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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Genehmigung des am 9. Dezember 1928 zwischen der Schweiz und der Türkei abgeschlossenen Vertrages zur Erledigung von Streitigkeiten im Vergleichs-, Gerichts- und Schiedsverfahren.

(Vom 11. März 1929.)

Herr Präsident !

Hochgeehrte Herren !

Anlässlich unserer Unterhandlungen mit der Türkei, die zum Niederlaesungsvertrage vom 7. August 1927 führten, waren die beiden Regierungen übereingekommen, der Unterzeichnung dieses Abkommens Verhandlungen über den Abschluss eines Vertrages zur friedlichen Beilegung allfälliger Streitigkeiten zwischen beiden Ländern folgen zu lassen. Tatsächlich wurden diese Verhandlungen denn auch zu Beginn des Jahres 1927 in Bern und Angora aufgenommen; sie wurden während dos Jahres 1928 fortgesetzt und endigten am 9. Dezember mit dem Abschlüsse des Vertrages, den wir heute den eidgenössischen Räten zur Genehmigung vorlegen.

Obwohl beide Regierungen gleichermassen den Wunsch halten, die Unterhandlungen rasch zum Ziele zu führen, wurde eine Grundlage für die Verständigung doch nicht ohne etwelche Schwierigkeit gefunden. Die türkische Regierung, dio auf einem Gebiete, wo die Türkei erst vor kurzem die ersten Verträge geschlossen hat, vorsichtig vorzugehen wünschte, glaubte zum Abschluss eines Vertrages, der auf dem Grundsatze der obli.gatorischen und unbedingten schiedsgerichtlichen oder gerichtlichen Erledigung beruht hätte, nicht Hand bieten zu können. Sie erklärte sich dagegen bereit, sich auf einen Vertragsentwurf einzulassen, der sich seiner Tragweite nach den Schiedsverträgen der Vorkriegszeit nähern würde.

312 Mit Rücksicht auf die Richtung unserer Schiedsvertragspolitik hätten wir mit Grund zögern können, den vorgeschlagenen Weg zu beschreiten.

Aber es wollte uns bedünken, ein -- wenn auch unvollkommener -- Vertrag über die friedliche Regelung von Streitigkeiten sei dem Fehlen jeglicher Bindung vorzuziehen. Und in der Tat: es ist besser, über ein Rüstzeug zu verfügen, dessen man sich vielleicht nicht in jedem Falle wird bedienen können, als jedesmal den Weg zur Beilegung einer Streitigkeit neu suchen zu müssen, die zu lösen den diplomatischen Besprechungen nicht gelungen ist. Die Erfahrung zeigt, dass ein Vertrag zuweilen mehr zu gewähren vermag, als nach dem Buchstaben von ihm eigentlich zu erwarten ist. Alles hängt davon ab, in welchem Geiste die vertragschliessenden Teile ihn anzuwenden gewillt sind. Der Vertrag mit der Türkei schliesst keine Streitigkeiten von der friedlichen Erledigung aus, aber er räumt den Parteien das Recht ein, die Anwendung eines Vergleichs-, Gerichts- oder Schiedsverfahrens für gewisse Arten von Streitigkeiten abzulehnen. Wenn die Parteien von diesem Rechte mit der Zurückhaltung Gebrauch machen, die ihnen die Sorge um die friedliche Lösung aller zwischen ihnen entstehenden Streitigkeiten ohne Zweifel auferlegen wird, so ist die Annahme berechtigt, dass der Wert des Vertrages tatsächlich grösser sein werde, als er anzuschlagen wäre, wenn man seine wesentlichen Bestimmungen einer bloss theoretischen Kritik unterziehen wollte.

Der Vertrag bestimmt zunächst, dass die vertragschliessenden Teile sich verpflichten, auf Verlangen eines von ihnen alle Streitigkeiten, die zwischen ihnen entstehen sollten und in angemessener Frist auf diplomatischem Wege nicht beigelegt werden können, einem Vergleichs- und gegebenenfalls einem Gerichts- oder Schiedsverfahren zu unterwerfen (Art. l, Abs. 1). Im Anschluss an diesen allgemeinen Grundsatz folgen die Ausnahmen, die er erleidet, indem festgesetzt wird, in welchen Fällen es im Belieben der vertragschliessenden Teile stehen soll, das Verfahren zur friedlichen Beilegung auszuschlagen (Art. l, Abs. 2). Drei Vorbehalte stellt der Vertrag in dieser Beziehung auf : den Vorbehalt der Verfassungsgrundsätze, den der Lebensinteresseo und den der ausschliesslichen Zuständigkeit des Staates.

Sinn und Tragweite dieser Vorbehalte sind zur Genüge
bekanntwir können deshalb davon absehen, ihnen hier neue Betrachtungen zu widmen. Der Vorbehalt der Verfassungsgrundsätze findet sich in unserm Vertrag mit Brasilien zur gerichtlichen Erledigung von Streitigkeiten, vom 23. JUDÌ 1924, und wir haben unsere diesfällige Auffassung in unserer Botschaft an die Bundesversammlung vom 28. Oktober gleichen Jahres dargelegt *)· Der Vorbehalt der Lebensinteressen sodann war eine jener Einschränkungen, die nahezu alle vor dem Weltkrieg abgeschlossenen Schiedsabkommen aufwiesen. Obwohl er den Grundsatz der obligatorischen >) Bundesbl. 1924, Band 3, S. 650 ff.

313 Schiedsgerichtsbarkeit beträchtlich einengt und aus diesem Grunde mehr und mehr versehwindet, hielt die türkische Regierung aus den angedeuteten Gründen darauf, ihn im Vertrage beizubehalten. Er ist indessen tatsächlich nicht von unbegrenzter Tragweite, denn er wird im guten Glauben doch nur angerufen werden können, wenn der beizulegende Streitfall wirklich lebenswichtige Interessen des Staates aufs Spiel setzt.

So könnte er wohl schwerlich erhoben werden, wenn es sich z. B. um einen Anstand über die Auslegung vertraglicher Pflichten handeln sollte.

Der Vorbehalt der ausschliesslichen Zuständigkeit endlich ist durch Artikel 15, Absatz 8, der Völkerbundssatzung anerkannt worden und seither in mehrere Schiedsverträge der jüngsten Zeit übergegangen. Unser Vergleichs- und Schiedsvertrag mit Polen vom 7, März 1925 weist ihn ebenfalls auf. Der Vorbehalt geht von der sehr einfachen Überlegung aus, dass ein Staat nicht Rechenschaft über das abzulegen hat, was er auf dem Gebiete tut, wo seine Handlungsfreiheit weder durch das Völkerrecht noch durch seine vertraglichen Verpflichtungen eingeschränkt ist.

Eigentlich ist dieser Grundsatz selbstverständlich, und es liesse sich schwerlich ein Gericht finden, das einen Staat zu einer Handlung verurteilen würde, zu der er rechtlich nicht verpflichtet ist. Der Vertrag mit der Türkei würde allerdings augenscheinlich an Wert gewinnen, wenn er den Parteien nicht das Recht einräumte, jedem Verlangen nach friedlicher Beilegung einer Streitigkeit in souveräner Entscheidung einen dieser drei Vorbehalte entgegenzusetzen. So, wie er jetzt ist, bietet er keine bestimmten Garantien gegen die Weigerung einer Regierung, auch wenn sie ungerechtfertigt sein sollte, den Streitfall vor eine unparteiische Instanz zu bringen. Sobald eine Partei ein Verfahren zur friedlichen Erledigung mit der Begründung ausschlägt, die Streitfrage beziehe sich auf ihre Verfassungsgrundsätze, berühre ihre Lebensinteressen oder falle in ihre ausschliessliche Zuständigkeit, gibt es gegen diese ihre Entscheidung keine Berufung. Wir versuchten zu erreichen, dass im Einzelfalle die Berechtigung zur Anrufung eines Vorbehaltes, wenn bestritten, dem Ständigen Internationalen Gerichtshof oder einem Schiedsgerichte zur Beurteilung unterbreitet werde ; aber die türkische Regierung erklärte, gegenwärtig
nicht in der Lage zu sein, einen Vertrag zu unterzeichnen, der nicht jedem der vertragschliessenden Teile die Befugnis zugestehe, endgültig darüber zu befinden, ob er berechtigt sei, sich auf einen der im Vertrage vorgesehenen Vorbehalte zu berufen.

Artikel l, Absatz 3, bestimmt, dass die Parteien unter den im Vertrage festgesetzten Bedingungen ein Gerichts- oder Schiedsverfahren auch dann ablehnen können, wenn sie der Anwendung des Vergleichsverfahrens vorbehaltlos zugestimmt haben. Diese Bestimmung entspringt dem Wunsch, dem Grundsatze der vorgängigen Durchführung des Vergleichsverfahrens das denkbar weiteste Anwendungsgebiet zu sichern. Eine Regierung, die vielleicht noch zögert, Richtern oder Schiedsrichtern eine wichtige Frage

314 zur endgültigen Entscheidung anheirnzustellen, wird weniger Bedenken haben, mit Hilfe einer Einrichtung von der Art der Vergleichskommissionenr deren G-utachten nicht verbindlich ist, eine Verständigung anzustreben.

Und doch können die blossen Empfehlungen einer Vergleichskommission eine günstige Wirkung auf die Lösung der Streitigkeit ausüben. Es ist denn auch zu hoffen, dass die Partei, der es gefährlich erscheinen sollte, eine Frage, die ihrer Ansicht nach in ihre ausscbliessliche Zuständigkeit fällt, einen ihrer Verfassungsgrundsätze oder ihre Lebensinteressen berührt, einem Gerichte vorzulegen, sich zum mindesten dazu entschliesse, die ernstliche Verständigungsmöglichkeit, die in jeder Anwendung des Vergleichsverfahrens liegt, nicht von der Hand zu weisen.

Wie angedeutet, stellt der Vertrag den Grundsatz auf, dass bei jeder Streitigkeit zunächst zu versuchen ist, sie durch, das Vergleichsverfahren zu schlichten; er sieht indessen im Artikel l, Absatz 4, vor, dass es den Parteien unbenommen sein soll, die Streitigkeit im gemeinsamen Einverständnis unmittelbar vor den Ständigen Internationalen Gerichtshof oder vor ein Schiedsgericht zu bringen. Kommt eine Einigung darüber nicht zustande, so kann das Gericht oder das Schiedsgericht erst angerufen werden, nachdem feststeht, dass das Vergleichsverfahren versagt hat. Diese Lösung stimmt mit der Auflassung übcrein, die wir in unserer Schiedsvertragspolitik wiederholt vertreten haben.

Die Artikel 2 bis 5, die das Vergleichsverfahren ordnen, geben zu besonderen Bemerkungen keinen Anlass. Es genügt die Feststellung, dass das Verfahren sich vor einer ständigen Vergleichskommission abspielt,, deren Zusammensetzung aus Gründen der Sparsamkeit auf drei Mitglieder beschränkt worden ist (Art. 2), die aber in Fällen von einiger Bedeutung im gemeinsamen Einverständnis gegebenenfalls durch die Zuteilung von zwei Kommissaren ergänzt werden kann (Art. 3).

Versagt das vorgängige Vergleichsverfahren, so kann jede Partei verlangen, dass die Streitigkeit vor den Ständigen Internationalen Gerichtshof gebracht werde (Art. 6), sofern die Gegenpartei in diesem Zeitpunkte nicht eine der Einreden der Unzuständigkeit geltend macht. Es ist indessen vorgesehen worden, dass die Streitigkeit im gemeinsamen Einverständnis einem Schiedsgericht unterbreitet werden kann,
das, sofern die vertragschliessenden Teile nicht binnen drei Monaten eine andere Abrede treffen, aus fünf Mitgliedern besteht, wovon drei gemeinsam bezeichnet werden. Der Vertrag macht in dieser Beziehung keinen Unterschied zwischen Streitigkeiten rechtlicher Natur und solchen anderer Art.

Das Schiedsverfahren wird nicht grundsätzlich, wie dies in zahlreichen andern neueren Verträgen der Fall ist, auf Streitigkeiten beschränkt, deren Gegenstand sich zu einer rechtlichen Würdigung nicht gut eignet.

Es 'steht den Parteien frei, das Schiedsverfahren in irgendeinem Falle zur Anwendung zu bringen, aber sie können es nur im gemeinsamen, Einvernehmen tun. Einigen sie sich hierüber nicht, so wird der Streitfall)

315 auf Begehren einer von ihnen dem Gerichtsverfahren unterworfen. Mit andern Worten: die Anrufung des Gerichtshofes ist die Kegel, diejenige eines Schiedsgerichtes die Ausnahme. Es sei uns gestattet, hier unserer Befriedigung darüber Ausdruck zu geben, dass ein Staat, der gegenwärtig dem Völkerbunde nicht angehört, mit uns einen Vertrag abgeschlossen: hat, in dem die Gerichtsbarkeit des Ständigen Internationalen Gerichtshofes in allgemeiner Weise anerkannt wird. Wie diese Tat die Haager Einrichtung ehrt, so zeugt sie auch zugunsten der Regierung, die dazu Hand geboten hat.

Der Gerichtshof oder das Schiedsgericht wird im Wege der Schiedsoi-dnung angerufen ; können sich aber die Parteien binnen einer Frist von drei Monaten vom Tage des Begehrens um Durchführung des Gerichtsoder Schiedsverfahrens an über den Inhalt der Schiedsordnung nicht einigen, so ist jede von ihnen nach Art. 8 des Vertrages befugt, sich durch einfaches Ersuchen an das zuständige Gericht zu wenden, das alsdann auf Grund der ihm unterbreiteten Anträge zu entscheiden hat. Diese Bestimmung beseitigt somit die Schwierigkeit, auf die das G-eriohts- oder Schiedsverfahren bei andauernder Uneinigkeit der Parteien darüber, welche Fragen den Richtern oder Schiedsrichtern zu unterbreiten seien, stossen kann.

Etwaige Anstände über die Erfüllung eines Gerichtsurteils oder Schiedsspruches und über die Auslegung dos Vertrages werden auf Verlangen einer Partei dem Ständigen Internationalen Gerichtshof unterbreitet (Art. 10), Der Grundsatz der gerichtlichen Erledigung wird hier ohne Einschränkung anerkannt. Da die Frage der Vorbehalte der souveränen Entscheidung der Parteien unterliegt, kann zwischen ihnen über die Auslegung, die dem einen oder andern dieser Vorbehalte im Einzelfalle zu geben ist, ein Streit nicht entstehen. Um hierüber keinen Zweifel walten zu lassen, hat die türkische Regierung verlangt, dass eine ausdrückliche Bestimmung in diesem Sinn in den Artikel 10 aufgenommen werde.

Der Vertrag, der nur auf Streitigkeiten anwendbar ist, die nach seinem Inkrafttreten entstehen (Art. 11), ist für fünf Jahre abgeschlossen worden; er bleibt nach dieser Zeit weiter in Kraft bis zum Ablauf einer Frist von 6 Monaten vom Tage an, wo eine Partei der andern ihre Absicht kundgibt, ihn ausser Kraft zu setzen.

Obwohl das vorliegende Abkommen
keine so weitgehende Verpflichtung enthält wie die meisten der in den letzten Jahren von der Schweiz geschlossenen Verträge dieser Art, ist es doch geeignet, einen günstigen EinQuss auf die Entwicklung unserer Beziehungen zur Türkei auszuüben.

Der Vertrag ist ein Freundschaftspfand zwischen zwei Ländern, die gleichermassen willens sind, Schwierigkeiten rasch zu beseitigen, welche die erfreulicherweise zwischen ihnen bestehenden ausgezeichneten Beziehungen beeinträchtigen könnten, Beziehungen, die kürzlich noch durch den Abschluss eines Handelsabkommens und eines Niederlassungsvertrages eine Festigung erfahren haben.

316 Wir bitten Sie demnach, den Vertrag zu genehmigen und zu diesem Zwecke den beiliegenden Bundesbeschluss gutzuheissen.

Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

Bern, den 11. März 1929.

Im Namen des schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Dr. Haab.

Der Bundeskanzler :

Kaeslin.

317 (Entwurf.)

Bundesbeschluss betreffend

die Genehmigung des am 9. Dezember 1928 zwischen der Schweiz und der Türkei abgeschlossenen Vertrages zur Erledigung von Streitigkeiten im Vergleichs-, Gerichts- und Schiedsverfahren.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrates vom 11. März 1929, beschliesst: Artikel 1.

Der am 9. Dezember 1928 zwischen der Schweiz und der Türkei abgeschlossene Vertrag zur Erledigung von Streitigkeiten im Vergleichs-, Gerichts- und Schiedsverfahren wird genehmigt.

Artikel 2.

Der Bundesrat wird mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

Bundesblatt. 81. Jahrg. Bd. L

25

318

Übersetzung aus dem französischen Originaltext.

Vertrag zwischen

der Schweiz und der Türkei zur Erledigung von Streitigkeiten im Vergleichs-, Gerichts- und Schiedsverfahren.

Der Schweizerische Bundesrat und

der Präsident der Türkischen Republik, von dem Wunsche beseelt, die zwischen der Schweiz und der Türkei bestehenden freundschaftliehen Bande zu festigen und Streitigkeiten, die etwa zwischen den beiden Ländern entstehen sollten, einer friedlichen Regelung zu unterwerfen, sind übereingekommen, zu diesem Zweck einen Vertrag abzuschliessen, und haben zu ihren Bevollmächtigten ernannt: Der Schweizerische Bundesrat:

Herrn Henri M a r t i n , ausserordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister der Schweizerischen Eidgenossenschaft in der Türkei,

Der Präsident der Türkischen Republik: Herrn Ali Chevki Bey, ehemaligen Unterstaatssekretär im Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten, Abgeordneten von Tokat, Herrn Veli B e y, Rechtsbeirat im Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten, die, nachdem sie sich ihre Vollmachten mitgeteilt und sie in guter und gehöriger Form befunden haben, über folgende Bestimmungen übereingekommen sind: Artikel 1.

Die vertragschliessenden Teile verpflichten sich, auf Verlangen des einen von ihnen alle Streitigkeiten, die zwischen ihnen entstehen sollten und in angemessener Frist auf diplomatischem Wege nicht geschlichtet werden können, einem Vergleichs- und gegebenenfalls einem Gerichtsoder Schiedsverfahren zu unterwerfen.

319 Es bleibt indessen jedem der vertragschliessenden Teile unbenommen, dem Vergleichs- und dem Gerichts- oder Schiedsverfahren jeglichen Streitfall zu entziehen, der sich nach seiner Ansicht auf Fragen bezieht, welche seine Verfassungsgrundsätze oder seine Lebensinteressen berühren, oder auf solche, die nach Völkerrecht in die ausschliessliche Zuständigkeit der einzelnen Staaten fallen.

Die vorbehaltlose Zustimmung einer Partei zur Durchführung eines Vergleichsrorfahrens beeinträchtigt ihr Recht nicht, ein Begehren um Durchführung des Gerichts- oder Schiedsverfahrens im Sinne der Artikel 6 bis 8 des gegenwärtigen Vertrages unter den im vorstehenden Absätze vorgesehenen Bedingungen abzulehnen.

Es bleibt den vertragschliessenden Teilen unbenommen, jederzeit zu vereinbaren, dass ein Streitfall unmittelbar durch das Gerichts- oder Schiedsverfahren geregelt werden soll, ohne dass vorher das Vergleichsverfahren durchgeführt würde.

Artikel 2.

Die Durchführung des Vergleichsverfahrens wird einer ständigen Vergleichskommission von drei Mitgliedern übertragen.

Die vertragsehliessenden Teile ernennen jeder für sich nach freier Wahl ein Mitglied und bezeichnen das dritte, das ohne weiteres in der ständigen Vergleichskommissi.on den Vorsitz führt, im gemeinsamen Einverständnisse. Der Vorsitzende soll nicht Angehöriger eines der vertragschliessenden Staaten sein, noch soll er auf ihrem Gebiete seinen Wohnsitz haben oder in ihrem Dienste stehen.

Die Kommission ist binnen sechs Monaten nach dem Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrages zu bilden.

Wenn die Ernennung des Vorsitzenden nicht innerhalb dieser sechsmonatigen Frist oder, im Falle des Rücktritts oder Ablebens, nicht binnen drei Monaten nach dem Freiwerden des Sitzes stattgefunden hat, so wird sie nötigenfalls auf Verlangen einer einzigen Partei durch den Präsideuten des Ständigen Internationalen Gerichtshofes oder, wenn dieser Angehöriger eines der vertragschliessenden Staaten ist, durch den Vizepräsidenten oder, wenn auch dieser sich im gleichen Falle befindet, durch das älteste Mitglied des Gerichtshofes vollzogen, das nicht Angehöriger eines der vertragschliessenden Staaten ist.

Die Mitglieder der Kommission werden für drei Jahre ernannt ; ihr Mandat gilt jedoch jeweils für einen weitern Zeitabschnitt von drei Jahren als erneuert, wenn sich
keine der Parteien der Erneuerung widersetzt.

Artikel 3.

Die vertragschliessenden Teile behalten sich vor, die Vergleichskommission in jedem einzelnen Falle durch zwei weitere Mitglieder zu

320 ergänzen, die im gemeinsamen Einverständnisse zu bezeiohen sind und bis zum Abschlüsse des Verfahrens der Kommission in der gleichen Eigenschaft angehören wie die schon bestellten.

Artikel 4.

Der Vergleichskommission liegt ob, die streitigen Fragen zu klären und in einem Berichte Vorschläge für die Beilegung der Streitigkeit zu machen, Die Anrufung der Kommission erfolgt durch ein dahin zielendes Begehren, das von einem der vertragschliessenden Teile an den Kommissionsvorsitzenden gerichtet wird. Die Partei, welche die Durchführung des Vergleichsverfahrens verlangt, wird der Gegenpartei diese ihre Absicht vorher zur Kenntnis bringen. Wenn innerhalb einer Frist von drei Monaten nach dieser Anzeige die Gegenpartei keine der Einreden des Artikels l, Absatz 2, des gegenwärtigen Vertrages erhoben hat, so kann der Streitfall rechtsgültig bei der Kommission anhängig gemacht werden, Artikel 5.

Die Vergleichskommission hat ihren Bericht innerhalb von sechs Monaten nach dem Tage zu erstatten, wo sie in einem Streitfall angerufen worden ist, es sei denn, dass die vertragschliessenden Teile diese Frist im gemeinsamen Einverständnisse verkürzen oder verlängern.

Jeder der Parteien wird eine Ausfertigung des Berichtes ausgehändigt.

Der Bericht hat weder in bezug auf den Tatbestand noch hinsichtlich der rechtlichen Erwägungen die Bedeutung eines Schiedsspruches.

Die Kommission hat die Frist festzusetzen, innerhalb deren sich die Parteien zu ihren. Vorschlägen zu äussern haben. Diese Frist darf indessen drei Monate nicht überschreiten.

Unter Vorbehalt entgegenstehender Verabredungen im gegenwärtigen Vertrage sind für das Vergleichsverfahren die Bestimmungen des dritten Titels des Haager Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle voin"l8. Oktober 1907 massgebend.

Artikel 6, Nimmt einer der vertragschliessenden Teile die Vorschläge der Vergleichskommission nicht an oder äussert er sich nicht binnen der im Berichte festgesetzten Frist, so kann jeder von ihnen verlangen, dass der Streitfall durch eine Schiedsordnung dem Ständigen Internationalen Gerichtshof unterbreitet werde.

321 Artikel 7.

Die vertragschliessenden Teile behalten sich vor, im gemeinsamen Einverständnisse den Streitfall durch eine Schiedsordnung vor ein Schieds-> gericht zu bringen, das unter den Auspizien des Ständigen Schiedshofes tagt.

Kann das Schiedsgericht innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten, nachdem die Parteien Übereingekommen sind, den Streitfall vor ein Schiedsgericht zu bringen, durch Einigung zwischen ihnen nicht gebildet werden, so soll sich das Schiedsgericht aus fünf Schiedsrichtern zusammensetzen, die der Liste der Mitglieder des Ständigen Schiedshofes im Haag zu entnehmen sind. Jede Partei ernennt einen Schiedsrichter nach freier Wahl ; die drei andern und unter diesen den Obmann bezeichnen die Parteien gemeinsam. Diese drei Schiedsrichter dürfen weder Angehörige der vertragschliessenden Staaten sein noch auf deren Gebiet ihren Wohnsitz haben oder in deren Dienste stehen. Hat die Ernennung der gemeinsam zu bezeichnenden Schiedsrichter oder die Bezeichnung des Obmannes binnen drei Monaten, nachdem die Parteien übereingekommen sind, den Streitfall vor ein Schiedsgericht zu bringen, nicht stattgefunden, so werden die Ernennungen gemäss Artikel 45 des Haager Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfalle vom 18, Oktober 1907 vorgenommen.

Unter Vorbehalt entgegenstehender Verabredungen im gegenwärtigen Vertrage sind für das Schiedsverfahren die Bestimmungen des dritten Kapitels des Haager Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle vom 18. Oktober 1907 massgebend.

Artikel 8.

Die Schiedsordnung, von der die Artikel 6 und 7 sprechen,, wird durch den Notenaustausch zwischen den beiden Regierungen festgesetzt.

Kommt sie nicht binnen drei Monaten zustande, nachdem eine Partei der andern ihre Absicht mitgeteilt hat, das Gerichtsverfahren einzuschlagen^ oder nachdem die beiden Parteien übereingekommen sind, den Streitfall vor ein Schiedsgericht zu bringen, so fällt der Ständige Internationale Gerichtshof oder das Schiedsgericht das Urteil auf Grund der Parteibegehren.

Artikel 9.

Während der Dauer des Vergleichs-, Gerichts- oder Schiedsverfahrens enthalten sich die vertragschliessenden Parteien jeglicher ·Massnahnie, die eine nachteilige Rückwirkung auf die Annahme der Vorschläge der Vergleichskommission oder auf die Erfüllung des Urteils des Ständigen Internationalen Gerichtshofes oder des Spruches des Schiedsgerichts haben könnte.

322

Artikel 10.

Etwaige Anstände über die Erfüllung eines Gerichtsurteils oder Schiedsspruches oder, unter Vorbehalt der Bestimmungen des zweiten und dritten Absatzes des Artikels l über die Auslegung des gegenwärtigen Vertrages, können auf Begehren einer einzigen Partei dem Ständigen Internationalen Gerichtshof unterbreitet werden.

Artikel 11.

Die Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrages finden keine Anwendung auf Streitigkeiten, die vor dem Austausche der Ratifikationsurkunden etwa entstehen sollten, auch wenn sie mit den derzeitigen Verträgen zwischen den beiden vertragschliessenden Teilen im Zusammenhange stehen. Es herrscht indessen Einverständnis darüber, dass die Streitigkeiten aus diesen Verträgen vom Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrages an den in ihm vorgesehenen Bestimmungen unterworfen sein sollen.

Artikel 12.

Der gegenwärtige Vertrag soll ratifiziert werden. Die Ratiflkations Urkunden sollen sobald als möglich in Bern ausgetauscht werden. ( Der Vertrag gilt für die Dauer von fünf Jahren vom Austausche der Ratifikationsurkunden an. Wird er nicht sechs Monate vor Ablauf dieser Frist gekündigt, so bleibt er weiter in Kraft bis zum Ablauf einer Frist von sechs Monaten vom Tage an, wo eine Partei der andern ihre Absicht kund gibt, der Wirkung des Vertrages ein Ende zu setzen.

Zu Urkund dessen haben die eingangs genannten Bevollmächtigten den gegenwärtigen Vertrag in doppelter Urschrift unterzeichnet und ihm ihr Siegel beigedrückt.

Ausgefertigt in Angora, am neunten Dezember eintausendneunhundertundachtundzwanzig.

(gez.) Henri Martin.

(gez.) A. Chevki.

(gez.) Veli.

--ÈS«-

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