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Schweizerisches Bundesblatt.

59. Jahrgang. IV.

Nr. 30.

10. Juli 1907.

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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde der Eheleute Pellet in Carouge betreffend Verweigerung der Bewilligung zum Betrieb eines Waisenheims.

(Vom 25. Juni 1907.)

Der schweizerische Bundesrat hat über die Beschwerde der Eheleute P e l l e t in Carouge betreffend Verweigerung der Bewilligung zum Betrieb eines Waisenheims, auf den Bericht und Antrag seines Justiz- und Polizeidepartements hin, folgenden Beschluss gefasst: A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt: I.

Am 21. November 1906 kam Adrien Pellet, von Orbe, Pfarrer der Eglise primitive in Genf, beim Regierungsrat des Kantons Genf um die Bewilligung ein, in Carouge ein Waisenheim für Mädchen von 5 bis 15 Jahren zu eröffnen. Mit Entscheid vom 29. Januar 1907, der dem Rekurrenien arn 2. Februar 1907 zugestellt worden ist, hat ihm der Staatsrat in Anwendung Bandesblatt. 59. Jahrg. Bd. IV.

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von Art. 13 des Gesetzes über den öffentlichen Unterricht vom 5. Juni 1886 diese Bewilligung versagt, weil der Potent am 30. Dezember 1892 durch das Kriminalgericht von Orbe wegen Versuchs der Brandstiftung zu dreissig Monaten Gefängnis und acht Jahren Ehrverlust verurteilt worden ist. Daraufhin bewarb sich Frau Pellet um die ihrem Mann verweigerte Bewilligung, wurde aber mit ihrem Gesuch vom Regierungsrat am 15. Februar 1907 ebenfalls abgewiesen, weil der Ehemann bei der Leitung des Waisenheims unvermeidlich mitwirken würde und dies aus den im frühern Entscheid erwähnten Gründen nicht zulässig sei.

II.

Mit Eingabe vom 30. März 1907 beschweren sich die Eheleute Pellet beim Bundesrat über die Entscheide des genferischen Staatsrates und verlangen, dass dieselben aufgehoben werden und dass den Rekurrenten die verlangte Bewilligung erteilt werde.

Zur Begründung führen sie im wesentlichen folgendes aus : Das geplante Waisenheim sollte nicht eine Unterrichtsanstalt sein, sondern eine Pension, in der die jungen Waisen Kost und Logis erhalten und ein gutes Familienleben geniessen ; den Unterricht werden die Kinder in den öffentlichen Schulen erhalten.

Da die Rekurrenten bloss eine Pension betreiben wollen, soberufe sich der Staatsrat zu Unrecht auf eine Bestimmung des Schulgesetzes, um die Bewilligung zu verweigern. Im vorliegenden Fall sei nur die Frage au entscheiden, ob den Rekurrenten die Bewilligung zu dem von ihnen geplanten Pensionsbetrieb auf Grund der von Adrien Pellet vor 15 Jahren erlittenen Verurteilung verweigert werden könne. Diese Frage sei zu verneinen. Adrien Pellet habe das Delikt, wegen dem er verurteilt wurde, vor 15 Jahren in sehr jugendlichem Alter verübt, und er habe, wie sich aus einem Zeugnis seines damaligen Geschäftsherrn ergebe, aus Unüberlegtheit gehandelt. Pellet habe sein Vergehen nicht nur durch Abbüssung der Strafe gesühnt, er habe sich auch durch seine mustergültige Aufführung seit seiner Entlassung vollständig rehabilitiert. Er habe seit 1895 in London gelebt und dort neben einer Stelle in einem Handelshause das Sekretariat der Unions chrétiennes françaises de jeunes gens geführt. Von 1897 bis 1898 habe er seine Studien an einem Institut der Heilsarmee vollendet und sei dann von dieser als Sekretär des Gebietschefs nach Italien geschickt worden, wo er bis zu seiner Verheiratung

im Jahre 1901 geblieben sei. Nach der Schweiz zurückgekehrt, habe er zunächst einige Monate bei Bonnard frères in Lausanne gearbeitet, sei dann im Jahr 1902 von der Eglise libre als Evangelist nach Genf berufen worden und dort im gleichen Jahre in den Dienst der Eglise primitive des frères d'Amérique übergetreten, für welche er jetzt noch wirke. Die sämtlichen Zeugnisse über seine Tätigkeit seit 1895 lauten überaus günstig, so dass seine Ehrenhaftigkeit keinem Zweifel unterliegen könne.

Die Verweigerung der nachgesuchten Bewilligung sei daher dem Ehemann Pellet gegenüber absolut ungerechtfertigt und verletze Art. 31 der Bundesverfassung. (Vgl. Salis, ' Bundesrecht, II, Nr. 966 I, i. S. Kragl.) Noch weniger begründet sei die Abweisung des Gesuches der Frau Pellet. Diese sei mit der Führung des Waisenheims von der Eglise primitive betraut worden und sie, nicht ihr Mann, werde die geplante Anstalt leiten. Es sei nicht einzusehen, inwiefern die Gegenwart des Mannes der Frau bei der Haltung des Pensionats hinderlich sein könnte.

in.

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Mit Schreiben vom 23. April, 3. und 28; Mai 1907 beantragt der Regierungsrat des Kantons Genf A bweisung der Beschwerde.

: Der Regierungsrat habe einstimmig die ! beiden Begehren der Eheleute Pellet abgewiesen, denn es sei absolut unzulässig, die Erziehung von Waisenkindern einer Person anzuvertrauen, deren Vergangenheit einen so hässlichen Fleck aufweise, wie diejenige des Rekurrenten Pellet. Der Entscheid des Bundesrates in Sachen Kragl könne von den Rekurrenten nicht als Präjudiz angerufen werden, denn sie wollen keineswegs ein Gewerbe beginnen, das mit dem Betrieb einer Wirtschaft auf gleicher Stufe steht. Die Rekurrenten hätten in ihren Eingaben die Absicht ausgesprochen, den Waisenkindern eine häusliche Erziehung zu geben, und es liege ja auch in der Natur der Sache, dass die Vorsteher eines Waisenheims die den Kindern in der Schule erteilte Erziehung zu Hause fortzusetzen hätten.

Es sei unvermeidlich, dass Adrien Pellet an dieser Tätigkeit seiner Ehefrau teilnehmen würde. Art. 13 des Gesetzes über den öffentlichen Unterricht garantiere die Unterrichtsfreiheit unter Vorbehalt der Interessen der öffentlichen Ordnung. Als Hüter der öffentlichen Ordnung könnte der Staatsrat die Verantwortlichkeit nicht übernehmen, die Eröffnung eines Waisenheims zu

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gestatten, dessen Vorsteher fast drei Jahre in einer Strafanstalt verbracht habe. Was Adrien Pellet über die nähern Umstände seiner Verurteilung vorgebracht habe, schaffe die Tatsache der Verurteilung nicht aus der Welt.

Zur Anwendung des Art. 13 des Schulgesetzes habe den Staatsrat der Name der zu gründenden Anstalt als einer Waisenanstalt geführt. Soll in der Waisenanstalt den Kindern bloss Kost und Logis gegeben werden, so findet Art. l des Wirtschaftsgesetses des Kantons Genf vom 12. März 1892 Anwendung, der bestimmt, dass niemand ohne behördliche Erlaubnis eine Pension halten oder das Gewerbe eines Zimmervermieters betreiben darf. Auf Grund dieser Bestimmung werden z. B. sämtliche Mädchenpensionen in Genf zur Losung eines Patentes veranlasst, auch wenn die Pensionäre die öffentlichen Schulen besuchen und in der Pension keinen Unterricht erhalten.

Da nun Art. 5 des gleichen Gesetzes vorschreibt, dass die behördliche Bewilligung nur erteilt werden soll, wenn das Vorleben und der Charakter des um die Bewilligung Nachsuchenden genügende Garantie bieten, so müsste auch auf Grund des Wirtschaftsgesetzes die von den Eekurrenten nachgesuchte Bewilligung verweigert werden.

Die angeführten Bestimmungen des Schulgesetzes und des Wirtschaftsgesetzes lauten : Art. 13 des Schulgesetzes: La liberté d'enseignement est garantie à tous les Suisses, sous réserve des dispositions prescrites par les lois dans l'intérêt de l'ordre public, des bonnes moeurs et de l'hygiène.

Les étrangers ne peuvent enseigner qu'après avoir obtenu une autorisation du Conseil d'jKtat.

Cette autorisation, toujours révocable, s'obtient à la suite d'un examen ou sur la production d'un diplôme reconnu suffisant; un règlement fixe les conditions de cet examen.

Art. l des Wirtschaftsgesetzes: Nul ne pourra, sans en avoir obtenu préalablement la permission du Département de Justice et Police : 1° Exercer le métier d'aubergiste, cabaretier, cafetier, restaurateur, liquoriste ou débitant de bière.

2° Vendre en détail ou faire consommer sur place des boissons quelconques obtenues, par la distillation ou la fermentation.

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3° Tenir une pension alimentaire ou exercer le métier de logeur à prix d'argent en sous-louant une ou plusieurs pièces.

4° Reprendre la suite d'un des commerces ci-dessus déjà autorisé.

Le Département devra statuer dans le délai d'un mois sur toute requête qui lui sera adressée.

En cas de refus, le postulant peut recourir au Conseil d'État.

Art. 5 des Wirtschaftsgesetzes: Les permissions ne seront accordées qu'après enquête préalable du Département de Justice et Police et préavis du Bureau de salubrité publique, et seulement: 1°. Si les antécédents et la moralité du requérant offrent des garanties suffisantes.

2° Si les conditions exigées par la salubrité publique et la décence sont respectées.

3° Si l'enquête préalable constate que le nombre des établissements du même genre déjà existant dans la localité, la commune ou le quartier peut être augmenté i sans inconvénient.

Tout refus sera motivé.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: Da nach der ausdrücklichen Erklärung der Rekurrenten die Zöglinge ihrer Waisenanstalt die öffentlichen ' Schulen besuchen sollen, so ist offenbar der Hauptcharakter der1 Anstalt nicht der einer Lehranstalt, sondern der einer Pension^ in welcher den Pensionären Kost und Logis, allerdings in der Weise gewährt werden soll, dass die Pensionäre auch am Familienleben der Pensionshalter teilnehmen. Es ist daher in erster Linie zu untersuchen, ob die für die Berechtigung des Betriebs von Pensionen im Kanton Genf massgebenden Bestimmungen mit dem von den Rekurrenten angerufenen Art. 31 der Bundesverfassung im Widerspruch stehen, oder in einer die Bundesverfassung verletzenden Weise zur Anwendung gebracht worden sind.

Der Bundesrat hat stets anerkannt, dass die Bestimmung, welche die Erteilung von Bewilligungen zum Betrieb von Wirtschaften, Gasthäusern oder Pensionen davon abhängig macht, dass

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der Bewerber und seine Hausgenossen ihrem Vorleben und ·Charakter nach für einen sittlich unanfechtbaren Betrieb Gewähr leisten, nach Art. 31 der Bundesverfassung zulässig ist. Vergi.

Salis, Bundesrecht II, Nr. 954 ff. 971, 974, 976 und 977 und .die dort zitierten Entscheide des Bundesrates. Die Vorschriften der vom Staatsrat des Kantons Genf angeführten Art. l und 5 des genferischen Wirtschaftgesetzes sind daher vom Standpunkt 'des Bundesrechtes aus nicht anfechtbar.

Auch die zweite Frage, ob die Anwendung dieser Gesetzes.Vorschriften im vorliegenden Fall verfassungswidrig sei, d. h. ob sie eine willkürliche Einschränkung der Handels- und Gewerbefreiheit bedeute, ist zu verneinen. Es könnte zwar bezweifelt werden, ob das gegen den Beschwerdeführer Pellet ergangene Strafurteil die Behörde des Kantons Genf zur Verweigerung der Bewilligung für ein gewöhnliches Wirtshaus oder Hotel berechtigen würde. Pellet will aber nicht eine gewöhnliche Pension eröffnen, in der nur Kost und Logis geboten wird, sondern eine Anstalt, die minderjährigen, ja noch im Kindesalter stehenden Waisen·mädchen die Familie ersetzen und die Erziehung erteilen soll, .die sie nicht im elterlichen Hause geniessen können. Es liegt auf der Hand, dass an die Vorsteher einer solchen Anstalt höhere Anforderungen gestellt werden dürfen als an Gasthofbesitzer oder Schenkwirte ; wenn insbesondere seitens kantonaler Behörden vom Leiter einer solchen Anstalt eine fleckenlose Vergangenheit verlangt wird, so verletzt diese Forderung die Handels- und Gewerbefreiheit nicht. Im vorliegenden Fall ist nun allerdings seit der Verurteilung Pellets schon ein längerer Zeitraum verstrichen, und hat der Rekurrent sich seither kein Delikt mehr zu schulden kommen lassen. Trotzdem kann nicht gesagt werden, dass die Regierung des Kantons Genf, welcher die Würdigung des Tatbestandes in erster Linie zukommt, dem Rekurrenten die Bewilligung willkürlich und ohne jeden triftigen Grund verweigert habe, wenn auch die Entscheidung sehr streng ist.

Dass Frau Pellet die Bewilligung auf ihren Namen verlangt hat, ist angesichts des Umstandes, dass sie mit ihrem Ehemann in ungetrenntem Haushalte zusammenlebt, ohne Bedeutung, da, wenn die Bewilligung auf den Namen der Frau ausgestellt würde, in Wirklichkeit doch der Ehemann bei der Leitung der Anstalt stark beteiligt,
wenn nicht geradezu der Leiter der Anstalt wäre.

(Vergi. Salis a. a. 0. Nr. 976.)

Da sich die Abweisung schon nach den Bestimmungen des Wirtschaftgesetzes des Kantons Genf rechtfertigt, so braucht nicht

573 untersucht zu werden, ob der Staatsrat auch auf Grund anderer Gesetze zum Erlass der angefochtenen Verfügung berechtigt war.

D e m n a c h wird e r k a n n t : Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B e r n , den 25. Juni 1907.

l

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Müller.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesratsbeschluss über die Beschwerde der Eheleute Pellet in Carouge betreffend Verweigerung der Bewilligung zum Betrieb eines Waisenheims. (Vom 25. Juni 1907.)

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