grundsätzlich verpflichten, diese Entwicklungen im Rahmen des betreffenden Abkommens zu übernehmen. Andernfalls würden angemessene Ausgleichsmassnahmen die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts zwischen Rechten und Pflichten sicherstellen. Hier können die Erfahrungen, die seit dem Inkrafttreten der Schengen/Dublin-Abkommen gesammelt wurden, lehrreich 76

BBl 2009 6334

7298

sein. Denn in diesen Abkommen hat sich die Schweiz bereits verpflichtet, grundsätzlich alle Rechtsakte zu übernehmen, die Weiterentwicklungen des Schengen/DublinRechtsbestandes sind, und sie falls erforderlich in ihr innerstaatliches Recht zu übernehmen (Art. 2 Abs. 3 und Art. 7 SAA; Art. 1 Abs. 3 und Art. 4 DAA)77. Im Unterschied zu dem hier im Zusammenhang mit Schengen beschriebenen System könnte jedoch die Nichtübernahme einer Weiterentwicklung des Besitzstandes durch die Schweiz letztlich zum automatischen Dahinfallen des Abkommens führen, soweit der Gemischte Ausschuss nicht anders bestimmt78.

Wenn der im Rahmen von Schengen/Dublin zu übernehmende Rechtsakt Rechte und Pflichten für die Schweiz enthält, bilden die Notifikation der EU und die entsprechende Antwortnote der Schweiz einen Notenaustausch, der aus schweizerischer Sicht als völkerrechtlicher Vertrag zu qualifizieren ist. Gemäss Bundesverfassung wird der Vertrag vom Bundesrat abgeschlossen und ist gegebenenfalls von der Bundesversammlung zu genehmigen. Unter bestimmten Umständen kann der Vertrag dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Für die Übernahme der notifizierten Rechtsakte und deren Umsetzung in Schweizer Recht (inklusive Durchführung des Staatsvertragsreferendums) steht der Schweiz eine Frist von maximal zwei Jahren ab Verabschiedungsdatum durch die EU zur Verfügung (Art. 7 Ziff. 2 Bst. b SAA; Art. 4 Ziff. 3, DAA). Wenn der Bundesrat allein für die Übernahme einer Entwicklung des Besitzstandes zuständig ist, muss er innerhalb von 30 Tagen nach Annahme des betreffenden Rechtsaktes durch die EU einen entsprechenden Beschluss fassen (Art. 7 Ziff. 2 Bst. a SAA; Art. 4 Ziff. 2 DAA). Nach Möglichkeit sollten die neuen Rechtsakte oder Massnahmen für die EU und für die Schweiz gleichzeitig in Kraft treten (Art. 7 Ziff. 1 SAA; Art. 4 Ziff. 1 DAA).

Bis jetzt wurden der Schweiz 111 Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands notifiziert (Stand: 2. August 2010). Lediglich für die Übernahme von Weiterentwicklungen in 11 Themenbereichen war (oder ist) die Zustimmung des Parlaments erforderlich. Dazu gehören unter anderem die Teilnahme an der Grenzschutzagentur FRONTEX, das Visa-Informationssystem (VIS), der Aussengrenzenfonds, der Informationsaustausch unter Strafverfolgungsbehörden («Schwedische Initiative») oder die Waffenrichtlinie. Das
Parlament hat in der Sommersession 2010 der Einführung biometrischer Daten im Ausländerausweis sowie der Übernahme der Rückführungsrichtlinie, beides Schengen-Weiterentwicklungen, zugestimmt.

Da die in den Schengen/Dublin-Assoziierungsabkommen vorgesehenen Fristen kurz sind und da sich jeweils zahlreiche neue und komplexe Fragen stellen, hat das Bundesamt für Justiz einen Leitfaden für die zuständigen Ämter und Dienststellen verfasst. Er enthält Leitlinien für die Erarbeitung, die Übernahme und die rechtliche Umsetzung von Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstandes und soll zur Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz und zu einer fristgerechten Beschlussfassung beitragen. In der Regel bemühen sich der Bundesrat und die Verwaltung nach Kräften, die Schengen-Weiterentwicklungen im ordentlichen Verfahren zu übernehmen und umzusetzen. Allerdings ist die Zweijahresfrist eng 77 78

Schengen-Assoziierungsabkommen (SAA), SR 0.360.268.1. DublinAssoziierungsabkommen (DAA), SR 0.142.392.68.

Im Bereich der inneren Sicherheit können allerdings Ausgleichsmassnahmen eine problematische Lösung sein, wenn sie nicht genügen, die Sicherheit der Parteien zu gewährleisten. Deshalb könnten unter Umständen Lösungen wie die in den Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen getroffenen im Rahmen eines ausgewogenen Verhandlungsergebnisses für die Schweiz akzeptabel sein.

7299

bemessen, sodass relativ wenig Spielraum besteht, um einen allfälligen zusätzlichen Zeitbedarf im Gesetzgebungsverfahren verwaltungsintern aufzufangen. Deshalb wird es sich auch künftig kaum vermeiden lassen, dass der Bundesrat nach Ausschöpfung der zeitlichen Reserven innerhalb des verwaltungsinternen Verfahrens bei gegebener Dringlichkeit die Vernehmlassungsfrist ausnahmsweise verkürzen muss (Art. 7 Abs. 3 des Vernehmlassungsgesetzes79). Auch kann der Bundesrat dem Parlament beantragen, ein Geschäft im Sonderverfahren zu behandeln (Art. 85 Abs.

2 des Parlamentsgesetzes, ParlG80) oder im Rahmen der verfassungsmässigen Vorgaben eine Dringlichkeitsklausel zu beschliessen (Art. 165 BV und Art. 77 ParlG).

Der Bundesrat bemüht sich, diese Verfahren nach Möglichkeit nicht anzuwenden; und es versteht sich von selbst, dass der Beschluss über deren Durchführung in der Kompetenz der Bundesversammlung liegt.

Diese Überlegungen wären im Fall einer Verallgemeinerung des oben beschriebenen Mechanismus für die Übernahme des Besitzstandes und seiner Weiterentwicklungen weitgehend relevant. Damit kämen neue Herausforderungen auf das politische System der Schweiz zu. Mit dem Ziel der Übernahme des Besitzstands des massgebenden EU-Rechts verbunden ist für die EU auch das Prinzip, dass übernommenes EU-Recht in der Schweiz gleichzeitig in Kraft treten muss wie in den EU-Mitgliedstaaten. Die erwähnten kurzen Übernahmefristen führen zur Notwendigkeit, dass die im schweizerischen Rechtsetzungsverfahren vorgesehenen Arbeiten mehr und mehr gleichzeitig ausgeführt werden müssen. So müssen beispielsweise kantonale Umsetzungsarbeiten immer öfter gleichzeitig mit der Umsetzung auf Bundesebene erfolgen. Das erfordert eine noch frühere Information der Kantone und ihr Einbezug während sämtlichen Phasen der Arbeiten (Verhandlungen, verwaltungsinterne Redaktionsarbeiten, politische Diskussionen). Die Erfahrungen mit den Assoziierungsabkommen zu Schengen und Dublin zeigen, dass deshalb neue Zusammenarbeitsformen zwischen Bund und Kantonen gesucht werden müssen81. Analoge Überlegungen können für die Bundesversammlung gemacht werden. Der im Rahmen von EU-Recht verbleibende Spielraum des schweizerischen Gesetzgebers ist im Allgemeinen relativ klein. Der Einbezug des Parlaments muss deshalb möglichst früh erfolgen, soweit die
Erarbeitung neuen EU-Rechts politisch sensible Fragen betrifft. Auch muss nach Lösungen gesucht werden, welche das Parlament davor bewahren, im Rahmen der Übernahme von EU-Recht mit Rechtsetzung von untergeordneter Bedeutung belastet zu werden. Schliesslich gilt es auch darauf zu achten, dass die Volksrechte in jeder Hinsicht gewahrt bleiben. Es muss deshalb unter Einbezug sämtlicher Akteure nach neuen Lösungen gesucht werden, die es erlauben, die internen Entscheidverfahren der Schweiz im Rahmen der dynamischen bilateralen Beziehung mit der EU zu sichern. Schliesslich dürfen diese neuen Lösungen nicht dazu führen, dass die Bundesverwaltung mit neuen Aufgaben überhäuft wird.

Denn die Erfahrungen im Bereich von Schengen und Dublin zeigen, dass die Verwaltung ohnehin mit zusätzlichen, nicht kompensierbaren Aufgaben konfrontiert wird.

Wenn die Schweiz eine Weiterentwicklung des einschlägigen Besitzstandes zu einem Abkommen nicht übernimmt, sollte zuletzt noch die Möglichkeit bestehen, angemessene Ausgleichsmassnahmen zu treffen (Modell «Zollerleichterungen und 79 80 81

SR 172.061 SR 171.10 Vgl. Europapolitische Standortbestimmung der Kantonsregierungen, die von der Konferenz der Kantonsregierungen am 25. Juni 2010 verabschiedet wurde (www.kdk.ch).

7300

Zollsicherheit»), da ein automatisches Dahinfallen des Abkommens nur dann vorgesehen werden sollte, wenn die Umstände und der Geltungsbereich dies unumgänglich machen (z.B. bestimmte Abkommen über die innere Sicherheit). Da kaum davon ausgegangen werden kann, dass die EU bereit ist, neue Abkommen mit der Schweiz auf einer anderen Grundlage als der des Besitzstandes auszuhandeln (Ziff. 2.1), dürfte dieses Element sozusagen die Grenze markieren und sollte als Preis betrachtet werden, den die Schweiz für die Weiterführung und Weiterentwicklung des bilateralen Wegs zu zahlen hat. Es sollte allerdings im Interesse beider Seiten sein, für Massnahmen im Fall der Nichtübernahme einer Weiterentwicklung des Besitzstandes einen Spielraum zu bewahren und somit das automatische Dahinfallen eines Abkommens in einem solchen Fall auszuschliessen.

Was die heikle Frage einer Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH zu einem bestimmten Abkommen durch die Schweiz angeht, so ist der Bundesrat der Auffassung, dass die Autonomie der Vertragsparteien bei der Auslegung von Vertragsbestimmungen ein anerkannter völkerrechtlicher Grundsatz ist. Dabei wird davon ausgegangen, dass es im Interesse aller Vertragsparteien liegt, die in dem Vertrag festgelegten Normen einheitlich auszulegen und anzuwenden. In Übereinstimmung mit den Auslegungsregeln des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge82 vertreten die Schweizer Behörden einschliesslich des Bundesgerichts in der Frage der Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH eine pragmatische Haltung, selbst wenn die Rechtsprechung nach der Unterzeichnung des Abkommens datiert83. Im Übrigen waren die Entscheide des Bundesgerichts und des EuGH in Bezug auf die Abkommen zwischen der Schweiz und der EU bis anhin immer konvergent. Es sei allerdings angemerkt, dass die EU zunehmend dogmatisch fordert, die Schweiz müsse sich im Voraus zu dieser Berücksichtigung verpflichten, und dass sie ihre Forderungen deutlich verschärft hat, namentlich im Rahmen der derzeitigen Verhandlungen im Agrar- und Gesundheitsbereich oder im Elektrizitätsbereich. Wenn hier keine akzeptablen und pragmatischen Lösungen gefunden werden, könnten diese Forderungen den Abschluss neuer Abkommen potenziell unmöglich machen. Da es jedoch im gemeinsamen Interesse aller Parteien ist, ihre
Zusammenarbeit fortzusetzen und zu vertiefen, sollte es möglich sein, in dieser Frage für beide Seiten akzeptable Lösungen zu finden.

Was die direkte Demokratie, den Föderalismus und die Institutionen betrifft, gelten die oben (Ziff. 3.3) aufgeführten Überlegungen grundsätzlich auch dann, wenn die Schweiz sich entschliessen sollte, neue Abkommen abzuschliessen, dies unter Vorbehalt der nachstehenden Präzisierungen und Anpassungen: Wenn die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU zu einer dynamischeren Anpassung an die Entwicklung des EU-Rechts führen würde, wäre eine Reihe von Änderungen notwendig, damit die Schweiz international handlungsfähig bleibt.

Es wäre zum Beispiel vorstellbar, nur die rechtzeitig eingegangenen Stellungnahmen der Kantone zu berücksichtigen. Zudem sollte der Bund den Kantonen das Verfassen von Stellungnahmen erleichtern, namentlich indem er ihnen rechtzeitig alle für die Entscheidfindung notwendigen Unterlagen zustellt und ihnen Fristen einräumt, die angemessen sind und zugleich externe Anforderungen berücksichtigen. Eine Richtschnur für die Ausgestaltung dieses Prozesses dürfte die Praxis der Zusammenarbeit im Bereich der Umsetzung und Weiterentwicklung der bilateralen 82 83

SR 0.111 Art. 31 Allgemeine Auslegungsregel BBl 2006 6815, 6850

7301

Abkommen in den letzten Jahren sein84. Desgleichen wäre zu prüfen, ob die Mitwirkung der Kantone bei der Ausarbeitung des zu übernehmenden Besitzstandes in allen Bereichen, die ihre Zuständigkeit berühren, in der gleichen Weise sichergestellt werden könnte, wie dies im Rahmen von Schengen/Dublin bereits der Fall ist.

Zu diesem Zweck wäre eine noch engere Zusammenarbeit zwischen dem Bund und der KdK85, gegebenenfalls ein gemeinsames Koordinationsgremium86, sowie die Prüfung der Frage angezeigt, ob die Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Kantonen dadurch verbessert werden kann, dass die Kantone in den betreffenden Departementen des Bundes Informationsbeauftragte einsetzen können87.

Zur Wahrung der direkten Demokratie muss jeder Mechanismus für die Anpassung der Abkommen mit der EU an die Weiterentwicklungen des EU-Rechts unbedingt Fristen vorschreiben, die der Dauer der von der schweizerischen Rechtsordnung vorgesehenen Verfahren ­ einschliesslich allfälliger Referenden ­ Rechnung tragen.

So hätte die Weiterführung des bilateralen Wegs keine Einschränkung des formalen Geltungsbereichs der demokratischen Rechte in der Schweiz zur Folge. Materiell sollte die Anwendung des Prinzips der angemessenen Ausgleichsmassnahmen im Fall einer Nichtanpassung an die Weiterentwicklungen des einschlägigen EU-Rechts die Möglichkeit bieten, eine Erosion der demokratischen Rechte abzumildern, da eine Nichtübernahme kein automatisches Dahinfallen des fraglichen Abkommens nach sich ziehen würde. Automatische Beendigungsverfahren sind deshalb so weit als möglich zu vermeiden. Zudem ist mit der EU nach Möglichkeiten zu suchen, die vertraglichen Verfahren bei Nichtübernahme mit differenzierteren Eskalationsstufen auszugestalten, um eine zu rasche Politisierung von Differenzen zu vermeiden.

Im Allgemeinen wäre analog zu den Verfahren, die die Bundesverwaltung im Zusammenhang mit der Schengen/Dublin-Assoziierung eingeführt hat, für eine möglichst frühzeitige Erkennung der Entwicklungen des für die Schweiz relevanten EU-Rechts zu sorgen und damit sicherzustellen, dass für die Teilnahme am «Decision Shaping» Verhandlungspositionen festgelegt werden können. Dieser Mechanismus würde es zudem erlauben, die Bundesversammlung frühzeitig über vorgeschlagene Rechtsvorschriften zu informieren, zu deren Übernahme die Schweiz
verpflichtet sein könnte88; diese Informationen könnten zum Beispiel über die Aussenpolitischen Kommissionen der beiden Räte laufen.

Darüber hinaus wäre es denkbar, dass allfällige Stellungnahmen des Parlaments von den Schweizer Expertinnen und Experten, die an der Ausarbeitung dieser Weiterentwicklungen beteiligt wären, berücksichtigt würden. Es ist allerdings hervorzuheben, dass ein solcher Mechanismus nur dann realisierbar ist, wenn die für die Verwaltung erforderlichen personellen Ressourcen (in erster Linie in der Mission der Schweiz bei der EU sowie im Integrationsbüro EDA/EVD) zur Verfügung gestellt werden.

84 85 86 87 88

BBl 2007 5922 Eine detaillierte Darstellung dieser europapolitischen Zusammenarbeit findet sich im Föderalismusbericht, BBl 2007 5937 ff.

Vgl. Europapolitische Standortbestimmung der Kantonsregierungen, die von der Konferenz der Kantonsregierungen am 25. Juni 2010 verabschiedet wurde (www.kdk.ch).

Idem.

Siehe z.B. die Motion (10.3005) der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats vom 12. Jan. 2010 «Massnahmen zur frühzeitigen Information des Parlamentes über relevante europäische Gesetzgebungsentwürfe».

7302

Schliesslich muss auch über Möglichkeiten nachgedacht werden, wie die Bundesversammlung von Rechtsetzungsgeschäften von untergeordneter Bedeutung entlastet werden kann. Allenfalls kann der Spielraum des Bundesrates zur selbstständigen Anpassung der Abkommen erweitert werden. Dabei müssen die Teilnahmerechte des Parlaments gewahrt bleiben. Neue Lösungen dürfen aber auch hier nicht per se ausgeschlossen werden.

Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon89 sind allerdings zusätzliche Ansprechpartner zu berücksichtigen, darunter z.B. der Hohe Vertreter für Aussenund Sicherheitspolitik, der Präsident des Europäischen Rates, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament. Andererseits werden der Verzicht auf den Grundsatz der Einstimmigkeit zugunsten der qualifizierten Mehrheit im Rat der EU sowie die Einführung des Grundsatzes der doppelten Mehrheit ab 2014 zu einer spürbaren Verringerung der Blockierungsmöglichkeiten führen, die ein einzelner Mitgliedstaat in den Entscheidungsverfahren der EU verursachen kann. Dies könnte auch Folgen für die Schweiz haben: Zum einen könnte der Abschluss eines Abkommens mit der Schweiz nicht mehr durch einen einzelnen Mitgliedstaat verhindert werden, zum andern werden Mitgliedstaaten, die durch einen Entscheid des Rates überstimmt worden sind, möglicherweise nicht mehr bereit sein, für Drittländer Ausnahmeregelungen zu akzeptieren (siehe oben Ziff. 2.2).

Schliesslich wird auch die stärkere Beteiligung des Europäischen Parlaments durch das Mitentscheidungsverfahren und insbesondere durch seine neue Zuständigkeit für die Zustimmung zu Verträgen mit Drittstaaten Folgen für unser Land haben. Es ist mit einer gewissen Verlangsamung der Verfahren, aber auch mit einer zunehmenden Komplexität der Verhandlungsprozesse zu rechnen. Künftig dürften die zuständigen Ausschüsse des Europäischen Parlaments stärker in die Verhandlungen der Kommission mit Drittstaaten eingebunden werden. Dabei ist zu bedenken, dass das Europäische Parlament als zutiefst integrationsorientierte Institution gilt. Es ist also durchaus möglich, dass es Ausnahmeregelungen für Drittstaaten nicht sehr positiv gegenübersteht. Dieser Aspekt darf nicht unterschätzt werden, denn die Beteiligung der Schweiz an der Ausgestaltung von Entscheidungen in Bereichen, die von ihren Abkommen berührt sind
oder in Zukunft berührt sein werden (Decision Shaping), betrifft ausschliesslich die Arbeitsgruppen des Rates oder der Kommission, nicht jedoch das Europäische Parlament, in dem die Schweiz nicht vertreten ist. Ebenso wäre es angebracht, die Tätigkeit des Europäischen Parlaments verstärkt zu verfolgen und zu begleiten, wie es das Beispiel Norwegens (siehe unten 3.6.1) oder der USA zeigt, die kürzlich Massnahmen trafen, um ihre Einflussnahme auszuweiten.

Ohne zusätzliche personelle Ressourcen wird eine solche Intensivierung jedoch nicht möglich sein. Indessen könnte auch das eidgenössische Parlament seine Beziehungen zum europäischen Parlament ausbauen, und zwar auf der Ebene der Aussenpolitischen Kommissionen, der Delegation in den parlamentarischen Ausschüssen der EFTA, die mit der Pflege der Beziehungen zum Europäischen Parlament betraut ist, und allenfalls auch anderer spezialisierten Kommissionen.

89

ABl. C 115 vom 9. Mai 2008.

7303

3.4.2

Die Frage des Parallelismus

In der Praxis könnte der von der EU in ihren Beziehungen zur Schweiz angestrebte Parallelismus dazu führen, dass gewisse neue Abkommen nicht abgeschlossen werden können. Derzeit fordert die EU einzig im Bereich der Unternehmensbesteuerung parallele Verhandlungsfortschritte. Dank der bisherigen Strategie des Bundesrats in diesem Dossier (keine Verhandlungen, sondern Dialog und autonome Massnahmen im Rahmen der Reform der Unternehmensbesteuerung) konnte bis anhin eine Blockierung vermieden werden. Die Schweiz muss allerdings auch künftig eine kohärente Strategie verfolgen, um die Interessen ihres Finanzplatzes zu wahren und die Weiterentwicklung ihrer Abkommen mit der EU dort zu fördern, wo dies sinnvoll ist. Sollte die Schweiz auf die Gewährleistung der Kohärenz aller EU-Verhandlungsdossiers verzichten, weil sie der Auffassung ist, dass jedes Dossier für sich beurteilt werden und nicht von Verzögerungen in anderen Dossiers abhängig sein sollte, wäre dies entgegen der Strategie der EU90. Wenn die EU das Prinzip des Parallelismus konsequent anwendet, wird der Schweiz wohl nichts anderes übrig bleiben, als dies auch zu tun.

Allgemein gilt es, unsere Forderungen an die EU so realistisch als möglich zu halten und auch die Anliegen der EU angemessen zu berücksichtigen. Damit der bilaterale Weg erfolgreich und nachhaltig weiterentwickelt werden kann, müssen beide Parteien systematisch einen Interessenausgleich anstreben. Das ist im Interesse beider Partner, hängt aber von der Bereitschaft der EU ab, Lösungen im Rahmen von bilateralen sektoriellen Abkommen mit der Schweiz zu finden. In diesem Zusammenhang zeigt unser Beitrag an die Verwirklichung europäischer Ziele (Ausbau eines leistungsfähigen Eisenbahnnetzes, Unterstützung der neuen Mitgliedstaaten, Teilnahme an den Bemühungen um Frieden und Stabilität in Europa etc.), dass die Schweiz eine zuverlässige und solidarische Partnerin ist, was auch zur Konsolidierung des bilateralen Wegs beiträgt. Umgekehrt würde dieser Weg durch eine Infragestellung nur geschwächt, wie oben (vgl. Ziff. 2.2) ausgeführt wurde.

3.4.3

EU-Forderungen im Steuerbereich

Wie bereits dargelegt (Ziff. 3.3.2), könnte das Zinsbesteuerungsabkommen in absehbarer Zeit technisch revidiert werden. Die EU-Kommission ist zudem bestrebt, von den EU-Mitgliedstaaten ein Verhandlungsmandat für eine Revision des Betrugsbekämpfungsabkommens mit der Schweiz oder zur Aushandlung eines Informationsaustauschabkommens im Bereich der direkten Steuern zu erhalten. Ziel des Mandats soll es sein, den von der Schweiz mittlerweile akzeptierten OECD-Standard für die Amtshilfe auch auf EU-Ebene und somit mit allen EU-Mitgliedstaaten gleich zu verankern. Der Bundesrat wird ein eventuelles Verhandlungsbegehren seitens der EU gegebenenfalls prüfen.

90

Siehe hierzu die bereits zitierten Schlussfolgerungen des Rates der EU vom 8. Dez. 2008 zu den Beziehungen zwischen der EU und den EFTA-Ländern.

7304

3.4.4

Marktzutritt

Obwohl die bisher abgeschlossenen Abkommen die Schweizer Volkswirtschaft bereits sehr weitgehend in den EU-Binnenmarkt integrieren und obwohl die jüngst in Kraft getretene Revision des THG weitere Hindernisse abbaut, besteht doch grundsätzlich heute als auch zukünftig ein gewisses Potenzial, weitere Marktzutrittshindernisse abzubauen. Marktzutrittshindernisse bestehen heute im gegenseitigen Handel zwischen der Schweiz und der EU in verschiedenen Formen und in verschiedenen Bereichen. Güterseitig bestehen noch substanzielle tarifäre Barrieren in denjenigen Bereichen des Warenhandels, die nicht unter das Freihandelsabkommen von 1972, dessen Protokoll über landwirtschaftliche Verarbeitungsprodukte oder das Agrarabkommen von 1999 fallen. Daneben bestehen nichttarifarische Barrieren in nahezu allen Produktbereichen und bei den Dienstleistungen. Diese ergeben sich einerseits durch eine rechtliche Besserstellung der eigenen Wirtschaftsteilnehmer, andererseits aufgrund der nicht harmonisierten Regeln für den Verkauf bzw. die Inverkehrsetzung. Nichttarifarische Handelsschranken bestehen teilweise schon länger, können aber aufgrund von Weiterentwicklungen des Rechts eines der beiden Handelspartner auch neu entstehen (siehe Ziff. 2.2 und 3.3). Der Bundesrat arbeitet in verschiedenen Bereich daran, bestehende Zutrittshindernisse abzubauen (z.B. im Energiesektor und im Rahmen der Verhandlungen über Landwirtschaft, Produktesicherheit, Lebensmittelsicherheit und öffentliche Gesundheit, siehe Ziff. 1.3.3).

Der Bundesrat beabsichtigt zudem, die Möglichkeiten für einen verbesserten Marktzutritt bei Einzelstaaten und der EU auch in anderen Bereichen weiter zu vertiefen.

Der Abschluss eines umfassenden Dienstleistungsabkommens mit der EU zur Verbesserung des Marktzutritts wurde vom Bundesrat im Februar 2010 als nicht opportun verworfen. Die rechtlichen und institutionellen Unterschiede zwischen der Schweiz und der EU (namentlich im Infrastrukturbereich) würden, so die Analyse einer Arbeitsgruppe, zu komplexen und langwierigen Verhandlungen führen (vgl.

Ziff. 1.3.3.14). Am 18. August 2010 hat der Bundesrat das Mandat für Verhandlungen über eine Zusammenarbeit im Bereich der Chemikaliensicherheit (REACH/ CLP) verabschiedet. In weiteren Fällen beabsichtigt der Bundesrat, die Möglichkeiten für einen verbesserten
Marktzutritt durch ein Abkommen zu prüfen, insbesondere hinsichtlich einer Zusammenarbeit bei den elektronischen Zollverfahren (e-customs). Auch eine Weiterentwicklung des Abkommens über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen und dessen Ergänzung um zusätzliche Kapitel ist geeignet, den gegenseitigen Marktzutritt zu verbessern.

Angesichts der aufgrund von neuen Entwicklungen des EU-Rechts stetig aufkommenden Handelshemmnisse für den Zugang von Schweizer Unternehmen zum Binnenmarkt besteht für solche Weiterentwicklungen auch künftig ein potenzieller Bedarf. Die Einführung der Verordnungen über die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien (REACH) sowie über Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von chemischen Stoffen und Gemischen (CLP) und die Einführung neuer Sicherheitsmassnahmen im Güterverkehr (Security Amendment zum Zollkodex der Gemeinschaften91) seien hier als jüngere Beispiele

91

Verordnung (EG) Nr. 648/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 117 vom 4. 5. 2005, S. 13).

7305

genannt. Sie illustrieren, dass bestehende Abkommen und autonomer Nachvollzug nicht genügen, um neu entstehende Handelshemmnisse abzufedern.

Somit wird die Weiterführung des bilateralen Wegs immer schwieriger, vor allem im Zusammenhang mit dem Marktzugang, der für die Unternehmen und die Wirtschaft der Schweiz aufgrund des intensiven Austauschs mit der EU von ganz besonderer Bedeutung ist. Zum einen ist es selbst in den von den Abkommen erfassten Bereichen keineswegs sicher, dass die Weiterentwicklungen des EU-Rechts nicht neue Hindernisse entstehen lassen. Zum anderen erzeugen diese Weiterentwicklungen selbst ­ und sogar schon ihre Perspektive­ eine wachsende Rechtsunsicherheit, die sich negativ auf unsere Unternehmen und unsere Wettbewerbsfähigkeit auswirkt (Ziff. 2.2). Darüber hinaus zieht sich die ständige Verhandlung über neue Abkommen oder ihre Weiterentwicklung, durch die den nachteiligen Auswirkungen neuer EU-Rechtsakte begegnet werden soll, häufig über längere Zeiträume hin, während derer die Schweizer Wirtschaftsteilnehmer benachteiligt sind. Zudem sind Erfolge nicht unbedingt garantiert.

3.4.5

Wirtschafts- und Währungspolitik

Auch bei einem Ausbau des bilateralen Wegs bleibt die Schweiz grundsätzlich in ihrer Aussenwirtschafts-, Geld-, Konjunktur-, Arbeitsmarkt- sowie der Struktur- und Wachstumspolitik autonom, mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen. Die Aussagen des vorhergehenden Kapitels (Ziff. 3.3.5) gelten daher auch hier. Hingegen bietet die Möglichkeit, neue Abkommen abzuschliessen, eine wichtige Chance für die Schweizer Volkswirtschaft und namentlich die Exportwirtschaft.

3.4.6

Direkte Kosten

Auf Budgetebene belaufen sich die Direktkosten der Schweizer Abkommen und Programmbeteiligungen auf ungefähr 457 Millionen Schweizerfranken (siehe Tabelle, Ziff. 3.3.6). Hinzu kommen die Kosten für die Beteiligungen an Programmen und Agenturen aufgrund neuer Abkommen (bspw. Galileo; Landwirtschaft, Produktesicherheit, Lebensmittelsicherheit und öffentliche Gesundheit). Im Zusammenhang mit der Weiterführung und dem Ausbau des bilateralen Wegs wäre gegebenenfalls auch das Interesse und die Opportunität einer möglichen Erneuerung des schweizerischen Erweiterungsbeitrags zu prüfen.

3.4.7

Sozialpolitik

Wie unter Ziffer 3.3.7 ausgeführt wurde, bildet die Sozialpolitik lediglich punktuell Gegenstand der existierenden bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU, konkret des FZA. Grundsätzlich wäre es denkbar, durch eine Anpassung des FZA oder mittels Aushandlung eines neuen Abkommens gewisse weitere Aspekte des einschlägigen Acquis zu übernehmen bzw. die Zusammenarbeit zu verstärken.

In der Schweiz wurde der Wunsch nach einer solchen verstärkten Kooperation mit der EU bisher jedoch noch nie in politisch breit abgestützter Form an den Bundesrat herangetragen.

7306

3.4.8

Umweltpolitik

Die Weiterentwicklung des bilateralen Wegs ist im Umweltbereich auf zwei Arten denkbar; einerseits mit der Aushandlung neuer spezifischer Abkommen, wie dies der Bundesrat beispielsweise mit dem Ende 2009 verabschiedeten Mandat für ein Abkommen zur Verknüpfung der Emissionshandelssysteme der Schweiz und der EU anstrebt, das den Zugang zum deutlich grösseren und liquideren europäischen Emissionsmarkt ermöglichen soll. Als weiterer Bereich für eine punktuelle Zusammenarbeit könnte auch die Beteiligung der Schweiz am EU-Umweltzeichen erwähnt werden, für die der Bundesrat 2001 bereits ein Mandat verabschiedet hatte. Um die Zusammenarbeit im Bereich der Umweltbeobachtung zu vertiefen, könnte ein Abkommen über die Globale Umwelt- und Sicherheitsüberwachung (GMES) angestrebt werden. Des Weiteren wurden Sondierungsgespräche über chemische Stoffe (REACH) und Biozidprodukte durchgeführt. Grundsätzlich würde mit derartigen Abkommen für bestimmte Teilbereiche des Umweltrechts eine materielle Harmonisierung der Vorschriften erwirkt. Um einer zu starken Fragmentierung des Umweltrechts entgegenzuwirken und um die Umsetzung der einzelnen Umweltabkommen zu erleichtern, wäre der Abschluss eines umfassenden Umweltabkommens allenfalls zu prüfen.

Andererseits ist absehbar, dass künftige Marktzutrittsabkommen mit der EU auch horizontale Bestimmungen im Umweltbereich beinhalten könnten. Dies wird von Seiten der EU insbesondere im Hinblick auf die Gewährleistung gleich langer Spiesse und der Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen gefordert. Beispiele hierfür sind die Verhandlungen für ein Abkommen im Strom- und Energiebereich, aber auch die Frage einer möglichen künftigen Zusammenarbeit mit der EU im Chemikalienbereich (REACH). Mit einem derartigen Ansatz würde aber das nicht zu vernachlässigende Risiko einer Fragmentierung und Sektorialisierung des Schweizer Umweltrechts einhergehen, was aus Kohärenzgründen aus Schweizer Sicht nicht unbedingt erwünscht wäre.

3.5

Schaffung eines institutionellen Rahmens

«Schaffung eines institutionellen Rahmens» Eine Vereinbarung, in der bestimmte institutionelle Eckpunkte festgelegt sind, könnte die Umsetzung bilateraler Verträge vereinfachen und die Entscheidfindung etwa bei der Weiterentwicklung relevanten EU-Rechts effizienter und transparenter gestalten. Auch könnte eine solche institutionelle Lösung, etwa ein Rahmenabkommen, die Grundlage für einen regelmässigen politischen Dialog auf hoher Ebene bilden. Ein institutioneller Rahmen müsste aber je nach Verhandlungsdossier sachgerechte Lösungen zulassen.

In Anbetracht der erwähnten Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU ist die Frage zu stellen, ob es im Interesse der Schweiz liegt, in jedes einzelne neue Abkommen mit der EU Prinzipien für die Übernahme des Besitzstandes, die Aufsicht und die Rechtsprechung aufzunehmen, oder ob nicht

7307

eine horizontale Lösung vorzuziehen wäre. Hier stellt sich die Frage, ob es opportun wäre, einen institutionellen Rahmen, etwa in Form eines Rahmenabkommens oder einer anderen horizontalen Vereinbarung, auszuhandeln. Das Parlament hat wiederholt92 die Prüfung der Wünschbarkeit und der Machbarkeit eines Rahmenabkommens gefordert. Dieses Ziel wurde auch in die Legislaturplanung 2007­2011 aufgenommen93. Der Stand der entsprechenden Überlegungen des Bundesrates ist insbesondere dem Aussenpolitischen Bericht vom 2. September 200994 sowie den Antworten des Bundesrates vom 13. Mai 2009 auf die Interpellation Fehr (09.3172) und vom 20. Mai 2009 auf die Interpellation der SVP-Fraktion (09.3249) zu entnehmen. Der Bundesrat hat sich allerdings noch nicht zu der Frage geäussert, ob Verhandlungen über ein Rahmenabkommen zweckmässig wären. Die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) hat sich in ihrer Europapolitischen Standortbestimmung vom 25. Juni 2010 für die Aushandlung eines Rahmenabkommens ausgesprochen.

Ziel ist im Wesentlichen, die Frage der Übernahme des EU-Rechts zu regeln, aber auch, den politischen Dialog zu institutionalisieren und die Mitwirkung der Schweiz bei EU-Programmen zu verankern. Die KdK ist sogar der Auffassung, dass die Aushandlung eines Rahmenabkommens Priorität vor neuen sektoriellen Verhandlungen haben sollte. Als Vorbedingung für den Abschluss eines Rahmenabkommens sowie für alle weiteren Fortschritte in den Beziehungen zur EU nennt sie jedoch innerstaatliche Reformen zur Konsolidierung der föderalistischen und demokratischen Staatsorganisation.95

3.5.1

Institutionelle Aspekte

Generell könnte eine horizontale Lösung, die einheitliche und beidseitig akzeptable Instrumente für die Übernahme der Weiterentwicklungen des EU-Rechts bereitstellt, die Entscheidfindung in den Gemischten Ausschüssen effizienter und transparenter machen. Sie könnte auch zu einer Vereinfachung der Mechanismen führen, indem gewisse wiederkehrende Fragen, die derzeit in verschiedenen Abkommen unterschiedlich gehandhabt werden, horizontal geregelt würden. Ihr Hauptziel wäre es, die Rechtssicherheit des bilateralen Wegs zu erhöhen. Ein institutioneller Rahmen kann sich auf gewisse Teilaspekte beschränken und mehr oder weniger Regelungsspielraum für massgeschneiderte institutionelle Lösungen in einzelnen Abkommen belassen. Mit anderen Worten müsste ein allfälliges Rahmenabkommen nicht zwin-

92

93 94 95

1) Bericht der APK des Ständerates vom 18. März 2002 über die Optionen der schweizerischen Integrationspolitik (02.033), in dem eine institutionelle Lösung in Form eines Rahmenabkommens gefordert wird (BBl 2002 6326); 2) Interpellation Polla (02.3374) vom 21. Juni 2002 «Verbesserung der Beziehungen Schweiz/EU» mit Antwort des BR vom 20. Sept. 2002, in der dieser erklärt, er wolle «eine vertiefte Analyse der Wünschbarkeit und Machbarkeit eines solchen Ansatzes (...) anlässlich des Abschlusses der Bilateralen II vornehmen»; 3) Postulat Stähelin (05.3564) vom 5. Okt. 2005 «Rahmenvertrag zwischen der Schweiz und der EU», das einen Bericht über den Stellenwert eines Rahmenvertrages fordert und vom BR am 26. Okt. 2005 angenommen wurde; 4) Medienmitteilung der APK-S vom 1. Sept. 2006, in der der Europabericht 2006 des Bundesrates gewürdigt und daran erinnert wird, dass ein Rahmenabkommen eine besonders prüfenswerte Variante wäre.

Bundesbeschluss vom 18. Sept. 2008 über die Legislaturplanung 2007­2011.

BBl 2009 6333 Vgl. Europapolitische Standortbestimmung der Kantonsregierungen, die von der Konferenz der Kantonsregierungen am 25. Juni 2010 verabschiedet wurde (www.kdk.ch).

7308

gend sämtliche institutionellen Aspekte der zukünftigen bilateralen Zusammenarbeit ohne die Möglichkeit von Abweichungen regeln.

Mit einem Rahmenabkommen oder einer anderen horizontalen Lösung könnte auch ein hochrangiger politischer Dialog institutionalisiert werden. Ein solcher kontinuierlicher Dialog ist wichtig für die Pflege von Beziehungen, die auf gegenseitiger Achtung und gegenseitigem Verständnis beruhen. Darüber hinaus würden regelmässige Konsultationen Gelegenheit bieten, die Erfahrungen der Vertragsparteien und der Gemischten Ausschüsse sowie Informationen und gute Praktiken auszutauschen, um die erwünschte Konvergenz in der Umsetzung der verschiedenen Abkommen zu gewährleisten.96 Die Weiterentwicklung und Vertiefung eines solchen Vertrauensverhältnisses könnte auch von Nutzen sein, wenn in einzelnen Fällen entschieden werden muss, welche Folgen die Nichtübernahme einer Weiterentwicklung des EU-Besitzstandes durch die Schweiz haben soll.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine horizontale Lösung in Form eines Rahmenabkommens alle oder einen Teil der folgenden Elemente aufweisen könnte:

96

­

Institutionelle Aspekte (Mechanismus für die Übernahme des Besitzstandes, Mitwirkung der Schweiz bei der Entwicklung des Besitzstandes): Es würde zum Beispiel darum gehen, die oben (Ziff. 2.1) genannten Prinzipien nach dem Vorbild des Abkommens über Zollerleichterungen und Zollsicherheit in das Rahmenabkommen aufzunehmen. Das Ziel wäre, die Anpassung einzelner Abkommen an die einschlägigen Weiterentwicklungen des Besitzstandes zu erleichtern, dabei aber jeden Automatismus zu vermeiden. Es könnte sich allerdings als schwierig erweisen, die im Abkommen über Zollerleichterungen enthaltenen Prinzipien in dieser Form in ein Rahmenabkommen zu integrieren, da die EU offenbar nicht bereit ist, diese Lösung als Präzedenzfall zu betrachten, der unabhängig vom genannten Abkommen ist und auf andere Kontexte übertragen werden kann. Das Ergebnis der Verhandlungen über diese Frage wird auf beiden Seiten von ausschlaggebender Bedeutung für die Annehmbarkeit eines Rahmenabkommens sein.

­

Einsetzung unabhängiger Organe für die Überwachung und Auslegung der Abkommen zwischen der Schweiz und der EU. Hier sind verschiedene Lösungen denkbar, darunter zum Beispiel die Inanspruchnahme der Aufsichtsbehörden und Auslegungsinstanzen des EWR durch die Schweiz oder die Errichtung eines Schiedsgerichts oder eines gemeinsamen Gerichts der Schweiz und der EU. Sie hätten den Vorteil, dass Streitigkeiten entpolitisiert würden, da die Beilegung von Streitigkeiten einer Schiedsinstanz übertragen würde.

­

Einführung eines regelmässigen politischen Dialogs mit der EU, möglicherweise in Form eines hochrangigen Gemischten Ausschusses: Dies würde im Vergleich zu den Beziehungen, die die EU mit anderen Drittstaaten und mit ihren EWR-Partnern unterhält, eine Lücke in den bilateralen Beziehungen füllen. Ein solcher Dialog würde zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und Einvernehmen der beiden Partner beitragen. Ein regelmässiger politischer Dialog würde es auch erlauben, alle Probleme anzusprechen, die bei Vgl. «Binnenmarkt jenseits der EU-Grenzen: EWR und Schweiz», Themenpapier der Generaldirektion für Innenpolitik des Europäischen Parlaments, Jan. 2010 (IP/A/IMCO/NT/2009-13, PE 429.993).

7309

der Anwendung der verschiedenen Abkommen auftreten, und zwar im Sinne einer Gesamtschau, die den Interessen beider Seiten Rechnung trägt.

­

Horizontale Gestaltung der Mitwirkung der Schweiz an den Programmen oder Agenturen der EU97: So könnten wiederkehrende langwierige Verhandlungen über die Verlängerung einzelner Beteiligungen der Schweiz an EUProgrammen in Bereichen wie MEDIA, Forschung, Bildung, Ausbildung, Jugend etc. vermieden werden.

Der Geltungsbereich einer allfälligen horizontalen Lösung müsste ebenfalls festgelegt werden: Wäre sie nur auf alle derzeit verhandelten und künftigen Abkommen anzuwenden oder auch auf die bestehenden?98 A priori wäre die zweite Variante nicht ohne Schwierigkeiten zu realisieren, denn sie würde eine Revision der bereits abgeschlossenen Abkommen sowie der auf beiden Seiten teilweise langwierigen internen Verfahren notwendig machen.99 Zunächst könnte ein horizontale Lösung oder ein Rahmenabkommen daher auf künftige Abkommen beschränkt werden100, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Anpassung der derzeit geltenden Abkommen abgeschlossen ist.

Selbstverständlich wird die Akzeptanz einer Lösung in Form eines Rahmenabkommens weitgehend von den Ergebnissen der Sondierungsgespräche oder allfälliger Verhandlungen über die Schlüsselfrage abhängen, mit welchem Mechanismus die Weiterentwicklungen des EU-Rechtsbestands berücksichtigt werden sollen. Die EU hat mehrmals ihr grundsätzliches Interesse an einem solchen Abkommen bekundet.

Gemäss den Schlussfolgerungen des Rates der EU vom 8. Dezember 2008 sollte ein solches Abkommen «die Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstands bei allen Abkommen sowie einen Mechanismus beinhalten, mit dem die regelmässige Aktualisierung und einheitliche Auslegung dieser Abkommen gewährleistet wird.»101 Da diese Formulierung a priori keinen Automatismus für die Übernahme des Besitzstandes impliziert, sollte es möglich sein, für beide Seiten akzeptable Lösungen zu finden. Dies gilt umso mehr, als sowohl die EU als auch die Schweiz ein Interesse daran haben, dass die bilateralen Abkommen reibungslos funktionieren und die vertraglichen Beziehungen fortlaufend flexibel angepasst werden. Was das Europäische Parlament betrifft, so fordert es in einer Entschliessung vom 7. September 2010 «die Kommission und die Schweiz auf, die Möglichkeiten horizontaler Lösung für bestimmte institutionelle Fragen zu sondieren, die Transparenz zu erhöhen, die Zersplitterung beim Beschlussfassungssystem abzubauen, die Kommunikation zwischen den Gemeinsamen Ausschüssen zu verstärken und die Einführung eines

97

Vgl. hierzu auch den Agenturenbericht, Ziff. 4, sowie die Europapolitische Standortbestimmung der Kantonsregierungen, die von der Konferenz der Kantonsregierungen am 25. Juni 2010 verabschiedet wurde (www.kdk.ch).

98 Die Schengen/Dublin-Assoziierungsabkommen der Schweiz bleiben hiervon aller Wahrscheinlichkeit nach unberührt, da ihre Vorschriften für alle assoziierten Staaten im Schengen/Dublin-Raum gelten, also neben der Schweiz auch für Norwegen, Island und Liechtenstein.

99 Eine Revision des Personenfreizügigkeitsabkommens zum Beispiel erfordert die Genehmigung durch die EU und durch jeden einzelnen Mitgliedstaat (ausgenommen sind die Anhänge II und III). Auf Schweizer Seite wäre eine Revision im Prinzip dem fakultativen Referendum unterstellt.

100 Diese Auffassung vertritt auch die Konferenz der Kantonsregierungen in ihrer Europapolitischen Standortbestimmung vom 25. Juni 2010 (www.kdk.ch).

101 Schlussfolgerungen des Rates zu den Beziehungen zwischen der EU und den EFTAStaaten, Dok. 16651/1/08 vom 8. Dez. 2008.

7310

Verfahrens für die Beilegung von Streitigkeiten zu prüfen.»102 Abschliessend bleibt aber offen, zu welchen Ergebnissen allfällige Verhandlungen führen würden.

Die Aushandlung einer horizontalen Regelung und das Verfahren zu ihrer Inkraftsetzung könnten einige Zeit in Anspruch nehmen. Daher erscheint es sinnvoll, unabhängig davon und gemeinsam mit der EU zu versuchen, im Rahmen der derzeitigen und geplanten Verhandlungen akzeptable institutionelle Lösungen zu erarbeiten und dafür zu sorgen, dass diese Lösungen mit den Regeln kompatibel sind, die im Rahmen eines globalen Ansatzes aufgestellt werden könnten. Auch wird eine horizontale Regelung wahrscheinlich nicht für sämtliche Abkommen geeignete Mechanismen aufstellen können. Es könnte auch in Zukunft vorkommen, dass im Einzelfall zum Teil individuelle institutionelle Lösungen vereinbart werden müssen.

Dieser Aspekt ist besonders wichtig angesichts der Tatsache, dass die Verankerung allzu rigider institutioneller Regeln in einem Rahmenabkommen insofern negative Auswirkungen hätte, als sie andere ad-hoc Regelungen verhindern würde, die möglicherweise vorteilhafter wären oder für den jeweiligen Verhandlungskontext geeigneter erschienen.

Aus föderalistischer und institutioneller Sicht könnten zusätzlich zu den bereits genannten Überlegungen (Ziff. 3.3.1 und 3.4) die Kantone in ihren Zuständigkeitsbereichen verstärkt in den politischen Dialog und in die regelmässigen Konsultationen eingebunden werden, die durch eine horizontale Lösung institutionalisiert werden könnten.103 Eine solche Lösung könnte auch die Aufnahme eines institutionellen Dialogs zwischen dem eidgenössischen Parlament und dem EU-Parlament ermöglichen. So wäre zum Beispiel eine Bestimmung zu prüfen, die es dem eidgenössischen Parlament erlaubt, sich über die für die Schweiz relevanten gesetzgeberischen Entwicklungen innerhalb der EU auf dem Laufenden zu halten. Eine solche Bestimmung könnte analog zu den Regelungen gestaltet werden, die der Vertrag von Lissabon für die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten vorsieht104 und das Europäische Parlament für die Parlamente der EWR-Mitgliedstaaten105 verlangt. Ein solches Abkommen sollte sich indessen weder auf die europapolitischen Zuständigkeiten der Departemente und Bundesämter noch auf den Koordinierungsauftrag des Integrationsbüros EDA/EVD auswirken.

102

Entschliessung des Europäischen Parlaments vom 7. Sept. 2010 «EWR-Schweiz: Hindernisse für die vollständige Verwirklichung des Binnenmarktes» (2009/2176(INI)), Sitzungsdokument A7-0216/2010 vom 29. Juni 2010.

103 Vgl. die Europapolitische Standortbestimmung der Kantonsregierungen, die von der Konferenz der Kantonsregierungen am 25. Juni 2010 verabschiedet wurde (www.kdk.ch).

104 Vgl. das Protokoll 1 über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union.

Es sieht vor, dass alle an das Europäische Parlament und den Rat gerichteten Gesetzgebungsentwürfe auch den nationalen Parlamenten unterbreitet werden. Binnen einer Frist von acht Wochen können die nationalen Parlamente eine begründete Stellungnahme zur Übereinstimmung eines Gesetzgebungsentwurfs mit dem Subsidiaritätsprinzip an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission richten. Ausser in ordnungsgemäss begründeten dringenden Fällen darf in diesen acht Wochen keine Einigung über den Gesetzgebungsentwurf festgestellt werden. Wenn ein Drittel der nationalen Parlamente das Subsidiaritäts- oder das Verhältnismässigkeitsprinzip als verletzt betrachtet, muss der Gesetzesentwurf überarbeitet werden. Vgl. auch die Motion (10.3005) der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats vom 12. Jan. 2010 «Massnahmen zur frühzeitigen Information des Parlamentes über relevante europäische Gesetzgebungsentwürfe».

105 Entschliessung des Europäischen Parlaments vom 7. Sept. 2010 «EWR-Schweiz: Hindernisse für die vollständige Verwirklichung des Binnenmarktes» (2009/2176(INI)), Sitzungsdokument A7-0216/2010 vom 29. Juni 2010.

7311

3.5.2

Die Frage des Parallelismus

Da die EU immer nachdrücklicher auf dem Parallelismus zwischen den Verhandlungsdossiers mit der Schweiz besteht, hätten eine globale institutionelle Lösung oder ein Rahmenabkommen den Vorteil, dass sie auch den politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern eine bessere Gesamtschau der Beziehungen zwischen den beiden Partnern bieten würden. Dies könnte auf beiden Seiten zu einer stärkeren Berücksichtigung der politischen Dimension der Interessen und Beziehungen führen, sodass ausgewogene und beidseitig akzeptable Lösungen gefunden würden, die für eine erfolgreiche Weiterführung des bilateralen Weges unerlässlich sind. Dies könnte in gewissem Sinne zu einer Verringerung der Blockaden führen. Aus Schweizer Sicht wäre eine bessere Gesamtschau der europäischen Dossiers auch von Nutzen für eine optimale Wahrung unserer Interessen gegenüber der EU.

3.5.3

EU-Forderungen im Steuerbereich, Marktzutritt, Wirtschafts- und Währungspolitik, direkte Kosten, Sozialpolitik, Umweltpolitik

Das hier beschriebene institutionelle Konzept könnte zu einer effizienteren und transparenteren Entscheidfindung in den Gemischten Ausschüssen beitragen, die Mechanismen zur Beilegung gewisser wiederkehrender Fragen über eine horizontalen Regelung vereinfachen und einen hochrangigen politischen Dialog institutionalisieren. Auf die titelvermerkten Aspekte hätte diese Lösung allerdings keine direkten substanziellen Auswirkungen.

3.6

Beitritt zum EWR

«Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum» Als EWR-Mitglied hätte die Schweiz uneingeschränkten Zugang zum EU-Binnenmarkt, der auch den gesamten Dienstleistungsbereich erfasst. Da der EWR keine Zollunion ist, hätte die Schweiz weiterhin die Möglichkeit, mit Drittstaaten Handelsverträge auszuhandeln. Weiterentwicklungen im EWR-relevanten EU-Rechtsbestand müsste die Schweiz als Mitglied des EWR übernehmen. In den nicht vom EWR erfassten Bereichen der Zusammenarbeit mit der EU blieben die heutigen Regelungen bestehen (etwa Schengen, Zinsbesteuerung, Betrugsbekämpfung).

Ein weiteres Instrument, das die Schweiz in ihren Beziehungen zur EU ins Auge fassen könnte, ist der Beitritt zum EWR, der 1992 von Volk und Ständen abgelehnt worden war. Der EWR hat sich seither beträchtlich weiterentwickelt (Ziff. 1.3.2.3).

Er zählt heute nur noch drei Nicht-EU-Mitglieder (Island, Norwegen und Liechtenstein). Zudem hat Island ein Beitrittsgesuch zur EU gestellt, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass es früher oder später die EFTA verlassen wird.

7312

Ein Beitritt zum EWR würde lediglich die Zusammenarbeit mit der EU im Bereich des Binnenmarktes betreffen. Nicht erfasst wären insbesondere die Bereiche Justiz und Inneres, Sicherheitspolitik und Steuern, für die weiterhin gesondert nach Lösungen gesucht werden müsste.

Aus Sicht der jetzigen Mitgliedstaaten würde ein solches Szenario die Zukunft des EWR sichern helfen. Für die EU brächte ein Beitritt der Schweiz zum EWR erhebliche Vorteile in Bezug auf personelle Ressourcen. Im EWR übernimmt nämlich das EFTA/EWR-Sekretariat (mehr als 60 Personen) praktisch alle Aufgaben im Zusammenhang mit der Umsetzung des Abkommens. Auf der andern Seite würde die EU in materieller Hinsicht zweifellos einen Beitritt der Schweiz zum EWR begrüssen, beinhaltet dieser doch Ziele und Mechanismen, welche seine Homogenität fördern und seine Dynamik im Sinne der Anpassung an die Entwicklungen des relevanten Aquis erleichtern.

3.6.1

Institutionelle Aspekte

Die institutionellen Merkmale des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) sind in der entsprechenden Botschaft106 im Detail vorgestellt und im Europabericht 2006107 nochmals erwähnt; es kann also auf diese Texte verwiesen werden. Mit Bezug auf die Übernahme des EU-Acquis und seiner Weiterentwicklungen ist das EWR-Abkommen darauf ausgerichtet, zwei gegensätzliche Ziele miteinander zu vereinbaren, nämlich die Wahrung der Gesetzgebungsautonomie der Parteien und die Einheitlichkeit des Rechts innerhalb des EWR. Ferner weist das EWR-Abkommen gewisse institutionelle Schwächen auf, insbesondere da es «nicht in allen seinen Teilen den Grundsatz der Gleichheit der Vertragsparteien respektiert»108.

Konkret haben die am EWR assoziierten Staaten das Recht, an der Ausarbeitung von Vorschlägen der Europäischen Kommission teilzuhaben. Demgegenüber haben sie kein Mitentscheidungsrecht, wenn zwischen der Kommission, den Mitgliedstaaten und dem Europaparlament über den Erlass von neuen Bestimmungen verhandelt wird. Ferner müssen sie quasi obligatorisch die für den EWR relevanten Entwicklungen des Acquis communautaire übernehmen. Sie können eine Übernahme nur verweigern, wenn die Ablehnung kollektiv ist. Die Ablehnung eines Erlasses kann überdies die automatische Suspension des betroffenen Teils des EWR-Abkommens bewirken, ausser der Gemeinsame EWR-Ausschuss entscheide anders. Ein solcher Fall ist bis heute noch nie eingetreten; die EFTA/EWR-Staaten haben angesichts des erheblichen Risikos einer Nichtübernahme alle für den EWR relevanten Erlasse der EU übernommen.109 Das EWR-Abkommen begründet zwei Organe: die EFTAÜberwachungsbehörde und den EFTA-Gerichtshof. Erstere hat zu überprüfen, ob die Massnahmen zur Umsetzung und Anwendung des Abkommens mit EWR-Recht kompatibel sind. Die Gerichte sind gehalten, EU-Recht anzuwenden. In bestimmten 106

Botschaft des Bundesrates vom 18. Mail 1992 zur Genehmigung des Abkommens über den EWR, BBl 1992 IV 1.

107 BBl 2006 6837 108 Botschaft EWR vom 18. Mai 1992, BBl 1992, IV 1 50.

109 BBl 2006 6921 (Ziff. 4.3.1.1). «Binnenmarkt jenseits der EU-Grenzen: EWR und Schweiz, Themenpapier der Generaldirektion interne Politikbereiche der EU», Jan. 2010, S. 12 (IP/A/IMCO/NT/2009-13).

7313

Fällen können sie Fragen zur Anwendung des EWR-Rechts mittels Vorabentscheidungsverfahrens dem EFTA-Gerichtshof unterbreiten. Das Bundesgericht als letzte Instanz wäre sogar dazu verpflichtet. Durch die Gründung des EFTA-Gerichtshofes und der EFTA-Überwachungsbehörde haben die EFTA/EWR-Staaten diesen supranationalen Organen den Auftrag erteilt, die frühere, die aktuelle und die zukünftige Rechtsprechung des EuGH gebührend zu berücksichtigen. Das EWR-Recht ist ein Recht sui generis, vergleichbar mit dem EU-Recht. Für ein spezifisches Abkommen ausserhalb des EWR-Geltungsbereichs wäre die Frage einer Übernahme der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH durch die Schweiz nicht anders geregelt als heute. Mit andern Worten würde die Schweiz bei der Interpretation von Acquis, der nach Unterzeichnung der Abkommen entsteht, eine gewisse Autonomie bewahren, wobei es sich im Interesse des reibungslosen Funktionierens der Abkommen allerdings versteht, dass deren Regeln einheitlich auszulegen und umzusetzen sind (Ziff. 3.4.1).

Daraus folgt, dass die Schweiz wie oben erwähnt bei einem EWR-Beitritt die relevanten Erlasse der EU quasi automatisch übernehmen müsste.110 Die anderen Bereiche wie Schengen/Dublin, Zinsbesteuerung, Betrugsbekämpfung und weitere künftige Abkommen ausserhalb des Anwendungsbereichs des EWR blieben ihren eigenen Übernahmemechanismen für Acquis-Entwicklungen unterstellt. Was allfällige künftige Abkommen betrifft, wären weiterhin die vom Bundesrat im Aussenpolitischen Bericht 2009111 (vgl. Ziff. 2.1) festgelegten Prinzipien für die Übernahme des Acquis relevant. Mit Bezug auf die entscheidende Frage der Modalitäten zur Anpassung der Abkommen an die Weiterentwicklung des relevanten EU-Rechts ist darauf hinzuweisen, dass die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass sich der bilaterale Weg immer stärker an die Lösungen des EWR annähert (siehe Ziff. 3.4).

Sofern sich die Schweiz in Zukunft verpflichten sollte, als Grundlage für die bilateralen Abkommen EU-Recht zu akzeptieren und im Austausch für eine begrenzte Mitsprache beim EU-Rechtsetzungsprozess zukünftige Entwicklungen zu übernehmen bzw. bei Nichtübernahme der Rechtsentwicklung angemessene Ausgleichsmassnahmen zuzulassen, würde sich der bilaterale Weg vom EWR nur noch durch seinen sektorielleren Anwendungsbereich, die Beschränkung auf
zwei Partner (die EU und die Schweiz) und, vorbehältlich eines gegenteiligen Entscheids, die fehlende institutionelle Zuständigkeit von EFTA-Gerichtshof, EFTA-Überwachungsbehörde und EFTA-Sekretariat unterscheiden.

Demnach könnte die Übernahme der Weiterentwicklungen des EU-Rechts im Zusammenhang mit einem Beitritt der Schweiz zum EWR gegenüber der Weiterführung des bilateralen Weges zu den vom Bundesrat in seinem Aussenpolitischen Bericht 2009 festgelegten Bedingungen112 zu einer gewissen Schwächung der Autonomie unseres Landes führen (Verpflichtung der EFTA-Länder, mit einer Stimme zu 110

Zum Vergleich des materiellen Geltungsbereichs zwischen EWR und der bilateralen Abkommen Schweiz/EU vgl. Europabericht 2006, S. 6838. Es sei darauf hingewiesen, dass besonders im Bereich der Personenfreizügigkeit ein Beitritt zum EWR die quasiautomatische Übernahme der Entwicklungen des EU-Rechts mit sich bringen würde, so z.B. die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38 EG für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen. Im heutigen Rahmen des Freizügigkeitsabkommens stellt die Übernahme dieser Richtlinie keine rechtliche Verpflichtung dar, selbst wenn die EU dies unter Berufung auf den Grundsatz der Einheitlichkeit des Rechts wünscht.

111 BBl 2009 6291 ff.

112 Für die Machbarkeit des bilateralen Wegs braucht es die Zustimmung der EU, sei es zu jedem Einzelabkommen, sei es horizontal zu einem Rahmenvertrag.

7314

sprechen, Verpflichtung zur systematischen bzw. quasi-automatischen Übernahme).

Hingegen zeitigte ein EWR-Beitritt a priori einen positiven Effekt auf die Rechtssicherheit für die Wirtschaftsakteure. Ebenfalls positiv für die Schweiz wäre die Tatsache, dass unser Land mit einem EWR-Beitritt vollberechtigt an den verschiedenen EU-Programmen teilnehmen könnte, während heute eine Beteiligung von Fall zu Fall und für jedes Folgeprogramm einzeln ausgehandelt werden muss. Und schliesslich würde die Teilnahme an den Mechanismen des EFTA-Gerichtshofes und der EFTA-Überwachungsbehörde dazu beitragen, die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Überwachung der Abkommen, auch in rechtlicher Hinsicht, auszuräumen.

Die EWR-Botschaft113 schätzte die Auswirkungen eines EWR-Beitritts auf Demokratie, Föderalismus und Institutionen der Schweiz als gering ein und sah keine Verletzung der Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung. Sie fügte allerdings hinzu, dass ein Beitritt den Handlungsspielraum des Bundesrates im Bereich der internen Befugnisse einschränken und auch dem Parlament, das die EWR-Beschlüsse in internes Recht umsetzen müsste, kaum noch Spielraum lassen würde. Die neuen Regelungen des EU-Rechts fliessen laufend in den EWR ein. Die Nicht-EU-Staaten haben ein Mitspracherecht bei der Entscheidvorbereitung, aber kein Mitentscheidungsrecht beim Erlass neuen EU-Rechts. Demnach würde bei einem EWR-Beitritt der Schweiz ­ anders als beim EU-Beitritt ­ die Einschränkung des Handlungsspielraums von Bundesrat und Parlament nicht durch ein (neu enstehendes) Mitentscheidungsrecht auf europäischer Ebene ausgeglichen.114 Im Vergleich zum unter Ziffer 3.4 beschriebenen bilateralen Weg hätte der EWR aufgrund seines breiteren Anwendungsbereichs aus föderalistischer und demokratischer Sicht tendenziell ähnliche, jedoch ausgeprägtere Auswirkungen. Für genauere Erläuterungen sei auf die Botschaft zur Genehmigung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum verwiesen.115 Die Zusammenarbeit mit der KdK müsste entsprechend den Ausführungen zur Möglichkeit eines Ausbaus des bilateralen Weges (Ziff. 3.4) verstärkt116 und zum Beispiel durch ein gemeinsames Koordinationsorgan oder durch die Einsetzung von Informationsbeauftragten der Kantone in allen betroffenen Departementen ergänzt werden.

Die institutionellen
Veränderungen der EU, die der Vertrag von Lissabon117 eingeführt hat, haben keine direkten Auswirkungen auf das EWR-Abkommen. Ähnlich wie die Schweiz unter den bilateralen Verträgen müssen sich aber auch die EWRStaaten auf die neuen Gesprächspartner einstellen, die durch den Vertrag von Lissabon geschaffen werden bzw. mehr Bedeutung erlangen. Da der EU-Acquis im Bereich des EWR-Abkommens übernommen wird, erlangt das Europäische Parlament durch seinen Zuwachs an Kompetenzen im Gesetzgebungsverfahren für die EWR-Mitgliedstaaten eine besondere Bedeutung. Die enge Assoziierung der EFTA/EWR-Staaten an die EU veranlasst sie dazu, während der Umsetzungsphase des Vertrags von Lissabon die internen EWR-Verfahren und Prozesse laufend zu 113 114 115 116 117

Botschaft des Bundesrates vom 18. Mai 1992 zur Genehmigung des Abkommens über den EWR, BBl 1992 IV 64 ff.

BBl 2006 6920 ff.

BBl 1992 IV 64 ff.

Für eine detaillierte Darstellung dieser Zusammenarbeit in der Europapolitik siehe: BBl 2007 5937 ff.

ABl. C 115 vom 9. Mai 2008.

7315

überprüfen und anzupassen. Das EWR-Abkommen beschränkt sich auf klar abgegrenzte Gebiete aus dem Binnenmarkt und gewisse flankierende Politiken. Die Zusammenlegung der 3-Säulen-Struktur in der EU dürfte demgegenüber dazu führen, dass die Grenzen zwischen den verschiedenen Politikbereichen innerhalb der EU fliessender werden. Für die EFTA/EWR-Staaten könnte sich dadurch die Aufgabe erschweren, den für ihr Abkommen massgebenden Acquis von Regelungen zu unterscheiden, die ausserhalb des Anwendungsbereiches des EWR-Abkommens liegen.

Schliesslich sei noch erwähnt, dass das norwegische Parlament im Hinblick auf die neuen Zuständigkeiten des Europäischen Parlaments und möglicher Auswirkungen auf das EWR-Recht beschlossen hat, in Brüssel eine Aussenstelle zu eröffnen und das Sekretariat seiner aussenpolitischen Kommission zu verstärken. Oslo will so seine Beziehungen zum Europäischen Parlament ausbauen und dessen Tätigkeit genauer und aktiver verfolgen.

3.6.2

Die Frage des Parallelismus

Die Teilnahme der Schweiz am EWR hätte zur Folge, dass die Frage des Parallelismus der verschiedenen Dossiers für alle Bereiche, die dem Abkommen unterstellt sind, gelöst würde. Allerdings würde das Problem analog wie bei der Weiterführung des bilateralen Weges für all jene Bereiche unverändert weiterbestehen, die nicht vom EWR abgedeckt sind (z.B. Steuern, Zölle, Landwirtschaft). Die oben erwähnten Überlegungen (insbesondere Ziff. 3.4) sind für die genannten Bereiche weiterhin relevant, selbst bei einem EWR-Beitritt der Schweiz. Allerdings würde die Problematik insofern entschärft, als sie nicht mehr die Gesamtheit der Beziehungen zur EU tangierte, sondern lediglich jene Bereiche, die ausserhalb des Anwendungsbereichs des EWR-Abkommens stehen.

3.6.3

EU-Forderungen im Steuerbereich

Der Bereich der Steuern wird vom EWR-Vertrag zwar nicht geregelt. Dennoch erstreckt sich die Rechtsprechung des EuGH zu staatlichen Beihilfen auch auf die Frage, ob nationale Steuerregimes ungerechtfertigte staatliche Beihilfen darstellen.

Es ist möglich, dass bei einer EWR-Teilnahme bestimmte kantonale Steuersysteme als mit dem Binnenmarktrecht unvereinbar qualifiziert werden müssten.

3.6.4

Marktzutritt

Der EWR umfasst definitionsgemäss den für den Binnenmarkt relevanten Rechtsbestand der EU. Durch dessen systematische Übernahme durch die EFTA/EWRStaaten werden die meisten Marktzutrittshindernisse zwischen den einzelnen Staaten abgebaut. Die einheitliche Auslegung des Rechts innerhalb des EWR begünstigt diesen Umstand weiter; insbesondere gilt innerhalb des EWR auch das gegenseitige «Cassis-de-Dijon-Prinzip». In einigen nicht explizit vom EWR abgedeckten Fällen ­ beispielsweise im Bereich der Chemikalienregulierung ­ bietet das EWR-Abkommen darüber hinaus das institutionelle Instrumentarium, um rasch Lösungen zwi7316

schen den Handelspartnern zu finden. Als Teil des EWR könnte die Schweiz von diesen Vorteilen massgeblich profitieren. Das Diskriminierungsverbot, welches ein wesentliches Element des EWR-Vertrages darstellt, zusammen mit der Möglichkeit, den EFTA-Gerichtshof anzurufen, gibt den Parteien ein starkes Instrument hinsichtlich der Beseitigung von bestehenden oder künftigen Marktzutrittshürden. Dieses existiert im bisherigen bilateralen Verhältnis nicht. Insgesamt dürften diese Vorteile eines EWR-Beitritts einen deutlichen Gewinn an Rechtssicherheit für Schweizer Exporteure und Importeure darstellen.

In den nicht vom EWR erfassten Bereichen wie bei den landwirtschaftlichen Rohprodukten und der Fischerei bestünden jedoch weiterhin dieselben Zutrittshindernisse wie in den vorangehenden Abschnitten dargestellt (vor allem Ziff. 3.4). Inwieweit eine EWR-Mitgliedschaft geeignet ist, in diesen Bereichen effektiver einen Marktzutritt zu erwirken als bei einem bilateralen Ansatz, hinge zusätzlich auch vom Einvernehmen unter den EFTA/EWR-Staaten ab.

3.6.5

Wirtschafts- und Währungspolitik

Fiskal-, Struktur-, Aussenwirtschafts-, Wachstums- und Geldpolitik werden vom EWR nicht erfasst. Auch als EWR-Mitglied behielte die Schweiz in diesen Bereichen weitestgehend ihre Autonomie. Ausnahmen bestehen lediglich dort, wo beispielweise fiskal-, struktur- oder konjunkturpolitische Massnahmen in den Geltungsbereich des EWR und damit unter das EU-Recht fallen (namentlich im Bereich des Wettbewerbsrechts).

Den Wachstumsimpuls, den die Schweiz durch einen Beitritt zum EWR 1992 hätte bewirken können, wurde dank den bilateralen Abkommen mit der EU und den übrigen EWR-Staaten ­ allen voran dem Abkommen über die Personenfreizügigkeit ­ bereits erzielt. Gleichwohl würde ein EWR-Beitritt eine stärkere Marktöffnung gegenüber den EWR-Mitgliedstaaten bewirken; dies stellt eine wachstumspolitisch wichtige Massnahme dar, welche sowohl den Schweizer Binnenmarkt weiter dynamisieren, das Preisniveau tendenziell senken, als auch die Exportwirtschaft stärken dürfte.

3.6.6

Direkte Kosten

Würde sich die Schweiz am EWR beteiligen, so dürften sich die daraus resultierenden direkten Kosten gemäss nachfolgender Tabelle zusammensetzen. Diese sind ­ mit Ausnahme des per April 2009 um 31 % erhöhten Beitrags zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Disparitäten in der erweiterten EU sowie zusätzlicher Programm- und Agenturbeteiligungen der EWR-Staaten ­ im Vergleich zum Europabericht 2006 im Wesentlichen unverändert. Die Zahlen sind mit grösster Vorsicht zu betrachten, da es sich um Schätzungen handelt. Die effektiven Beiträge müssten noch ausgehandelt werden. Zudem sind indirekte Faktoren wie Entlastungen für den Bund, politische Aspekte, makroökonomische Effekte und indirekte bedingte Kosten nicht berücksichtigt. Die Annahmen orientieren sich an denjenigen des Europaberichts 2006.

7317

Ausgaben in Mio. CHF pro Jahr 2010

a) Betriebskosten der Organe und Institutionen von EFTA/EWR118 EFTA-Sekretariat EFTA-Überwachungsbehörde EFTA-Gerichtshof Büro des EFTA-Finanzmechanismus (FMO)

14119 13 4 3

Total a)

34

b) Beitrag an den EFTA-Finanzmechanismus Beitrag 2009­2014

310

Total b)

310

c) Teilnahme an Programmen Programme und Agenturen gemäss Protokoll 31 EWR

470

Total a), b), c)

814

3.6.7

Sozialpolitik

In Bezug auf die Auswirkungen eines EWR-Beitritts im Bereich der Sozialpolitik inklusive des Arbeitnehmerschutzes wird auf die einschlägigen Kapitel des Europaberichtes 2006 verwiesen120. Die mit dem Vertrag von Lissabon121 erfolgten, EU-internen Änderungen (insbesondere das Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) sind für den EWR nicht relevant. Auch die in Erarbeitung befindliche neue Wirtschaftsstrategie «EU 2020» ist für die EFTA/EWR-Staaten offiziell nicht verbindlich, da nicht alle der von ihr abgedeckten Aspekte EWRrelevant sind. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass gewisse Rechtsakte, die von der EU im Kontext der Strategie erlassen werden, übernommen werden ­ dies in den Politikbereichen, die auch vom EWR-Vertrag erfasst werden (bspw. Finanzdienstleistungen, Wissen und Innovation, Transport). Inwiefern allfällige, auf der vorgesehenen Leitinitiative zum Thema «Neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten» erlassene EU-Rechtstexte dazu gehören werden, kann aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesagt werden.

118

Da die Rahmenbedingungen seither im Wesentlichen unverändert sind, wurden erneut die Werte des Europaberichts von 2006 eingesetzt.

119 Die Schweizer Beteiligung am EFTA-Sekretariat würde 12,7 Millionen CHF statt der heutigen 9,5 Millionen CHF betragen (der Rabatt in der Höhe von 25 % für die Nichtbeteiligung am EWR ist dabei berücksichtigt).

120 BBl 2006 6923 f.(Ziff. 4.3.2.1 und 4.3.2.2).

121 ABl. C 115 vom 9. Mai 2008.

7318

3.6.8

Umweltpolitik

Was die Anpassung des Umweltrechtes der Schweiz an die Anforderungen des EWR betrifft, stellen sich weitgehend die gleichen Fragen wie bei einem EU-Beitritt (vgl. Ziff. 3.7.9)122. Im Rahmen des EWR wäre die Mitwirkung der Schweiz am Ausbau des Umweltrechts allerdings geringer.

Beim Abschluss im Jahr 1992 enthielt das EWR-Abkommen ein Kapitel über den Umweltschutz, das sich mit Fragen im Zusammenhang mit Wasser und Luftreinhaltung, chemischen und biotechnischen Produkten, Abfall und Umweltverträglichkeitsprüfungen befasste. Angesichts der Entwicklungen im Umweltschutz würden sich die Verhandlungen heute um eine grössere Zahl von Dossiers drehen, so zum Beispiel auch um den Klima- oder Lärmschutz.

3.7

Beitritt zur EU

«Beitritt zur Europäischen Union» Ein Beitritt zur EU hätte für die Schweiz zur Folge, dass sie fortan über alle neuen Rechtsnormen der Europäischen Union gleichberechtigt mitentscheiden könnte. Die Weiterentwicklungen des EU-Rechts würden auch in der Schweiz gelten. Schweizer Unternehmen hätten einen vollumfänglichen Zugang zum EU-Markt. Allerdings hätte ein EU-Beitritt schwerwiegende Folgen für die währungspolitische Autonomie der Schweiz, die auch ihr Mehrwertsteuerniveau anpassen müsste. Ausserdem hätte ein Beitritt Auswirkungen auf die schweizerischen Institutionen (direkte Demokratie, Föderalismus).

Wie der Bundesrat im Aussenpolitischen Bericht 2009 festhält123, könnten in Zukunft politische oder wirtschaftliche Gründe zu einer Neubewertung der geeigneten europapolitischen Instrumente führen; dazu gehört auch der Beitritt. Das vorliegende Kapitel beschreibt einen Beitritt ohne Ausnahmen und Abweichungen. Das nächste Kapitel (3.8) befasst sich mit der Möglichkeit eines Beitritts mit gewissen Ausnahmeregelungen.

122

Die Richtlinie zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen oder die Richtlinie zur Erhaltung der wildlebenden Vogelarten sind von den am EWR-Abkommen beteiligten Parteien beispielsweise noch nicht übernommen worden. (Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, ABl. L 206 vom 22.7.1992, S. 7, Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten).

123 BBl 2009 6335 ff.

7319

3.7.1

Institutionelle Aspekte

Mit Blick auf die Übernahme des Acquis würde das Szenario des Beitritts den Vorteil der Einfachheit bieten, weil die Schweiz als Mitgliedsstaat verpflichtet wäre, das in der EU entwickelte Recht zu übernehmen; sie würde sich gleichberechtigt an der Weiterentwicklung dieses Rechts im Rahmen der Mitentscheidung im Europäischen Rat und im Europäischen Parlament beteiligen. In materieller Hinsicht ist zu betonen, dass die Übernahme des gesamten EU-Rechts zahlreiche Anpassungen des innerstaatlichen Rechts erfordern würde, teilweise in heiklen Bereichen wie Steuerwesen, Geldpolitik, Migrations- und Asylrecht sowie Personenfreizügigkeit, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Frage der Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH würde sich nicht mehr stellen, weil diese für die Schweiz wie für die anderen Mitgliedstaaten verbindlich wäre.

Die Mitwirkung an Entscheidungen als Mitglied im Szenario des EU-Beitritts könnte jedoch keineswegs garantieren, dass die Positionen der Schweiz von den Entscheidungsorganen der EU immer berücksichtigt würden. Laut den im Vertrag von Lissabon festgelegten Regeln wäre das relative Gewicht der Schweiz mit etwa 10 Stimmen im Rat der EU124 und höchstens 20 schweizerischen Abgeordneten im Europaparlament125 etwa mit jenem Österreichs oder Bulgariens vergleichbar.

Dieser Aspekt sollte bei der Analyse der Einflussmöglichkeiten, die der EU-Beitritt bietet, nicht vernachlässigt werden. Angesichts der Tatsache, dass die EU-Rechtsetzung die Schweiz in steigendem Ausmasse direkt oder indirekt betrifft, dürften die Einflussmöglichkeiten und das Mitentscheidungsrecht so oder so eine wesentliche Verbesserung gegenüber der heutigen Situation darstellen. Zudem zeigt die Erfahrung Luxemburgs oder Österreichs, dass ein Land, das über ein Reservoir an kompetenten Vertretern bei den Institutionen der EU verfügt (die Schweiz hätte u.a.

ein Europäisches Kommissionsmitglied sowie einen Richterposten am EuGH und könnte einen Anteil an europäischen Beamten im Generalsekretariat des Rates, in der Kommission, im Europäischen Auswärtigen Dienst und im Parlament stellen), verschiedene Hebel in Bewegung setzen kann, um sich einen seine Grösse übersteigenden Einfluss zu verschaffen. Dies zeigt, dass mit der Schweiz vergleichbare Staaten ihre Interessen in der EU nicht nur wirksam vertreten, sondern
gar die Entscheidungsprozesse massgeblich beeinflussen können.

Neben der mathematischen Berechnung des relativen Einflusses, den die Schweiz als Mitgliedstaat auf den Entscheidungsprozess in der EU ausüben könnte, ist die Bedeutung der Mitgliedschaft für den Informationsaustausch, die Konsensfindung und die europäische Solidarität nicht zu unterschätzen. Da die Schweiz in einer breiten Palette wichtiger Themen sicherlich ähnliche strategische Interessen verfolgt wie manche Mitgliedstaaten, würde ihr EU-Beitritt die Positionen der gleichgesinnten Staaten festigen und somit wirksame Koalitionen ermöglichen, welche letztlich die Beschlüsse der EU bestimmen könnten. Heute ist die Schweiz von diesen Entscheiden betroffen, ohne dass sie daran mitwirkt. Schliesslich ist ungeachtet der heftigen Diskussionen in der EU zu bestimmten heiklen Fragen festzustellen, dass die EU in ihren Aussenbeziehungen in zunehmendem Masse Zusammenhalt und Solidarität unter den Mitgliedstaaten beweist, woraus die Schweiz keinen Nutzen zieht.

124 125

Gegenwärtig beträgt die Anzahl Stimmen im Rat der EU insgesamt 345.

Gegenwärtig beträgt die Zahl der Abgeordneten im Europaparlament 754; nach der Regelung des Vertrags von Lissabon wird sie 751 betragen.

7320

Ein EU-Beitritt hätte Auswirkungen auf die direkte Demokratie, den Föderalismus und weitere institutionelle Aspekte, die schon mehrmals untersucht worden sind.

Der Europabericht 2006, der sich mit diesen Fragen befasst, bleibt hier weitgehend aktuell.126 Die folgenden Ausführungen sind deshalb als Erinnerung, Ergänzung und Aktualisierung des Europaberichts zu verstehen.

Im Beitrittsfall müssten die Umsetzung und Anwendung des EU-Rechts, bei der die Schweiz mitwirken würde (Mitentscheidung), von den schweizerischen Bundes-, Kantons- (und Gemeinde-) Behörden gewährleistet werden. Ein Beitritt würde die Entscheidungsbefugnisse der Bundesversammlung, die Volksrechte und die Kompetenzen der Kantone, die für die Umsetzung und den Vollzug des EU-Rechts in ihren Bereichen zuständig wären, beeinflussen. Für die europäischen Richtlinien z.B.

könnten das Parlament und das Volk die Modalitäten der Umsetzung der in diesen festgelegten Ziele auf nationaler Ebene festlegen. Gegen EU-Richtlinien oder Verordnungen könnte kaum ein Referendum ergriffen werden, sondern vielmehr gegen die nationale Ausführungsgesetzgebung. Eine Möglichkeit bestünde darin, die Zustimmung des Bundesrats zu bestimmten EU-Beschlüssen von einem etwaigen Referendum abhängig zu machen. Die Schweiz müsste sich dafür einsetzen, dass die von der EU gesetzten Fristen die Organisation von Volksabstimmungen zulassen.

Allerdings könnten beschleunigte Verfahren oder sogar eine Dringlichkeitserklärung nicht ausgeschlossen werden. Dagegen müssten die EU-Verordnungen vom schweizerischen Gesetzgeber ohne weitere Formalität angewandt werden. Diese Verpflichtung hätte Folgen für die Volksrechte, weil deren Geltungsbereich durch das Europarecht eingeschränkt würde. Das Ausmass dieser Beschränkungen und die Konsequenzen für die Verfassungsordnung der Schweiz müssten deshalb überprüft werden.

Daneben würde sich unweigerlich die Frage der Behandlung etwaiger Volksinitiativen stellen, die den Verpflichtungen der Schweiz als EU-Mitgliedsstaat zuwiderlaufen. Nach Auffassung des Bundesrates wäre es indessen unverhältnismässig, der Bundesversammlung die Befugnis zu verleihen, solche Initiativen für ungültig zu erklären oder Anpassungen des Bundesrechts an das EU-Recht vom Referendum auszuschliessen. Falls ein Referendum oder eine Volksinitiative Widersprüche
zwischen dem schweizerischen und dem europäischen Recht hervorrufen sollten, hätte dies womöglich zur Folge, dass die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Schweiz eröffnet. Dies könnte zu einem Urteil des EuGH gegen die Schweiz und gegebenenfalls zu schweren Sanktionen führen. Im Extremfall und falls mit den europäischen Partnern keine Lösung gefunden würde, müsste die Schweiz sogar den Austritt aus der EU erwägen.

Die Zusammenarbeit zwischen Kantonen, Parlament und Bundesrat im Vorfeld der Entscheidungen auf EU-Ebene würde eine wesentliche Rolle spielen. Im Übrigen haben alle Mitgliedstaaten Befragungs- und Mitwirkungsrechte eingeführt bzw. die bestehenden Rechte in ihren nationalen parlamentarischen Verfahren gestärkt. Im Beitrittsfall müsste die Schweiz ihre traditionellen Verfahren also nicht einschränken, sondern weiter entwickeln. Zudem könnten den Kantonen vom Parlament besondere Rechte zur Überprüfung des Subsidiaritätsgrundsatzes im EU-Entscheidungsverfahren eingeräumt werden. Damit die Kantone sich informieren und gegebenenfalls Stellung nehmen könnten, müsste die Einsetzung geeigneter innerstaat-

126

BBl 2006 6940

7321

licher Strukturen und Verfahren geprüft werden, was auch Auswirkungen auf die Organisation der Kantone hätte.

Im Fall eines Beitritts zur EU könnten die Kantone zudem auf EU-Ebene autonom handeln. Sie würden im Ausschuss der Regionen über eine begrenzte Zahl Vertreter verfügen und könnten wie viele europäische Regionen, z.B. die deutschen Länder, ihre Interessen ­ vorzugsweise in abgestimmter Weise ­ in Brüssel vertreten. Da die EU-Mitgliedstaaten in Verhandlungen nur Erfolg haben, wenn sie geeint auftreten, wäre eine enge Koordination zwischen Bund und Kantonen sowie zwischen den Kantonen nötig. Dafür bestehen bereits Stellen ­ insbesondere die KdK und die Informationsbeauftragten der Kantone ­, die ausbaufähig sind. Ein über die bestehenden Bestimmungen (Art. 55 BV und Mitwirkungsgesetz)127 hinausgehender rechtlicher Rahmen scheint nicht notwendig. Prüfenswert wäre hingegen der Abschluss einer Rahmenvereinbarung zwischen dem Bund und den Kantonen über die Mitwirkung bei der EU-Politik, welche die Zuständigkeiten und Abläufe regeln und gegebenenfalls ein gemeinsames Lenkungsorgan schaffen könnte.

Schliesslich blieben die Sach- und Entscheidungskompetenzen der Schweiz in Bereichen unberührt, in denen der EU keine gesetzgeberischen Befugnisse zukommen.

Für die weiteren institutionellen Konsequenzen eines EU-Beitritts wird auf das entsprechende Kapitel des Europaberichts 2006 verwiesen.128 Dabei ist festzuhalten, dass die Teilnahme an den zahlreichen Sitzungen des EU-Ministerrats für die optimale Wahrung der Interessen der Schweiz unverzichtbar wäre. Diese Herausforderung für die Schweizer Exekutive würde eine Erhöhung der verfügbaren Ressourcen bedingen bzw. langfristig eine institutionelle Reform erfordern. Auf der anderen Seite müsste ein EU-Beitritt mit einer konsequenten Erhöhung der Ressourcen der Bundesverwaltung begleitet werden.

Zusammenfassend steht fest, dass der Beitritt zur EU eine grosse Herausforderung darstellt und Anpassungen der schweizerischen Mechanismen und Verfahren der direkten Demokratie und des Föderalismus erfordern würde. Solche Anpassungen haben ihren Preis. Sie erscheinen nur möglich und machbar, wenn bedeutsame Reformen durchgeführt und insbesondere die Tragweite der Volksrechte eingeschränkt würden. Ein solcher Schritt kommt deshalb nur in Betracht, wenn die Meinung
vorherrschen sollte, dass der Beitritt sich als Instrument für die optimale Wahrung der schweizerischen Interessen am besten eignet. Angesichts des institutionellen Preises, den die Schweiz bei einem Beitritt entrichten müsste, spielt hier die Bedeutung, die die Schweiz der Einflussnahme auf Entscheidungen beimisst, die sie direkt betreffen, eine zentrale Rolle: Wie der Bundesrat im Aussenpolitischen Bericht 2009 betont, darf der bilaterale Weg nicht zu einer De-facto-Mitgliedschaft ohne Stimmrecht führen.129

127

Pfisterer Th. «Einbezug der Kantone in die Aussenpolitik des Bundes (Art. 54 Abs. 3 und Art. 55 BV)», Rechtsgutachten im Auftrag der KdK, Okt. 2009.

128 BBl 2006 6944 (Ziff. 4.4.1.3).

129 BBl 2009 6337

7322

3.7.2

Gemeinsame Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Im Fall eines EU-Beitritts würde die Schweiz in die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU einbezogen. Das bedeutet namentlich, dass sich die Schweiz Strategien, Aktionen und Standpunkten der EU im Rahmen der GASP anschliessen müsste. Grundsätzlich würde das der Schweiz keine Probleme schaffen, da unser Land die gleichen Grundwerte vertritt wie die EU (zum Beispiel Wahrung des Friedens, Förderung der internationalen Zusammenarbeit, Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten).

Gleichwohl könnte unser aussenpolitischer Gestaltungs- und Handlungsspielraum begrenzt werden, weil die Schweiz gehalten wäre, keine aussenpolitischen Aktivitäten zu unternehmen, die den von der EU festgelegten Politiken im Rahmen der GASP zuwider laufen. Allerdings könnte die Schweiz bei der Formulierung der GASP mitsprechen und mitentscheiden. Zudem könnte die Schweiz wie alle anderen EU-Mitgliedstaaten ihre Vertreter in den im Aufbau befindlichen Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) sowie in die EU-Delegationen in Drittstaaten entsenden.

Bei der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) ist im Fall eines Beitritts insbesondere die Frage der Neutralität zu prüfen. Der Lissabonner Reformvertrag hat die Bestimmungen der Gemeinsamen Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die im Europäischen Verfassungsentwurf vorgesehen waren, in den Vertrag über die Europäische Union sowie in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäische Union überführt. Die im Europabericht von 2006 vom Bundesrat gemachten Überlegungen zur Frage der Vereinbarkeit von Neutralität und Europäischem Verfassungsentwurf sind also auf die heutige Situation anwendbar130.

Das Wesentliche soll hier zur Klarheit wiederholt und konkret in Beziehung zum Lissabonner Vertrag gesetzt werden.

Folgende Elemente bedürfen unter neutralitätsrechtlichem Aspekt der vertieften Prüfung:131 ­

Solidaritätsklausel im Fall von Terroranschlägen, Naturkatastrophen oder von Menschen verursachten Katastrophen (Art. 222 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union132)

­

Beistandspflicht im Fall eines bewaffneten Angriffs (Art. 42 Abs. 7 Vertrag über die Europäische Union)

­

Europäische Missionen im Bereich der Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit mit zivilen und militärischen Mitteln (Art. 42 Abs. 1, Art. 43 Vertrag über die Europäische Union)

­

schrittweise Einrichtung einer Verteidigungsgemeinschaft (Art. 42 Abs. 2 Vertrag über die Europäische Union)

­

ständige strukturierte Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik (Art. 42 Abs. 6 Vertrag über die Europäische Union)

130 131

BBl 2006 S. 6979 ff.

Zu Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik siehe Bericht zur Neutralität vom 15. Juni 2007, BBl 2007 1328 ff.

132 ABl. C 115 S. 47 vom 9.5.2008.

7323

Ist ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen, so leisten auf Ersuchen des betroffenen Staates die anderen Mitgliedstaaten Unterstützung, und zwar sowohl mit zivilen als auch mit militärischen Mitteln. Da es sich in den Fällen, die in der Solidaritätsklausel geregelt sind, grundsätzlich nicht um einen zwischenstaatlichen Konflikt handelt, ist die Solidaritätsklausel nicht neutralitätsrelevant. Sie würde nur dann neutralitätsrelevant, wenn ein Terroranschlag direkt einem Staat zuzurechnen wäre und das Ausmass eines bewaffneten Angriffs im Sinne von Artikel 51 UNOCharta133 erreichte. Bis anhin wurde dies nur in einem Einzelfall vom UNOSicherheitsrat in Resolution 1368 festgestellt, nämlich als das World Trade Center in New York angegriffen worden war. Generell trifft dies jedoch nicht zu, da Terroranschläge von nicht-staatlichen Akteuren durchgeführt werden. Im Übrigen werden die Einzelheiten für die Anwendung der Solidaritätsklausel, sobald sie Auswirkungen auf den Bereich der Verteidigung haben, einstimmig festgelegt. Das heisst, die Schweiz hätte als EU-Mitglied die Möglichkeit, einen entsprechenden Beschluss entweder zu blockieren (was angesichts des politischen Drucks in der Praxis allerdings schwierig sein dürfte) oder sich unter Abgabe einer förmlichen Erklärung zu enthalten.

Den Kernbestand der Neutralität betrifft die militärische Beistandspflicht. Diese wird wirksam, wenn ein Mitgliedstaat sich in militärischer Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff gemäss Artikel 51 UNO-Charta134 zu wehren hat. Eine uneingeschränkte militärische Beistandspflicht würde der grundlegenden Verpflichtung eines dauernd neutralen Staates widersprechen, in Friedenszeiten keiner Militärallianz beizutreten, die ihn zwingen könnte, in einem zwischenstaatlichen Konflikt einer Partei militärische Unterstützung leisten zu müssen. Da die Europäische Union auf der Grundlage des Lissabonner Vertrags135 jedoch kein Verteidigungsbündnis ist, ist die Beistandspflicht sowohl für die neutralen und allianzfreien Staaten als auch für die NATO-Mitgliedstaaten relativiert worden. Die betreffende Bestimmung (Art. 42 Abs. 7 Vertrag über die Europäische Union136) hält in diesem Sinne ausdrücklich fest, dass die Beistandspflicht den besonderen
Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt lässt ­ die Formulierung geht auf die Initiative der neutralen und allianzfreien Staaten Österreich, Irland, Schweden und Finnland zurück. Betreffend die NATO-Staaten präzisiert Artikel 42 Absatz 7, dass die NATO weiterhin das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung bleibe und das Instrument für deren Verwirklichung sei. Für die Schweiz bedeutet diese Relativierung der Beistandspflicht, dass sie in einem Fall eines bewaffneten Angriffs auf einen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht verpflichtet wäre, ihre Neutralität aufzugeben. Sie könnte sich in einem solchen Fall, entsprechend ihrer bisherigen Praxis, neutralitätskonform auf zivile und humanitäre Hilfeleistung sowie auf diplomatische Unterstützung beschränken. Im Fall eines Aufrufs zur Solidarität müssten jedoch die Kontrolle der Ausfuhren wichtiger militärischer Güter sowie die Transitrechte geregelt werden. Sollte der Europäische Rat hierfür einen Beschluss fassen, ist Einstimmigkeit notwendig. Die Schweiz hätte also auch diesbezüglich ein grundsätzliches Vetorecht oder könnte sich, unter Abgabe einer förmlichen Erklärung, enthalten.

133 134 135 136

Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.1945, SR 0.120.

SR 0.120 ABl. C 115 vom 9. Mai 2008.

ABl. C 115 S. 13 vom 9. Mai 2008.

7324

Die Missionen der EU zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit umfassen gemeinsame Abrüstungsmassnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, militärische Beratung und Unterstützung, Konfliktverhütung und Massnahmen zur Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung, einschliesslich Frieden schaffender Massnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Ausserdem können alle diese Missionen bei der Bekämpfung des Terrorismus auch zur Unterstützung von Drittländern eingesetzt werden. Die Missionen der EU gehen im militärischen Bereich also teilweise weiter, als es in der Schweiz auf der Grundlage des geltenden Militärgesetzes möglich wäre. Sie berühren das Neutralitätsrecht jedoch nicht, da solche Einsätze gemäss Lissabonner Vertrag137 nur in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen138 ergriffen werden können.

EU-Missionen zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit können also nur militärische Gewaltanwendung vorsehen, wenn entweder ein Mandat des UNO-Sicherheitsrats oder die Zustimmung der davon betroffenen Drittstaaten vorliegt. Bei solchen Missionen kann die EU also nie Partei eines zwischenstaatlichen Konfliktes sein, sondern die Missionen sind darauf ausgerichtet, auf der Grundlage der UNO-Charta einen Beitrag zum Frieden und zur internationalen Sicherheit zu leisten. Sie können aber, wie erwähnt, weiter gehen, als das Schweizer Militärgesetz für Einsätze internationaler Friedensförderung vorsieht.

Dieses setzt für die militärische Friedensförderung voraus, dass ein Mandat der UNO oder der OSZE vorliegt. Dies gilt sowohl für bewaffnete wie für unbewaffnete Einsätze. Die Zustimmung des betroffenen Drittstaates genügt nicht. Ausserdem schliesst es die Teilnahme von Personal oder Truppen an Kampfhandlungen zur Friedenserzwingung aus, auch wenn ein UNO-Mandat vorliegt. Diese Bedingungen sind durch den schweizerischen Gesetzgeber auferlegt und vom Neutralitätsrecht als solchem, das im Völkerrecht geregelt ist, zu unterscheiden. Diese Bedingungen müssten im Fall eines EU-Beitritts auch nicht geändert werden. Jedes militärische Engagement basiert nach geltendem Lissabonner Vertrag auf Freiwilligkeit. Wie im Rahmen der UNO gibt es keine
Pflicht zur Entsendung von militärischem Personal.

Schliesslich werden Beschlüsse mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen ausschliesslich einstimmig gefällt. Die Schweiz könnte folglich zu keiner militärischen Aktion gezwungen werden.

Mit dem Lissabonner Vertrag139 ist die EU nicht zu einer Militärallianz oder Verteidigungsgemeinschaft geworden. Die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führt, wird jedoch im Lissabonner Vertrag als Ziel festgelegt. Eine solche gemeinsame Verteidigung wäre mit dem Status der dauernden Neutralität nicht vereinbar, weil die Schweiz sich dadurch verpflichten würde, möglicherweise an einem zwischenstaatlichen Konflikt teilnehmen zu müssen. Der Lissabonner Vertrag sieht jedoch vor, dass die gemeinsame Verteidigung nur einstimmig, gemäss den verfassungsrechtlichen Bestimmungen aller Mitgliedstaaten beschlossen werden kann. Voraussetzung für einen solchen Beschluss wäre in der Schweiz auf der Grundlage der geltenden Verfassung ein obligatorisches Referendum (Art. 140 Abs. 1 Bst. b Bundesverfassung). Der Schritt zu einer gemeinsamen Verteidigung könnte also nur nach einer Volksabstimmung in der Schweiz erfolgen, welche diese Frage konkret stellt und auch nur, wenn alle 137 138 139

ABl. C 115 S. 13 vom 9. Mai 2008.

SR 0.120 ABl. C 115 vom 9. Mai 2008.

7325

Mitgliedstaaten sich hierfür entscheiden. Ausserdem relativiert der Vertrag von Lissabon die schrittweise Verwirklichung der Verteidigungsgemeinschaft, indem er gleichzeitig den Grundsatz festhält, dass alle Bestimmungen über die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik weder den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten berühren, noch den Verpflichtungen jener Staaten widersprechen, die Mitglied der NATO sind. Ein solcher relativierender Einschub erscheint zweimal im Vertrag: einmal als Grundsatz (Art. 42 Abs. 2 Vertrag über die Europäische Union140) und das zweite Mal, wie schon erwähnt, konkretisiert in der Bestimmung über die Beistandspflicht (Art. 42 Abs. 7 Vertrag über die Europäische Union141).

Mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit erlaubt der Vertrag von Lissabon den Mitgliedstaaten, eine differenzierte Integration im Verteidigungsbereich zu verwirklichen. Sie flexibilisiert die Möglichkeiten der Kooperation. Die betreffende Bestimmung (Art. 42 Abs. 6 Vertrag über die Europäische Union) sieht vor, dass Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander weiter gehende Verpflichtungen eingegangen sind, eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union begründen können. Die Teilnahme an einer solchen Zusammenarbeit ist jedoch freiwillig und wird in einem gesonderten Protokoll geregelt. Die Schweiz wäre frei, hier nicht teilzunehmen. Die alleinige Möglichkeit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit berührt die Neutralität also nicht.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass ein EU-Beitritt auf der Grundlage des geltenden Lissabonner Vertrags mit den geltenden neutralitätsrechtlichen Pflichten der Schweiz vereinbar wäre. Neutralitätsrechtliche Fragen stellen sich erst, wenn die EU ­ wie im Lissabonner Vertrag vorgesehen ­ zu einer gemeinsamen Verteidigung übergehen würde. Ob, wann und wie die EU allerdings eine solche gemeinsame Verteidigung einrichten wird, ist derzeit offen. Hinzu kommt, dass gemäss dem Wortlaut des Vertrages von Lissabon für Entscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik weiterhin Einstimmigkeit142 vorgeschrieben ist und dass jeder
Mitgliedstaat das Recht hat, seine Teilnahme an Massnahmen in diesen Bereichen zu verweigern. Mitgliedstaaten wird damit also ein Vetorecht eingeräumt.143 Wie schon im Europabericht 2006144 festgehalten, sind jedoch auch politische Aspekte zu berücksichtigen. Mit der Neutralitätspolitik baut ein dauernd neutraler Staat bei Drittstaaten Vertrauen und Berechenbarkeit auf. Diese Drittwahrnehmung 140 141 142

ABl. C 115 S. 13 vom 9. Mai 2008.

Idem.

Vgl. ABl. C 115 S. 13 vom 9. Mai 2008, Art. 24 Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union (ex-Artikel 11 EUV).

143 Damit begründete im Übrigen auch das neutrale Österreich seine Zustimmung zum Vertrag von Lissabon: «Die Beistandsklausel ändert somit nichts an der österreichischen Neutralität in ihrem heutigen Umfang. Österreich kann nicht zur Teilnahme an militärischen Aktionen verpflichtet werden.» Vgl. Broschüre des österreichischen Aussenministeriums zu den Neuerungen von Lissabon (S. 7 Zitat zur Neutralität): http://www.bmeia.gv.at/fileadmin/user_upload/bmeia/media/2-Aussenpolitik_Zentrale/ Europa/EU-Informationen/4991_vertrag_von_lissabon_eu_reform_2007.pdf sowie Webseite des österreichischen Verteidigungsministeriums mit Hinweis zum Lissabonner Vertrag: http://www.bmlv.gv.at/pdf_pool/publikationen/reform.pdf.

144 BBl 2006 6815 ff.

7326

wird wesentlich auch von der tatsächlichen Entwicklung der EU im Bereich der Gemeinsamen Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik abhängig sein. Im Bereich der Aussenpolitik ist die EU den gleichen aussenpolitischen Zielen verpflichtet wie jenen, welche in der Schweizer Bundesverfassung festgelegt sind.

Ausserdem werden in der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik Beschlüsse grundsätzlich einstimmig gefällt. Fragen stellen sich jedoch im militärischen Bereich. Grundprinzip des Lissabonner Vertrags145 ist die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Dieser sind im Bereich der Verteidigung jedoch bewusst Grenzen gesetzt worden, die nur durch Einstimmigkeit zu überwinden sind. Je mehr die EU aber ein nach Innen und Aussen konsolidiertes System schafft, desto enger wird der verbleibende Handlungsspielraum bezüglich der Erhaltung der schweizerischen Neutralität. In einem solchen Fall müsste sich die Schweiz, wie schon vom Bundesrat im Europabericht 2006 dargelegt, die Frage stellen, ob dieses System die Sicherheit der Schweiz gleichermassen wie die Neutralität gewährleisten kann.

Unter dem politischen Blickwinkel wäre deshalb die Option zu prüfen, im Fall eines EU-Beitritts eine Neutralitätserklärung abzugeben. In einer solchen Erklärung könnte die Schweiz die Artikel 42 Absatz 2 sowie 42 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union präzisieren und festhalten, dass die Schweiz wegen dem besonderen Charakter ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik an ihrer Neutralität festhält, und ein EU-Beitritt an ihrem Status als dauernd neutraler Staat nichts ändern würde. Dies rechtfertigt sich auch deshalb, weil der Lissabonner Vertrag für die NATO-Staaten ausdrücklich festhält, die NATO bleibe das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung. Für die Schweiz erfüllt indessen das Instrument der dauernden Neutralität die sicherheitspolitische Funktion, ihre staatliche Unabhängigkeit und Sicherheit zu wahren. Wie oben ausgeführt, wäre eine solche Neutralitätserklärung aus rein rechtlichen Gründen nicht notwendig, da die Schweiz ihre neutralitätsrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen des Lissabonner Vertrages einhalten könnte. Doch neutralitätspolitisch würde sie hiermit sowohl gegenüber der EU als auch für die internationale Staatengemeinschaft von Anfang an Transparenz schaffen, was das Vertrauen
in die Schweizer Neutralität stärken würde. Auch innenpolitisch würde ein solches Vorgehen Klarheit schaffen. Es würde sich ausserdem in die Schweizer Praxis einreihen: So hatte die Schweiz auch beim Beitritt zu den Vereinten Nationen eine Neutralitätserklärung abgegeben, die festhielt, dass die Schweiz auch als Mitglied der UNO ihre dauernde Neutralität beibehalte und dass dies mit der Charta vereinbar sei.

Als weitere Option wäre auch zu prüfen, sich nicht nur auf eine einseitige Erklärung zu beschränken, sondern eine solche bilateral mit der EU zu vereinbaren. Als Beispiel dient die Regelung Irlands mit der EU, die im Vorfeld des zweiten Referendums über den Vertrag von Lissabon zustande kam: Anlässlich des Europäischen Rates vom 18. und 19. Juni 2009 sicherten die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten Irland in einem Beschluss zu, dass der Vertrag von Lissabon Irlands militärische Neutralität nicht beeinträchtige und dass ein Beschluss über den Übergang zu einer gemeinsamen Verteidigung einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates erfordere. So wäre es Sache der Mitgliedstaaten, einschliesslich Irlands, nach Massgabe des Vertrags von Lissabon und ihrer jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften zu entscheiden, ob der Beschluss zu einer gemeinsamen Verteidigung gefasst werde. Weiter bestätigten die Staats- und Regierungschefs, 145

ABl. C 115 vom 9. Mai 2008.

7327

dass der Vertrag von Lissabon weder die Schaffung einer europäischen Armee noch die Einberufung zu irgendeinem militärischen Verband vorsehe.146

3.7.3

Die Frage des Parallelismus

Im Zusammenhang mit einem Beitritt der Schweiz zur EU würde sich per definitionem die Frage des Parallelismus zwischen den Verhandlungsdossiers nicht stellen.

3.7.4

EU-Forderungen im Steuerbereich

Bei einem Beitritt der Schweiz zur EU ist davon auszugehen, dass die Frage der EUForderungen im Steuerbereich vorgängig im Rahmen der Beitrittsverhandlungen und im Sinne einer Anpassung des Schweizer Rechts geregelt worden wäre. Indessen würden diese Anpassungen weitgehende Veränderungen der Struktur des schweizerischen Steuersystems voraussetzen, besonders was die Übernahme des Verhaltenskodexes über die Unternehmensbesteuerung, die MWST und die Zinsbesteuerungsrichtlinie betrifft. Diese Richtlinie legt den Grundsatz des automatischen Informationsaustausches fest, sieht jedoch heute eine Ausnahme für Österreich und Luxemburg vor (Quellensteuer).

3.7.5

Marktzutritt

Durch eine EU-Mitgliedschaft fielen definitionsgemäss sämtliche unter Ziffer 3.3 und Ziff. 3.4 genannten Marktzutrittshürden weg. Dennoch gilt es zu erwähnen, dass insbesondere im Dienstleistungsbereich auch zwischen den EU-Mitgliedstaaten noch gewisse Barrieren bestehen. Doch ist die EU ständig bemüht, die verbleibenden Hindernisse auszuräumen. Von diesen Bemühungen könnte die Schweiz als EU-Mitglied vollumfänglich profitieren.

3.7.6

Wirtschafts- und Währungspolitik

Ein EU-Beitritt würde teils bedeutende Veränderungen der volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Schweiz nach sich ziehen. Wichtige Instrumente der Wirtschaftspolitik wie die Geld- oder Finanzpolitik würden entweder delegiert oder auf neue Grundlagen gestellt. Die Autonomie der Aussenhandelspolitik wäre starken Einschränkungen unterworfen oder müsste ganz aufgegeben werden. Konjunkturpolitische Massnahmen müssten mitunter Bedingungen der EU berücksichtigen. Selbst eine konjunkturunabhängige und in der Regel längerfristig ausgerichtete Wachstums- oder Strukturpolitik würde sich angesichts der verstärkten Möglichkeiten, sich an EU-Programmen zu beteiligen, in einem neuen Umfeld bewegen.

146

Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union vom 18./19. Juni 2009: Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon, Abschnitt C: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/108654.pdf.

7328

Die gemeinsame Währung der EU, der Euro, gehört zum Acquis communautaire.

EU-Beitrittskandidaten sind gemäss den sogenannten Kopenhagener Kriterien verpflichtet, sich das Ziel der Währungsunion früher oder später zu eigen zu machen. Mit einem Beitritt zur bald 17 EU-Mitgliedstaaten147 umfassenden EuroZone würde der Schweizerfranken zu einem bestimmten Wechselkurs gegen den Euro eingetauscht werden. Das geld- und währungspolitische Instrumentarium der Schweizer Nationalbank müsste aufgegeben werden; an ihrer Stelle wäre die Europäische Zentralbank in Frankfurt bestrebt, die kurzfristigen Zinsen, also den Zinssatz für Tagesgeld am Interbanken-Geldmarkt im Hinblick auf die Preisstabilität in der gesamten Euro-Zone inkl. Schweiz, zu steuern. Die Nationalbank wäre auch nicht mehr in der Lage, den Aussenwert der Währung z.B. mit Interventionen im Markt zu beeinflussen. Allgemein wäre die Nationalbank nicht mehr in der Lage, eine Geldpolitik durchzuführen, die den Interessen des Landes dient.

Damit die EZB ihre Aufgaben wahrnehmen kann, werden ihr von den einzelnen nationalen Zentralbanken Gold- und Währungsreserven bis zu einem Globalbetrag von umgerechnet maximal 50 Milliarden Euro transferiert. Über diese Reserven kann die EZB vollumfänglich verfügen. Im Falle eines Beitritts zur Währungsunion würde die SNB Gold und Devisen im Wert von ungefähr 1,9 Milliarden Schweizerfranken an die EZB transferieren, wie bereits im Europabericht von 2006148 erwähnt. Zum Vergleich: Ende Mai 2010 betrugen die Goldreserven der Nationalbank 39 Milliarden Schweizerfranken, die Devisenreserven 239 Milliarden Schweizerfranken. Mit dem Transfer wird eine Forderung gegenüber der EZB begründet, die ­ mit Ausnahme des Goldteils ­ verzinst wird. Mit den bei ihnen verbleibenden Reserven können die nationalen Zentralbanken des Euroraums in beschränktem Umfang und unter Weisung der EZB weiter operieren. Die Verwendung jener Reserven darf allerdings die Geldpolitik der EZB nicht beeinträchtigen.

Der sogenannte Zinsbonus, die im Schnitt tieferen nominalen und realen Zinsen in der Schweiz sowohl am kurzen wie auch am langen Ende der Zinskurve, hat sich seit 2006 und im Zuge der Finanzkrise von 2007 bis 2009 nicht wesentlich verändert. Der mögliche Verlust des Zinsbonus und damit die Angleichung an das höhere Zinsniveau der Euro-Zone
wäre somit in einer kapitalintensiven Volkswirtschaft wie der schweizerischen nach wie vor mit Anpassungskosten in Form einer zumindest kurzfristigen Dämpfung der wirtschaftlichen Tätigkeit verbunden. Dennoch dürfte es auch in einer Währungsunion weiterhin Unterschiede zwischen der Schweiz und anderen Mitgliedern der Euro-Zone bezüglich der realen Zinssätze und des realen Wechselkurses aufgrund von unterschiedlichen Preisentwicklungen und Bonität geben. Umgekehrt könnte eine mit einem EU-Beitritt einhergehende Liberalisierung namentlich des Dienstleistungssektors das Preisniveau senken und durch eine dadurch verursachte Senkung des realen Wechselkurses die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz stärken.

Die jüngste Euro-Krise macht zudem deutlich, dass das Hinterfragen der Zukunftsperspektiven des Euro an den Märkten nicht ohne Auswirkungen auf den Wechselkurs des Euro gegenüber Drittwährungen und für das allgemeine Zinsniveau im Euro-Raum bleibt. Hiervon wäre auch die Schweiz als Teil der Währungsunion direkt betroffen. Noch lässt sich nicht erkennen, inwiefern die innerhalb der EU diskutierten Reformen zur längerfristigen Stabilisierung des Euro neue Verpflich147 148

Der Beitritt Estlands zur Währungsunion ist im Jahr 2011 vorgesehen.

BBl 2006 6963

7329

tungen oder gemeinsame Wirtschafts- oder Fiskalpolitiken der Mitgliedstaaten der Euro-Zone oder der gesamten EU nach sich ziehen könnten.

Auf dem Gebiet der Finanzpolitik wäre auf jeden Fall die Einnahmenseite des Bundeshaushalts durch eine Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes auf mindestens 15 % und eine Anpassung des Steuerharmonisierungsgesetzes und der kantonalen Unternehmensbesteuerung aufgrund des Beihilfenrechts in der EU betroffen. Diese Änderungen würden unter Annahme einer ungefähren Beibehaltung der Staatsquote einen eigentlichen Systemwechsel weg von der Einkommensbesteuerung und hin zu einer stärkeren Besteuerung des Konsums nach sich ziehen, mit Anpassungsfolgen hinsichtlich Progressivität der Steuern und föderale Aufteilung von Steuereinnahmen.

Dieser Umbau könnte in einer das Wachstum begünstigenden Form gestaltet werden. Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang auf den Bericht von 2006 zu verweisen, dessen Aussagen hinsichtlich der Auswirkungen auf die Steuerpolitik (auf Zölle, besondere Verbrauchssteuern, Mehrwertsteuer, Quellenbesteuerung, usw.)

immer noch gültig sind.

Ein EU-Beitritt würde den positiven Handelseffekt der bisherigen bilateralen Verträge verstärken und die Schweizer Volkswirtschaft vollständig in den Binnenmarkt der EU integrieren. Die noch verbleibenden Handelshemmnisse, vor allem im Dienstleistungsbereich, würden grösstenteils beseitigt werden. Die Schweiz müsste aber auch das teils weniger offene Aussenhandelsregime der EU übernehmen, was zu Handelsumlenkungen führen könnte. Dem stünden wiederum tendenziell liberalere aussenwirtschaftspolitische Bestimmungen im Agrarbereich gegenüber. Der Handel mit den EWR-Mitgliedern dürfte weiter zunehmen, der Handel mit Drittstaaten je nach Sektor an Dynamik verlieren.

Konjunktur- oder fiskalpolitische Massnahmen, etwa um einen negativen Nachfrageschock durch vermehrte Ausgaben oder durch Vergabe von öffentlichen Aufträgen antizyklisch aufzufangen, würden sich in das durch einen EU-Beitritt geänderte Umfeld der Finanzpolitik einbetten. Abgesehen von der oben beschriebenen Neuausrichtung des Staatshaushalts bliebe es der Schweiz unbenommen, auf die in der Schweiz bisher praktisch nicht eingesetzten staatlichen Beihilfen zur Wiederbelebung einer stark beeinträchtigten Wirtschaft zurückzugreifen. Solche Beihilfen wären allerdings
an genau definierte Kriterien gebunden und müssten der EU-Kommission zur Bewilligung unterbreitet werden. Die Nationalbank hingegen wäre nicht mehr in der Lage, besonders die Schweiz in Mitleidenschaft ziehende Schocksituationen mittels Anpassung der Geldpolitik an die spezifischen Schweizer Verhältnisse zu begegnen. Diese Kompetenz würde auf die Ebene der Euro-Zone übertragen werden, welche die Eigenheiten der einzelnen Mitgliedstaaten nur im Rahmen der Gesamtinteressen des Euro-Raumes berücksichtigen kann.

Auch die längerfristigen Wachstumsmassnahmen oder Strukturförderungen wie z.B.

die Ordnungspolitik müssten sich an den Regeln der EU orientieren und wären im Falle der Neuen Regionalpolitik als staatliche Beihilfen von einem Gutheissen seitens der EU-Kommission abhängig.

Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass die aktuelle Position der Schweiz in der WTO und insbesondere ihr Einzelstimmrecht durch einen EU-Beitritt berührt würden.

7330

3.7.7

Direkte Kosten

Die direkten Kosten eines EU-Beitritts dürften im Vergleich zu 2006 im Wesentlichen unverändert geblieben sein. So beliefe sich die Beteiligung der Schweiz am EU-Haushalt auf rund 5,4 Milliarden Schweizerfranken für 2010 (basiert auf den Zolleinnahmen 2009 und einem Wechselkurs von 1.50 CHF/EUR). Dieser Beitrag setzt sich wie folgt zusammen: Ausgaben in Millionen CHF pro Jahr

­ traditionelle Eigenmittel (Zölle auf Landwirtschafts- und Industrieprodukten sowie Zucker- und Isoglukosebeiträge) ­ MWST-Einnahmen ­ ergänzende Einnahme auf der Basis des BNE ­ Finanzierung des britischen Rabatts und Kürzung von Eigenmittelzahlungen Total (gerundet)

2010

2011

525 762 3810

555 774 3765

255

255

5352

5349

Der Nettobeitrag ­ das heisst, der oben erwähnte Beitrag nach Abzug der Rückflüsse, die der Schweiz aus der Gemeinsamen Agrarpolitik, der Regionalpolitik und der Internen Politiken zukämen ­ dürfte sich noch ungefähr in derselben Grössenordnung bewegen wie 2006 geschätzt. Im Europabericht 2006 wurde dieser Nettobeitrag mit rund 3,34 Milliarden Schweizerfranken pro Jahr ausgewiesen.149 Mangels verfügbarer Studien und Daten kann der tatsächliche langfristige Effekt einer Zugehörigkeit zur EU auf den Bundeshaushalt nicht ohne Weiteres geschätzt werden. Es ist zu erwarten, dass neben den Abflüssen zugunsten des EU-Haushalts zweifellos auch gewisse administrative Einsparungen bei Bund und Kantonen möglich wären und zudem die längerfristigen Wachstumseffekte das Steueraufkommen des Bundes positiv beeinflussen dürften.

3.7.8

Sozialpolitik

Bei einem Beitritt zur EU könnte die Schweiz die Entwicklung der Sozialpolitikund Arbeitsmarktnormen mit vollen Rechten mitgestalten. Gleichzeitig wären verschiedene gesetzliche Anpassungen ­ etwa wegen des EU-intern höheren Kündigungsschutzes oder im Bereich der 2. Säule ­ nötig.150 Auch im Verhältnis zur Schweiz würden zudem die Freizügigkeit und Aspekte der sozialen Sicherheit neu auf die Grundlage der Unionsbürgerschaft anstelle des Binnenmarktkonzeptes gestellt. Von innenpolitischer Relevanz könnte des Weiteren ­ je nach Ausgestaltung ­ die Übernahme der voraussichtlich in den beiden kommenden Jahren revidierten Entsenderichtlinie sein (s. hierzu Kapitel 3.3.7).

149 150

BBl 2006 6972 Zu den Auswirkungen auf Sozialpolitik inkl. Arbeitnehmerschutz siehe BBl 2006 6947 ff.

7331

Auch nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009151 liegt die Gestaltung der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik weitgehend in der Kompetenz der EU-Mitgliedstaaten. Der Vertrag von Lissabon brachte gleichwohl gewisse einschlägige Neuerungen mit sich, die im Falle eines EU-Beitritts für die Schweiz relevant würden. Eine Änderung betrifft beispielsweise die allgemeinen Zielsetzungen der Union. So werden die Förderung einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung, die soziale Gerechtigkeit und der soziale Schutz neu als übergeordnete Ziele der EU definiert (Art. 3 EUV152). Des Weiteren wurde eine horizontale Sozialklausel eingeführt (Art. 9 AEUV153). Diese besagt, dass die EU bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung zu tragen hat. Von besonderer Bedeutung ist zudem die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, welche mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 Rechtskraft erlangte und grundsätzlich justiziabel ist (s. Art. 6 Abs. 1 EUV). Die Charta zählt in Kapitel IV unter anderem eine Reihe von sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten auf.154 Hierzu gehören etwa das Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst, Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, das Recht auf bezahlten Mutterschaftsurlaub oder der Zugang zur Gesundheitsvorsorge.

Die geltende schweizerische Sozialpolitik und Gesetzgebung entspricht grundsätzlich den im Vertrag von Lissabon enthaltenen, allgemein gehaltenen Neuerungen.

Allerdings kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesagt werden, ob bzw. inwiefern diese Bestimmungen durch Sekundärrecht oder Rechtsprechung des EuGH eine Konkretisierung erfahren werden, die ­ im Falle eines Beitritts der Schweiz zur EU ­ allenfalls eine zusätzliche Anpassung der schweizerischen Gesetzgebung erfordern würden.

Der Vollständigkeit halber ist schliesslich auf die in Erarbeitung befindliche Wirtschaftsstrategie «EU 2020» zu verweisen. In deren Rahmen ist u.a. eine Leitinitiative zum Thema «Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten» vorgesehen. Wie dieser Aspekt der Strategie konkretisiert wird, ist noch nicht absehbar.

3.7.9

Umweltpolitik

Die Umweltpolitik der Schweiz und jene der EU beruhen im Wesentlichen auf gleichen Grundsätzen und verfolgen ähnliche Ziele. Im Beitrittsfall könnte die Schweiz sich vollumfänglich engagieren und die Entwicklung des Umweltschutzes in den EU-Organen beeinflussen. In den sektoriellen Regelungen bestehen heute 151 152 153 154

ABl. C 115 vom 9. Mai 2008.

ABl. C 115 S. 13 vom 9. Mai 2008.

ABl. C 115 S. 47 vom 9 Mai 2008.

Dem Vereinigten Königreich, Polen und Tschechien (letzterem zwecks Deblockierung der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon) wurde in Bezug auf die sozialen und wirtschaftlichen Rechte der Charta eine Sonderregelung zugestanden: Die in Kapitel IV der Charta vorgesehenen Rechte sind in den genannten Ländern nur dann justiziabel, wenn entsprechende Rechtsansprüche bereits nach nationalem Recht bestehen.

7332

gewisse Unterschiede zwischen dem schweizerischen und dem europäischen Recht, z.B. in den Bereichen Artenschutz, Abfall und Biosicherheit.

Der EU-Vertrag erlaubt zwar in bestimmtem Umfang die Beibehaltung von abweichenden Umweltregelungen, doch in den Verhandlungen über einen schweizerischen EU-Beitritt müsste im Detail geprüft werden, wie weit die einschlägigen Vorschriften zu harmonisieren sind. Wahrscheinlich würden darunter folgende Bereiche fallen: Vergabe des Umweltzeichens, Übernahme des europäischen Rechts über Chemikalien (insbesondere REACH-Richtlinie) und pflanzenschutzrechtliche Produkte, Vorschriften zu gentechnisch veränderten Organismen (GVO), Anpassung von Bestimmungen der Störfallverordnung über die aktive Information der Öffentlichkeit und die Raumplanung in der Umgebung von Standorten mit chemischen Gefahrenpotenzialen an die sogenannte Seveso-II-Richtlinie155, Anpassung an die EU-Klimapolitik (erneuerbare Energien, Kohlenstoffabscheidung, Treibstoffe), Übernahme der Wasserrahmenrichtlinie 2000/60/EG (Anpassung der institutionellen Verfahren und Strukturen zur Bewirtschaftung von Einzugsgebieten) sowie Anpassungen im Bereich Biotop- und Artenschutz (z.B. aufgrund von Natura 2000 oder der Vogelschutzrichtlinie156).

Auch mit dem Lissabonner Vertrag wird sich die EU im Rahmen all ihrer Politiken und Massnahmen für ein hohes Niveau des Umweltschutzes und der Umweltqualität einsetzen. Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung wurde in diesem Vertrag präzisiert, gestärkt und auf die auswärtigen Beziehungen ausgedehnt. Dabei wurde ausdrücklich die Förderung von internationalen Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels erwähnt; zudem erhielt die EU neue Befugnisse im Energiebereich.

Des Weiteren steht die Ausarbeitung und Verabschiedung des siebten Umweltaktionsprogramms an, das sich neben konkreten Massnahmen zum Schutz der Umwelt insbesondere auch der Ressourceneffizienz widmen wird.

Da im Umweltbereich die Kompetenzen zwischen der EU und den Mitgliedstaaten aufgeteilt sind, nehmen die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit nur insoweit wahr, als die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat (Art. 2 Abs. 2 AEUV157). Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 EUV158) nimmt die Union ihre Zuständigkeit allerdings nur wahr, sofern und soweit die angestrebten Ziele von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können.

3.7.10

Verkehrspolitik

Während die Schweiz über das bilaterale Luftverkehrsabkommen in den europäischen Luftverkehrsmarkt integriert ist und das entsprechende EU-Recht bereits mit wenigen Ausnahmen übernimmt, regelt das bilaterale Landverkehrsabkommen hauptsächlich den Güter- und Personenverkehr auf der Schiene und der Strasse.

Auch wenn die diesbezügliche Schweizer Gesetzgebung bereits in vielen Bereichen dem EU-Recht entspricht ­ bspw. hinsichtlich der Sozialvorschriften für Chauffeure oder den technischen Anforderungen an Lastwagen ­ verbleiben hinsichtlich des 155

Richtlinie 96/82/EG des Rates vom 9. Dez. 1996 zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen, ABl. L 10 vom 14.1.1997, S. 13.

156 Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, ABl. L 103 vom 25.4.1979, S. 1.

157 ABl. C 115 S. 47 vom 9. Mai 2008.

158 ABl. C 115 S. 13 vom 9. Mai 2008.

7333

Landverkehrs wichtige Differenzen, die bei einem EU-Beitritt gesetzliche Anpassungen zur Folge hätten. So ist beispielsweise die Liberalisierung des Eisenbahnsektors in der EU derzeit weiter fortgeschritten und die Schweiz wäre aufgefordert, die entsprechenden Vorschriften ohne Verzug umzusetzen. Zudem deckt die Verkehrspolitik der EU auch Bereiche ab, welche vom Landverkehrsabkommen nicht erfasst werden. Dazu gehören beispielsweise auch die Schifffahrt oder Initiativen im Bereich der urbanen Mobilität.

Schliesslich würde sich bei einem Beitritt zur EU nicht zuletzt auch die Frage stellen, ob es der Schweiz möglich wäre, das System der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) beizubehalten. Während die LSVA, deren Einführung mit dem Landverkehrsabkommen eine staatsvertragliche Rechtsgrundlage hat, es ermöglicht, die externen Kosten des Schwerverkehrs zu internalisieren, gibt es derzeit in der EU im Verkehrsbereich noch keine so umfassende Umsetzung des Verursacherprinzips. Im Rahmen der Revision der «Eurovignette»-Richtlinie159 sollen zwar die EU-weiten Rahmenbedingungen für die Mauterhebung angepasst werden und gewisse externe Kosten angelastet werden, doch bleibt vorderhand unklar, ob beispielsweise in Zukunft auch in der EU die Staukosten internalisiert werden dürfen.

Vor diesem Hintergrund ist unsicher, ob sich das gegenwärtige LSVA-System im Fall eines EU-Beitritts der Schweiz mit den Vorgaben des EU-Rechts in Übereinstimmung bringen liesse.

3.8

Beitritt zur EU mit Ausnahmeregelungen

«EU-Beitritt mit Ausnahmeregelungen» Von einem Beitrittskandidaten verlangt die EU grundsätzlich die Übernahme des gesamten EU-Rechtsbestands. Dennoch könnte die Schweiz versuchen, in allfälligen Beitrittsverhandlungen mit der EU in besonders sensitiven Bereichen gewisse Ausnahmeregelungen zu erhalten. Dort würde die Schweiz dann ihre Eigenständigkeit wahren können.

Die europäischen Institutionen begegnen sämtlichen Formen einer differenzierten Integration mit Vorbehalten und Zurückhaltung. Die Kommission war beispielsweise in den Beitrittsverhandlungen mit den zwölf neuen Mitgliedstaaten der EU darauf bedacht, grundsätzlich keine Abweichungen vom EU-Acquis zuzulassen.

Besonders die kleinen Mitgliedstaaten befürchten Einbussen an Einflussmöglichkeiten, die ihre Interessenwahrung erschweren würden. Allerdings besteht ein Konsens darüber, dass eine Lockerung nicht notwendigerweise mit einer Schwächung oder gar einem Abbau des EU-Rechtsbestandes und des institutionellen Gefüges gleichzusetzen ist. Im Übrigen rückt das Thema einer differenzierten Integration periodisch in den Vordergrund, etwa im Zusammenhang mit den laufenden Verhandlungen über einen etwaigen Beitritt der Türkei zur EU. Es wird jedoch sehr darauf geachtet, zugunsten einzelner Mitgliedstaaten nicht zu viele Ausnahmen zuzulassen, 159

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Änderung der Richtlinie 1999/62/EG über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge, KOM (2008 436).

7334

insbesondere was die Erfordernis einer umfassenden Übernahme des Acquis bei einem Beitritt betrifft. Ausnahmen kommen deshalb wenn überhaupt nur vorübergehend in Betracht (Opt-in-Mechanismus), auch wenn ihre Dauer unbefristet sein kann.160 Die Fortsetzung der EU-Erweiterung dürfte im Gegenzug jedoch Lösungen begünstigen, die in Richtung dauerhafter Ausnahmen (Opt-out) zielen, zumindest in heiklen Bereichen wie der Gemeinsamen Aussen- und Verteidigungspolitik, um Integrationsfortschritte nicht völlig zu blockieren. Es wäre denkbar, dass langfristig in Bereichen, wo die Nichtmitwirkung wegen besonderer Empfindsamkeiten nur einen oder wenige Mitgliedstaaten beträfe, immer mehr flexible Lösungen eingeführt würden. Ausserdem ist zu berücksichtigen, dass die EU-Erweiterung in der Union und den Mitgliedstaaten selbst auf wachsenden Widerstand stösst. Deshalb stellt sich die Frage, ob eine sich ständig erweiternde EU weiterhin wie bisher funktionieren kann. Wird die EU künftig flexible Integrationsmodelle anbieten, die weniger weit gehen als der Beitritt in Reinform, aber weiter als die klassischen Zusammenarbeitsabkommen mit Drittstaaten? Nach heutiger Sachlage ist nicht auszuschliessen, dass die EU Drittstaaten in Zukunft andere Optionen anbieten wird als bloss die Mitgliedschaft oder klassische Abkommen. Dies könnte sich auch auf die künftige Haltung der EU gegenüber der Schweiz auswirken.

3.8.1

Institutionelle Aspekte

In Bezug auf die Übernahme des Acquis würde sich das Szenario eines EU-Beitritts mit Ausnahmeregelungen nicht vom einfachen Beitritt unterscheiden, weil die Schweiz in den Bereichen, auf die sich die Ausnahmen beziehen, ganz einfach nicht an den Entscheidungsprozessen teilnehmen würde; dies ist z.B. für jene EU-Staaten der Fall, die nicht zur Währungsunion gehören und sich entsprechend nicht an den Entscheidungen der Eurogruppe beteiligen.

Die Folgen des Beitritts im Verfahrensbereich könnten in institutioneller Hinsicht gegebenenfalls abgemildert werden, wenn mit der EU Vorschriften über die Umsetzung des europäischen Rechts ausgehandelt werden könnten, welche die Einhaltung der in der Verfassung und in den innerstaatlichen Gesetzen vorgesehenen Verfahren, einschliesslich der Durchführung von allfälligen Abstimmungen, erlauben würde. In erster Linie ginge es um ausreichend lange Umsetzungsfristen sowie vielleicht um die Folgen etwaiger Umsetzungsschwierigkeiten, etwa nach einem negativen Abstimmungsausgang. In dieser Hinsicht ist allerdings zu bedenken, welch grosse Bedeutung die EU der Einheitlichkeit des Rechts beimisst; sie dürfte deshalb bestenfalls geringe Abweichungen während einer begrenzten Dauer in Kauf nehmen und diese analog zu fallweisen Widersprüchlichkeiten zwischen nationalem und EU-Recht behandeln. Bei grösseren Unterschieden wäre jedoch damit zu rechnen, dass die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Schweiz eröffnen würde, das zu einer Verurteilung der Schweiz durch den EuGH und womöglich zu schweren Sanktionen führen würde. Im Extremfall könnte die

160

Laut dem Lissabonner Vertrag ist z.B. eine «Verstärkte Zusammenarbeit» möglich, damit einzelne Mitgliedstaaten die Integration verstärken können, ohne die Zustimmung aller anderen abzuwarten. Die verstärkte Zusammenarbeit setzt mindestens neun Mitgliedstaaten und eine Bewilligung des Rates voraus und ist jederzeit für andere Mitgliedstaaten offen.

7335

Nichtumsetzung nach negativen Volksentscheiden dazu führen, dass die Schweiz ihre EU-Mitgliedschaft aufgeben musste.

3.8.2

Gemeinsame Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik

In Bezug auf GASP und GSVP kann auf das im Kapitel 3.7.2 Gesagte verwiesen werden.

3.8.3

Die Frage des Parallelismus

Im Zusammenhang mit einem Beitritt der Schweiz zur EU mit Ausnahmeregelungen würde sich die Frage des Parallelismus zwischen den Verhandlungsdossiers nicht stellen.

3.8.4

EU-Forderungen im Steuerbereich

Steuerfragen fallen in der EU nach wie vor mehrheitlich in den nationalen Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten. Gemeinsame Regelungen auf der Unionsebene bedingen eine Einstimmigkeit des Rats. Im Bereich der indirekten Steuern sind grundsätzliche Bestimmungen für die Erhebung der Mehrwertsteuer, die das gemeinsame Budget der Union teilfinanziert, harmonisiert. EU-weit gilt ein Mindeststeuersatz von 15 %. Eine höhere Besteuerung ist durchaus üblich. Einige Mitgliedstaaten haben sich vorübergehend technische Ausnahmelösungen im Sinne von Übergangsfristen ausbedungen. Sämtliche Mitgliedstaaten haben immer noch die Möglichkeit, gewisse Abweichungen bei der Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer auf bestimmten Produkten vorzunehmen, was auch für die Schweiz als EU-Mitglied gelten würde. Im Bereich der direkten Steuern wurde lediglich ein Teil der Besteuerung von Kapitalerträgen mit der Zinsbesteuerungsrichtlinie harmonisiert. Im Sinne einer Übergangslösung praktizieren die Mitgliedstaaten Luxemburg und Österreich eine anonyme Zahlstellensteuer. Dies im Gegensatz zu den anderen EU-Mitgliedstaaten, die unter sich den automatischen Informationsaustausch zwecks Veranlagung der Zinsbesteuerung in den Ansässigkeitsstaaten pflegen. Allerdings ist innerhalb der EU diese Übergangslösung zugunsten Luxemburg und Österreich immer umstrittener. Ob in diesen Kontext eine EU-Mitgliedschaft der Schweiz in Anlehnung an Luxemburg und Österreich eine ähnliche Übergangslösung beinhalten könnte, ist eine offene Frage. Eine solche Lösung müsste verhandelt werden. Die Grundlagen für Verbrauchsteuern sind in der EU ebenfalls harmonisiert. Bei der technischen Umsetzung haben die Mitgliedstaaten jedoch einen Handlungsspielraum. Eingedenk der seit 2005 von der EU geäusserten Kritik an Aspekten der kantonalen Unternehmensbesteuerung, die nach Ansicht der EU-Kommission gemäss dem geltenden EU-Recht unerlaubte staatliche Beihilfen darstellen, wäre bei einer schweizerischen EU-Mitgliedschaft kaum mit einer anderen Einschätzung der Sachlage zu rechnen. Diesbezüglich muss darauf hingewiesen werden, dass die Begehren der EU die steuerliche Wettbewerbsfähigkeit und die Handlungsfreiheit der Schweiz einschränken würden, sofern nicht geeignete steuerliche Massnahmen getroffen werden. Solche Massnahmen (insbesondere Steuersatzsenkungen) können 7336

zu Mindererträgen insbesondere bei den Unternehmenssteuern führen, welche Kompensationen auf der Einnahmen- oder Ausgabenseite erforderlich machen würden.

Die Entwicklung geht bei allen europapolitischen Optionen tendenziell in diese Richtung.

3.8.5

Marktzutritt

Ein EU-Beitritt würde eine vollständige Integration in den europäischen Binnenmarkt nach sich ziehen und für praktisch sämtliche Wirtschaftssektoren den Marktzutritt ermöglichen. Beispiele von bisherigen Ausnahmeregelungen innerhalb der EU sind sehr selten.161 Je nach Ausgang der eventuellen Beitrittsverhandlungen könnten jedoch Übergangsbestimmungen die Anpassung an eine komplette Marktöffnung in sensiblen Bereichen vorbereiten helfen.

3.8.6

Wirtschafts- und Währungspolitik

Grundsätzlich muss ein EU-Beitrittskandidat sämtliche geltenden EU-Vorschriften übernehmen und durchsetzen, um als Mitglied der EU aufgenommen zu werden. Als Kern der sogenannten Wirtschafts- und Währungsunion ist der Euro Teil des EU-Besitzstands. Es gibt aber Mitgliedstaaten, die entschieden haben, von einer Teilnahme am Euro vorläufig abzusehen. So haben Grossbritannien und Dänemark ihren Verzicht auf den Euro in Protokollen, die Teil des Vertrags über die Europäische Union sind, festgehalten. Einige EU-Mitgliedstaaten nehmen im Übrigen nicht an der Währungsunion teil, weil sie nicht alle gesetzlichen oder wirtschaftlichen Konvergenzkriterien erfüllen. Sie können der Währungsunion freiwillig oder unfreiwillig fernbleiben. So bleibt Schweden zum Beispiel bis heute bewusst dem europäischen Wechselkursmechanismus fern. Eine spannungsfreie Teilnahme an diesem Mechanismus ohne selbst verursachte Abwertung während zweier Jahre würde dazu führen, dass Schweden die technischen Kriterien für eine Teilnahme an der Währungsunion erfüllen würde, da es die anderen Aufnahmekriterien zur Wahrung der für eine Währungsunion unabdingbaren wirtschaftlichen Konvergenz, d.h.

eine moderate Inflationsrate, relativ tiefe langfristige Zinsen und einen tragbaren Staatshaushalt, eigentlich bereits erfüllt. Schweden muss allerdings die Anpassung seiner Gesetzgebung an die Kriterien der Währungsunion noch abschliessen.

Die nicht nachhaltig gelöste Verschuldung vieler Mitgliedstaaten der Euro-Zone führt vor Augen, dass die Europäische Währungsunion trotz einer gewissen Konvergenz der an ihr teilnehmenden Volkswirtschaften nach wie vor von strukturellen Ungleichgewichten oder Unterschieden bei den Zahlungsbilanzen und der Wettbewerbsfähigkeit geprägt ist, die sich belastend auf die Euro-Zone auswirken. Nicht zuletzt aufgrund der Unwägbarkeiten bezüglich der Zukunft der gemeinsamen Währung könnte eine EU-Mitgliedschaft ohne Teilnahme an der Währungsunion eine prüfenswerte Alternative sein, selbst wenn die Schweiz die ökonomischen 161

Im EU-Beitrittsvertrag wurde Schweden eine Ausnahme für die Herstellung und Vermarktung des «snus» (Mundtabak) zugestanden, sofern Schweden alle erforderlichen Massnahmen ergreift, damit dieses Produkt nicht auf den Markt der EU- und EWRMitgliedstaaten gelangt (mit Ausnahme Norwegens, dem im EWR eine ähnliche Ausnahme gewährt wurde).

7337

Konvergenzkriterien für die Einführung des Euro zum gegenwärtigen Zeitpunkt höchstwahrscheinlich erfüllen würde. Eine derart gestaltete Mitgliedschaft würde die Autonomie auf dem Gebiet der schweizerischen Wirtschaftspolitik weitestgehend aufrechterhalten, insbesondere was die Geld- und Währungspolitik anbelangt, die in der Euro-Zone aufgegeben und der Europäischen Zentralbank überantwortet werden muss. Dies würde es weiterhin erlauben, eine eigene, massgeschneiderte Stabilitätspolitik zu verfolgen, die in erster Linie die spezifischen Schweizer Verhältnisse berücksichtigt.

Doch auch eine EU-Mitgliedschaft unter Verzicht auf die gemeinsame Währung beinhaltet gewisse Rechenschaftspflichten bezüglich der nationalen Wirtschaftspolitik, die vor allem Aspekte der Haushaltspolitik betreffen. Gemäss EU-Vertragsrecht betrachten die Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik im Prinzip als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse im Hinblick auf eine engere Koordinierung. So müssen sämtliche EU-Mitgliedstaaten der Kommission Angaben über wichtige einzelstaatliche Wirtschaftsmassnahmen übermitteln, die von der Kommission zu Berichten verarbeitet werden, die anschliessend Gegenstand einer gemeinsamen Erörterung im EU-Rat sind. Der Rat kann im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts auch Nicht-Teilnehmer an der Währungsunion zu einer Haushaltsdisziplin verpflichten. Im Fall des Beitritts der Schweiz zur EU und angesichts der einschlägigen schweizerischen Gesetze (insbesondere zur Schuldenbremse162) würde dieses Anreizinstrument für mehr Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten nicht nur kein Problem darstellen, sondern sich sogar als Vorteil erweisen, weil die anhaltenden und übermässigen Haushaltsdefizite in bestimmten Mitgliedstaaten weder im Interesse der gesamten EU noch im Interesse der Schweiz liegen können.

Abgesehen von der Möglichkeit, den Beitritt zur Währungsunion aufzuschieben bzw. eine entsprechende Ausnahmeklausel auszuhandeln, kann sich die Schweiz im Falle einer EU-Mitgliedschaft den übrigen wesentlichen Eigenschaften des gemeinsamen Binnenmarkts und insbesondere der gemeinsamen Wirtschaftspolitik vermutlich nicht entziehen. Es gelten daher auch hier die entsprechenden Ausführungen unter Ziffer 3.7.6.

3.8.7

Direkte Kosten

Die Möglichkeit allfälliger Ausnahmen von einzelnen Agentur- oder Programmbeteiligungen im Falle einer Mitgliedschaft werden nicht analysiert. Es gelten daher die Ausführungen unter Ziffer 3.7.7.

3.8.8

Sozialpolitik

Im Falle von Beitrittsverhandlungen ist nicht auszuschliessen, dass der Schweiz auch im Bereich der Sozialpolitik Ausnahmen zugestanden würden. Dies wäre etwa insbesondere in Bezug auf die Charta der Grundrechte der Union denkbar, zumal es mit dem Vereinigten Königreich, Polen und Tschechien drei Mitgliedstaaten gibt, denen bereits diesbezügliche Sonderreglungen zugestanden wurden. Ob entspre162

Artikel 126 BV (SR 101) und Bundesgesetz über den eidgenössischen Finanzhaushalt (SR 611.0).

7338

chende Ausnahmen aus schweizerischer Sicht wünschenswert wären, wäre allerdings juristisch und politisch zu prüfen.

Eher unwahrscheinlich dürfte ein Zugeständnis von Ausnahmen in den Bereichen der Sozialpolitik sein, die in direktem Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit stehen. In diesem Zusammenhang ist die Koordination der Systeme der sozialen Sicherheit von besonderer Relevanz. Mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA) hat die Schweiz die einschlägigen Rechtsbestimmungen der EU bereits übernommen und aktualisiert den Anhang II FZA periodisch an die EU-internen diesbezüglichen Entwicklungen. Sonderregelungen in diesem für das Funktionieren der Freizügigkeit grundlegenden Bereich wären kaum denkbar.

3.8.9

Umweltpolitik

Die Mitgliedstaaten können bereits heute strengere Umweltvorschriften als die Mindestnormen der EU beibehalten oder gar einführen, sofern solche keine Wettbewerbsverzerrungen verursachen. Im Rahmen der Beitrittsverhandlungen könnte die Schweiz analog zu den Ländern, die der EU 1995 beitraten, die Beibehaltung gewisser Vorschriften fordern, die strenger sind als in der EU (z.B. NachhaltigkeitsKriterien für Biotreibstoffe). Dagegen müssten keine Ausnahmen für die ­ häufigen ­ Fälle ausgehandelt werden, in denen Umweltnormen nur Mindestnormen darstellen.

Andererseits erscheint es eher unwahrscheinlich, dass die Schweiz ­ sofern sie dies überhaupt wünschen sollte ­ Umweltnormen beibehalten könnte, die weniger streng sind als diejenigen der EU.

3.8.10

Verkehrspolitik

Da die Schweiz im Luftverkehrsbereich bereits im Rahmen des bilateralen Luftverkehrsabkommens das relevante EU-Recht weitestgehend übernimmt, stellt sich dort die Frage eines möglichen Opt-outs kaum.

Dagegen wäre im Landverkehrsbereich nicht ganz auszuschliessen, dass gewisse Ausnahmen ausgehandelt werden könnten. Diese dürften vermutlich aber nicht die Grundsätze des Zugangs zum Verkehrsbinnenmarkt und die auf EU-Ebene festgelegten Prinzipien der Marktorganisation ­ nicht zuletzt im Schienenbereich ­ betreffen, wo sich die Schweiz einer Übernahme des EU-Rechts wohl kaum entziehen könnte. Denkbar wäre es aber allenfalls, einen Beitritt unter Beibehaltung des bestehenden LSVA-Systems auszuhandeln, da dieses das derzeit umfassendste Beispiel einer flächendeckenden und nichtdiskriminierenden Internalisierung der externen Kosten des Schwerverkehrs darstellt und damit nicht zuletzt zu einer ­ auch in der EU grundsätzlich angestrebten ­ Erhöhung der Effizienz und der Umweltverträglichkeit des Schwerverkehrs beiträgt.

7339

4

Schlussfolgerungen/kurz- und mittelfristige europapolitische Prioritäten

4.1

Die Europapolitik als fester Bestandteil der schweizerischen Aussenpolitik

Obschon sich die Zentren des politischen und wirtschaftlichen Einflusses nachhaltig zugunsten neuer und aufstrebender Einflusspole ­ namentlich in Asien ­ verschieben, bleibt die EU unsere engste geografische, wirtschaftliche und kulturelle Partnerin. Ihr Anteil an unserem Aussenhandel (rund 60 % unserer Ausfuhren und rund 80 % unserer Einfuhren) ist in den vergangenen zwanzig Jahren stabil geblieben.

Die EU bleibt somit die zentrale Herausforderung unserer Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik.

Die Europapolitik hat zum Ziel, unsere Interessen gegenüber der EU zu wahren163.

Das heisst für die Schweiz, dass sie ihre Anstrengungen weiterführen muss, um ihren Handlungsspielraum bei der Entscheidfindung zu erhalten (Ziel der Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz), dass sie einen angemessenen Zugang ihrer wirtschaftlichen Akteure zum EU-Markt aufrechterhalten muss (Ziel der Wahrung des Wohlstandes) und dass sie zur Wahrung und Förderung gemeinsamer Werte wie zum Beispiel der Armutsbekämpfung, der Förderung des Schutzes von Menschenrechten und Demokratie, der Rechtssicherheit oder der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen eine zuverlässige und solidarische Partnerin in Europa bleiben muss.

Bisher sind diese Ziele dank des Instruments des bilateralen und sektoriellen Weges weitgehend erreicht worden, insbesondere bei den Aspekten Wohlstand und Sicherheit. Die Entwicklung des wirtschaftlichen, menschlichen und sozialen Austauschs, die verstärkte Zusammenarbeit im Polizeiwesen, im Migrationsbereich, aber auch in der Kultur, der Bildung und Forschung bezeugen den seit dem Abschluss der beiden bilateralen Vertragspakete erzielten Erfolg. Die positive Bilanz wird durch die nahezu einhellig positive Einschätzung der abgeschlossenen Verträge seitens der direkt betroffenen Kreise aller schweizerischen Interessengruppen noch unterstrichen. Zudem geniesst der bilaterale Weg die Unterstützung durch das Schweizer Volk, wie sie mehrfach an der Urne zum Ausdruck gebracht wurde.

Wie in diesem Bericht aufgezeigt, fällt die Bilanz bei den Aspekten Souveränität und Autonomie nuancierter aus. Der Bundesrat hat nie verhehlt, dass der bilaterale Weg alles andere als einfach ist. Jedes neue Abkommen muss manchmal hart ausgehandelt werden. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die im vorliegenden Bericht
beschriebenen EU-internen Entwicklungen die Verhandlung von Lösungen, welche vom EU-Rechtsbestand abweichen, erschweren. Aus diesem Grund sind momentan verschiedene laufende Verhandlungen blockiert. Im Weiteren sind mit der Stellung der Schweiz als Drittstaat gewisse Nachteile verbunden. Diese verstärken sich im Zug der im vorliegenden Bericht beschriebenen Entwicklungen tendenziell. Es handelt sich insbesondere um:

163

Gemäss Artikel 54 der Bundesverfassung setzt sich der Bund ein für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und ihre Wohlfahrt; er trägt namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Föderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.

7340

­

mangelnde Einflussmöglichkeiten auf die Normen, die ­ mit oder ohne Abkommen mit der EU ­ die Schweiz direkt betreffen; das äussert sich in Einschränkungen der Souveränität in dem Masse, wie die Schweiz solche Normen übernimmt, entweder autonom oder im Rahmen von bilateralen Abkommen, um in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit nachteilige Situationen zu vermeiden;

­

das Fehlen eines vollumfänglichen Zutritts zum EU-Binnenmarkt sowie einer generellen Nichtdiskriminierungsklausel;

­

eine latente Rechtsunsicherheit, die darin liegt, dass neue EU-Regelungen jederzeit neue Marktzugangshindernisse schaffen können und dass die Mechanismen zur Anpassung der bilateralen Abkommen an die Entwicklungen des EU-Rechts relativ komplex sind. Zudem könnte bei einer Nichtanpassung der bilateralen Abkommen I die in ihnen enthaltende «Guillotineklausel» zur Anwendung gelangen.

4.2

Der bilaterale Weg bleibt das am besten geeignete Instrument der schweizerischen Europapolitik

Diese Entwicklungen sind für den bilateralen Weg eine grosse Herausforderung, ohne ihn jedoch zu verbauen. Angesichts ihrer äusserst engen Beziehungen haben die Schweiz und die EU ein gemeinsames Interesse, mittels spezifischer Abkommen in zahlreichen Bereichen Lösungen zu finden. Gleichwohl zeigt sich, dass die Fortsetzung des bilateralen Weges schwieriger geworden ist. Die EU verlangt in zunehmendem Mass, dass die Abkommen mit unserem Land auf der ausnahmslosen Übernahme ihres massgeblichen Rechtsbestands beruhen, wobei letzterer immer umfassender definiert wird und indem in neue Abkommen verpflichtende Mechanismen zu ihrer Anpassung an die Entwicklungen des EU-Rechtsbestands aufgenommen werden sollen. Dennoch kann die EU auch einen gewissen Pragmatismus zeigen, wie dies beispielsweise kürzlich im Rahmen des Zollerleichterungs- und Zollsicherheitsabkommens («24-Stunden-Regel») der Fall war, wo für die EU wie für die Schweiz wichtige Interessen auf dem Spiel standen.

Angesichts der heute weitgehend positiven Bilanz des bilateralen Wegs und angesichts der Tatsache, dass die Fortsetzung und die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU im beidseitigen Interesse liegen, hält der Bundesrat einen abrupten Strategiewechsel momentan für unangebracht und eine bilaterale Verständigung mit der EU für grundsätzlich möglich, um eine den Interessen beider Parteien entsprechende Pflege der Beziehungen zu erlauben. Dies gilt umso mehr, als auch die EU in breitem Mass von den mit der Schweiz abgeschlossenen Abkommen profitiert und es deshalb legitim ist zu erwarten, dass die EU mithilft, diesbezüglich Lösungen zu finden. Somit bleibt für den Bundesrat eine fruchtbare Fortsetzung des bilateralen Wegs in Zukunft unter folgenden Voraussetzungen möglich: a)

Sie erfolgt weiterhin im gegenseitigen Respekt der Souveränität beider Parteien und des guten Funktionierens ihrer Institutionen. Insbesondere die automatische Übernahme aller Acquis-Entwicklungen in den von den Abkommen geregelten Bereichen muss ausgeschlossen bleiben, da die

7341

Schweiz sonst zum de-facto-Mitglied der EU ohne Stimm- und Mitentscheidungsrecht würde.

b)

Institutionelle Mechanismen sollen das Funktionieren der Abkommen erleichtern mit dem Ziel, das Instrument des bilateralen Wegs zu konsolidieren und zu sichern.

c)

Das Gleichgewicht der Interessen beider Parteien bleibt gewahrt, namentlich im Rahmen der aktuellen Dossiers, ­ durch den Schutz vor neuen Beschränkungen des gegenseitigen Marktzutritts, ­ durch die Ausdehnung unserer Beziehungen auf neue Zusammenarbeitsbereiche, wenn das gegenseitige Interesse der Parteien dies erfordert, ­ durch die Aufrechterhaltung gerechter Rahmenbedingungen, insbesondere im Steuerbereich.

d)

Das Engagement der Schweiz in den Bereichen Friedensförderung, Bewahrung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Stabilität oder zugunsten der Nachhaltigkeit wird fortgesetzt. Dies verleiht unserer Europapolitik eine Dimension der Mitverantwortung und Solidarität, welche die Wahrung unserer unmittelbaren Interessen ergänzt und unterstützt.

Die Eignung des bilateralen Wegs, den schweizerischen Interessen zu dienen und jene unserer europäischen Partner zu berücksichtigen, wird massgeblich von unserer Fähigkeit bestimmt, unsere Bemühungen in den verschiedenen Diskussionsbereichen zu koordinieren. Der bilaterale Weg ist in seiner Gesamtheit am besten in der Lage, die notwendige Konvergenz der Interessen der Schweiz und der EU zu gewährleisten.

Überdies muss man sich der Tatsache bewusst sein, dass unser immer dichter werdendes Beziehungsnetz mit der EU uns in Bezug auf die innere Ordnung der Schweiz vor gewisse institutionelle Herausforderungen stellt, insbesondere was den sich intensivierenden Gesetzgebungsprozess der EU und seine Auswirkungen auf die Schweiz betrifft. In der Bundesverwaltung und bei den Parlamentsdiensten macht sich ein wachsender Personalmangel bemerkbar; darüber hinaus sind die Verfahren zu langsam und zu schwerfällig. Verbesserungen sind hier wünschbar, aber nur zum Preis eines erheblichen Ressourceneinsatzes zu haben. Ähnliches lässt sich mit Blick auf den schweizerischen Föderalismus sagen. Der Bundesrat hat bereits in seinem Föderalismusbericht von 2007164 diesbezügliche Reformvorschläge präsentiert; er ist auch bereit, mit den Kantonen eine Diskussion zu diesem Thema zu führen und dabei der europapolitischen Standortbestimmung, die die Kantonsregierungen unlängst verabschiedet haben, sowie einigen der Lösungsvorschläge, die darin formuliert werden, Rechnung zu tragen165. Er erinnert indessen daran, dass die Aussenpolitik primär Sache des Bundes ist. Er hebt zudem hervor, dass auch seitens der Kantone ein erheblicher Bedarf nach Reformen und vermehrter Koordination besteht, damit sie ihre Mitwirkungsrechte in der Europapolitik effizient, zeitgerecht und mit der nötigen demokratischen Legitimierung wahrnehmen können.

164 165

Föderalismusbericht vom 15. Juni 2007, BBl 2007 5907.

Europapolitische Standortbestimmung der Kantonsregierungen vom 25. Juni 2010, Konferenz der Kantonsregierungen (www.kdk.ch).

7342

Die Eignung der bilateralen Instrumente, den schweizerischen Interessen zu dienen, ist allerdings der ständigen Prüfung unterworfen, insbesondere mit Blick auf das Interesse der EU, die bestehenden bilateralen Abkommen zu erhalten und weiterzuentwickeln sowie neue Abkommen auszuhandeln, wenn die Umstände dies verlangen. Insbesondere der Erhalt der Handlungsfreiheit unseres Landes ist eine wesentliche Bedingung. Auch wenn der bilaterale Weg für den Bundesrat momentan das geeignetste Instrument für die Europapolitik der Schweiz bleibt, so ist es nicht auszuschliessen, dass in Zukunft, je nach Entwicklung, andere Instrumente den Landesinteressen besser zu dienen vermögen. Aus diesem Grund wird der Bundesrat die verschiedenen europapolitischen Instrumente weiterhin einer ständigen Beobachtung und Überprüfung unterziehen, um in der Lage zu sein, sie wenn nötig, je nach Entwicklung, anzupassen.

4.3

Ausrichtungen und Prioritäten für die nächsten Schritte in der Europapolitik

Der Bundesrat ist der Ansicht, dass der bilaterale Weg zum aktuellen Zeitpunkt das geeignetste Instrument für die Europapolitik der Schweiz bleibt. Für seine Konsolidierung, Sicherung und Weiterentwicklungen werden folgende Anstrengungen unternommen: 1.

Die derzeit mit der EU laufenden Verhandlungen werden fortgeführt und abgeschlossen.

2.

Die Arbeiten im Hinblick auf den Abschluss neuer Abkommen in Bereichen, für welche der Bundesrat ein Verhandlungsmandat verabschiedet hat, werden fortgesetzt (Teilnahme der Schweiz an REACH, an Galileo/EGNOS, am Emissionshandelssystem, Administrative Vereinbarung mit der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA), Zusammenarbeit zwischen Heilmittelbehörden, Zusammenarbeit zwischen Wettbewerbsbehörden).

3.

Die institutionellen Fragen, die sich im Rahmen der bilateralen Abkommen stellen ­ dazu gehören unter anderem die Modalitäten der Anpassung der Abkommen an die Weiterentwicklungen des EU-Rechts, die Interpretation der Abkommen und die Streitbeilegung ­, werden gemeinsam mit der EU geprüft, um Lösungen zu erarbeiten, die die Anwendung dieser Abkommen erleichtern und sowohl die Souveränität beider Parteien respektieren als auch das reibungslose Funktionieren der Institutionen gewährleisten.

4.

Der Bundesrat wird die Opportunität eines Dialogs mit der EU über den Verhaltenskodex in der Unternehmensbesteuerung prüfen, ebenso die Bedingungen und Parameter für eine Diskussion mit der EU über die Revision der Zinsbesteuerung und Aspekte des Informationsaustauschs auf Anfrage.

5.

In Bezug auf alle bisher erwähnten Punkte wie auch mit Blick auf künftige Verhandlungen wird der Bundesrat einen koordinierten Ansatz verfolgen.

6.

Um den Entwicklungen des bilateralen Wegs Rechnung zu tragen, beabsichtigt der Bundesrat, zusammen mit der Bundesversammlung und den Kantonen vertiefte Überlegungen über Massnahmen zur Anpassung der Arbeitsmethoden der Exekutive und der Legislative sowie über die Mitwirkung der Kantone in der Europapolitik anzustellen. Wo nötig, wird er Reformvor7343

schläge vorlegen. Auf jeden Fall wird er darauf achten, dass die vorgeschlagenen Reformen die schweizerischen Interessen gegenüber der EU gebührend wahren.

7.

7344

Der Bundesrat wird die verschiedenen europapolitischen Instrumente weiterhin einer ständigen Überprüfung unterziehen, um je nach Entwicklung Anpassungen vornehmen zu können.