01.026 Botschaft über die Gewährleistung der Verfassung des Kantons Neuenburg vom 11. April 2001

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen hiermit den Entwurf zu einem einfachen Bundesbeschluss über die Gewährleistung der Verfassung des Kantons Neuenburg mit dem Antrag auf Zustimmung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

11. April 2001

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates

11404

Der Bundespräsident: Moritz Leuenberger Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2001-0586

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Übersicht Nach Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung gibt sich jeder Kanton eine demokratische Verfassung. Diese bedarf der Zustimmung des Volkes und muss revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt. Nach Absatz 2 des gleichen Artikels bedürfen die Kantonsverfassungen der Gewährleistung des Bundes. Diese wird erteilt, wenn die Kantonsverfassung dem Bundesrecht nicht widerspricht. Erfüllt eine kantonale Verfassung diese Anforderungen, so ist die Gewährleistung zu erteilen; erfüllt eine kantonale Verfassungsnorm eine dieser Voraussetzungen nicht, so ist die Gewährleistung zu verweigern.

Die Stimmberechtigten des Kantons Neuenburg haben in der Volksabstimmung vom 24. September 2000 die total revidierte Kantonsverfassung angenommen. Die neue Verfassung präsentiert sich sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht als ein neuzeitliches Grundgesetz. Neben einer klaren systematischen Gliederung und einer der heutigen Zeit angepassten sprachlichen Formulierung enthält die neue Verfassung auch materielle Neuerungen. Eine der wichtigsten ist die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Ausländerinnen und Ausländer, die über eine Niederlassungsbewilligung verfügen und seit mindestens fünf Jahren im Kanton wohnen. Die neue Verfassung enthält ausserdem neben Sozialzielen und sozialen Aufgaben, deren Verwirklichung dem Kanton und den Gemeinden obliegt, einen sehr detaillierten Grundrechtskatalog.

Die Prüfung hat ergeben, dass sämtliche Verfassungsartikel die Voraussetzungen für die Gewährleistung erfüllen. Es wird daher im Einzelnen lediglich auf Bestimmungen eingegangen, die in einem direkten Verhältnis zu bundesrechtlich geregelten Materien stehen.

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Botschaft 1

Geschichtlicher Werdegang der Totalrevision

In der Volksabstimmung vom 10. März 1996 beschlossen die Stimmberechtigten des Kantons Neuenburg, ihre Verfassung vom 21. November 1858 einer Totalrevision zu unterziehen. Sie beauftragten mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung den Grossen Rat und lehnten es damit ab, einen Verfassungsrat einzusetzen. Der Grosse Rat setzte am 27. März 1996 eine Kommission mit 25 Mitgliedern ein. In 22 Arbeitssitzungen zwischen Mai 1996 und Juni 1998 erarbeitete die Kommission einen Vorentwurf einer neuen Verfassung und legte dazu einen ausführlichen erläuternden Bericht vor. Dieser Vorentwurf wurde dem Grossen Rat im Juni 1998 unterbreitet und bis Ende Dezember desselben Jahres in ein Vernehmlassungsverfahren geschickt. Der Text der neuen Verfassung wurde vom Grossen Rat am 25. April 2000 mit 98 Stimmen oppositionslos gutgeheissen und von den Stimmberechtigten am 24. September 2000 mit 30 513 Ja gegen 9327 Nein angenommen.

Mit Schreiben vom 29. November 2000 ersucht der Staatsrat des Kantons Neuenburg um die eidgenössische Gewährleistung.

2

Aufbau und Inhalt der Verfassung

Mit der neuen Verfassung wurde angestrebt, die Ziele eines modernen Staates darzustellen und die Beziehungen des Staates zu den Bürgerinnen und Bürgern neu festzulegen. Den Bedürfnissen und Problemen einer Gesellschaft an der Schwelle eines neuen Jahrtausends angepasst, legt die neue Verfassung in systematisch eindeutiger Weise und in klaren und allgemein verständlichen Formulierungen die Ziele und Aufgaben des Staates, die Grundrechte und die Organisation des Staates fest. Im Vergleich zur Verfassung von 1858 stellt die neue Verfassung nicht nur eine formale Verbesserung dar, sondern weist auch eine Reihe von Neuerungen und Klärungen auf, deren wichtigste wie folgt zusammengefasst werden können: ­

Das Stimm- und Wahlrecht in kantonalen Angelegenheiten steht (unter Vorbehalt des passiven Wahlrechts) neu den Ausländerinnen und Ausländern zu, die über eine Niederlassungsbewilligung verfügen und seit mindestens fünf Jahren im Kanton wohnen.

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In der neuen Verfassung wird die Volksmotion verankert, die es einer Mindestzahl von 100 Stimmberechtigten ermöglicht, dem Grossen Rat Vorschläge zu unterbreiten, welche dieser zu prüfen hat.

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Über einen Beschluss des Grossen Rates können künftig bereits 4500 (und nicht wie bisher 6000) Stimmberechtigte eine Volksabstimmung verlangen (fakultatives Referendum); hingegen wird das obligatorische Finanzreferendum für Ausgaben, die einen bestimmten Betrag überschreiten, aufgehoben.

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Dem Gesetzgeber wird die Kompetenz erteilt, für die Mitglieder des Grossen Rates, die an einer Sitzung verhindert sind, eine Stellvertretung vorzusehen.

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Um eine Reorganisation des Kantonsgebiets auf dem Gesetzgebungsweg zu erleichtern, werden Anzahl und Bezeichnung der Bezirke in der Verfassung nicht mehr ausdrücklich aufgeführt.

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Künftig sind die Gemeinden frei, die Mitglieder ihrer Exekutive vom Volk wählen zu lassen und nicht mehr nur, wie bisher, durch den Generalrat.

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Um die ungleiche Finanzkraft der Gemeinden zu mildern, wird der Grundsatz des interkommunalen Finanzausgleichs in der Verfassung verankert.

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Die neue Verfassung garantiert Bestand und Gebiet der Gemeinden und schliesst Fusionen gegen den Willen der betroffenen Gemeinden ausdrücklich aus.

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Das Ergreifen von Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen wird neu als soziale Aufgabe von Kanton und Gemeinden in der Verfassung verankert.

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Die neue Verfassung garantiert die freie Wahl einer anderen Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens als der Ehe.

Im Gegensatz zur alten enthält die neue Verfassung eine Präambel, die den Geist der Verfassung zum Ausdruck bringt und eine Leitlinie für die staatliche Tätigkeit darstellt. Auch wenn der Präambel kein normativer Gehalt zukommt, ist sie doch insofern von Bedeutung, als die Verfassung keine Staatsziele enthält. Die 107 Artikel der Verfassung sind in acht Titel unterteilt: 1. Allgemeine Bestimmungen, 2. Grundrechte, Sozialziele und soziale Aufgaben, 3. Das Volk, 4. Behörden, 5. Bezirke und Gemeinden, 6. Staat, anerkannte Kirchen und andere Religionsgemeinschaften, 7. Verfassungsrevision, 8. Schlussbestimmungen.

Im ersten Titel (Art. 1­6) werden die Republik und der Kanton Neuenburg, seine Form und seine Struktur definiert, der Hauptort, das Wappen und die Amtssprache des Kantons festgelegt, die Aufgaben von Staat und Gemeinden umschrieben und die Haftung der Gemeinwesen geregelt.

Der zweite Titel (Art. 7­36) beginnt mit einem ausführlichen Grundrechtskatalog, enthält eine Bestimmung über die Einschränkung der Grundrechte und legt die Sozialziele und sozialen Aufgaben des Staates und der Gemeinden fest.

Der dritte Titel (Art. 37­45) definiert das Volk als oberstes politisches Organ des Kantons und zählt seine wichtigsten Befugnisse mit Ausnahme derjenigen bei der Änderung der Verfassung auf.

Im vierten Titel (Art. 46­86) werden Zusammensetzung, Aufgaben und Organisation von Parlament (Grosser Rat) und Regierung (Staatsrat) sowie die Beziehungen zwischen Parlament und Regierung geregelt und richterliche Behörden vorgesehen.

Der fünfte Titel (Art. 87­96) enthält die Grundlagen der Gebietsaufteilung des Kantons in Bezirke und legt die Grundsätze der Gemeindeorganisation fest.

Der sechste Titel (Art. 97­99) verankert den Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat und legt fest, welche Kirchen der Staat zurzeit als Institutionen von öffentlichem Interesse anerkennt.

Im siebten Titel (Art. 100­104) werden die Total- und die Teilrevision der Verfassung geregelt.

Der achte Titel (Art. 105­107) enthält die Schlussbestimmungen.

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3

Voraussetzungen für die Gewährleistung

3.1

Allgemeines

Nach Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung gibt sich jeder Kanton eine demokratische Verfassung. Diese bedarf der Zustimmung des Volkes und muss revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt. Nach Absatz 2 des gleichen Artikels bedürfen die Kantonsverfassungen der Gewährleistung des Bundes. Diese wird erteilt, wenn die Kantonsverfassung dem Bundesrecht nicht widerspricht. Erfüllt eine kantonale Verfassung diese Anforderungen, so ist die Gewährleistung zu erteilen; erfüllt eine kantonale Verfassungsnorm eine dieser Voraussetzungen nicht, so ist die Gewährleistung zu verweigern.

3.2

Annahme durch das Volk

Die neue Verfassung wurde dem Volk am 24. September 2000 zur Abstimmung unterbreitet. Die Stimmberechtigten des Kantons Neuenburg haben sie mit grosser Mehrheit (vgl. Ziff. 1) angenommen. Die Volksabstimmung hat zu keinem Beschwerdeverfahren geführt.

Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung, der die Zustimmung des Volkes zur Kantonsverfassung verlangt, ist daher erfüllt.

3.3

Revidierbarkeit

Die Artikel 100­104 in Verbindung mit Artikel 37 der neuen Verfassung regeln das Verfahren der Verfassungsrevision. Die Totalrevision oder die Teilrevision der Kantonsverfassung kann sowohl vom Grossen Rat als auch vom Volk verlangt werden (Art. 101 Abs. 1 und 102 Abs. 1). Nach diesen beiden Bestimmungen können 10 000 beziehungsweise 6000 Stimmberechtigte eine Totalrevision oder eine Teilrevision der Verfassung verlangen. Die freie Revidierbarkeit der Verfassung im Sinne von Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung ist damit sichergestellt.

3.4

Demokratische Verfassung

Eine kantonale Verfassung genügt den Anforderungen an die demokratische Ausgestaltung, wenn sie ein gewähltes Parlament vorsieht und den Grundsatz der Gewaltenteilung beachtet (BBl 1997 I 218). Nach Artikel 39 Absatz 1 der Bundesverfassung fällt die Regelung der Ausübung der politischen Rechte auf kantonaler Ebene in die Kompetenz der Kantone. Bei der Ausübung dieser Kompetenz sind die Kantone jedoch verpflichtet, gewisse materielle bundesrechtliche Regelungen zu beachten, so namentlich den Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 8 der Bundesverfassung und den Grundsatz des allgemeinen und gleichen Stimm- und Wahlrechts (BBl 1998 5500; Ulrich Häfelin/Walter Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 4. Auflage, Zürich 1998, Nr. 248a). Bei der Verwirklichung des Grundsatzes der Gewaltenteilung besteht ein grosser Gestaltungsspielraum; die Art und Weise, wie die Kantone 2489

diesen Grundsatz in ihrem Verfassungsrecht verwirklichen, fällt denn auch in ihre Kompetenz.

Die Artikel 38 und 52 Absatz 2 der neuen Verfassung sehen vor, dass die Mitglieder des Grossen Rates vom Volk, also von allen Personen, die nach Artikel 37 stimmberechtigt sind, gewählt werden. Nach Artikel 37 der Neuenburger Verfassung steht das Stimmrecht auf kantonaler Ebene folgenden Personen zu, sofern sie das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind: den Schweizerinnen und Schweizern, die im Kanton wohnen (Abs. 1 Bst. a), den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern, die nach Bundesrecht im Stimmregister einer Gemeinde des Kantons eingetragen sind (Abs. 1 Bst. b) sowie den Ausländerinnen, Ausländern und Staatenlosen, die über eine Niederlassungsbewilligung nach Bundesrecht verfügen und seit mindestens fünf Jahren im Kanton wohnen (Abs. 1 Bst. c). Die gleiche Bestimmung ermächtigt den Gesetzgeber zudem, ein Verfahren vorzusehen, das wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigten Personen erlaubt, ihre Urteilsfähigkeit nachzuweisen und das Stimmrecht zu erlangen beziehungsweise wiederzuerlangen (Abs. 2).

Artikel 37 Absatz 1 Buchstabe a der neuen Verfassung entspricht der fast in allen Kantonen geltenden Regelung, die faktisch durch Artikel 39 Absatz 3 der Bundesverfassung vorgegeben wird, wonach die Ausübung der politischen Rechte in mehr als einem Kanton untersagt ist. Der Ausdehnung des Stimmrechts auf die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer steht das Bundesrecht nicht entgegen, wenn die Kantone dies in einer Weise verwirklichen, dass niemand die politischen Rechte in mehr als einem Kanton ausüben kann (BBl 1994 I 405). Die Ausdehnung des Stimmrechts auf Ausländerinnen und Ausländer ist nach Artikel 39 Absatz 1 der Bundesverfassung zulässig (vgl. dazu Etienne Grisel, Initiative et référendum populaires: Traité de la démocratie semi-directe en droit suisse, 2. Auflage, Bern 1997, S. 88 ff; Georg Lutz/Dirk Strohmann, Wahl- und Abstimmungsrecht in den Kantonen ­ Droits politiques dans les cantons, Bern/Stuttgart/Wien 1998, S. 23). Diese Ausdehnung des Stimmrechts ist eine der wichtigsten, wenn nicht gar die wichtigste Neuerung der neuen Verfassung. Der Kanton Neuenburg folgt somit als erster dem Beispiel des Kantons Jura,
der bisher als einziger eine Verfassungsbestimmung kannte, die den Grundsatz des Ausländerstimmrechts verankert (Art. 73). Indem schliesslich Artikel 37 Absatz 2 der neuen Verfassung zum Ausdruck bringt, dass eine im Sinne von Artikel 369 ZGB (SR 210) entmündigte Person nicht in jedem Fall unfähig ist, öffentliche Angelegenheiten zu beurteilen, wird eine Regelung getroffen, die mit dem in Artikel 8 Absatz 2 der Bundesverfassung festgelegten Diskriminierungsverbot zu vereinbaren ist.

Bei den politischen Rechten, welche die neue Verfassung den Stimmberechtigten zugesteht, sind neben dem Recht, die Mitglieder des Grossen Rates zu wählen (Art. 38 und 52 Abs. 2), folgende Rechte zu erwähnen: Wahl der Mitglieder des Staatsrates (Art. 38 und 66 Abs. 2), Gesetzesinitiative (Art. 40), fakultatives (Art. 42) und obligatorisches (Art. 44) Referendum sowie, als Neuerung, das Recht der Volksmotion an den Grossen Rat (Art. 41). Schliesslich hält Artikel 104 fest, dass jede Verfassungsänderung der Zustimmung des Volkes bedarf.

Die in den Artikeln 46 ff. festgelegte Behördenorganisation des Kantons Neuenburg (vgl. dazu auch Ziff. 3.5.5 hinten) entspricht in allen Teilen dem Grundsatz der Gewaltenteilung, der überdies ausdrücklich verankert wird (Art. 46).

2490

Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung, der von den Kantonen eine demokratische Verfassung verlangt, ist somit eingehalten.

3.5

Bundesrechtmässigkeit

3.5.1

Allgemeines

Bei der Prüfung einer total revidierten Kantonsverfassung auf ihre Übereinstimmung mit dem Bundesrecht stellt sich insbesondere das Problem, dass eine kantonale Grundordnung, die im Wesentlichen auf einige Jahrzehnte hinaus angelegt ist, an der (vor allem auf Gesetzesebene) sich rascher ändernden Rechtsordnung des Bundes gemessen werden muss. Es ist daher nicht auszuschliessen, dass die neue Kantonsverfassung einzelne heute gewährleistete Bestimmungen enthält, die durch neues Bundesrecht später in ihrer Bedeutung eingeschränkt oder gar gegenstandslos gemacht werden können.

Der Kanton kann in Gebieten, die unter eine ausschliessliche Bundeskompetenz fallen, keine Regelungen vornehmen. Er darf dagegen Aufgaben wahrnehmen, die von einer umfassenden, jedoch nicht voll ausgeschöpften Bundeskompetenz erfasst werden. Solche kantonalen Verfassungsnormen haben dann neben dem Bundesrecht eine stärker eingeschränkte Bedeutung, als auf Grund ihres Wortlauts vermutet werden könnte; solange sie aber im Rahmen einer bundesrechtskonformen Auslegung eine kantonale Restkompetenz wahrnehmen, müssen sie als bundesrechtmässig gewährleistet werden.

3.5.2

Aufbau und Gliederung des Kantons

Die neue Verfassung nennt als territoriale Einheiten des Kantons die Bezirke und die Gemeinden (Art. 1 Abs. 4, 87 Abs. 1 und 89 Abs. 1). Zwar umschreibt die Verfassung selbst weder das Gebiet der Bezirke und Gemeinden noch legt sie deren Anzahl fest (Art. 88 und 90); im Gegensatz zur bisherigen Verfassung garantiert sie jedoch ausdrücklich die Existenz der Gemeinden (Art. 91 Abs. 1). Ausserdem schliesst sie insbesondere den Zusammenschluss von Gemeinden gegen den Willen der Betroffenen aus (Art. 91 Abs. 3), sieht aber vor, dass die Gemeinden zur Zusammenarbeit verpflichtet werden können, wenn dies für die Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist (Art. 92 Abs. 2). Die Gemeindeautonomie wird in der Verfassung ausdrücklich verankert (Art. 94), die Aufgaben werden den Gemeinden jedoch durch die kantonale und die eidgenössische Gesetzgebung übertragen (Art. 89 Abs. 3). Zur Milderung der Ungleichheiten in der Finanzkraft der Gemeinden sieht die Verfassung einen Finanzausgleich vor (Art. 93 Abs. 2). Die Verfassung legt zudem Mindestanforderungen an die Organisation der Gemeinden fest (Art. 95), belässt diesen aber die Wahl, die Mitglieder des Gemeinderates durch das Volk oder durch den Generalrat wählen zu lassen (Art. 95 Abs. 4). Schliesslich sieht die Verfassung eine Aufsicht des Staates über die Tätigkeit der Gemeindebehörden vor (Art. 96).

Alle diese Bestimmungen liegen im Bereich der kantonalen Organisationskompetenz und enthalten nichts, was dem Bundesrecht zuwiderläuft.

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3.5.3

Grundrechte und Sozialziele

Nach Lehre und Rechtsprechung haben die Grundrechte der Kantone so weit selbstständige Bedeutung, als sie einen über das Bundesrecht hinausgehenden Schutz gewähren (Andreas Auer/Giorgio Malinverni/Michel Hottelier, Droit constitutionnel suisse, vol. II: Les droits fondamentaux, Bern 2000, S. 40 ff.; Vincent Martenet, L'autonomie constitutionnelle des cantons, Basel 1999, S. 420 ff.; BGE 121 I 267, 269; 119 Ia 53, 55). Das bedeutet, dass die Kantone die gleichen Rechte wie der Bund garantieren oder auch darüber hinausgehen können. Es bedeutet aber auch, dass die Gewährleistung dort nicht erteilt werden darf, wo der Kanton mit ausdrücklicher und zwingender Vorschrift einen geringeren Schutzumfang festlegt, als dies der Bund mit seinen Grundrechten tut.

Der Grundrechtskatalog der neuen Verfassung ist nicht abschliessend, geht jedoch in einigen Punkten über den vom Bundesrecht gewährleisteten Umfang hinaus. Er bleibt hingegen für kein Grundrecht hinter dem Bundesrecht zurück, sodass der Gewährleistung nichts entgegensteht.

Die meisten der in Artikel 7 ff. verankerten Grundrechte haben ihre Entsprechung in der Bundesverfassung, an der sie sich weitgehend orientieren; die Änderungen im Vergleich zur Bundesverfassung sind oft lediglich redaktioneller Art. Eine Ausnahme bilden jedoch folgende zwei Bestimmungen: Artikel 9 Absatz 2, der rückwirkende Gesetze, die den Privatpersonen zusätzliche Lasten auferlegen, verbietet ­ diese Regel ergibt sich aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 122 V 405; 123 II 385, 397; 122 II 113,124; RDAF 1998 II 189) ­; sowie Artikel 11 Absätze 2 zweiter Satz und 3, da die darin garantierten Rechte dem entsprechen, was das Bundesgesetz vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz (SR 235.1) vorsieht.

Schliesslich gehen folgende Bestimmungen über das hinaus, was das Bundesrecht garantiert: ­

Artikel 18, der jeder Person das Recht garantiert, ohne ein berechtigtes Interesse geltend machen zu müssen, Einsicht in amtliche Akten zu nehmen, soweit kein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse entgegensteht (Einsichtsrecht)1;

­

Artikel 21 Absatz 2, der jeder Person, die eine Petition an eine gesetzgebende oder vollziehende Behörde richtet, den Anspruch gibt, dass diese Petition inhaltlich geprüft und so bald wie möglich beantwortet wird;

­

Artikel 30 Absatz 5, der jeder Person, der die Freiheit ungerechtfertigterweise entzogen wurde, Anspruch auf Ersatz des erlittenen Schadens zuerkennt.

Im Weiteren bedarf Artikel 12 Absatz 2 einer kurzen Erläuterung hinsichtlich seines Verhältnisses zum Bundesrecht: Diese Bestimmung hebt das Recht, eine andere Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens zu wählen als die Ehe, auf Verfassungsstufe. Da jedoch der Bund nach Artikel 122 Absatz 1 der Bundesverfassung für die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Zivilrechts zuständig ist, kann die genannte Bestimmung der Neuenburger Verfassung keine Wirkungen auf die zivilrechtlichen Beziehungen von nichtverheirateten Paaren entfalten, indem beispielsweise die Wir1

Es ist geplant, auf Bundesebene ein entsprechendes Einsichtsrecht vorzusehen (vgl. dazu Vorentwurf eines Bundesgesetzes über die Öffentlichkeit der Verwaltung, Vernehmlassungsentwurf vom 19. April 2000).

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kungen der Ehe auf Konkubinatspaare ausgedehnt würden. Es sind aber durchaus Fälle denkbar, in denen die Bestimmung Auswirkungen entfalten kann, so etwa bei der Ausübung persönlichkeitsnaher Rechte (Jörg Paul Müller, in: Walter Kälin/Urs Bolz [Hrsg.], Handbuch des bernischen Verfassungsrechts, Bern 1995, S. 39 f.).

Schliesslich verankert die Verfassung des Kantons Neuenburg Sozialziele und soziale Aufgaben (Art. 34­36), wobei sehr unterschiedliche Anliegen erfasst werden, so zum Beispiel die Schaffung von Voraussetzungen, welche die Elternschaft fördern und es erlauben, Familie und Beruf miteinander zu verbinden (Art. 34 Abs. 2 zweiter Satz), die Verwirklichung der Gleichstellung von Frau und Mann (Art. 35) und die wirtschaftliche und soziale Integration behinderter Personen (Art. 36). Mit diesen Bestimmungen bestätigt die neue Verfassung die klare soziale Ausrichtung von Republik und Kanton Neuenburg (Art. 1 Abs. 1). Anders, als dies bei den Grundrechten der Fall ist, können aus den Sozialzielen und den sozialen Aufgaben keine direkten Ansprüche gerichtlich durchgesetzt werden; es handelt sich um Bestimmungen mit programmatischem Charakter, die den Staat und die Gemeinden zur Verfolgung einer Sozialpolitik verpflichten. Die Überprüfung der Bundesrechtmässigkeit dieser Bestimmungen folgt den gleichen Grundsätzen wie die Überprüfung der kantonalen Grundrechte oder der kantonalen Aufgaben (vgl. Ziff. 3.5.4). Im vorliegenden Fall hat die Überprüfung keine Bundesrechtswidrigkeit ergeben.

3.5.4

Öffentliche Aufgaben

Nach den Artikeln 3 und 43 der Bundesverfassung haben die Kantone alle Kompetenzen, die nicht durch die Bundesverfassung dem Bund übertragen werden. Das Bundesrecht verlangt für die kantonale Gesetzgebung keine ausdrückliche Grundlage in der Kantonsverfassung. Die Mehrheit der Kantone verzichtet denn auch auf eine abschliessende Verankerung der staatlichen Aufgaben und der entsprechenden Gesetzgebungskompetenzen in der Kantonsverfassung. Das gilt auch für die Verfassung des Kantons Neuenburg, was der Ausdruck «notamment» im Einleitungssatz zu Artikel 5 Absatz 1 zeigt. Diese Bestimmung hat überdies rein deskriptiven Charakter; es ist einzig und allein das Gesetz, welches innerhalb der Grenzen des Bundesrechts die von Staat und Gemeinden zu erfüllenden Aufgaben bezeichnet. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass im Rahmen der Aufzählung der öffentlichen Aufgaben in Artikel 5 Absatz 1 die wesentlichen Tätigkeitsbereiche von Staat und Gemeinden aufgeführt werden.

Mehrere der aufgeführten Aufgabenbereiche überschneiden sich zwar mit Bundeskompetenzen, beispielsweise im Bereich der sozialen Sicherheit (Bst. h), des Umweltschutzes (Bst. j), der Unterstützung von Wissenschaft und Forschung (Bst. o) oder der Förderung des Sports (Bst. p), doch keiner in einer Art, die dem Bundesrecht widerspricht. Auch in Bereichen, in denen der Bund legiferiert hat, verbleiben den Kantonen wichtige Vollzugsaufgaben und Restkompetenzen. Die Erwähnung dieser Aufgaben lässt sichdaher auch mit der Informationsfunktion begründen, die einer Verfassung zukommt.

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3.5.5

Behördenorganisation und Verfahren

Die Bestimmungen über die Zusammensetzung, die Zuständigkeiten und die Organisation der kantonalen und der kommunalen Behörden sowie die für ihre Tätigkeit vorgesehenen Verfahren tragen den Erfordernissen des Bundesrechts in hinreichender Weise Rechnung.

Die allgemeinen Wählbarkeitsvoraussetzungen sind in Artikel 47 der neuen Verfassung festgelegt. Nach dieser Bestimmung sind in kantonale Behörden die stimmberechtigten Schweizerinnen und Schweizer wählbar; das Gesetz kann die Wählbarkeit für richterliche Behörden auf Ausländerinnen und Ausländer ausdehnen. Das Gesetz kann auch bestimmen, dass Personen, die in einem anderen Kanton wohnen, in den Staatsrat und in die richterlichen Behörden gewählt werden können. Artikel 39 Absatz 3 der Bundesverfassung verankert jedoch den Grundsatz, dass niemand in mehr als einem Kanton seine politischen Rechte ausüben darf (Ulrich Häfelin/Walter Haller, a.a.O., Rz. 590). Es ist aber anerkannt, dass dieser Grundsatz nur für das aktive Stimm- und Wahlrecht gilt, also für das Recht, an Abstimmungen teilzunehmen, zu wählen und Referendums- und Initiativbegehren zu unterzeichnen. Der Grundsatz gilt jedoch nicht für das passive Wahlrecht, also für das Recht, gewählt werden zu können (Yvo Hangartner/Andreas Kley, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2000, Rz. 243 ff.; siehe zur vergleichbaren Bundesregelung auch Ulrich Häfelin/Walter Haller, a.a.O., Rz.

588). Die Bestimmung der Neuenburger Verfassung, die es dem Gesetzgeber erlaubt, die Wählbarkeit in den Staatsrat und in richterliche Behörden auf Personen auszudehnen, die in einem anderen Kanton wohnen, ist daher bundesrechtskonform.

Der Grundsatz der Gewaltenteilung ist in Artikel 46 ausdrücklich verankert und wird durch die Bestimmungen über die Unvereinbarkeit (Art. 48) sowie durch die Kompetenzaufteilung zwischen Grossem Rat, Staatsrat und richterlichen Behörden (Art. 55 ff., 68 ff. und 83 ff.) verwirklicht.

Das Gesetzgebungsverfahren, das dem Grossen Rat unter Vorbehalt des fakultativen (Art. 42) und des obligatorischen Referendums (Art. 44) die Befugnis zum Erlass der Gesetze (Art. 55) und zum Abschluss internationaler und interkantonaler Verträge, die nicht in die ausschliessliche Kompetenz des Staatsrates fallen (Art. 56 und 70), erteilt, genügt den in
Artikel 51 Absatz 1 erster Satz der Bundesverfassung festgelegten Anforderungen an eine demokratische Ausgestaltung. Festzuhalten ist im Weiteren, dass die Verfassung nicht selber den Begriff des Gesetzes definiert, sondern dies dem Gesetzgeber überlässt. Bezüglich der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Legislative und Exekutive legt Artikel 61 Absatz 2 den Grundsatz der subsidiären Kompetenz des Grossen Rates fest.

Die Organisationsbestimmungen der Verfassung des Kantons Neuenburg liegen im Rahmen der kantonalen Organisationskompetenz (Art. 3 und 39 Abs. 1 BV) und verletzen keine anderen Bestimmungen des Bundesrechts.

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3.6

Zusammenfassung

Die Verfassung des Kantons Neuenburg vom 24. September 2000 erfüllt die Anforderungen von Artikel 51 Absatz 2 zweiter Satz der Bundesverfassung; es ist ihr daher die Gewährleistung zu erteilen.

4

Verfassungsmässigkeit

Die Bundesversammlung ist nach den Artikeln 51 und 172 Absatz 2 der Bundesverfassung zuständig, die Kantonsverfassungen zu gewährleisten.

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