zu 08.520 Parlamentarische Initiative Abschaffung der Fahrradnummer Bericht vom 4. Mai 2010 der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Ständerates Stellungnahme des Bundesrates vom 4. Juni 2010

Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht vom 4. Mai 2010 der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Ständerates zur parlamentarischen Initiative 08.520 «Abschaffung der Fahrradnummer» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes (ParlG) nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

4. Juni 2010

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Doris Leuthard Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2010-1205

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Inhalt der von Ständerat Philipp Stähelin eingereichten parlamentarischen Initiative (08.520) ist die Abschaffung des Haftpflichtversicherungsobligatoriums für Radfahrerinnen und Radfahrer.

Die geltende Konzeption betreffend Haftpflicht und Versicherung im Strassenverkehrsrecht orientiert sich heute daran, dass einerseits verursachte Schäden auf der Opferseite immer gedeckt werden, andererseits die unfallverursachenden Personen nicht mit ihrem Vermögen haften müssen und somit unter Umständen in den Ruin getrieben werden.

Aus der Sicht der Opfer kann die Situation wie folgt geschildert werden: ­

Schäden durch inländische Motorfahrzeugführende werden durch die obligatorische Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung gedeckt, Schäden durch inländische Radfahrerinnen und Radfahrer durch die obligatorische FahrradHaftpflichtversicherung.

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Schäden durch ausländische Motorfahrzeugführende werden durch das Nationale Versicherungsbüro (NVB) gedeckt.

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Schäden durch ausländische Fahrräder werden durch den Nationalen Garantiefonds (NGF) gedeckt.

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Schäden durch unversicherte Fahrzeuge werden entweder durch den NGF oder den zuständigen Kanton gedeckt (wenn dieser z.B. Kontrollschilder ausgegeben hat, ohne dass eine Versicherung besteht).

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Schäden durch unbekannte Fahrzeuge werden durch den NGF gedeckt.

Die Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz können daher heute darauf vertrauen, dass im Strassenverkehr erlittene Schäden zuverlässig gedeckt werden.

Merkmal dieses Systems ist, dass Geschädigte ihre Ansprüche immer direkt an eine behördlich beaufsichtigte Institution (Versicherung, NVB, NGF) oder eine Behörde selbst (Kanton bzw. Bund für seine eigenen Fahrzeuge) richten können und den Schaden nicht bei der schädigenden Person einfordern müssen.

Das heutige System schützt auch die Verursacherin oder den Verursacher des Schadens. Wer ein Motorfahrzeug oder ein Fahrrad verwendet, kann heute darauf vertrauen, dass allenfalls verursachte Schäden durch eine Versicherung gedeckt werden.

Nur bei grobfahrlässig verursachten Schäden oder wenn die schädigende Person keine Fahrradvignette kauft, muss sie sich am Deckungsaufwand beteiligen beziehungsweise mit Rückgriffsforderungen rechnen.

Die Fahrradhaftpflichtversicherung hat folgende Funktionsweise: Fahrradhalterinnen und -halter kaufen einmal im Jahr die sogenannte Velovignette, die den Nachweis für den Abschluss der erforderlichen Haftpflichtversicherung darstellt. Die Vignette wird am Velo angebracht (entweder direkt oder auf eine Platte, die auf andere Fahrräder übertragen werden darf). Die Vignette kann im Fahrradhandel, beim Grossverteiler, der Post oder auch direkt bei einem Haftpflichtversicherer bezogen werden und kostet durchschnittlich 5 Franken. Bei Unfällen sind Schäden bis zu einer Höhe von 2 Millionen Franken gedeckt (Personen- und Sachschäden). Bei einem Unfall 4150

kann der Vignette entnommen werden, welche Haftpflichtversicherung für die Deckung des Schadens aufkommen muss. Das Opfer kann den Schaden direkt bei der Versicherung geltend machen. Trägt das Fahrrad keine Vignette, so hat das Opfer das Recht, sich direkt an den NGF zu wenden, der den Schaden deckt und nach Möglichkeit Rückgriff auf die schädigende Person nimmt.

Gestützt auf dieses lückenlose System ist die Radfahrerhaftpflicht in den «allgemeinen» freiwilligen Privathaftpflichtversicherungen grundsätzlich nur komplementär versichert, das heisst, sie deckt nur Schäden, die über die obligatorische Mindestdeckungssumme von 2 Millionen Franken hinausgehen.

Mit der vorgeschlagenen Abschaffung der Fahrradvignette würden auch das Haftpflichtversicherungsobligatorium für Radfahrerinnen und Radfahrer und der direkte Schadendeckungsanspruch des Opfers gegen eine Versicherung abgeschafft. Die Rad fahrende Person könnte neu frei entscheiden, ob sie allfällige Ansprüche aus Fahrradunfällen über die private Haftpflichtversicherung versichern will. Das Opfer muss sich primär an die Radfahrerin oder den Radfahrer halten, wenn es seinen Schaden gedeckt haben will.

Die Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Ständerates (KVF-S) hat den Bericht mit Schreiben vom 4. Mai 2010 dem Bundesrat zur Stellungnahme unterbreitet.

2

Stellungnahme des Bundesrates

Die von der KVF-S durchgeführte Vernehmlassung hat gezeigt, dass die Abschaffung der Fahrradvignette bei praktisch allen politischen Parteien und einer klaren Mehrheit der Kantone Anklang findet. Indes wird die Abschaffung von praktisch allen Verbänden, insbesondere von allen Verkehrsverbänden, abgelehnt. Dies bedeutet letztlich nichts anderes, als dass sowohl die Verbände der Radfahrerinnen und Radfahrer als auch diejenigen der potenziellen Verkehrsopfer das heutige System schätzen und daran festhalten wollen.

Der Bundesrat beurteilt die Auswirkungen der Vorlage wie folgt:

2.1

Auswirkungen auf die Radfahrerinnen und Radfahrer

Positive Auswirkungen: ­

Radfahrerinnen und Radfahrer müssen nicht mehr jedes Jahr eine neue Velovignette kaufen. Sie können die Fahrradhaftpflicht in die allgemeine Privathaftpflichtversicherung integrieren. Damit fällt eine administrative Hürde zum Radfahren dahin.

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Geht die Vignette verloren oder wird sie gestohlen, so entfällt der Versicherungsschutz. Damit verbundener Ärger entfällt.

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Die Strafbarkeit (Ordnungsbusse von 40 Franken) der Radfahrerinnen und Radfahrer bei Nichtversicherung entfällt.

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Radfahrerinnen und Radfahrer entscheiden künftig selber, ob sie sich versichern lassen wollen oder nicht. Dies stärkt die Eigenverantwortung.

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Negative Auswirkungen: ­

Radfahrerinnen und Radfahrer, die schuldhaft einen Unfall verursachen, müssen unter Umständen für den Schaden selber aufkommen. Sie haften mit ihrem Einkommen und Vermögen, wenn sie keine private Haftpflichtversicherung abgeschlossen haben. Schätzungen zufolge haben rund zehn Prozent der schweizerischen Haushalte heute keine Privathaftpflichtversicherung.

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Selbst wer alle Vorsicht walten lässt, ist vor Versicherungslücken nicht gefeit: Insbesondere bei der Ablösung der Kinder vom Elternhaus ist diese Gefahr gross, weil die als freiwillige private Haftpflichtversicherung angebotenen Versicherungsprodukte diesbezüglich sehr heterogen sind und sich die Situation der jungen Erwachsenen während einiger Jahre häufig ändert, was auch Folgen für den Einschluss beziehungsweise den Ausschluss der Kinder aus der Familienhaftpflichtversicherung hat.

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Unvorsichtigerweise nicht bezahlte Versicherungsrechnungen führen zu Deckungslücken, die bei Familien, aber auch bei KMU zu ruinösen Forderungen führen können.

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Der Einschluss der Fahrradhaftpflicht in die Privathaftpflichtversicherung bewirkt eine Deckungserweiterung, die einen Prämienaufschlag zur Folge haben könnte. Um die Prämien der Privathaftpflichtversicherung zu senken, wird oftmals ein Selbstbehalt vereinbart, der beim heutigen Vignettensystem nicht besteht.

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Wieder aufgefundene verlorene oder gestohlene Fahrräder können heute gestützt auf die Vignettennummer oder die Rahmennummer oftmals wieder an die rechtmässigen Eigentümerinnen und Eigentümer zurückgeführt werden. Diese Möglichkeit entfällt im Fall der Abschaffung der Vignette.

2.2

Auswirkungen auf die kantonalen und kommunalen Behörden

Positive Auswirkungen: ­

Der Aufwand für Produktion, Vertrieb und Logistik der Vignetten entfällt.

Gemäss Schätzungen würde dadurch administrativer Aufwand in der Höhe von 20 Prozent des Vignettenpreises entfallen.

­

Die Kontrollorgane werden von der Aufgabe befreit, Vignettenkontrollen durchzuführen.

Negative Auswirkungen: ­

Aufgefundene verlorene oder gestohlene Fahrräder können häufiger nicht mehr der rechtmässigen Eigentümerin oder dem rechtmässigen Eigentümer zurückgegeben werden, weil eine Identifikationsmöglichkeit fehlt.

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Die Bewirtschaftung von Veloabstellplätzen in grossen Zentren wird erschwert, weil heute anhand der angebrachten Vignette entschieden werden kann, ob ein Fahrrad noch in Betrieb ist oder nicht und somit aus der öffentlichen Abstellfläche entfernt werden kann.

­

Der Kommunikationskanal (Trägerpapier der Fahrradvignette) zwischen Behörden und Radfahrerinnen und Radfahrern entfällt.

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­

2.3

Die Möglichkeit der Gemeinden, das Radfahren mit der Gratisabgabe von Velovignetten zu fördern, entfällt (2010: gemäss Google-Recherche z.B.

Heimberg BE, Forst-Längenbühl BE, Mellikon AG, Pfyn Dettighofen TG).

Auswirkungen auf die Haftpflichtversicherungen

Für die Haftpflichtversicherungen dürfte die Abschaffung der Velovignette kostenneutral ausfallen. Immerhin ist mit einem Initialaufwand zu rechnen. Um die Radfahrerhaftpflicht in die Privathaftpflichtversicherung zu integrieren, müssen praktisch alle Policen ersetzt werden.

2.4

Auswirkungen auf den Opferschutz

Positive Auswirkungen sind keine ersichtlich.

Negative Auswirkungen: ­

Der Schaden kann nicht mehr bei einem professionellen Schadenabwickler (Haftpflichtversicherung), sondern muss direkt bei der unfallverursachenden Person beziehungsweise bei ihrer gesetzlichen Vertretung geltend gemacht werden.

­

Ist die schädigende Person nicht kooperativ oder verfügt sie weder über finanzielle Mittel noch über eine Privathaftpflichtversicherung, entsteht für das Opfer gegenüber der heutigen Regelung ein erheblicher Mehraufwand.

Zwar kann es für die Schadendeckung an den NGF gelangen; wegen der subsidiär ausgestalteten Deckungspflicht muss es aber den Nachweis erbringen, dass der Schaden nicht anderweitig gedeckt werden kann. Dazu dürften ein gerichtliches Zivilverfahren und ein erfolglos verlaufenes Betreibungsoder Konkursverfahren erforderlich sein. Somit kann es Jahre dauern, bis das Opfer entschädigt wird.

2.5

Auswirkungen auf die Motorfahrzeughalterinnen und -halter

Der NGF wird durch einen Prämienzuschlag auf der Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung finanziert (Fr. 1.70 für Motorräder, Fr. 3.40 für Personenwagen und Fr. 6.80 für schwere Motorfahrzeuge). Wenn der NGF künftig in grösserem Ausmass Fahrrad-Haftpflichtfälle regulieren muss, könnte dieser Beitrag ansteigen.

Dadurch erfolgt eine Querfinanzierung von den Motorfahrzeughalterinnen und -haltern zu den Radfahrerinnen und Radfahrern. Allerdings dürften diese finanziellen Auswirkungen für die einzelnen Halterinnen und Halter kaum spürbar sein.

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2.6

Würdigung

Bei grossen Teilen der Vorlage halten sich Vor- und Nachteile die Waage. Beim Opferschutz, dem im Strassenverkehr eine wichtige Bedeutung zukommt, sieht der Bundesrat aber gewichtige Nachteile. Das Opfer kann nach dem Vorschlag der KVF-S nicht mehr direkt bei einem in der Schweiz zugelassenen Versicherer die Deckung des Schadens verlangen. Das Opfer muss die Deckung primär von der schädigenden Person einfordern und sie notfalls einklagen. Der Weg zum NGF ist nur subsidiär, das heisst unter Umständen erst nach Jahren offen. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn die schädigende Person keine Privathaftpflichtversicherung hat und deshalb mit ihrem Vermögen haftet.

Dennoch ist der Bundesrat mit der Abschaffung der Velovignette im Grundsatz einverstanden. Er beantragt aber eine substanzielle Verbesserung der Vorlage: Im Regelungsentwurf müsste dem Opfer ein direktes Forderungsrecht gegen den NGF eingeräumt werden. Dies zumindest dann, wenn keine leistungspflichtige Haftpflichtversicherung besteht oder dies strittig ist. Nur so werden berechtigte Schadenersatzforderungen des Opfers zügig gedeckt und hängen nicht von langwierigen Abklärungen ab, wer wie viel zur Schadendeckung beitragen muss. Der NGF würde damit vorleistungspflichtig, kann die von ihm geleisteten Zahlungen aber nach Artikel 76 Absatz 6 des Strassenverkehrsgesetzes vom 19. Dezember 19581 von der schädigenden Person oder, wenn eine Privathaftpflichtversicherung leistungspflichtig ist, von dieser einfordern. Auf diese Weise erhält das unschuldige Verkehrsopfer, wie nach geltendem Recht, eine rasche Deckung des Schadens. Ohne ein solches direktes Forderungsrecht würde das Opfer mit der Neuregelung klar schlechter gestellt als nach geltendem Recht.

3

Antrag des Bundesrates

Der Bundesrat ist mit der Vorlage grundsätzlich einverstanden, beantragt aber zur Verbesserung des Opferschutzes zusätzlich folgende Änderung des Strassenverkehrsgesetzes: Art. 76 Abs. 5 Bst. a 5

Der Bundesrat kann im Falle von Absatz 2 Buchstabe a: a.

1

den Nationalen Garantiefonds zur Vorleistung verpflichten, wenn der Schadenverursacher keine leistungspflichtige Haftpflichtversicherung hat oder das Fehlen eines leistungspflichtigen Haftpflichtversicherers strittig ist.

SR 741.01

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