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Bundesratsbeschluss über

den Rekurs des E. Steinbuch in Näfels (Glarus), als Vormund des Karl Arnold Boßhard, minderjährigen Sohnes des Arnold Boßhard sei., von Hottingen (Zürich), betreffend Niederlassungsrecht.

(Vom 24. Januar 1893.)

Der schweizerische Bundesrat hat über den Rekurs des E. S t e i n b u c h in Näfels (Glarus), als Vormund des Karl Arnold Boßhard, minderjährigen Sohnes des Arnold Boßhard sei., von Hottingen (Zürich), betreffend Niederlassungsrecht, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements folgenden Beschluß gefaßt: A.

I n t h a t s ä c h l i c h e r B e z i e h u n g w i r d festgestellt: I.

Der Inhaber der Firma Boßhard & Cie. in Näfels, Herr Arnold Boßhard aus Hottingen (Zürich), wohnte von 1869 bis ins Jahr 1888 mit seiner Familie in Mollis (Glarus). Vor 31/2 Jahren verlegte er seine Wohnung in das Gebiet der Gemeinde Näfels. Bald darauf starb Herr Arnold Boßhard, mit Hinterlassung seiner Gattin und dreier Söhne. Diesen letztern wurde Herr E. Steinbuch in Näfels als Vormund bestellt ; dieselben setzten trotz des Wohnungswechsels ihren Schulbesuch in dem nur einige Minuten vonNäfelss entfernten Mollis fort. Gegenwärtig steht nur noch der jüngste Sohn Karl Arnold im schulpflichtigen Alter; er wird im Frühjahr 1894 der Schulpflicht entwachsen sein.

212 Der Schulrat von Mollis war mit dem Schulbesuche der Knaben Boßhard in dieser Gemeinde einverstanden.

II.

Das von der Landsgemeinde des Kantons Glarus am 11. Mai 1873 erlassene Gesetz über das Schulwesen enthält in § l folgende Bestimmung betreffend die Schulpflicht: ,,§ 1. Die Kinder aller Bewohner des Kantons Glarus sind pflichtig, während wenigstens sieben vollen Jahren die Alltagsschule und sodann während wenigstens zwei Jahren die Repetierschule zu besuchen."

Durch Beschluß vom 28. September 1892 hat der Landrat des Kantons G-larus den angeführten § des Schulgesetzes dahin interpretiert, daß seitens der schulpflichtigen Kinder die Primarschule der Wohngemeinde besucht werden müsse. Dabei bleibe dem Regierungsrate vorbehalten, bei besonderen Verhältnissen, speciell hinsichtlich örtlicher Lage der Wohnung eines Schulgenossen, den Besuch einer andern Schule als derjenigen der Ortsgemeinde zu gestatten.

In Ausführung dieses landrätlichen Beschlusses erließ der Regierungsrat von Glarus an sämtliche Schulräte des Kantons ein Kreisschreiben, in welchem er ihnen denselben zur Kenntnisnahme und Folgegebung mitteilte. An den Schulrat von Mollis schrieb der Regierungsrat speciell was folgt:

,,Tit.

,,Ihnen durch beiliegendes Cirkular an sämtliche Schulräte von einem Beschlüsse des Landrates Kenntnis gebend, der durch den bekannten Specialfall der Kinder Boßhard in Näfels herbeigeführt worden ist, erlauben wir uns, Sie gleichzeitig darauf aufmerksam zu machen, daß es nun nicht länger angehen kann, den Besuch der dortigen Primarschule seitens der Kinder Boßhard zu dulden, da das vom Landrate aufgestellte Kriterium für ausnahmsweise Bewilligung des Besuches einer andern Schule als derjenigen der Wohngemeinde in diesem Falle nicht vorhanden ist. Das Kind Boßhard wird demnach inskünftig die Primarschule von Näfels zu besuchen haben."

III.

Angesichts des landrätlichen Beschlusses vom 28. September 1892 wirkte der Vormund, Herr E. Steinbuch, für seinen Mündel Karl Arnold Boßhard, im Einverständnisse mit dessen Mutter,

213 Witwe Boßhard, in der Gemeinde Mollis unterm 27. Oktober eine Aufenthaltsbewilligung aus und ließ ihn bei Witwd Marie KammGerig in Mollis Wohnung nehmen. Dies geschah, um, wie die Rekursschfift an den Bundesrat sagt, dem Beschlüsse des Landrates gerecht zu werden und um den Knaben Karl Arnold Boßhard nicht mitten aus dem Schulkurse und aus dem gewohnten Lehrgange weg, zu seinem offenbaren Nachteil, in ganz andere Verhältnisse versetzen zu müssen.

Das Waisenamt Näfels, die erstinstanzliche Vormundschaftsbehörde, hat sich mit der Frage des Wohnsitzes des Knaben Boßhard niemals befasst.

Der Regierungsrat des Kantons Glarus aber erkannte durch Schlußnahme vom 17. November 1892, die dem Knaben Boßhard erteilte Aufenthaltsbewilligung werde als unzulässig aufgehoben und das Polizeiamt Mollis beauftragt, dieselbe zurückzuziehen; der Schulrat Mollis habe den Besuch der Alltagsschule Mollis seitens des genannten Knaben sofort zu untersagen.

IV.

Gegen diese Verfügungen des Regierungsrates erhob mit Schriftsatz vom 25. November 1892 Herr Advokat 'R. Gallati in Glarus, Namens des Herrn E. Steinbuch in Näfels, als Vormund von Karl Arnold Boßhard von Hottingen (Zürich), Beschwerde beim Bundesrate, wobei er folgende Rechtsbegehren stellte: ,,I. Der h. Bundesrat wolle die Verfügung dfes Regierungsrates des Kantons Glarus vom 17. November 1892, wonach dem Karl Arnold Boßhard von Hottingen (Zürich) der Aufenthalt in Mollis nicht gestattet wird, aufheben und den ers;eren verhalten, dem letztern die Aufenthaltsbewilligung in Mollis zu erteilen.

,,II. Der h. Bundesrat wolle besehließen, die Verfügungen des Regierungsrates des Kantons Glarus seien für so lange nicht zu vollziehen, bis über die sub Ziffer I bezeichnete Frage entschieden sein wird."

In einer zweiten Eingabe vom 18. Dezember 1892 formuliert der Eekurskläger das Begehren bezüglich des Aufenthaltes des Knaben Boßhard in Mollis dahin : Es möge der Regierungsrat des Kantons Glarus verhalten werden, ,, d e m K a r l A r n o l d B o ß h a r d mit R ü c k s i c h t auf den für denselben beim Polizeiamt Mollis deponierten Heimatschein die f ö r m l i c h e N i e d e r l a s s u n g in M o l l i s zu bewilligen"1.

Der Rekurrent begründet seine Begehren mit dem Hinweis auf Art. 45 der Bundesverfassung, welcher jedem Schweizerbürger,

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ohne Ausnahme, der einen Heimatschein oder eine andere gleichbedeutende Ausweisschrift besitzt, das Recht der freien Niederlassung an jedem Orte innerhalb des schweizerischen Gebietes gewährleistet.

V.

Die Regierung des Kantons Glarus dagegen stellt zur rechtlichen Begründung ihres Standpunktes folgende Sätze auf: Die Bewilligung von Niederlassung und Aufenthalt ist innerhalb verfassungsmäßiger und gesetzlicher Schranken Sache der Kantone.

Verfassungsgemäß ist nun der Regierungsrat Oberaufsichtsbehörde über das kantonale Schulwesen (Art. 18 und Art. 52, Ziffer 6, der Kantonsvert'assung) und es steht ihm auch der Vollzug des Art. 74 der Kantonsverfassung'") zu.

Die kantonalen Behörden sind offenbar befugt, das Domizil der Minderjährigen zu bestimmen.

Im Specialfalle handelt es sich um Anwendung der verfassungsund gesetzmäßigen Bestimmungen des Kantons Glarus über den Schulbesuch.

Der Regierungsrat hat, im Anschlüsse an die bundesrechtliche Praxis, welche als Domizil der Minderjährigen ausschließlich nur dasjenige der Eltern anerkennt (vergi, ßundesbl. 1878,- II, 486; 1884, II, 738; 1892, II, 460), gefunden, daß in concreto keinerlei Ausnahmegründe vorliegen, sei es ethischer, sei es erzieherischer Natur, die ein Specialdomizil des Knaben Boßhard rechtfertigen würden; er kann deshalb nicht zu einer Umgehung von Verfassungs- und Gesetzesvorschriften, die hier bezweckt wird, Hand bieten.

Nicht in der Begründung seiner Schlußnahme vom 17. November, wohl aber in schriftlichen Eingaben an den Bundesrat vom 15. Dezember 1892 und 5. Januar 1893 bemerkt der Regierungsrat was folgt: Auch als kantonale Obervormundschaftsbehörde hat die Regierung des Kantons Glarus das positive Recht, über den Schul*) Art. 74 der Glarner Verfassung lautet: ,,Die Schulgemeinde besteht aus sämtlichen, innerhalb der Gemeinde wohnenden stimmberechtigten Schulgenossen, einschließlich der dem betreffenden Schulkreise zugeschiedenen stimmfähigen Kantons- und Schweizerbürger (Art. 22).

,,Sie beschließt, innerhalb der gesetzlichen Schranken, über die Schulangelegenheiten ihres Kreises, hat die Aufsicht über die Verwaltung des Schulvermögens und trifft die ihr durch das Gesetz zustehenden Wahlen."

215 besuch und den Aufenthalt des Knaben Boßhard maßgebende Verfügungen zu.treffen. Solange der Knabe unter glarnerischer Vormundschaft steht, hat dessen Vormund der Weisung der Obervormundschaftsbehörde, welche eine Verlegung des Domizils in die Gemeinde Mollis und den Schulbesuch in jener Gemeinde nicht gestattet, unbedingt Folge zu leisten.

Die rekurrierte Verfügung ist vom Regierungsrate nicht ohne Vorverfahren getroffen worden ; verschiedene Verhandlungen der Behörden von Näfels und Mollis sind vorausgegangen. Der Mutter Boßhard und dem Vormund Steinbuch sind zu wiederholten Malen regierungsrätliehe Beschlüsse und Weisungen zugegangen; endlich sah sich der Regierungsrat durch die Renitenz der Mutter und des Vormundes und infolge des Landratsbeschlusses vorn 28. September 1892 genötigt, die Maßregel zu ergreifen, die den Gegenstand des Rekurses bildet.

Der Regierungsrat erklärt übrigens, daß der Knabe Boßhard nur formell in Mollis Aufenthalt genommen habe, indem derselbe mittags und abends und überhaupt außerhalb der ganzen Schulzeit sich meist wieder im elterlichen Hause, in der von Mollis fünf Minuten entfernten, nur durch die Linth getrennten, Nachbargemeinde Näfels befinde.

VI.

Dem gegenüber hält die Rekurrentschaft an dem Satze fest, daß die Schranken, welche Art. 45 der Bundesverfassung gegen die Anwendung des Grundsatzes der freien Niederlassung wirklieh enthält, im vorliegenden Falle nicht zutreffen.

Sie führt im weitern aus: Die Stellung der Mutter, des Vormundes und der Vormundschaftsbehörde mit Bezug auf die Erziehung von Kindern, deren Vater verstorben ist, wird nicht in der Verfassung des Kantons Glarus, wohl aber im bürgerlichen Gesetzbuche dieses Kantons geregelt (vergi. §§ 185, 215, 222, 223 und 229 desselben). Es ergiebt sich aus den einschlägigen Bestimmungen, daß vor allem aus die Mutter und sie allein ssur Erziehung der Kinder berechtigt ist und daß der Vormund sie darin nur zu unterstützen hat. Dem Regierungsrate als Obervormundschaftsbehörde kommt es höchstens zu, über Streitfragen, die zwischen der Mutter und dem Vormunde entstanden sind, und hinsichtlich deren die erste Instanz, das Waisenamt, bereits einen Beschluß gefaßt hat, den Oberentscheid zu treffen.

In betreff der Interpretation des § l des Schulgesetzes durch den Landratsbeschluß vom 28. September 1892 wird von der Re-

216 kurrentschaft behauptet, daß sie in verfassungswidriger Weise erfolgt sei, indem nach Art. 35, Ziff. 2, der Kantonsverfassung die gesamte Gesetzgebung in die Befugnisse der Landsgemeinde fällt und nach Art. 44, Ziff. 2, derselben Verfassung wohl der Erlaß von Verordnungen zur Vollziehung von Gesetzen, nicht aber die Interpretation der Gesetze dem Landrate zukommt.

VII.

Der Behauptung, es sei der Landratsbeschluß vom 28. September 1892 ein verfassungswidriger, widerspricht der Regierungsrat in entschiedenster Weise. ,,Es handelte sich dabei nicht um Gesetzgebung im Sinne von Art. 35 der Verfassung, sondern einfach um Vollzug des 1873er Schulgesetzes und der damit in Verbindung stehenden Funktionen der Obervormundschaftsbehörde. Die Landsgemeinde wäre nach Art. 35, Schlußsatz, der Kantonsverfassuug niemals befugt, über die fraglichen Beschlüsse des Regieruogsrates uud des Landrates einzutreten."

VIII.

Vom Bundesrate, auf Grund provisorischer Verfügung vom 6. Dezember 1892, eingeladen, den Vollzug ihrer Schlußnahme vom .17. November bis zum Entscheid der Bundesbehörde zu suspendieren, hat die Regierung des Kantons Glarus diese Suspension angeordnet.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt'in Betracht: 1. Dem Bundesrate steht die Kompetenz zu materieller Beschlußfassung in dieser Rekurssache nur insoweit zu, als die Beschwerde sieh auf eine der in Art. 59, Ziffer l bis 8, des Organisationsgesetzes über die Bundesrechtspflege aufgezählten Bestimmungen der Bundesverfassung bezieht.

Der materiellen Prüfung des Bundesrates entzieht sich dagegen auch hier die Auslegung und Anwendung der kantonalen Verfassungsund Gesetzesbestimmungen durch die Kantonsbehörden, es wäre denn, daß gerade bei dieser Anwendung des kantonalen Rechtes eine bundesrechtliche Vorschrift, deren Schutz dem Bundesrate übertrafen ist,) verletzt worden ist.

O 2. Nach dem vorliegenden Thatbestande kann nur die Beobachtung der Artikel 27 und 45 der Bundesverfassung in Frage liegen. Beide Artikel enthalten Bestimmungen, deren Schutz dem Buhdesrate anvertraut ist.

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a. Den Vorschriften des Art. 27 der Bundesverfassung wird offenbar in casu von keiner Seite und in keinerlei Weise entgegengehandelt.

Die Parteien sind darüber einig, daß sowohl in der öffentlichen Alltagsschule der Gemeinde Mollis als in derjenigen der Gemeinde Näfels ein unter staatlicher Leitung stehender genügender Primarunterricht erteilt wird, der obligatorisch und unentgeltlich ist und von den Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden kann.

Streit herrscht nur darüber, ob es dem Knaben Karl Arnold Boßhard, dessen Mutter und Vormund in der Gemeinde Näfels wohnen, gestattet sei, die Alltagsschule der Gemeinde Mollis zu besuchen.

Es verstößt auch, was einer weitern Begründung nicht bedarf, der Beschluß des Landrates von Glarus vom 28. September 1892, dahingehend, daß zufolge § l des kantonalen Schulgesetzes seitens der schulpflichtigen Kinder die Schule der Wohngemeinde besucht werden müsse, nicht gegen irgend eine das Schulwesen der Kantone berührende bundesrechtliche Vorschrift. Grundsätzlich sind die Parteien auch darüber einig, daß die Schule vom Knaben Boßhard in dessen Wohngemeinde zu besuchen ist, wenn auch von der Rekurrentschaft die nicht der Kognition des Bundesrates unterliegende Frage aufgeworfen wird, ob der Interpretationsbeschluß des Glarner Landrates vom 28. September 1892 betreffend § l des Schulgesetzes auf verfassungsmäßiger Grundlage gefaßt sei. Denn die Parteien gehen im Grunde nur in der Frage auseinander, w e l c h e s die wirkliche gesetzmäßige Wohnge'meinde des Knaben B o ß h a r d sei. Für die Beurteilung dieser Frage ist das in der Bundesverfassung (Art. 45) gewährleistete Niederlassungsrecht von wesentlicher Bedeutung.

b. Art. 45 der Bundesverfassung anerkennt die Freiheit der Niederlassung an jedem Orte im ganzen Umfange dir Eidgenossenschaft als ein Grundrecht j e d e s Schweizerbürgers und regelt die Bedingungen für den Erwerb und den Entzug der Niederlassung.

Nach feststehender Bundespraxis haben diese Bedingungen einen individualrechtlichen Charakter. Es wird aber :iur denjenigen Bürgern bundesrechtlich ein unbeschränkter Anspruch auf das Recht der freien Niederlassung zuerkannt, welchen nach civilrechtlichen Grundsätzen in Bezug auf die Wahl ihres Wohnsitzes die freie Willensbestimmung
zukommt. Diese letztere eignei; weder den in ungeschiedener Ehe lebenden Ehefrauen, noch den unter elterlicher Gewalt lebenden Kindern oder den unter Vormundschaft stehenden Mündeln. (Vgl. v. Salis, Buodesrecht, II, Nr. 358 und Nr. 435.)

218 In Anwendung dieser bundesrechtlichen Sätze ist in der Praxis wiederholt nur gegen ein Familienglied, ohne Einbeziehung der andern, ja auch nur gegen e i n e n Ehegatten die Ausweisung verfügt worden ; immerhin wurde in diesen Fällen strenge darauf gehalten, daß für ein solches Vorgehen vollkommen genügende Gründe vorhanden seien. (Vgl. v. Salis, II. Nr. 436.) Wo aber solche Gründe nicht vorlagen, wo also kein staatliches Interesse mit der civilrechtlichen Stellung der Ehefrau oder der Hauskinder im Widerstreite stand, haben die Bundesbehörden regelmäßig die Ehefrauen mit den Männern, die minderjährigen Kinder mit ihren Eltern ausgewiesen.

Die Regierung des Kantons Glarus bezieht sich in der Begründung ihrer Schlußnahme vom 17. November 1892 auf zwei einschlägige Fälle der bundesrechtlichen Praxis, die im Bundesblatte 1884 und 1892 veröffentlicht worden sind. Allein sie übersieht, daß in diesen Fällen die Ausweisung der minderjährigen Kinder mit, ihren Eltern von der Bundesbehörde nicht beanstandet wurde, weil staatsrechtlich kein Grund vorlag, der Regel des Civilrechts entgegenzutreten. Die Ü b er or d n ung der staatsrechtlichen Grundsätze über civilrechtliche Regeln wurde aber von jeher in der Bundespraxis betont und geltend gemacht. Als sich ein luzernischer Ehemann über die Wegweisung seiner wegen Diebstahls strafgerichtlich verurteilten Frau aus der Stadt Luzern unter Hinweis auf § 46 des bürgerlichen Gesetzbuches des Kantons Luzern beschwerte, nach welcher Gesetzesstelle die Frau verpflichtet sei, dem Manne in seinen Wohnsitz zu folgen, schützte der Bundesrat durch Beschluß vom 13: November 1876 die von der Kantonsregierung bestätigte Verfügung "des Stadtrates von Luzern. mit folgender Begründung: ,,1. Die Stellung einer Ehefrau in Niederlassungsverhältnissen unterscheidet sich nur insofern von derjenigen des Mannes, als sie aus civilrechtlichen Gründen gehindert ist, einen Wohnsitz gegen den Willen des Mannes zu wählen.

,,2. Dagegen steht die Frau in Bezug auf die Entziehung der Niederlassung unter demselben Rechte wie der M a n n , d. h. sie kann von einer Behörde weggewiesen werden, sobald ein verfassungsmäßiger Grund dazu vorliegt, obgleich eine Wegweisung des Mannes nicht stattfindet. Die civilrechtliche Pflicht der Ehefrau, dem Ehemanne zu folgen, ist den staatlichen (politischen
und strafrechtlichen) Interessen untergeordnet (vergl, v. Salis, II, Nr. 434)."

Den gleichen individualrechtlichen Charakter haben die Bedingungen des Bundesrechts betreffend den E r w e r b der Niederlassung Allein in dieser Richtung weist die Bundespraxis keine

219 Kollisionsfälle zwischen Bundesstaatsrecht und Civilrecht auf, weil die Bundesbehörden, wie bereits oben erwähnt, den civilrechtlich unselbständigen Personen das Recht nicht zuerkannt haben, ihren Wohnsitz frei zu wählen, d. h. die Niederlassung selbständig für sich zu erwerben. Dagegen haben die Bundesbehörden niemals erkannt, und es konnte auch von der Glarner Regierung kein .bezüglicher Vorgang citiert werden, daß nicht eine Ehefrau kraft des Willens ihres Mannes, ein Hauskind nach der Weisung seiner Eltern, ein Mündel zufolge der Verfügung des Inhabers der vormundschaftliehen Gewalt die Niederlassung an einem Orte erwerben könne, wenn die den Bewerber civilrechtlich vertretende Person mit Hinterlegung des verfassungsgemäß erforderlichen Ausweispapiers das bezügliche Begehren stellt. Vielmehr wurde in positiver Weise der gegenteilige Grundsatz anerkannt (vergi, v. Salis, II, Nr. 359).

Es ,ist daher einer irrtümlichen Auffassung des durch die Bundesverfassung gewährleisteten individuellen Rechtes der freien Niederlassung zuzuschreiben, wenn der Regierungsrat des Kantons Glarus die Ansicht ausspricht, die kantonalen Behörden seien ,,offenbar kompetent, das Domizil der Minorennen zu fixieren", und wenn er die Ausübung dieses gemeinschweizerischen Individualrechts abhängig sein läßt von kantonalen Gesetzen, wie das Schulgesetz des Kantons Glarus vom 11. Mai 1873.

Auf das Verhältnis des Schulwesens und der kantonalen Schulgesetzgebung zum schweizerischen Niederlassungsrecht wirft der von der Glarner Regierung in erster Linie zur Unterstützung ihres Standpunktes angerufene Bundesratsbeschluß vom 23. Oktober 1877 (siehe Bundesbl. 1878, II, 486; v. Salis, II, Nr. 356) allerdings ein scharfes Licht; allein dieses Verhältnis stellt sich in einem der Anschauung des Regierungsrates von Glarus entgegengesetzten Sinne dar. Der Thatbestand des Falles war folgender : Die Bezirksgemeinde von Uri wollte, um, wie angegeben wurde, der Forderung des Art. 27 der Bundesverfassung betreffend den Primarunterricht der Kinder der auf dem Urnerboden wohnenden Familien besser genügen zu können, in Anwendung einer Bestimmung des Urner Land bûches denselben den Aufenthalt auf dem Urnerboden nur bis Weihnachten gestatten. Die betreffenden Familien beschwerten sich dagegen beim Bundesrate unter Berufung auf Art. 45 der
Bundesverfassung. Der Bundesrat stellte bei Erledigung der Beschwerde u. a. den Satz Huf, daß Art. 27 der Bundesverfassung ,,nicht die Tragweite haben könne, specielle Grundrechte der Schweizerbürger, wie dasjenige der freien Niederlassung an jedem Orte (Art. 45 der Bundesverfassung), aufzuheben oder zu schmälern, zumal den urnerischen Schulbehörden andere und ausreichendere Zwangsmittel zu Gebote

220 stehen, den regelmäßigen Schulbesuch der schulpflichtigen Kinder auf dem Urnerboden zu sichern*.

Es bestand eben da, wo die Kinder wohnten, auf dem Urnerboden, keine Schule; sie mußten dieselbe anderwärts besuchen und thaten dies offenbar sehr nachlässig; trotzdem wurde das Niederlassungsrecht jener Familien bundesrechtlich geschützt und wurden die Kantonsbehörden bloß auf die Anwendung gesetzlicher Zwangsmittel zur Sicherung des Schulbesuches verwiesen.

Im gegenwärtigen Rekursfalle kann davon nicht die Rede sein, daß die Ausübung des Rechts der freien Niederlassung der verfassungsmäßigen Pflicht des Schulbesuches irgend welchen Nachteil bringe, denn in Mollis wie in Näfels besteht eine richtige Alltagsschule; der schulpflichtige Knabe, um den es sich handelt, besucht diejenige von Mollis regelmäßig, und es fragt sich bloß, ob die Kantonsbehörde befugt sei, ihm die Niederlassung in Mollis zu verweigern, um ihn zu zwingen, in Näfels in die Schule zu gehen.

Aus den vorhergehenden Ausführungen ergiebt sich die Unzulässigkeit einer solchen Beschränkung, bezw. Aufhebung des Niederlassungsrechts.

3. Der vorliegende Rekurs ist gegen die regierungsrätliche Schlußnahme vom 17. November 1892 gerichtet, welche die vom Polizeiamt Mollis für den Knaben Karl Arnold Boßhard erteilte Aufenthaltsbewilligung vom 27. Oktober 1892 aufhebt, bezw. dem Knaben die von seinem Vormund zum Zwecke der gesetzlichen Regelung des Wohnsitzes in Mollis anbegehrte Niederlassung in dieser Gemeinde verweigert, gestützt darauf, daß der Regierungsrat als Aufsichtsbehörde über das kantonale Schulwesen offenbar kompetent sei, das Domiail minderjähriger schulpflichtiger Kinder zu bestimmen. Als Rechtsfolge aus diesem Vordersatz ergiebt sich dem Glarner Regierungsrate gegenüber dem Knaben Boßhard die Untersagung des Schulbesuches in Mollis.

Die Frage, ob der Knabe Boßhard seinen Wohnsitz thatsächlich in die Gemeinde Mollis verlegt habe, ist vom Regierungsrale bei seiner Schlußnahme nicht in Betracht gezogen, soudera erst seither, in Eingaben an den Bundesrat, gestreift worden. Auch der Bundesrat befaßt sich hier nicht mit diesem Punkte und dessen allfälliger rechtlicher Bedeutung, indem die Kanlonsbehörde nicht in einem Zeitraum von ungefähr zwei Wochen (Anfang bis Mitte November 1892) hinreichende Anhaltspunkte zu abschließender
richtiger Beurteilung dieser Thatfrage zu sammeln in der Lage war.

Der Standpunkt, auf welchen sich der Regierungsrat gestellt hat, ist ein r e c h t s i r r t ü m l i c h e r und kann, angesichts der Be-

221 Stimmungen des Art. 45 der Bundesverfassung, wie dargethan wurde, nicht festgehalten werden. Hiervon hat der Bundesrat bei seinem Entscheid auszugehen.

Wenn die Behörden des Kantons Glarus, wie die Regierung in ihren Rechtsschriften teils andeutet, teils ausführt, auf dem Boden des kantonalen Rechts für den Ausschluß des Knaben Boßhard von der Alltagsschule in Mollis noch anderweitige Gründe geltend zu machen in der Lage sind, welche dem Bundesrechte nicht widerstreiten, oder die einer Nachprüfung des Bundesrates nicht unterliegen, weil sie keinerlei seinem Schutze unterstellte Grundsätze des Bundesrechts berühren, wie z. B. Bestimmungen des innerkantonalen Vormundschaftsrechtes, so wird in dieser Richtung einer etwaigen von der zuständigen Kantonsbehörde ausgehenden weitern Schlußnahme über die vorwürfige Angelegenheit durch den gegenwärtigen Entscheid nicht vorgegriffen.

Demnach

wird beschlösse a:

1. Der Rekurs ist begründet.

Infolgedessen wird die Regierung des Kantons Glarus eingeladen, auf ihre Schlußnahme vom 17. November 1892 zurückzukommen.

2. Die Behörden des Kantons Glarus sind nicht berechtigt, auf Gr.und des kantonalen Schulgesetzes oder des kantonalen Niederlassungsgesetzes ein vom rechtmäßigen vorinundschafilichen Vertreter des Knaben Karl Arnold Boßhard von Hottingen für denselben gestelltes Begehren um Bewilligung der Niederlassung in der Gemeinde Mollis abschlägig zu bescheiden.

3. Dieser Beschluß ist der hohen Regierung des Kantons Glarus, sowie -- unter Aktenrückschluß -- dem Advokaten Rud. Gallati in Glarus zu Händen seines Kommittenten E. Steiabuch in Näfels mitzuteilen.

B e r n , den 24. Januar 1893.

Ini Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft:.

Ringier.

Bundesblatt. 45. Jahrg. Bd. J.

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Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bundesratsbeschluss über den Rekurs des E. Steinbuch in Näfels (Glarus), als Vormund des Karl Arnold Boßhard, minderjährigen Sohnes des Arnold Boßhard sel., von Hottingen (Zürich), betreffend Niederlassungsrecht. (Vom 24. Januar 1893.)

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01.02.1893

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211-221

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