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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde des 0. Beretta, Drogisten in Locarno, gegen die Regierung des Kantons Graubünden wegen Forderung eines Patentes für die Einfuhr von gebrannten Wassern nach dem Kanton Graubünden.

(Vom 4. Juli 1907.)

Der schweizerische Bundesrat hat

über die Beschwerde des 0. B e r e t t a , Drogisten in Locarno, gegen die Regierung des Kantons Graubünden wegen Forderung eines Patentes für die Einfuhr von gebrannten Wassern nach dem Kanton Graublinden, auf den Antrag des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluss gefasst:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

l

Mit Verfugung vom 13. April 1907 hat der Kleine Rat des Kantons Graubünden den 0. Beretta, Drogisten in Locarno in Erwägung, dass derselbe gebrannte Wasser im Kleinhandel an einen gewissen Andreotti in Samaden, Kanton Graubünden, verkauft hatte, wegen Übertretung der graubündnerischen Verordnung betreffend den Ausschank und Kleinverkauf von gebrannten Wassern mit einer Busse und dem doppelten Betrage der umgangenen Gebühr für eine zum Kleinverkauf gebrannter Wasser berechtigende behördliche Bewilligung belegt.

582 IL Mit Eingabe vom 2. Juni 1907 hat Beretta die staatsrechtliche Beschwerde an den Bundesrat ergriffen, und die Aufhebung der Verfügung vom 13. April 1907 verlangt. Er führt zur Begründung seines Begehrens aus: Im März 1907 sei ein gewisser, in Samaden, Kanton Graubünden, wohnhafter Andreotti in den Laden des Rekurrenten (Droguerie Varenna) in Locamo gekommen und habe eine Korbflasche von zirka 20 Liter Wermut gekauft. Diese Korbflasche habe Beretta dem Andreotti nach Samaden geschickt, worauf Andreotti Zahlung nach Locamo per Postmandat geleistet habe.

Der Rekurrent besitzt ein Kleinverkaufspatent für den Kanton Tessin; der Kanton Graubünden könne ein in Locamo abgeschlossenes Geschäft nicht auch als nach seiner Verordnung patentpflichtig erklären.

m.

Die Regierung des Kantons Graubünden hat, zur Vernehmlassung auf die Beschwerde eingeladen, mit Schreiben vom 12. Juni 1907 die Abweisung der Beschwerde des Beretta beantragt und hierzu vorgebracht: Art. l der graubündnerischen Verordnung betreffend den Ausschank und Kleinverkauf von gebrannten Wassern bestimmt: ,,Der Kleinverkauf von nicht denaturierten gebrannten Wassern darf nur auf Grund einer erteilten kantonalen Bewilligung erfolgen."

Dieser Vorschrift hat der Rekurrent zuwidergehandelt, indem er an Andreotti in Samaden Wermut verkauft und nach dem Kanton Graubünden geschickt hat, ohne vorher eine Bewilligung gemäss Art. l der Verordnung eingeholt zu haben. Indem der Kleine Rat den Rekurrenten hierfür büsste, hat er weder die genannte kantonale Verordnung noch die Bundesverfassung verletzt, insbesondere ist die Gewerbefreiheit nicht verletzt worden.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: l. Der Rekurrent bestreitet nicht, dass er für den Kleinverkauf von Wermut überhaupt patentpflichtig sei, er bestreitet nur, dass er nicht berechtigt gewesen sei, das Geschäft mit Andreotti abzuschliessen und auszuführen, ohne im Kanton Graubünden ein Patent genommen zu haben. Es ist daher zu unter-

583 suchen, ob die Erhebung der Patenttaxe durch den Kanton Graubünden Bundesrecht, insbesondere den Grundsatz der Handelsund Gewerbefreiheit (Art. 31 der Bundesverfassung) verletze.

2. Nach Art. 31, lit. e, der Bundesverfassung sind die Kantone berechtigt, den Gewerbebetrieb im allgemeinen zu besteuern, und Art. 17, Abs. 2, des Alkoholgesetzes vom 29. Juni 1900 macht ihnen die Besteuerung des Kleinverkaufs gebrannter Wasser sogar zur Pflicht. Dagegen würde es sowohl der Handels- und Gewerbefreiheit als der Rechtsgleichheit widersprechen, wenn zwei Kantone zugleich ein und dasselbe Verkaufsgeschäft mit der Patenttaxe belegen könnten. Von dieser Erwägung aus hat es der Bundesrat z. B. als verfassungswidrig erklärt, dass ein Wirtschaftsbetrieb, der sich über das Gebiet mehrerer Kantone erstreckt, ohne in jedem Kanton als ein einheitlicher betrachtet werden zu können, von jedem der Kantone mit seiner vollen Gewerbesteuer belegt wird ; die Art. 31 entsprechende Norm sei vielmehr, dass jeder Kanton nur die Quote erhebe, die dem auf sein Gebiet entfallenden Gewerbebetrieb entspricht (vgl. Beschluss des Bundesrates vom 2. Januar 1898 über die Beschwerde der Gotthardbahngesellschaft und der Internationalen Schlafwagengesellschaft im Bundesblatt 1898, I, 182 ff. ; Salis, Bundesrecht B. II, Nr. 945, inbesondere S. 790). Fragt es sich demnach, welcher von zwei Kantonen die Lösung des Patentes und die Patenttaxe von demjenigen zu verlangen berechtigt sei, der in einem Kanton wohnt und von dort gebrannte Wasser an Bewohner des ändern Kantons verkauft und versendet, so kann die Antwort nicht zweifelhaft sein. Nicht nur wickelt sich im Kanton, von wo aus das Geschäft betrieben wird, der wichtigste Teil desselben ab, sondern die Besteuerung des Geschäftsinhabers in allen Kantonen, mit denen er in Geschäftsverkehr steht, würde auch unvermeidlich diesen interkantonalen Geschäftsbetrieb viel stärker belasten als den auf ein Kantonsgebiet beschränkten, und tatsächlich dazu führen, das Absatzgebiet jedes Kantons gegen aussen abzuschliessen, was mit der Gewährleistung der Handels- und Gewerbefreiheit vorab verhindert werden wollte fsiehe Bundesratsbeschluss vom 5. Februar 1895 in Sachen Huldreich Graf, Mosaikplattenfabrikant in Winterthur, Bundesblatt 1895, I, 219 ff.). Der Kanton Graubünden war daher nicht berechtigt,
zu verlangen, dass der Rekurrent sich vor dem mit Andreotti abgeschlossenen Geschäft mit einem bündnerischen Klein verkaufspatent versehe, und die wegen Nichteinholung des Patentes ausgesprochene Busse ist daher verfassungswidrig.

Bundesblatt. 59. Jahrg. Bd. IV.

'

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584 Demnach wird erkannt: Die Beschwerde wird für begründet erklärt und die Verfügung des Kleinen Rates des Kantons Graubünden vom 13. April 1907 aufgehoben.

B e r n , den 4. Juli 1907.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Müller.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

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Bundesratsbeschluss über die Beschwerde des 0. Beretta, Drogisten in Locarno, gegen die Regierung des Kantons Graubünden wegen Forderung eines Patentes für die Einfuhr von gebrannten Wassern nach dem Kanton Graubünden. (Vom 4. Juli 1907.)

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10.07.1907

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