3 5

4

K

5

# S T #

1

Schweizerisches Bundesblatt mit schweizerischer Gesetzsammlung,

7l. Jahrgang.

Bern, den 3. September 1919.

Band IV.

Erscheint wöchentlich. Preis 13 Franken im Jahr, G Franken im Halbjahr, zuzüglich ,,Nachnahme- und Postbestellungsgebühr".

Einrückungsgebühr : 15 Rappen die Zeile oder deren Baum. -- Anzeigen franko au die Buchdruckerei Stämpfli & de. in Bern.

# S T #

111

Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend

die Frage des Beitrittes der Schweiz zum Völkerbund.

(Vom 4. August 1919.)

Der Weltkrieg hat die Schweiz grossen Gefahren ausgesetzt und Schwierigkeiten gegenübergestellt, die manchmal unüberwindbar schienen. Aber der Allmächtige hat unser Land vor den Schrecken des Krieges und der Hungersnot verschont. Das muss uns mit tiefer Dankbarkeit erfüllen.

Noch aber sind die schwierigen Zeiten nicht vorüber. Es bedarf grosser Umsicht, vieler Arbeit und mancher günstiger, von unserm Willen unabhängiger Umstände, damit die Schweiz ihr wirtschaftliches Leben wieder auf sichere Grundlagen stellen kann. Unsere äussere und innere Politik wird noch während Jahren mit dieser Arbeit zu tun haben.

Der Friedenschluss stellt die Schweiz indessen auch vor eine Frage, die eine rasche Antwort erfordert : den Beitritt zum Völkerbund. Hier handelt es sich nicht um eine allmählige Neuorientierung unserer Politik, um eine mehr oder weniger rasche Anpassung an veränderte Verhältnisse, sondern um ein Ja oder Nein. Soll die Schweiz, die dank ihrer überlieferten Neutralitätspolitik ganz auf sich selbst gestellt ist und nach keinem Staat und keiner Staatengruppe hin dauernde Anlehnung sucht, in das Bundesverhältnis, eintreten, das der Friedensvertrag ins Leben ruft? Seitdem die Schweiz 1815 von den Mächten des Wienerkongresses aufgefordert wurde, sich den gemeinsamen Mass.nahmen zur Wiederherstellung des durch Napoleons Rückkehr Bundesblatt. 71. Jahrg. Bd. IV.

39

542

von Elba gestörten Friedens anzuschliessen, ist unser Land nie mehr vor eine ähnliche Entscheidung gestellt worden. Der Entschluss, der jetzt zu fassen ist, hat jedoch eine grössere Tragweite; denn es handelt sich um die Schaffung einer Organisation, die bestimmt ist, der internationalen Politik völlig neue Wege zu weisen, nicht nur für die nächste Zukunft, sondern so weit hinaus, als menschliches Ermessen reicht.

Der Entschluss, einen in mancher Beziehung durchaus neuen, von der bisherigen Richtung abweichenden Weg in der Aussenpolitik einzuschlagen, ist bei der gegenwärtigen Zeit- und Weltlage besonders schwer. Alte Staatengebilde verschwinden oder erleiden beträchtliche Umbildungen und Einbussen ; neue sind entstanden oder im Werden. Noch hat die Welt ihre Gleichgewichtslage nicht erlangt. Wann diese eintritt und wie sie beschaffen sein wird, vermag niemand zu beurteilen, um so weniger, als auch im Innern der Staaten starke soziale Bewegungen sich geltend machen und ihre Rückwirkung auf die internationalen Beziehungen ausüben können. Zudem gilt eri nicht, etwas durch andere Staaten bereits Erprobtes zu wählen, sondern etwas in mancher Beziehung völlig Neues. Dieses Neue trägt an sich unverkennbar die Spuren der bisherigen politischen Verhältnisse.

Besorgnisse und Befürchtungen, die sich auf die Erfahrungen der Vergangenheit stützen, können deshalb nicht von der Hand gewiesen werden, und sie haben sich bisher in unserm Lande mehr als die Stimmen freudiger Zuversicht vernehmen lassen.

Vielleicht würde ein völliger Bruch mit der als verfehlt erkannton Vergangenheit und eine radikale Neuordnung in vielen Kreisen mehr Begeisterung und Hoffnungsfreudigkeit ausgelöst haben.

Der Bundesrat ist sich des Ernstes und der Grosse der Entscheidung, vor die wir gestellt sind, bewusst. Mit Freude hatte er es begrüsst, als aus der Not des Krieges die Forderung nach einer neuen, Recht und Frieden sichernden Organisation, nach einem Völkerbund, sich erhob, und als diese Forderungsehliesslich von allen Kriegführenden als eine wesentliche Bedingung des Friedensschlusses anerkannt wurde. Diese bisherige Haltung ist für den Bundesrat indessen keineswegs ein Grund, unter allen Umständen dem von der Friedenskonferenz geschaffenen Völkerbund zuzustimmen; ebensowenig wie sich eine ablehnende Haltung deshalb rechtfertigen
würde, weil dieser Völkerbund wesentlich abweicht von dem, was der Bundesrat erhofft hatte. Es gilt zu prüfen, welche Haltung im Interesse der Schweiz liegt, und zu diesem Zwecke ohne Vorurteil allo

5J3

Seiten der Frage genau zu betrachten und den Räten und dem Volke auf Grund des gesamten Tatbestandes neben unseren Hoffnungen auch alle unsere Besorgnisse darzulegen.

Wenn auch nur das Wohl des Vaterlandes für den Entscheid massgebend sein soll, so darf doch nicht nur das nächstliegende Interesse uns leiten. Wir mtissen bestrebt sein, die Frage von einem höhern Gesichtspunkte aus als demjenigen des ausschliesslichen und unmittelbaren nationalen Interesses zu beantworten. Die Zukunft jedes Staates, zumal eines kleinen und friedlichen Volkes wie die Schweiz, liegt -- das ist die Lehre dieses Krieges -- nicht nur in der Befugnis allein, sich von dem Streite der grossen Mächte fernhalten zu können und nicht behelligt zu werden, sondern erst in der Sicherung positiver Gemeinschaft nach Rechtsgrundsätzen. Dieses nationale Interesse ist zugleich ein Menschheitsinteresse. Was ehrlich und wirksam diesem dient, das liegt auch in der Linie der schweizerischen Politik; es dürfen und es müssen dafür Opfer gebracht werden.

In der Fortdauer des Zustandes der Schutzlosigkeit des Rechtes und der daraus folgenden Feindschaft der Völker liegt die grösste, wenn auch vielleicht nicht unmittelbarste Gefahr für unser Land.

I. Der Yölkerbumlsgedanke seit dem Weltkrieg und die Entstehung des Pariser Yölkerbnndsvertrages.

Die Idee, durch eine überstaatliche Organisation den Frieden Bis zum Weltder Welt zu sichern, ist seit dem Ausgang des Mittelalters krieg.

wiederholt von politischen Denkern, selbst von praktischen Staatsmännern vertreten worden. Seit einem Jahrhundert ist es namentlich die Friedensbewegung, welche für diesen Gedanken geworben hat*).

Der wichtigste Versuch in dieser Richtung auf dem Boden der offiziellen Politik waren die Haager Friedenskonferenzen.

Die Schwäche der von ihnen geschaffenen Konvention zur friedlichen Beilegung internationaler Streitigkeiten liegt darin, dass dieser Vertrag, ausgehend von der Souveränität jedes einzelnen Staates, keine Pflicht zur Einlassung auf Vermittlung und Schiedsgericht statuiert und vollends von einer Organisation der Staatengesamtheit zur Gewährleistung des Rechtes absieht. Ein solcher Rechtsschutz fehlt auch da, wo etwa einzelne Staaten sich zur Einlassung auf ein Untersuchungs- oder Gerichtsverfahren "hi partikulären Verträgen verpflichtet haben.

Die unmittelbare
Vorgeschichte des Weltkrieges hat das Während des Ungenügen einer derartigen Rechtsordnung und die dringende Weltkrieges.

*) Beilage zur Botschaft (zit. Beilage), I, 5.

Oit

Notwendigkeit, wirksamere Friedensgarantien zu schaffen, jedermann klar gemacht. Schon in don ersten Kriegsjahren haben die leitenden Staatsmänner der wichtigsten kriegführenden Staaten die Berechtigung des Verlangens nach einer Neugestaltung der internationalen Politik anerkannt. Auch vom Heiligen Stuhl ist eine bedeutsame Kundgebung in diesem Sinne ausgegangen. Insbesondere aber hat der Präsident der Vereinigten Staaten in seiner Botschaft vom 22. Januar 1917 und nach Eintritt der Union in den Krieg in verschiedenen Reden im Jahre 1918 die unbedingte Notwendigkeit wirksamer internationaler Abmachungen zur Sicherung des Friedens betont. Im Laufe des letzten Kriegsjahres hatte die Idee eines Völkerbundes, in vielen Staaten durch einflussreiche private Vereinigungen gefördert, einen immer breiteren Raum in den amtlichen Kundgebungen kriegführender und neutraler Regierungen eingenommen. Dadurch, dass das Wilsonsche Programm der 14 Punkte als Grundlage des Friedens im Waffenstillstand vom 11. November 1918 beidseitig angenommen wurde, war auch der Völkerbund als Bestandteil des neuen Friedenszustandes anerkannt*).

Schweiz, ExDie Schweiz ist in dieser Angelegenheit keineswegs untätig pertengeblieben. Bereits durch Eingaben vom 23. Oktober 1917**) und kommission. 9. März 1918 hatte die schweizerische Friedensgesellschaft dio Berufung einer ausserparlamentarischen Kommission vorgeschlagen zur Prüfung der Frage, unter welchen Bedingungen die Schweiz in einen Völkerbund eintreten könnte. Der Bundesrat beschloss am 4. Mai 1918, es möge das Politische Departement eine kleinere Expertenkommission bestellen zum Studium der Fragen der Neugestaltung des Völkerrechts nach dem Kriege. Durch Beschluss vom 18. September 1918 wurde diese Kommission beträchtlich erweitert. Über deren Zusammensetzung und Tätigkeit hat der Bundesrat unterm 11. Februar 1919 der Bundesversammlung einen Bericht***) erstattet. Bei der Beratung des Geschäftsberichts des Politischen Departements hat der damalige Bundespräsident in einer Rede im Nationalrat am 6. Juni 1918t) die allgemeine Stellungnahme des Bundesrates zum Völkerbundsproblem dargelegt. Die Schweiz war damit einer der ersten, wenn nicht der erste der neutralen Staaten, welcher die überragende Bedeutung dieses Problems anerkannte und den "Willen bekundete, an dor *) **) ***) f)

Beilage Beilage Beilage Beilage

I, I, I, I,

5.

1.

7.

3.

545 Verwirklichung dieses Gedankens mitzuarbeiten. Die Schweiz beschränkte sich nicht auf diese Kundgebung, sondern es wurde die Angelegenheit unablässig verfolgt.

Von dem Rechtskonsulenten des Politischen Departements wurde ein Bericht*) über die gesamten Völkerbundsfragen ausgearbeitet, der den ersten Beratungen der ersten Session der Kommission zugrunde lag. In einer zweiten Session wurde der Entwurf zu einem Völkerbundsvertrag und der dazugehörigen Bundesverfassung beraten**). In einer dritten und vierten Session unterzog die Kommission den Pariser Völkerbundsvertrag einer eingehenden Besprechung. Sie gelangte dazu, mit allen Stimmen gegen zwei die Beitrittsfrage zu bejahen. Vier Mitglieder waren abwesend.

Der Bundesrat hatte allen Anlass, anzunehmen, dass die FriedensOrganisation des Völkerbunds durch eine neben den Friedens- ]konferenz und Verhandlungen hergehende oder diesen unmittelbar folgende all- Neutrale.

gemeine Konferenz festgestellt werden würde. Durch eine Note vom 20. November 1918 hatte die Schweiz an die Mächte das Verlangen gerichtet, an den Beratungen und Beschlussfassungen teilnehmen zu können, soweit es sich um Angelegenheiten handle, die entweder die Schweiz speziell interessieren oder, wie der Völkerbund, von allgemeiner Bedeutung sind. Als Vorbereitung für eine solche Konferenz hatte auch die Expertenkommission, ähnlich den entsprechenden Kommissionen in einigen unserer Nachbarstaaten, eine eingehende und umfassende Lösung des Völkerbundsproblems versucht. Dabei ging man nicht von der Prätention aus, den Entwurf als solchen zar Annahme zu bringen, sondern von der namentlich durch die Erfahrungen der Haager und Londoner Konferenzen begründeten Auffassung, dass nur durch konkrete Formulierungen der wichtigsten Punkte eine wirkliche Abklärung erreicht und die Grundlage zu Vorschlägen geschaffen werden könne, die auf einer Konferenz Aussicht auf Erfolg haben würden.

Erst nachdem die Verhandlungen über den Präliminarfrieden Völkerbund Friedensin Paris bereits begonnen hatten, entschieden sich die Mächte lundvertrag.

in dem Sinne, dass die Völkerbundsfragen in gleicher Weise wie die übrigen Friedensfragen behandelt werden sollten. Damit war eine unmittelbare Teilnahme der Neutralen ausgeschlossen. Auch wenn die so getroffenen Vereinbarungen für die Neutralen keine
Verbindlichkeit haben, diese vielmehr frei sind, sich anzuschliessen oder nicht, so wird eben doch der Gegenstand in einer Weise präjudiziert, welche den berechtigten Einfluss der an den Verhandlungen nicht beteiligten Staaten fast ganz ausschaltet.

*) Beilage I, 4.

**) Beilage I, 6.

546

Gegenüber dieser Art der Behandlung von allgemeinen internationalen Angelegenheiten muss die Schweiz alle Vorbehalte machen und sie kann dieses Vorgehen nicht als massgebenden Präzedcnzfall anerkennen. Allen an einer internationalen Regelung interessierten Staaten soll die Möglichkeit der Mitwirkung, und zwar auf dem Fusse der Gleichberechtigung, gewährt werden. Das war seit der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts grundsätzlich so gehalten worden ; nur die Londoner Seerechtskonferenz von 1908/09 machte davon leider eine Ausnahme und nun ganz besonders die Pariser Friedenskonferenz. Dieso den Grundsätzen der Demokratie und Gleichheit der Staaten widersprechende Art der Geschäftsbehandlung hat nicht nur die Rechte der Neutralen beeinträchtigt, sondern selbst diejenigen von am Kriege beteiligten Staaten. Nur den als Hauptmächte anerkannten Staaten, d. h.

den fünf alliierten und assoziierten Grossmächten (Vereinigte Staaten, Frankreich, Grossbritannien, Italien und Japan), war eine Stimme in allen Kommissionen, denen die tatsächliche Entscheidung zukam, gesichert. Der Einfluss der übrigen Staaten, sog. Mächte mit beschränkten Interessen, war ein sehr verschiedener.

Die Behandlung der Völkerbundsfragen als eines integrierenden Bestandteils des Friedens Vertrages hatte allerdings den Vorteil, dass die am Friedensschluss beteiligten Mächte auf diese Weise gezwungen sind, die neue internationale Organisation anzunehmen, wenn sie den Frieden haben wollen. Eine spätere Ordnung dieser Angelegenheit würde unter Umständen an der Zurückhaltung der einen Mächte gescheitert sein, oder os wäre doch vielleicht nicht möglich gewesen, eine weitgehende Bindung der Staaten zu erreichen. Nichtsdestoweniger ist die Schaffung einer nach Universalität strebenden internationalen Organisation durch einen beschränkten Kreis von Staaten in hohem Masse anfechtbar, und die. Mängel der Methode werden keineswegs aufgewogen durch den Inhalt der getroffenen Vereinbarung. Diese erfüllt eine Reihe von Forderungen nicht, welche die ausgeschlossenen Staaten im Interesse ihrer Gleichberechtigung und Sicherheit zu stellen für nötig erachten.

Indessen ist es ein Gebot der Billigkeit, anzuerkennen, dass einige der bedeutendsten Mitglieder der Völkerbundskommission in der entgegenkommendsten Weise unserem Vertreter Gelegenheit geboten
haben, die schweizerischen Wünsche anzubringen. Dass die tatsächlichen Möglichkeiten der Einwirkung auf den Völkerbundsvertrag für unser Land auf einem allgemeinen Kongress wesentlich grösser gewesen wären, kann nicht mit Sicherheit behauptet werden.

547

Eine unter dem Vorsitz des Präsidenten Wilson am 25. Januar 1. Entwurf 19 J 9 von der Plenarkonferenz eingesetzte Kommission für die vom 14. Februar 1919.

Ausarbeitung einer Verfassung des Völkerbundes umfasste ausser den fünf alliierten und assoziierten Grossmächten, die je zwei Vertreter hatten, je einen Vertreter folgender Staaten: Belgien, Brasilien, China, Portugal, Serbien. Nachträglich wurden auch noch Griechenland, Polen, Rumänien und die Tschechisch-Slovakische Republik zugelassen. Ein erster Entwurf dieser Kommission wurde am 14. Februar 1919 bekanntgegeben.

Zweck dieses Vorontwurfs, der von der gegenwärtigen Vorlage nicht wesentlich, wenn auch in vielen Einzelheiten, verschieden ist, war, eine öffentliche Diskussion herbeizuführen. Der Eindruck war vielfach der einer starken Enttäuschung, teils weil der Entwurf keine lückenlose Friedensordnung darstellte und keine oder keine genügenden Sicherungen für gerechtere nationale und soziale Verhältnisse bot, teils weil er den sich bedroht fühlenden Staaten keine hinreichende Sicherheit gegen neue Kriege zu gewähren schien.

Die .neutralen Staaten wurden von der Friedenskonferenz *Konferenz der auf den 20. März zu einer Konferenz eingeladen, um ihre Wünsche Neutralen.

zum Völkerbundsstatut bekanntzugeben. Trotz der grundsätzlichen Bedenken gegen diese Art der Behandlung internationaler Angelegenheiten wollte der Bundesrat -- so wenig wie irgendeine der andern eingeladenen neutralen Regierungen -- sich nicht von der Teilnahme fernhalten, da das sachliche Interesse gegenüber den formalen Bedenken entschieden überwog. An der am 20.

und 21. März in Paris abgehaltenen Konferenz, an der 13 neutrale Staaten*) repräsentiert waren und die in einer mit der Würde dieser Staaten durchaus vereinbaren Form stattfand, war die Schweiz durch eine Delegation vertreten, bestehend aus den Herren Bundesrat Calonder, Nationalrat Alfred Frey, Prof. Max Huber und Prof. W. Rappard. Sekretär der Delegation war Herr Dr. P. Logoz.

Dank der Vorarbeit des Politischen Departements und der Expertenkommission war es dem Bundesrat wesentlich erleichtert, zu den vom Pariser Entwurf angenommenen Lösungen Stellung zu nehmen. In der ßundesratssitzung vom 10. März stellte der Buudesrat eine Reihe von Thesen auf, welche die Grundlage einer Note**), sowie der von der Schweiz an der Konferenz der Neutralen *) Betreffend die nicht vertretenen Staaten, die nicht zu den Krieg-, führenden gehören, vgl. unten S. 50.

**) Beilage II, 9.

548 gestellten Anträge und abgegebenen Erklärungen bildeten. Mit den ändern neutralen Staaten hatte in Paris, vorgängig der Konferenz, ein Gedankenaustausch stattgefunden, der eine weitgehende Übereinstimmung der Interessen ergeben hatte.

SchweizeDie schweizerischen Anträge*) betreffen im wesentlichen rische folgende Punkte : Anträge.

a. die grundsätzliche Zulassung aller Staaten, welche die vom Statut aufgestellten Bedingungen erfüllen; b. Ausbau der Vergleichs- und Gerichtsinstanzen im Sinne des schweizerischen Vorentwurfes, damit nur diejenigen Streitigkeiten vor den wesentlich politischen und unter dem vorherrschenden Einfluss der Grossmächte stehenden Exekutivrat gelangen, die weder durch Vergleich beigelegt werden können, noch nach dem Spruch eines unabhängigen Konfliktshofes sich zur richterlichen Erledigung eignen. Ferner Statuierung der Pflicht, vorgängig jedem gerichtlichen Verfahren einen Vergleichsversuch durch eine unparteiische Kommission anzunehmen -, c. sofortige Einsetzung eines den Grundsatz der Gleichheit der Staaten in seiner Organisation respektierenden Gerichtshofes; d. Erleichterung des Zustandekommens von verbindlichen Mediationsvorschlägen der Staatenversammlung ; e. Wahrung der Souveränität der Gliedstaaten in den vom Bundesvertrag nicht berührten Materien zum Zweck des Ausschlusses von Interventionen in die innern, speziell sozialen Verhältnisse der Staaten ; f. Möglichkeit der Kündigung bei wesentlichen Änderungen des Statuts zum Schütze der Unabhängigkeit der nicht ständig im Exekutivrat vertretenen Staaten.

Die schweizerischen Vorschläge mussten sich, um eine Aussicht auf Erfolg zu haben, im Rahmen des Pariser Entwurfes halten. .Wären sie ohne wesentliche Veränderung angenommen worden, so hätten sie eine ganz bedeutende Verbesserung des Statuts im Sinne der Ausdehnung der unparteiischen Rechtsprechung auf Kosten mehr politischer Einflüsse zur Folge gehabt.

Die Völkerbundskommission der Friedenskonferenz hat zwar den meisten schweizerischen Vorschlägen, sowie auch solchen anderer Neutraler in irgendeiner Form Rechnung getragen; es wird darauf in den Erläuterungen zum Völkerbundsvertrag Bezug genommen werden. Da aber der Entwurf selbst offenbar schon *) Beilage ÏÏ, 10.

549

das Ergebnis langwieriger Verhandlungen und schwieriger Kompromisse gewesen, so waren grössere Änderungen kaum zu erwarten, um so mehr als die von uns vertretenen Ansichten zum Teil schon in der Kommission selbst -- leider erfolglos -- von andern Staaten verfochten worden waren. Immerhin würde es ungerecht sein, die Anhörung der Neutralen als eine blosse Formsache zu betrachten. In einer besondern Sitzung wurde den Neutralen Mitteilung gemacht von der Art und Weise, wie ihre Vorschläge berücksichtigt worden waren, und ein besonderes Protokoll über die Behandlung der von neutraler Seite gemachten Anregungen wurde uns mitgeteilt.

In ihren Sitzungen vom 10./11. April nahm die Völker- Endgültiger Text, bundskommission den definitiven Text an, der, na.ch Überarbeitung durch einen Redaktionsausschuss, in der Plenarversammlung vom 28. April 1919 mit einem kleinen Zusatz unverändert angenommen wurde. Zu diesem Völkerbundsvertrag (Pacte, Covenant), der das erste Kapitel des Friedensvevtrages bildet, gilt es Stellung zu nehmen^).

IF. Grnndziige des Pariser Yölkerlmiidsvertrages.

Im Anhang**) zu dieser Botschaft finden sich Erläuterungen Auslegung über die einzelnen Bestimmungen des Völkerbundsvertrages. An der einzelnen Artikel. dieser Stelle handelt es sich um die Hervorhebung der Grundzüge, die für die politische Beurteilung des Werkes namentlich in Betracht kommen.

HauptIn den zahlreichen von Privaten oder von mehr oder weniger probleme amtlichen Stellen im Laufe der letzten Jahre aufgestellten Völker- eines Völkerbundsprojekten treten drei Haupttendenzen in Erscheinung: bundes.

Einmal kann der Völkerhund auf eine Zusammenfassung und Ordnung des ganzen internationalen Lebens hinzielen oder aber sich mit der blossen Verhütung von Kriegen durch friedliche Streiterledigung begnügen. Sodann kann die Friedenssicherung auf die restlose Ausschliessung des Krieges, d. h. auf die Lösung jedes Konflikts nach Rechts- oder Billigkeitsgrundsätzen gerichtet sein, oder aber der Völkerbund kann sich begnügen, bloss dem Ausbruch der Kriege möglichst viele Hindernisse entgegenzusetzen, in der Hoffnung, dass .durch Zeitgewinn und den Druck der öffentlichen Meinung der kritische Moment überwunden und die Bahn für eine friedliche Verständigung freigelegt werde. Endlich *) Siehe unten S. 650 ff.

**) Siehe unten S. 663 ff.

550

Verhältnis des Völkerbundes zum bisherigen Völkerrecht.

kann der Völkerbund die Beachtung seiner Satzungen zur Sicherung des Friedens unter den Schutz mehr oder weniger wirksamer Sanktionen stellen.

Der Pariser Völkerbundsvertrag ist unverkennbar ein Kompromiss; er musste es xinvermeidlich werden, da die Neigung, sich im Interesse des Weltfriedens zu binden, nicht bei allen Staaten in gleichem Masse vorliegt und das Vertrauen in die Wirksamkeit und Lebensfähigkeit eines Völkerbundes in verschiedenem Grade vorhanden ist. Für die Staatsmänner, welche an dem Vertrage gearbeitet haben, musste der leitende Gesichtspunkt der sein, eine Lösung zu finden, auf die nicht nur sie, sondern die zur Ratifikation berufenen Parlamente sich alle einigen können. Wenn man diese Schwierigkeiten berücksichtigt, so wird man es verstehen, dass der Pariser Völkerbundsvertrag in den drei Hauptrichtungeu keine abschliessendcn und radikalen Lösungen bringt. Er. will das ganze internationale Leben erfassen, aber unterlässt es, die kapitalen Probleme der Weltwirtschaft irgendwie bestimmt und bindend zu ordnen. Er will den Frieden sichern und gegen Bedrohungen von irgendwelcher Seite schützen ; aber er verbietet die Kriege nur dann, wenn sie ohne Einhaltung des zur Sicherung des Friedens vorgesehenen Verfahrens oder gegen einstimmige Ratschläge der unbeteiligten Staaten eröffnet werden. Und nur in diesen Fällen wird die gesamte Kraft der verbündeten Staaten zum Schutze der Friedensordnung eingesetzt.

Gemessen an einem vollkommenen Völkerbunde ist der Pariser Vertrag etwas höchst Unvollkommenes, und nichts ist leichter, als Kritik daran zu üben. Eine gerechte Beurteilung geht aber aus von dem praktisch Möglichen und zieht zum Vergleiche die bisherigen Zustände des internationalen Lebens und die bisherigen Versuche zu dessen Sanierung heran. Alsdann ist nicht zu leugnen, dass der Völkerbundsvertrag vom 28. April 1919 einen gewaltigen Fortschritt über alle bisherige internationale Staateuorganisation darstellt. Dieser Völkerbund steht einem Staateabunde näher als einem blossen Bündnis oder einer Organisation, wie sie die Haager Friedenskonferenzen erfolglos anstrebten. Wer die Entwicklung der Bestrebungen loir Sicherung des Weltfriedens genau kennt; wer weiss, welchen Schwierigkeiten die Durchführung derSchiedsgerichtsbarkeit auch im Verhältnis zwischen nur zwei Staaten begegnet ist;
wer sich erinnert, dass die Idee einer gemeinsamen Abwehr eines Bruchs der Friedensordnung noch unlängst als eine ausserhalb des Bereichs der praktischen Politik liegende Phantasterei galt, der wird in dem Völkerbundsvertrag eine gewaltige Neuerung, einen wesentlichen Fortschritt

551 der internationalen Politik, ja ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung erblicken. Allerdings nur dann, \venn man glaubt, dass dieser Bund wirklich lebensfähig ist und wenigstens das leisten, wird, was in den ihm gezogenen, scheinbar engen Schranken möglich ist.

Die Beurteilung jeder neuen Erscheinung in der Politik ist zu einem grossen Teil Sache des Temperaments. Wer sich nur an den sachlich unvollkommenen und vielfach auch wenig klaren Text des Vertrages hält und den Eigennutz und das Misstrauen als die unausrottbaren und vorherrschenden Faktoren der internationalen Politik betrachtet, der wird in dem Völkerbund vielleicht etwas Totgeborenes oder aber eine verschleierte Form der Herrschaft einzelner Grossstaaten über den Rest der Staatenwelt und die Festlegung der heutigen Machtverbältnisse auf alle Zeiten erblicken. Wer abor auf die wachsende Einsicht von der Verderblichkeit der Kriege lind die Abneigung der Völker gegen gewaltsame Mittel im Staatenverkehr vertraut, wird in dem Völkerbunde zum mindesten einen ernsthaften Versuch erblicken, um der Staatenpolitik den Weg zu einer bessern Zukunft zu weisen.

Der erste Kerngedanke des Völkerbundsvertrages ist der, Beschränkung dass gewisse Arten von Kriegen verboten sein sollen und dass der Kriege.

der Staat, der sie dennoch führt, der Feind aller Glieder des Völkerbundes ist und von allen bekämpft wird. Der Krieg als äusserstes Mittel zur Wahrung staatlicher Interessen ist nicht verboten, da der Völkerbund -- wie er von seinen Begründern ·dermalen für möglich erachtet wird -- diesen staatlichen Interessen selber keinen umfassenden Schutz zu gewähren vermag.

Verboten sind nur die Kriege, die als besonders gefährlich für den allgemeinen Frieden betrachtet werden -- nämlich die Überfallkriege --, und sodann die Kriege, die geführt werden, obwohl die Gegenpartei sich innert nützlicher Frist einem Schiedsspruch oder einem einstimmigen Vorschlag des Rates unterzogen hat.

Ob ein Staat für eine gerechte oder eine ungerechte Sache kämpfen will, ist in vielen Fällen vielleicht schwer zu entscheiden.

Der Völkerbundsvertrag stellt deshalb nicht darauf ab, sondern auf eine äussere, allerdings sehr bedeutungsvolle Tatsache : Einlassung auf ein Gerichts- oder Vermittlungsveirfahren und Beachtung der damit verbundenen Fristen, ehe zu Feindseligkeiten
geschritten wird.

Wird eine Einigung durch unmittelbare Verhandlungen nicht Gruudznge Friedenserreicht und wollen die Parteien die Streitigkeit nicht auf sich des verfahrens.

beruhen lassen, so muss die Partei, die schliesslicli durch don

552 Krieg sich ihr Recht holen will, vorerst die friedliche Streiterledigung versuchen, die der Völkerbund vorschreibt. Entweder hat ein Schiedsgericht zu urteilen oder der Eat, bzw. die Versammlung des Völkerbundes hat sich mit der Sache zu befassen (Art. 12).

Hat ein Schiedsgericht gesprochen, so muss der Spruch in guten Treuen erfüllt werden, und die Angelegenheit ist endgültig erledigt. Leider hat der Völkerbundsvertrag keine bindenden Vorschriften darüber aufgestellt, in welchen Fällen die Parteien sich auf eine richterliche Entscheidung des Streites einlassen müssen (Art. 13).

Sind die Parteien nicht durch besondere Schiedsverträge gebunden und können sie sich nicht einigen auf die Anrufung eines Schiedsgerichtes, so ist der Streitfall dem Rat oder auf Verlangen einer Partei der Versammlung der Staatenvertreter vorzulegen.

Der Spruch des Rates oder der Versammlung ist, ungleich einem Schiedsspruch, nicht bindend ; er ist ein blosser Ratschlag. Ist er aber -- die Parteien nicht gerechnet ·-- vom Rat einstimmig gefasst, eventuell mit einer gleichzeitigen Mehrheit der Versammlung, so ist der Krieg ausgeschlossen gegen den Staat, der dein Ratschlag Folge leistet (Art. 15).

Fristen und Zur Ausarbeitung ihrer Ratschläge haben Rat oder VerÖffentlichkeit. sammlung sechs Monate Zeit ; ein Schiedsgericht eine angemessene, jedenfalls nicht kürzere Frist für die Fällung des Spruches. Aber auch nachdem die eine oder andere dieser Instanzen gesprochen hat, ist eine weitere Frist von drei Monaten abzuwarten, während der jede kriegerische Massnahme des fordernden gegen den belangten Staat verboten ist (Art. 12).

Zweck dieser Vorschriften ist nicht nur -- wenn auch in erster Linie -- die positive Lösung der Konflikte, sondern auch der blosse Zeitgewinn und die mit der Verhandlung der Angelegenheit verbundene Öffentlichkeit. Kommt ßin einstimmiger Beschluss des Rates mit oder ohne Mehrheit der Versammlung nicht zustande, so kann sowohl die Mehrheit wie auch jeder im Rat oder in der Versammlung vertretene Staat die Tatsachen des Streitfalles und seine eigenen Anträge der breitesten Öffentlichkeit übergeben. Im Vertrauen auf die im Grunde friedliche Gesinnung aller Völker hoffen die Gründer des Völkerbundes, dass ein Krieg tatsächlich zur Unmöglichkeit oder doch zu einer nur ganz entfernten Möglichkeit wird,
sobald ein überraschendes kriegerisches Vorgehen ausgeschlossen und jeder gefährliche Streitfall unbedingt zum Gegenstand internationaler Verhandlungen im Lichte der Öffentlichkeit wird.

553

Was dieser Erwartung auch in den Augen des Skeptikers eine reale Grundlage gibt, das ist die zweite kapitale Bestimmung des Völkerbundsvertrages, dass ein Staat, der, diese Vorschriften und Fristen missachtend, zum Kriege schreitet, als Feind aller erklärt und von allen bekämpft, gewissermassen in Acht und Bann getan wird (Art. 16). Der Vorteil überraschenden Angriffs wird in Zukunft durch den Nachteil der Gegnerschaft der Welt überwogen. Die Tatsache des ausgebrochenen Krieges mobilisiert alle Leidenschaften, welche die Rückkehr zum Frieden versperren; die von friedlichen Verhandlungen ausgefüllte Zeitspanne bewehrt alle Kräfte der Vernunft und Besonnenheit, die im Sinne der Verständigung und des Friedens wirken. Die politische Geschichte der letzten Jahrzehnte scheint dieser Auffassung Recht zu geben.

Nicht nur der Weltkrieg, sondern fast alle neuern Kriege sind durch rasche Entschlüsse, unter Ablehnung von Vermittlungen, allgemeiner diplomatischer Konferenzen oder unparteiischer Untersuchungsinstanzen ausgebrochen. Dagegen sind gefährliche Konflikte, wie der englisch-amerikanische in der Alabamafrage (1868 bis 1872), der englisch-russische im Huller-Zwischenfall (1904), der deutsch-französische von Casablanca 1909, der österreichisch-russische 1913, durch Schiedsgerichte, Untersuchungskommission oder Botschafterkonferenz zum friedlichen Austrag gekommen, trotzdem die allgemeine politische Lage und die Gegensätze unter den Beteiligten keineswegs geringer waren als in Zeitpunkten, in denen Kriege angeblich unvermeidlich waren. Je me?ìr die friedliche Erledigung von Konflikten durch die Organe der Staatengesellschaft zur Regel wird, um so schwieriger wird es für die Staaten, auf eigene Faust durch Gewalt ihren Willen durchzusetzen.

Während das bisherige Völkerrecht jeden Krieg als eine Angelegenheit lediglich unter den Streitparteien und deren Verbündeten betrachtet und auf eine Unterscheidung in erlaubte und unerlaubte Kriege völlig verzichtet, wird der Völkerbund wenigstens einzelne Arten des Krieges ausrotten und ihre Wiederkehr durch die vereinte Menschheit unterdrücken. Das ist die erste wirkliche Schranke, die in der Geschichte der Menschheit der Souveränität und damit der Willkür der Staaten gegenüber aufgerichtet wird.

Die beiden Hauptmängel der im Völkerbundsvertrag ent- Lücken der
haltenen Ordnung liegen in folgendem : Der Krieg als Mittel der Friedensordnung.

Staatenpolitik bleibt anerkannt; die wesentliche Voraussetzung zur Abrüstung, die grundsätzliche Absage an den Krieg, ist unerfüllt. Sodann bietet in den Fällen, in denen die Parteien sich

554

nicht freiwillig einem Gericht unterwerfen, der Völkerbund keine Gewähr für eine verpflichtende und gerechte, von einer unparteiischen Instanz getroffene Entscheidung und Lösung der Staatenkonflikte.

Er verhindert nur gewisse Formen ihrer gewaltsamen Austragung und auch dies unbedingt nur dann, wenn die Parteien sich einem Gericht unterwerfen oder die unbeteiligten Staaten einstimmig bzw. mit der, erforderlichen qualifizierten Blajorität eine Lösung empfehlen.

SchwierigAber der nüchtern denkende Politiker wird sich fragen, oh keiten einer überhaupt zurzeit eine Möglichkeit besteht, die Staaten auf ein restlosen Friedens- Mehreres zu verpflichten. Will man nämlich nicht nur die kriegecrdnung. rische Austragung der Konflikte verbieten und verhindern, sondern die Streitigkeiten unter den Staaten selber entscheiden und diese Entscheidungen mit der Autorität des Völkerbundes durchsetzen, so wird man in der Unvollkommenheit und Un Vollständigkeit des Völkerrechts ein grosses Hindernis finden. Das bisherige Völkerrecht ist weit mehr von der Idee der staatlichen Souveränität und Unabhängigkeit als von derjenigen der internationalen Solidarität beherrscht. Dieses Recht dürfte durch einen Völkerbund nicht verewigt werden. "Wer aber sollte es-der Gerechtigkeit und den wandelnden Bedürfnissen des internationalen Lebens anpassen ? Es sind zwei Wege denkbar : entweder könnte das Recht im einzelnen Streitfalle im Wege freier Rechtsfindung durch die Schiedsrichter oder ändern Organe des Völkerbundes umgebildet werden. Dadurch erhielten diese aber eine in ihren praktischen Auswirkungen ganz unabsehbare Macht, die über die Rechtsprechung tatsächlich weit hinausgriffe. Oder aber es müsste das Völkerrecht selbst durch einen Staatenkongress in allgemeinverbindlicher Weise -- ähnlich der staatlichen Gesetzgebung -- geschaffen und weiter entwickelt werden. Damit würde man bereits einer bundesstaatlichen Ordnung sehr nahe kommen. Es wäre aber sehr fraglich, ob heute schon eine genügende Zahl von Staaten -- wenn überhaupt welche -- bereit wären, einem internationalen Gesetzgeber ihre Souveränität zu opfern. Und wie sollte ein solches gesetzgebendes Völkerbundsorgan gebildet sein, damit es hinter sich die tatsächliche Macht der verbündeten Staaten hätte, ohne dabei den Einfluss der kleineren Glieder in unzulässiger Weise
auszuschalten? Der schweizerische Vorentwurf hat eine durchdachte und vielleicht annehmbare Lösung gebracht, jedoch mit Beschränkung der allgemeinverbindlichen Beschlüsse auf Gegenstände, für welche die Glieder des Völkerbundes diesem eine derartige Befugnis einstimmig einräumen würden. Je vollkommener der Völkerbund ist, um so mehr greift er in die Sou-

ODO

veränität der Staaten ein und um so grösser werden die politischen Schwierigkeiten für die Annahme eines solchen Abkommens.

Wenn alle Staaten, namentlich auch alle grossen Staaten, Sanktionen.

deren wirksame Mithilfe zur Bekämpfung der Kriege unerlässlich ist, nicht nur sich verpflichten, auf den Krieg unter gewissen Voraussetzungen zu verzichten, sondern von vornherein erklären, jeden Staat als Feind zu behandeln, der einen dritten Staat überfällt oder einen einstimmigen Rat des Völkerbundes missachtet, so ist das bereits eine grosse Errungenschaft. Auch eine moralische Errungenschaft, denn es kommt damit an Stelle des bis jetzt herrschenden Prinzips des staatlichen Egoismus -- jeder für sieh -- der neue Gedanke der internationalen Solidarität -- alle für einen -- zum Ausdruck.

In dieser Solidarität gegenüber dem Friedensbrecher liegt eine noch viel einschneidendere Verpflichtung für die Staaten als in der Beschränkung des Rechts zur Kriegführung. Die gemeinsam durchzusetzenden Sanktionen ziehen alle, auch die friedlichsten Staaten, unter Umständen in schwerwiegendster Art in Mitleidenschaft. Im Zusammenhang mit der Frage der Neutralität wird diese Seite des Völkerbundsvertrages noch näher zu betrachten sein. Jedenfalls handelt es sich hier um Bindungen, wie sie ausserhalb von Staatenbünden nie eingegangen worden sind.

Würde der Völkerbund weitergehen wollen, so gelangte man zu Beschränkungen der Unabhängigkeit der Staaten, vor denen vielleicht auch diejenigen zurückschrecken würden, die heute den Völkevbundsvertrag als schwächlich und unvollständig scharf kritisieren.

In der Beschränkung auf das im gegebenen Zeitpunkt Erreichbare besteht die Voraussetzung jedes politischen Erfolges, und die Urheber des Völkerbundes mussten in dieser Erkenntnis vielleicht so handeln, wie sie es taten.

Ausser den Artikeln 12, 15, 16 und 17, die den Staaten, Sicheruug selbst solchen ausserhalb des Bundes, ganz bestimmte Beschrän- des Friedens.

kungen hinsichtlich des Rechts zum Krieg auferlegen, enthält der Völkerbundsvertrag noch eine Keine weiterer Bestimmungen zur Sicherung des Friedens. So die Rüstungsbeschränkung und Rüstungskontrolle (Art. 8), die gegenseitige Garantie der territorialen Unverletzlichkeit und politischen Unabhängigkeit (Art. 10), das Recht des Völkerbundes, sich um jede den Frieden
gefährdende Situation zu bekümmern (Art. 11 und 19). Aber hier handelt es sich nur um allgemeine Richtlinien der Politik, nicht um bestimmte Pflichten der Staaten. Die Wirksamkeit dieser Einrichtungen hängt wesentlich von der moralischen Autorität der Völkerbünde-

556

organe ab. Das Erfordernis der Einstimmigkeit hindert, dass der Bund eine die Unabhängigkeit der Staaten bedrohende Interventionspolitik treibe. Wenn die Grossmächte zusammenhalten, werden sie allerdings einen sehr starken Druck ausüben können. Das ist aber schon bisher der Fall gewesen. Der Völkerbund bietet jedoch den Vorzug, dass er eine grössere Stabilität des Friedens gewährleistet und damit den kleinen Staaten, die namentlich von den Konflikten der Grossen in Mitleidenschaft gezogen werden, eine erhöhte Sicherheit bietet. Im bisherigen Zustande der NichtOrganisiertheit der Staatenwelt mögen schwächere Staaten gelegentlich von den Gegensätzen der stärkern Gewinn haben, aber die Grundlagen ihres Daseins sind doch prekäre, und sie können durch die Friedensordnung nur gewinnen, d. h. die in ihnen liegenden Kräfte besser und sicherer entfalten.

Territorialer Der Artikel 10 des Pariser Entwurfs hat namentlich Beund poli- denken erregt. Er besagt, dass die Mitglieder des Völkerbundes tischer Besitzsich verpflichten, ihre territoriale Unveiietzlichkeit und bestehende stand.

politische Unabhängigkeit zu respektieren und zu erhalten gegenüber jedem äussern Angriff, d. h. jeder durch andere Staaten gewaltsam herbeigeführten Änderung*).

Dieser Artikel muss im Zusammenhang mit den übrigen ·die Wahrung des Friedens betreffenden Bestimmungen ausgelegt werden. Es ergibt sich, in Übereinstimmung mit allen Regeln der Interpretation, dass die besondern, im Artikel 16 für die Völkerbundsaktionen vorgesehenen Verpflichtungen nur für die Fälle gelten, die dort ausdrücklich aufgeführt sind, sich aber nicht auf andere Massnahmen des Völkerbundes erstrecken, also auch nicht auf den Fall, dass der Bund für die Aufrechterhaltung des territorialen und politischen Status quo eintritt. Daraus folgt, dass die Mitglieder des Völkerbundes wohl verpflichtet sind, jeden gewaltsamen Eingriff in ihren gegenseitigen Besitzstand zu unterlassen, nicht aber in jedem Falle den Angegriffenen mit den iu Art. 16 vorgesehenen Mitteln zu unterstützen. Das ist unsere Auffassung.

Indessen ist es auch denkbar, dass der Völkerbund Gebiet und Unabhängigkeit seiner Glieder nicht nur gegen jene Angriffe schützen will, die durch Art. 12 bis 15 verboten sind, sondern schlechthin. Da nun aber jeder Krieg -- auch der vom Völkerbund tolerierte -- regelmässig im Angriff auf feindliches Gebiet besteht, so kann ein solcher Angriff an sich nicht in jedem Fall *) Vgl. unten S. 666, Erläuterungen zu Art. 10.

557

eine Verletzung des Art. 10 bedeuten. Erst wenn ein Kriegführender besetztes Gebiet nicht mehr räumen wollte oder wenn «r von vornherein mit dem Anspruch auf Eroberung Krieg führte, läge eine Kollision vor.. Diese löste aber keineswegs die Folgen aus, welche der Art. 16 gegenüber Überfallskriegen vorsieht; vielmehr macht der Rat lediglich Vorschläge, wie der territoriale Status quo sichergestellt werden könne. Verbindliche Vorschläge könnte der Rat höchstens mit Einstimmigkeit und nur für seine Glieder und andere für diese Angelegenheit gemäss Art. 4, Abs. 5, in den Rat gezogene und dort zustimmende Staaten fassen. Es ist deshalb nicht anzunehmen, dass den Mitgliedern des Völkerbundes aus dieser Bestimmung eine sehr weitgehende Bindung erwachse ; es handelt sich bei Art. 10, wenn er überhaupt Pflichten über den Art. 12 hinaus begründen wollte, nur um die Regelung jener Intervention, die die Mächte bei gewaltsamen Gebietsverschiebungen immer versucht haben.

Es ist übrigens durchaus nicht die Tendenz des Völkerbundes, alle bestehenden internationalen Verhältnisse, und dazu gehören auch die Gebietsgrenzen, unter allen Umständen zu verewigen. Art. 19 weist daraufhin, dass im Interesse des Friedens auch Änderungen bestehender Rechtsverhältnisse in Betracht gezogen werden können. Die Annahme des Völkerbundsvertrages und damit seines Art. 10 bedeutet keineswegs eine sachliche Zustimmung zu der gegenwärtigen Gebietsverteilung, sondern nur die Anerkenntnis des Grundsat/es, dass die B esiti: Verhältnisse nicht gewaltsam geändert werden sollen.

Neben der Art und dem Mass der vom Völkerbunde ge- Vorzugsbotenen Friedenssicherung ist von besonderem Interesse die Organi- stellung der sation des Bundes, die Stellung, die einem Staate wie der Schweiz Grossmächte.

angewiesen ist. Die Hegemonie der Grossmächte hat als Tatsache immer bestanden. Vom Wiener Kongress abgesehen, kam sie zwar rechtlich nicht zur Erscheinung. Seit der II. Haager Konferenz trat jedoch das Bestreben hervor, gewissen Staaten, d. h.

den Grossmächten, eine Vorzugsstellung innerhalb internationaler Institutionen einzuräumen. In der Organisation der Pariser Friedenskonferenz und in derjenigen des Völkerbundes ist diese Tendenz besonders stark zur Geltung gekommen. In dem Rat sind nach Art. 4 fünf Grossmächte dermalen ständig vertreten, neben
ihnen vier von Zeit zu Zeit wechselnde weitere Staaten. Da für die meisten Beschlüsse des Rates Einstimmigkeit erforderlich ist -- eine Einstimmigkeit, die in einzelnen Fällen durch eine Mehrheit der alle Staaten umfassenden Versammlung ergänzt sein Bundesblatt. 71. Jahrg. Bd. IV.

40

558

muss --, kann ohne den Willen jedes einzelnen der im Rate vertretenen Staaten keine wichtige Aktion des Völkerbundes zustande kommen. Die Grossmächte, die ständig im Rate sitzen, haben somit eine unzweifelhafte Vorzugsstellung ; sie behalten,, soweit sie nicht durch den Völkerbundsvertrag unmittelbar gebunden sind, von bloss formalen Geschäftsbeschlüssen abgesehen,, ihre vollständige Freiheit, da ohne ihre Zustimmung keine Beschlüsse zustande kommen. Die andern Staaten dagegen können, wenn auch nur in beschränktem Umfang, gegen ihren Willen durch Beschlüsse des Rates, in dem sie nicht sitzen, wenigstens indirekt gebunden werden. Wenn z. B. der, Rat einen einstimmigen Vorschlag gemäss Art. 15 gemacht hat, so sind alle Staaten zur Anwendung der Sanktionen nach Art. 16 verpflichtet, wenn ein Staat in Missaehtung dieses Rates Krieg führt. Sodann enthält der deutsche Friedensvertrag eine Reihe von Bestimmungen, wonach der Rat mit Mehrheit Beschlüsse betreffend die Ausführung des Friedens treffen kann (vgl. unten, S. 595 f.).

Neben den fünf Grossmächten haben vier weitere Staaten Sitz und Stimme im Rate. Damit wird aber nicht eine weitere Klasse privilegierter Staaten geschaffen, da die Versammlung diese Staaten von Zeit zu Zeit neu bestellt. Kein bestimmter Staat hat ein Recht auf diese Mitgliedschaft. In dieser Einrichtung kann eine Verletzung der Gleichheit nicht erblickt werden, denn es ist schlechterdings unmöglich, dass alle im Rate vertreten sind.

Im Gegensatz zum ,,Rat" ist die ,,Versammlung" völlig auf Grundsatz der Gleichheit dem Grundsatz der Gleichheit der Staaten aufgebaut ; jeder Staat der Staaten. hat eine gleiche Stimme, ob gross oder klein -- abgesehen davon, dass Grossbritannicn nicht nur als Gesamtreich, sondern auch für vier seiner Dominions und für Indien eine besondere Vertretung besitzt. Die Gleichberechtigung in der Versammlung entschädigt aber die Nichtgrossmächte keineswegs für ihre Hintansetzung im Rat. Denn im Rat liegt unverkennbar das Schwergewicht des Völkerbundes in seiner heutigen Organisation; der Rat hat in der Hauptsache die gleichen Befugnisse wie die Versammlung, er ist ihr nicht etwa, wie einer Legislative, als Exekutivorgaa untergeordnet. Die unklare oder ungenügende Abgrenzung der Zuständigkeiten der beiden Organe ist dazu angetan, das Übergewicht des weniger
zahlreichen, leichter zu besammelnden Rates, in dem die Grossmächte die Mehrheit bilden, zu begünstigen.

Ein schweizerischer Antrag*), die Kompetenzen des Rates und der *) Beilage II, 9.

559

Versammlung gegenseitig klar abzugrenzen und speziell der Versammlung klar die Aufgabe des Ausbaus des internationalen Rechtes zu geben, ist leider unberücksichtigt geblieben.

So sehr die Schweiz ein entscheidendes Gewicht darauf legen muss, nicht ein Glied minderen Rechtes im Völkerbunde zu sein, so darf man anderseits doch auch die gewaltigen Unterschiede in der Grosse, der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Staaten nicht übersehen. Eine lebensfähige Organisation kann nicht in zu starkem Widerspruch zu wichtigen Tatsachen stehen; sie muss deshalb den rechtlichen Einfluss in ,ein angemessenes Verhältnis zum tatsächlichen setzen. Allerdings würde es für die Nichtgrossmächte annehmbarer gewesen sein, wenn, wie im schweizerischen Vorentwurf, nicht auf die Grossmachtqualität als solche, sondern auf das Mass der im Interesse des Völkerbundes von einem Staat übernommenen Pflichten und auf das Prinzip der Volkszahl abgestellt würde. Indessen soll man an der Form nicht Anstoss nehmen, wenn sie im Grunde docli nur der Ausdruck unabänderlicher Tatsachen ist und solange dem höheren Zweck, der verfolgt wird, kein Abbruch getan wird.

Einen die kleineren Staaten verpflichtenden Zwang können die im Rate ständig vertretenen Grossmächte nicht ausüben ; ihre bevorzugte Stellung ist wesentlich eine negative, d. h. es kann nichts ohne ihre Mitwirkung unternommen werden. Aber die Möglichkeit der Überstimmung eines der grossen Staaten wurde, wenn auch rechtlich zulässig, zumeist politisch unmöglich sein, d. h. den Völkerbund selbst gefährden, wenigstens solange dieser sich nicht vollständig gefestigt hat.

Eine unzulässige und unannehmbare Durchsetzung der Vorzugsstellung gewisser Staaten wäre dann vorhanden, wenn sie sich auf dem Gebiete der grundsätzlich unabhängigen Rechtssprechung geltend machte oder wenn sie sich von den organisatorischen Vorschriften auf die materielle völkerrechtliche Rechtsordnung übertragen würde. In seiner gegenwärtigen Form enthält der Völkerbundsvertrag keine derartigen Bestimmungen. Es besteht gar kein Grund für die Annahme, dass die im Friedensvertrag enthaltenen Bestimmungen, welche für Deutsehland z. B.

in Verkehrsangelegenheiten Pflichten ohne entsprechende Rechte gegenüber den andern Vertragsparteien statuieren, eine allgemeinere Anwendung finden werden, übrigens haben
jene Bestimmungen z. T. nur einen provisorischen Charakter (Art. 320 und 378 des Friedensvertrages).

Ein Hauptvorwurf, der dem Entwurf in organisatorischer Bund der Hinsicht gemacht wird, ist der, dass es kein Völkerbund, sondern Regierungen oder der Yölker.

560

ein blosser Bund von Regierungen sei. Mit andern Worten: es sollten unmittelbare Repräsentanten der Völkervertretungen oder der Völker selbst, nicht aber Minister und diplomatische Bevollmächtigte den massgebenden Einfluss haben: der Völkerbund sollte demokratischer sein: Der Verwirklichung dieses Gedankens stehen aber sehr grosse Schwierigkeiten entgegen. Die Haltung eines Staates im Völkerbunde ist ein Teil der Aussenpolitik dieses Staates. Es ist selbstverständlich, dass diese Politik nur eine einheitliche sein kann.

Es ist nicht wohl denkbar, dass die Volksvertretung in die Behörden des Völkerbundes ihre Vertreter abordnet und diese instruiert, während die Regierung im übrigen die auswärtigen Beziehungen in bisheriger Weise leitet. Wohl aber hindert keine Bestimmung des Völkerbunds vertrages, dass die Parlamente die Staatenvertreter ernennen, wenn die Verfassung eines Landes der Volksvertretung eine solche Befugnis einräumen will. Der Völkerbundsvertrag spricht nur von Staaten, nicht von Regierungen.

Allerdings hat es die Meinung, dass die Vertreter im Rate die verantwortlichen Leiter der Politik seien ; denn nur dann kann diese Instanz den unmittelbar wirksamen politischen Willen der Staaten verkörpern. Hätte der Völkerbund zur Folge, dass die staatsrechtliche Ordnung, wie sie in allen Staaten in bezug auf die Kompetenzen zur Leitung der auswärtigen Geschäfte besteht, völlig umgestaltet werden müsste, so wäre die Annahme des Vertrages in absehbarer Zeit ausgeschlossen.

Es liesse sich auch denken, dass neben einen Rat der Vertretung der Regierungsvertreter im Völkerbund eine Versammlung von VerParlamente. tretern der Parlamente gestellt würde. Die schweizerische Expertenkommission hat diesen Gedanken geprüft und ihn vorläufig fallen gelassen. Eine eigentliche Volksvertretung im Völkerbund, die nicht Staaten, sondern Klassen, Nationalitäten, Interessentengruppen usw. vertritt, setzt auch eine von den Gliedstaaten unabhängige Regierung voraus : das Parlament kann nicht auf einer zentralistischen Grundlage beruhen, solange das ausführende Organ rein föderalistisch gebildet wird. Im Völkerbund lässt sich aber eine zentralistische Regierung -kaum denken ; die Regierungen bisher völlig selbständiger Staaten und vollends der Grossmächte lassen sich nicht in dieser Weise ausschalten. Angenommen,
dass bei der Gründung des Völkerbundes die Staaten auf eine solche Ordnung eingingen, müsste befürchtet werden, dass zwischen der Vertretung der Regierungen und derjenigen der Parlamente

561 im Völkerbund Gegensätze sich fast unvermeidlich herausstellen würden, welche auf den Bund lähmend wirken müssten. Auch darf man sich die Schwierigkeiten nicht verhehlen, die sich der fruchtbaren Tätigkeit eines zahlreichen, aus Vertretern der verschiedensten Nationen zusammengesetzten Parlamentes entgegenstellen würden.

Der einfachste und sicherste Weg zur Demokratisierung des Völkerbundes geht jedenfalls über die wahrhafte Demokratisierung der Politik, nicht nur der auswärtigen, in den. einzelnen Staaten selber. Immerhin darf der Gedanke, in der Organisation des Völkerbundes demokratische Grundsätze zu verwirklichen, nicht fallen gelassen werden. Das Abkommen über das internationale Arbeitsrecht, speziell die von ihm vorgesehene Vertretung der Arbeiter und Arbeitgeber ist ein Versuch in dieser Richtung, der sich vielleicht auf allgemeinerer Grundlage durchführen lässt (vgl. unten, S. 621 f.).

Der Vorwurf des Undemokratischen ist auch den Friedensverhandlungen und speziell der damit verbundenen Aufstellung des Völkerbundsvertrages gemacht worden. Indessen ist doch zu berücksichtigen, dass die an massgebender Stelle beteiligten Staatsmänner entweder sich auf grosse parlamentarische Mehrheiten und damit mittelbar auf das allgemeine Wahlrecht, zum Teil sogar auf Volkswahlen stützten. Auch in der Demokratie ist es nicht zu vermeiden, dass auf einzelne Personen sich, namentlich in der internationalen Politik, grosse Verantwortlichkeiten konzentrieren, denn eine Mitwirkung der Parlamente bei komplizierten Vertragsverhandlungen ist nicht möglich.

Wenn dem Völkerbund in seiner heutigen Gestalt undemo- Grundsatz kratisches Wesen vorgeworfen wird, so wird dabei doch eine 'der Öffentlichkeit.

wichtige Tatsache übersehen: die Öffentlichkeit, welche durch das in Art. 15 vorgeschriebene Vermittlungsverfahren gesichert wird, bietet den Völkern die Möglichkeit, sich zu den Konflikten der Regierungen zu äussern und schützt sie vor vollendeten Tatsachen. Auch Art. 18, der geheime Verträge künftig für unverbindlich erklärt, bedeutet eine ganz wesentliche Beschränkung der Geheimpolitik und verwirklicht eine Forderung, die noch vor kurzem als völlig utopisch gegolten hat. Wenn sich die Völker oder zunächst die politischen Parteien mehr als bisher um die internationale Politik interessieren werden, so bietet ihnen der Völkerbund die Möglichkeit, in kritischen Situationen und gegenüber gefährlichen Abmachungen rechtzeitig ihre Stimme zu erheben.

562

UnabhängigIst der Grundsatz der Gleichheit nur sehr unvollkommen im keit im Völkerbund gewahrt und eine unmittelbare Einwirkung der VolksVölkerbund. ,vertretungen oder Völker nicht vorgesehen, so ist deren Unabhängigkeit im Grunde wenig berührt -- allerdings auf Kosten der Wirksamkeit und Dauerhaftigkeit des Bundes selbst. Man darf sich nicht verhehlen, dass in dem Masse, als der Völkerbund sich nach Organisation und Leistungen einem demokratischen Staatsgebilde, d. h. einem Bundesstaate, nähert, er die Unabhängigkeit der Gliedstaaten beschränken müsste.

Die Unabhängigkeit der beitretenden Staaten ist wesentlich durch folgende Bestimmungen gewährleistet : 1. Alle Beschlüsse, aus denen Pflichten der Staaten hervorgehen, sind einstimmig zu fassen. Jeder, von einem solchen Beschlüsse gegebenenfalls betroffene Staat ist, wenn er nicht ohnehin im beschliessenden Organ vertreten ist, zur Mitberatung eingeladen. Er kann alsdann sein Veto erheben (Art. 4 und 5).

2. Wenn durch einen Mehrheitsbeschluss eine Revision des Völkerbundsvertrages zustande kommt, können die ablehnenden Staaten aus dem Bunde ausscheiden. Jede Pflicht ist somit dem freien Willen des gebundenen Staates entsprungen. Das Vertragsprinzip ist gewahrt (Art. 26).

3. Unter Beobachtung einer zweijährigen Kündigungsfrist kann jeder Staat vom Bunde zurücktreten (Art. 1).

4. Der Völkerbund hat sich mit den Angelegenheiten, welche ausschliesslich der internen Staatshoheit unterstehen, nicht zu befassen (Art. 15, Abs. 8).

Die wichtigste Bindung, die aus dem Beitritt erwächst, ist die Verpflichtung zur Teilnahme an der Abwehr und Unterdrückung der vom Völkerbund verbotenen Kriege. Für die Schweiz ergibt sich aus der Neutralität eine besondere Stellung in dieser Hinsicht (vgl. unten, S. 567 f.). Die andere wichtige Pflicht, die Beschränkung in der kriegerischen Selbsthilfe zur Wahrnehmung staatlicher Interessen, ist nichts als eine förmliche Festlegung einer Politik, die ohnehin eine schweizerische Staatsmaxime ist : das Prinzip, den Krieg nur als letzte Abwehr gegen unmittelbare Angriffe oder zur Verteidigung des Rechts und der Lebensinteressen nach fruchtloser Erschöpfung friedlicher Mittel anzuerkennen.

Die Frage, wer gegebenenfalls zu entscheiden hat, wieweit die aus dem Völkerbundsvertrag den Mitgliedern erwachsenden Pflichten .reichen, ist nur für den Fall geregelt, wo es sich um

563 einen Streitfall zwischen zwei oder mehr Staaten handelt, nicht aber dann, wenn eine Meinungsverschiedenheit zwischen einem Mitgliede einerseits und einem Organ des Bundes, z. B. dem Rat, anderseits vorliegt. Da das durch den Völkerbund begründete Verhältnis ein vertragliches ist, kann nicht angenommen werden, dass die einen Kontrahenten ohne ausdrückliche Ermächtigung den ändern eine Auslegung des Vertrages oktroyieren können.

Tatsächlich aber wird sich ein Staat kaum der vom Rat einstimmig gebilligten Auffassung entziehen können, da dieser allenfalls unter Berufung auf den letzten Absatz von Art. 16 einen Staat ausschliessen kann, der dem Vertrag nicht nachkommt.

Es wird von den meisten Befürwortern des Völkerbundsgedankens anerkannt, dass der Völkerbund, wenn er sich ausschliesslich mit der Beilegung von Streitigkeiten befassen würde, kein wahrhaft lebendiger Organismus sein und die zur Erreichung seiner Ziele erforderliche Autorität nicht erlangen könnte. Der Völkerbund muss das Zentrum des ganzen rechtlich erfassbaren internationalen Lebens werden und durch sein positives Wirken sich in der Vorstellung der Völker als einigende und ausgleichende Macht Anerkennung verschaffen. Dieses Ziel will der Völkerbundsvertrag anstreben, zunächst auf dem Gebiete der sozialen Fürsorge.

Allerdings entbehrt er in seiner gegenwärtigen Form, in der Hauptsache der bindenden Kraft und begnügt sich mit der Aufstellung von Postulaten (Art. 23). Immerhin in einem Punkt ist der Ausbau des Völkerbundes bereits begonnen. Über das internationale Arbeitsrecht besteht ein Abkommen, vorwiegend organisatorischer Natur, dem alle Glieder des Völkerbundes ohne weiteres angehören werden und das einen wesentlichen Fortschritt auf diesem Ge· biete und eine wertvolle Ergänzung des Völkerbundes darstellt*).

Lückenhaft und ungenügend ist die ebenfalls höchst wichtige Ordnung des internationalen Verkehrsrechts, die mindestens die Freiheit des Transites allen Staaten sichern muss. Ein allgemeines Abkommen über diesen Gegenstand ist in Angrifif genommen, sein Zustandekommen aber keineswegs gesichert (Art. 23 e).

Eine andere Lücke des Völkerbundsvertrages ist das Fehlen von Bestimmungen zum Schutz der politischen und bürgerlichen Rechte, insbesondere der sprachlichen und religiösen Minderheiten.

In der Bedrückung solcher
Minderheiten lag eine Hauptquelle der Kriege der letzten hundert Jahre und, da eine restlose Abgrenzung der°Staaten nach Nationalitäten nicht möglich oder selbst nicht immer gerechtfertigt oder zweckmässig ist, wird die Gefahr solcher *) Vgl. Beilage VI, 20.

Positive Aufgaben des Völkerbundes.

Minoritätenschutz und Selbstbestimmung.

564

Reibungen immer bestehen, wenn nicht jeder Staat eine wirklich liberale Politik gegenüber solchen Minderheiten verfolgt.

Viel weitergehend als der Schutz der Minderheiten ist dasSelbstbestimmungsrecht, wonach räumlich geschlossene Bevölkerungsgruppen sollen entscheiden können, ob sie ein eigenes staatliches Dasein begründen oder sich einem andern als dem bisherigen Staatsganzen anschliessen wollen.

Diese Fragen sind von der schweizerischen Expertenkommission eingehend erörtert worden. Obwohl in grundsätzlicher Beziehung.

Übereinstimmung bestand, trug die Kommission Bedenken, eine unmittelbar bindende Vorschrift in den Völkerbundsvertrag aufzunehmen, und begnügte sich mit einer dem Vertrag vorangestellten feierlichen Erklärung. Je näher man diesen Problemen tritt, um so mehr erkennt man die Schwierigkeit, dem allseitig anerkannten Grundsatz eine für alle Verhältnisse passende, politisch durchsetzbare konkrete Formulierung zu geben. Das Fehlen einschlägiger Bestimmungen, so bedauerlich es ist, erscheint dennoch wohl erklärlich.

Allgemeiner Was in den Augen der einen eine grosse Schwäche des Charakter des Völkerbundsvertrages ist, die Unbestimmtheit und UnverbindlichVölkerbundsvertrages. keit vieler seiner Bestimmungen, ist nach der Auffassung anderer sein grosser Vorteil. Der Völkerbund ist etwas Werdendes : aus den Erfahrungen heraus wird seine Ausgestaltung erfolgen. Die Entwicklung soll nicht ohne Not durch Vorschriften beengt sein,, die so leicht nicht wieder geändert werden können. Jede nicht unerlässliche Regelung hätte die Schwierigkeiten der Einigung erhöht und damit die Erreichung des Hauptzieles gefährdet: dieLegung der unerlässlichen Fundamente, auf denen ein vollkommener Bund aufgebaut werden kann, wenn überhaupt ein internationaler Geist die Politik beherrscht. Dieses Vorgehen, das mehr auf das praktisch Erreichbare ausgeht und das für die künftige Ausgestaltung mehr auf die allmählich zu gewinnende Erfahrung als auf die Konsequenz und Geschlossenheit eines Systems vertraut, entspricht wohl der Auffassung der britischen und amerikanischen Staatsmänner, deren Einfluss auf das Völkerbundsprojekt besonders gross gewesen zu sein scheint. Die Schweiz kann aus diesem Vorgehen, das dem praktischen Politiker einleuchtend sein muss,.

um so wenig Anlass zu Bedenken schaffen, als diese
Staatsmänner, unter denen neben dem Präsidenten Wilson namentlich OJberst House und Lord Robert Cecil zu nennen sind, wiederholt Beweise ihrer Freundschaft für unser Land gegeben haben.

565

III. Neutralität und Yölkerbnnd.

Die Neutralität ist die überlieferte Haltung der Schweiz seit vier Jahrhunderten gegenüber den kriegerischen Konflikten anderer Staaten. Seit einem Jahrhundert ist diese Neutralität von den meisten für uns wichtigen Staaten förmlich anerkannt. In der Neutralität erblickt das Schweizervolk die Grundlage seiner Unabhängigkeit und seiner Sicherheit. Unter dem Gesichtspunkte der Neutralität betrachten die Schweizer herkömmlich die Fragen der auswärtigen Politik.

Kein Volk wird durch die neue Tatsache des Völkerbundes in den Grundlagen seiner internationalen Stellung so stark berührt wie die Schweiz. Nicht nur hat das Fernbleiben von einem Kriege oder die Teilnahme an einem solchen für wenige Länder und Völker eine derartig kapitale Bedeutung wie für die Schweiz ; es gibt auch keinen Staat, der eine so stabile und gleichmässige Aussenpolitik aufweisea könnte wie sie. MUSS sie eine neue politische Richtung einschlagen, so bedeutet dies einen Bruch mit einer langen Vergangenheit, vielleicht eine Wendung ihres Schicksals. Die Schweiz hängt an der Neutralität nicht nur aus Selbsterhaltungstrieb, sondern in der Überzeugung, mit dieser Politik gleichzeitig einem höheren Interesse zu dienen.

Es kann nicht geleugnet werden, dass im Bereich der abstrakten Begriffe Neutralität und Völkerbund sich ausschliessen.

Neutralität bedeutet Friedenserhaltung durch Nichteinmischung, der Völkerbund will dagegen den Frieden durch die solidarische Aktion seiner Glieder sichern. In einem Zeitpunkt, wo so viele Völker im Glauben an die Gerechtigkeit der von ihnen verfochtenen Sache das äusserste an Opfern gebracht haben, muss es weitherum an Verständnis für die Neutralität fehlen ; sie wird als Gleichgültigkeit gegenüber der gerechten Sache beurteilt. Die Neutralität, welche die Schweiz vertritt, hat jedoch nichts gemein mit jener Neutralität, die ausschliesslich von Zweckmässigkeitsrücksichten bestimmt ist. Sie ist eine grundsätzliche und immerwährende, sie ist durch ihre unbedingte Zuverlässigkeit gekennzeichnet ; sie verzichtet auf die Möglichkeit, durch Eintritt in den Krieg den Vorteil des Augenblicks auszunützen ; sie ist nicht gleichgültig, sondern strebt nach Unparteilichkeit.

Die dem Völkerbund zugrunde liegende Idee der Solidarität der Staaten gegenüber einem Friedensbrecher
erleidet in ihrer heutigen Durchführung mancherlei Abschwächung. Denn der Völkerbund hat es mit Staaten zu tun, die ganz verschiedene Bedürfnisse haben und in sehr ungleichem Masse imstande oder

Die

schweizerische Neutralität.

Das besondereInteresse der Schweiz an der Neutralität.

566

willens sind, die Rechtsordnung eines Bundes zu schützen. Die westliche Hemisphsere macht ihr Sonderrecht in der Monroedoktrin geltend, und die Wirksamkeit der vom Bunde gewährleisteten Friedenssicherung erscheint einzelnen Staaten nicht genügend, um auf eine besondere Sicherheit durch Defensivallianzen zu verzichten. Der Krieg selbst, zu dem die Neutralität eine Begleiterscheinung bildet, ist nicht völlig verbannt.

Es ist deshalb nichts unverständliches und ungerechtfertigtes, wenn die Schweiz sich nicht entschliessen kann, eine Institution preiszugeben, die sich bewährt hat, solange nicht gänzlich neue Verhältnisse an Stelle der Voraussetzungen der bisherigen Politik getreten sind. Es ist nicht kleinliche Selbstsucht, sondern Selbsterhaltungstrieb, wenn die Schweiz sich fragt, welche Gefahren ihr aus der restlosen Teilnahme an den Aktionen des Völkerbundes gegenüber einem Friedensbrecher erwachsen. Ist die Lage so, dass die Mitwirkung eines so kleinen Landes wie die Schweiz von Bedeutung ist, so ist es deshalb, weil ihre Nachbarstaaten im Kampfe sind. Alsdann bedeutet Teilnahme am Kampf, dass das ganze Gebiet der Schweiz voraussichtlich zum Kriegsschauplatz wird. Diese Gefahr ist um so grösser, als die Gesamtaktion des Völkerbundes erst einsetzt, wenn der Friedensbrecher bereits zum Angriff geschritten ist. Das wird nur ein Staat tun, der durch ein rasches und rücksichtsloses Vorgehen sich ein Übergewicht gegenüber dem Völkerbund zu sichern hofft. An der Berührungsstelle mehrerer Grossstaaten gelegen, mit einem kleinen, doch wirtschaftlich hochentwickelten Gebiet läuft die Schweiz -- im Falle der Verwicklung in einen modernen Krieg -- in höherem Masse die Gefahr völliger Vernichtung als irgendein anderes Land der Erde. Sie wird deshalb grosse Bedenken tragen, eine Politik einzuschlagen, die sie irgendwie in einen Krieg hineinziehen kann, der nicht unmittelbar ihre Lebensiuteressen berührt.

Billigkeit Nun ist allerdings gerade aus dem Weltkriege die Erkenntnis 4es schwei- erwachsen, dass jeder Krieg im Grunde alle Staaten angeht, weil zerischen Standpunktes. er alle in Mitleidenschaft ziehen kann und die Grundlagen des allen Staaten gemeinsamen Völkerrechts angreift. Diese Überlegung rechtfertigt die Solidarität und die Idee des Völkerbundes.

Aber aus der Solidarität folgt keineswegs, dass
jeder Staat in gleicher Weise und in gleichem Masse zur Mitwirkung herangezogen werde. Die mechanische Gleichbehandlung aller Staaten führt wegen der tatsächlichen grossen Unterschiede in der Lage der Staaten zu den grössten Ungerechtigkeiten.

567

Ein grosser Staat wird auch in einem langen Kriege kaum in seinem ganzen Umfange jemals ergriffen und zerstört werden.

Viele Staaten laufen vermöge ihrer Entfernung von den Brennpunkten politischer Konflikte oder ihrer Lage am Rande der Kontinente weniger Gefahr, Kriegsschauplatz zu werden, als andere.

Selbst ihre aktive Teilnahme an einem Feldzug wird sie nur in beschränktem Masse in Mitleidenschaft ziehen. Ein Binnenland aber wie die Schweiz hat gegebenenfalls sein ganzes Gebiet, seine ganze Bevölkerung einzusetzen, und zwar auch dann, wenn es nicht einmal aktiv mitmacht, sondern nur den Durchzug der Truppen des Völkerbundes zu gewähren hätte. Selbst bei Einhaltung der Neutralität ist ein solches Land mehr gefährdet als andere, die zugunsten des Völkerbundes aus der Neutralität heraustreten. Wenn die Schweiz verlangt, auch im Völkerbund neutral zu bleiben, so ist dies kein unbilliges Verlangen, kein Anspruch auf Privilegierung, sondern nichts weiter als eine gerechte Ausgleichung der Lasten und Gefahren.

Das Verlangen der Schweiz, ihre Neutralität zu behaupten, Notwendigeiner musste auch aus dem Grunde gestellt werden, weil der Völker- keit immerbund dio Kriege keineswegs allgemein ausschliesst, somit auch währenden die Neutralität überall da bestehen lässt, wo nicht eine Gesamt- Neutralität.

aktion des Bundes nach Art. 16 ausgelöst wird. Man kann sich nicht wohl mit dem Gedanken abfinden, dass die Schweiz ihre immerwährende Neutralität in den einen Kriegen aufrechterhalten, in ändern aber aufgeben würde. Es ist allerdings richtig, dass die Gesamtaktiorien des Völkerbundes einem allgemeinen und hohem Zwecke dienen und in gewissem Sinne als polizeiliche Vollstreckungen gelten können. Äusserlich aber nehmen sie doch den Verlauf von gewöhnlichen Kriegen, und es lassen sich Fälle denken, wo es nicht von vornherein klar ist, ob ein tolerierter Krieg oder ein Krieg unter Bruch des Völkerbundes vorliegt.

Die immerwährende Neutralität, wie sie 1815 anerkannt wurde, hat nur dann ihren vollen Wert -- nicht nur für die Schweiz, sondern auch für die übrigen Staaten --, wenn sie unter allen Umständen beobachtet wird und einen absolut sichern Faktor im strategischen Kalkül bildet.

In seinem Memorandum über die schweizerische Neutralität vom 8. Februar 1919*) hat der Bundesrat auch auf die humanitären
Interessen hingewiesen, welche für die Erhaltung der Neutralität sprechen und die, wenn es zu einem Kriege des Völkerbundes gegen einen Rechtsbrecher käme, in gleicher Weise wie bisher durch Erhaltung eines neutralen, unverletzlichen Gebietes *) Vgl. Beilage III, 13.

568

geschützt werden sollten. Auch in dieser Beziehung liegt die immerwährende Neutralität nicht nur im schweizerischen, sondern im europäischen, ja im allgemeinen Interesse.

Mag die Neutralität der Schweiz im Völkerbund als eine Inkonsequenz erscheinen, so ist sie tatsächlich doch völlig gerechtfertigt. Wie alle geschichtlichen Gebilde, ist auch der Völkerbund nicht bloss ein nach abstrakten Grundsätzen ausgebautes System, sondern er ist durch die geographischen und historischen Eigentümlichkeiten seiner Gliedstaaten bedingt und stellt ein Kompromiss dar zwischen der Idee einer vollkommenen Friedensorganisation' und den politischen Möglichkeiten der heutigen Stunde.

Haltung des Indessen war es für den Bundesrat, auch ohne Bücksicht Bundesrates auf die bereits dargelegten Gründe, gegeben, alles zu tun, um in der Neutralitäts- der Schweiz im Völkerbunde die Neutralität zu sichern. Der frage.

Völkerbund ist bestimmt, alle oder fast alle Staaten in sich aufzunehmen. Wer ausserhalb des Bundes bleibt, läuft Gefahr, sich zu vereinsamen. Der Völkerbund kann nicht mit einer beliebigen Allianz oder einer unpolitischen internationalen Union verglichen werden, der man sich ohne schwerwiegende Bedenken anschliessen oder nicht anschliessen kann : er will die neue Organisation der Welt sein, der die Schweiz grundsätzlich angehören muss. Hätte die Schweiz zwischen Völkerbund und Neutralität zu wählen, sowürde das Schweizervolk vor eine · schmerzliche Entscheidung gestellt worden sein. In diesem Falle hätte das Volk sich schwerlich entschliessen können, das bewährte Alte für die grosse, aber neue und manchen vielleicht fremdartige Idee zu opfern.

Darauf durfte es der Bundesrat nicht ankommen lassen, ist es doch seine verfassungsmässige Pflicht, die Neutralität der Schweiz nicht nur im Kriege zu wahren, sondern die ganze Politik nach diesem Grundsatze zu orientieren.

Die Expertenkommission hatte sich in ihrer Session vom Januar 1919 nach eingehender Diskussion nahezu einstimmig für die Beibehaltung der Neutralität im Völkerbunde ausgesprochen, und zwar im Hinblick auf ihren Vorentwurf, der einen viel ausgebildetem Bund, als es der gegenwärtige Vertrag ist, vorsieht.

Für sie war die Wünschbarkeit des Daseins von dauernd befriedeten Gliedstaaten, die, wie Basel, Schaffhausen und Appenzell in der alten Eidgenossenschaft,
eine ständige Vermittlerrolle haben könnten, das ausschlaggebende Motiv neben den Rücksichten auf eine billige Verteilung der aus dem Bunde erwachsenden Risiken.

Obwohl der Bundesrat wusste, dass die Anerkennung der schweizerischen'Neutralität als einer immerwährenden im Völker-

569

bunde auf grosse Schwierigkeiten stossen würde und dass in den kriegführenden Staaten die Neutralität überhaupt ungünstig und vielfach unrichtig beurteilt wurde, richtet er das bereits erwähnte Memorandum vom 8. Februar 1919 an sämtliche Staaten. Damit war jede Zweideutigkeit ausgeschlossen, welche die Auffassung hätte aufkommen lassen können, als ob die Schweiz allenfalls zur Preisgabe ihrer überlieferten Politik bereit wäre. Die diplomatischen Vertreter unseres Landes, sowie andere Vertrauenspersonen des Bundesrates, welche schweizerische Interessen in Paris wahrnahmen, haben nichts unterlassen, um den bosondern Standpunkt der Schweiz verständlich zu machen. Es war dies eine schwierige und gegenüber dem Ausland wenig dankbare Aufgabe.

In Anbetracht der grossen und übrigens leicht erklärlichen Widerstände, welche sich der Anerkennung der Neutralität entgegenstellten, konnte es sich nur darum handeln für die Schweiz, die als neutraler Staat geschichtlich und rechtlich eine ausgesprochene Sonderstellung bisher eingenommen hat, die Neutralität zu erhalten, nicht aber den gesamten neutralen Staaten als solchen eine besondere Mission zu sichern.

In der Konferenz der Neutralen in Paris am 21. März stellte Verdie Schweiz keine dahingehenden Anträge, sondern begnügte handlungen über die sich mit einem Hinweis auf ihr Memorandum. Dagegen nahm Neutralität, der damals in Paris weilende Chef des Politischen Departements die Gelegenheit wahr, mit einigen der leitenden Staatsmänner über die Neutralitätsfrage zu sprechen. Es ergab sich dabei, dass an einzelnen Stellen Geneigtheit bestand, unserer besondern Stellung Rechnung zu tragen. Anderseits Hessen die Verhandlungen der neutralen Konferenz keinen Zweifel übrig, dass die Haupturheber des Völkerbundsentwurfes die Annahme der aus Art. 16 fliessenden Pflichten als etwas Undiskutierbares, als den Kernpunkt der neuen Ordnung betrachteten und dass nur hinsichtlich der aktiven Mithilfe bei militärischen Unternehmungen die Glieder des Völkerbundes ihre Entschliessung sich vorbehalten könnten. Indifferenz gegenüber den Parteien konnte wegen der grundsätzlich verschiedenen Stellung des Völkerbundes und eines Rechtsbrechers nicht in Frage kommen, weil sie die Verneinung des Völkerbundsprinzipes darstellte.

Den schweizerischen Delegierten wurde bekannt, dass in gewissen
militärischen Kreisen auf die Möglichkeit des Durchzuges von Truppen des Völkerbundes grosser Wert gelegt wurde und dass auch das Gebiet der Schweiz in dieser Beziehung in Betracht

570

komme. Aus diesem Grunde entsandte der Bundesrat zwei höhere Offiziere des Generalstabes nach Paris, mit dem Auftrage, die militärischen Gründe darzulegen, welche für die Beibehaltung der schweizerischen Neutralität auch im Völkerbunde sowohl vom Standpunkte der Schweiz wie von demjenigen des Völkerbundes selber sprechen. In der Folge ist denn auch die Forderung eines Durchzugsrechtes gegenüber der Schweiz nicht mehr erhoben worden.

Im Laufe der von Mitte Januar bis Mitte Mai in Paris gepflogenen Besprechungen und Verhandlungen sind verschiedene Möglichkeiten, die neutrale Sonderstellung der Schweiz zur Anerkennung zu bringen, ins Auge gefasst worden. Die Hoffnung, dies im Sinne des schweizerischen Entwurfes im Zusammenhang mit der Verlegung des Sitzes in die Schweiz zu erlangen, verwirklichte sich nicht. Der Eintritt unter Vorbehalt war durch den endgültigen Text des Vertrages ausgeschlossen. Dagegen bot der Art. 21 der heutigen Fassung die Blöglichkeit, die schweizerische Neutralität als ein der Sicherung des Friedens dienendes Abkommen zur Anerkennung zu bringen. Dieser Artikel sagt, dass derartige Abkommen als mit keiner Bestimmung des Völkerbundsvertrages im Widerspruch stehend gelten sollen. Als Beispiele erwähnt Art. 21 die Schiedsgerichtsverträge und regionale Verständigungen, die, wie die amerikanische Monroedoktrin, die Aufrechterhaltung des Friedens sichern. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Übereinkünfte von 1815, speziell die Neutralitätsakte vom 20. November 1815, in ganz besonderem Masse als ein Friedensabkommen gelten und gemäss Art. 21 im Völkerbund aufrechterhalten bleiben dürfen.

Die schweizerischen Delegierten haben diesen Standpunkt eingehend dem Präsidenten Wilson, Vorsitzenden der Völkerbundskommission, dargelegt, und Herr Bundespräsident Ador, anlässlich seines zweiten Aufenthaltes in Paris, 28. April bis 3. Mai, konnte in Besprechung mit einigen leitenden Staatsmännern diese von der Begründetheit des schweizerischen Standpunktes überzeugen.

Anerkennung Eine erhebliche Schwierigkeit bildete noch die Form, in dor der diese Anerkennung in einer für die Mitglieder des Völkerbundes Neutralität im Friedens- und für die ausserhulb des Bundes verbleibenden Staaten ausgesprochen werden könnte. Der Friedensvertrag, von dem der vertrag.

Völkerbundsvertrag der erste Teil ist,
bot dafür die geeignete Grundlage, und den Anlass zu dieser Lösung bildete der Wunsch' der französischen Regierung, die 1815 vereinbarten Zonen Savoyens im Zusammenhang mit dem Friedensvertrag als eine schweizerisch-französische Angelegenheit erklären zu lassen.

571

Über diese Unterhandlungen betreffend Abschaffung der neu^ tralisierten Zone Savoyens, sowie betreffend die freien Zonen von Savoyen und Gex wird den Räten eine besondere Botschaft unterbreitet werden. An dieser Stelle genügt es, darauf hinzuweisen, dass der Art. 435 des Friedensvertrages *), welcher diese Fragen betrifft, die Anerkennung der schweizerischen Neutralität gemäss den Abkommen von 1815, besonders der Akte vom 20. November 1815, ausspricht und feststellt, dass es sich um ein Abkommen zur Sicherung des Friedens handle.

Darin liegt einerseits eine vom Beitritt der Schweiz zum Völkerbund unabhängige Anerkennung der schweizerischen Neutralität durch die Signatare des Friedensvertrages ebenso wie eine authentische Interpretation des Art. 21 des Völkerbundsvertrages.

Die Schweiz kann demnach ohne Vorbehalt, unter Berufung auf die Art. 21 und 435 des Friedensvertrages, in den Völkerbund mit ihrer Neutralität eintreten.

In dieser Lösung dürfen wir eine glückliche Fügung erblicken, sowie einen Beweis für das Verständnis, welches die Mächte der Pariser Konferenz, insbesondere Präsident Poincaré und der Präsident des französischen Ministerrates, Clemenceau, sowie der damalige Chef der italienischen Regierung, Orlando, der eigenartigen Stellung und Aufgabe der Schweiz entgegenbringen.

Wenn wir nun davon ausgehen, dass die Schweiz gegebenenfalls mit ihrp.r immArwn.livAnrIp.n NentrnlifJir. in Hp.n Völkp.rhiinrl

eintritt, so erhebt sich sofort die Frage : Wird die Neutralität und die allgemeine Politik der Schweiz durch die Mitgliedschaft im Völkerbunde beeinflusst und, wenn ja, in welcher Weise?

Ist überhaupt eine ewige Neutralität mit dem Anschluss an den Völkerbund vereinbar?

Diese Fragen müssen mit der grössten Offenheit und Unbefangenheit geprüft und beantwortet werden, aber auch mit dem Verständnis dafür, dass wie alles Recht so auch das Völkerrecht sich wandelt und dass noch keine Zeit so sehr wie die heutige nach neuen Formen des Völkerlebens gerungen hat.

Wenn Neutralität nicht nur tatsächliches Fernbleiben von den Kriegen anderer Staaten bedeutet, sondern grundsätzlicher Verzicht auf das Recht, irgendeine Unterscheidung zwischen den Kriegsparteien, je nach der Güte ihrer Sache, zu machen, so sind *) Vgl. Beilage III, H.

Völkerbund und immerwährende Neutralität.

572

allerdings Völkerbund und Neutralität unvereinbar. Eine solche Neutralität würde aber auch jeder sittlichen Grundlage entbehren, denn entweder beruhte sie auf der Auffassung, dass die Staaten jenseits von Gut und Böse stehen und dass nur die Macht, nicht aber Recht und Gerechtigkeit in den Auseinandersetzungen der Staaten zu Worte kommen. Oder aber die bedingungslos gleichmassige Behandlung der Parteien könnte der Ausdruck der Furcht und Schwäche sein. Mochte auch für die Entstehung und Ausbildung der schweizerischen Neutralität unser Bewusatsein der inneren Gespaltenheit in den Konfessions- und Nationalitätenkriegen der Vergangenheit eine wesentliche Rolle gespielt haben, so will das Schweizervolk doch sich nicht durch seine Neutralität zu einer Politik des lüdifferentismus und der Ängstlichkeit verurteilen lassen.

Die Möglichkeit, zwischen den Parteien gegebenenfalls gewisse Unterschiede zu machen, hat wie für alle Neutralen so auch für die Schweiz bis jetzt nicht bestanden, weil das Völkerrecht jedem Staat die völlig freie Entschliessung über Krieg und Frieden einräumte und weil die geschichtlichen Voraussetzungen'der Staatenkonflikte meist zu verworren sind, als dass die Zeitgenossen sie in wahrer Unparteilichkeit in ihrem vollen Umfange beurteilen könnten. Darum ist auch bis heute eine bedingungslose Neutralität möglich, ja sogar notwendig gewesen. Das gilt besonders für einen Staat, dem die Neutralität Staatsmaxime ist.

Der Völkerbund will eine völlig neue Lage schaffen. Zwar geht er noch nicht so weit, dass er alle Streitigkeiten durch eine unparteiische Instanz entscheiden und diese Entscheidungen selber vollstrecken würde. Aber er erklärt gewisse für die Gesamtheit besonders gefährliche Formen der Gewaltanwendung unter den Staaten in Acht und Bann ; er verlangt, dass kein Staat Krieg führen darf, ohne zuerst bestimmte friedliche Wege zur Schlichtung des Streites betreten zu haben. Wenn ein Staat dennoch in Verletzung der ihm durch den Völkerbund auferlegten Pflichten den Frieden bricht, so setzt er sich damit, selbst wenn seine Forderungen an sich nicht ungerecht wären, von vorneherein ins Unrecht, und es erhalten damit die am Streit nicht beteiligten Staaten ein durch den Völkerbund bestimmtes Kriterium zur Beurteilung des Vorgehens der Parteien. Das ist das Neue, das auch auf die
Neutralität nicht ohne Rückwirkung bleiben kann.

Entspricht der vom Völkerbund festgesetzte Massstab den Forderungen der Gerechtigkeit und den Menschheitsinteressen «nd dient die Handhabung dieses Massstabes wirklich diesen

573 Zwecken, so wird auch der Neutrale nicht gleichgültig bleiben können. Er wird, wenigstens wenn er selber dem Völkerbund angehört, seine Haltung in dem Masse nach den Gesamtinteressen richten, als dies billigerweise von ihm erwartet werden darf.

Die schwierige Frage, wie sich die Neutralität im Völkerbunde gestalten würde, erhebt sich nur für diejenigen Fälle, in denen der Völkerbund von seinen Gliedern Leistungen verlangt, die mit der Neutralität unvereinbar sind oder deren Vereinbarkeit mit der Neutralität in Zweifel gezogen werden kann. Das gilt insbesondere für die in Art. 16 vorgesehenen Sanktionen gegen einen Friedensbrecher.

Da der Völkerbundsvertrag vom 28. April 1919 die Neutralität selber mit keinem Wort erwähnt und nach diesem Vertrage Kriege unter den Gliedern des Bundes oder zwischen solchen und Staaten ausserhalb des Bundes, sowie Kriege unter Staaten der letztern Art unter gewissen Voraussetzungen (Art. 15, Abs. 7 und 17) toleriert werden, so ergibt sich, dass in diesen Fällen die Neutralität wie überhaupt das bisherige Völkerrecht unverändert weiter bestehen. Darüber scheint nie ein Zweifel geäussert worden zu sein.

Es bestehen verschiedene Meinungen darüber, ob die an einem Streit nicht beteiligten Staaten neutral zu bleiben haben, wenn nach fruchtloser Durchführung des in Art. 15 vorgeschriebenen Verfahrens die Parteien ihren Streit schliesslich zu einem gewaltsamen Austrag bringen. Wir bejahen es und begründen dies in den Erläuterungen zu Art. 15 (vgl. unten, S. 671 ff.). Sicher aber ist, dass die Mitglieder des Völkerbundes in allen diesen Fällen das Recht zu einer vollständigen und bedingungslosen Neutralität haben. Gleichzeitig bleibt aber auch der Völkerbund als solcher neutral in den von ihm tolerierten Kriegen.

Nicht nur als ein Recht, sondern als eine politische Pflicht ist die Beobachtung der Neutralität für den Staat, der den Sitz des Völkerbundes beherbergt, zu betrachten ; andernfalls würde durch die Konflikte dieses Staates der Völkerbund mittelbar in Kriege hineingezogen, denen er nach seinen Satzungen fern bleiben will. Der Staat mit dem Bundessitz soll imstande ·sein, seine Unverletzlichkeit in den Kriegen dritter Staaten zu behaupten, er muss sich aller Abmachungen wie Defensivallianzen zugunsten anderer enthalten, durch welche er in fremde Händel hineingezogen
werden könnte, und er muss alles tun, um die Streitigkeiten, die ihn selber angehen, durch friedliche Mittel zur ·endgültigen Entscheidung zu bringen : daher sein ganz besonderes Bundesblatt. 71. Jahrg. Bd. IV.

41

Neutralität ^n den vom Völkerbünde tolerierten Kriegen.

574

Interesse und sein lebhafter Wunsch, dass die Unvollkommenheiten des Völkerbundes beseitigt werden.

In den Artikeln 10, 11 und 17, Absatz 4, wird gesagt, dass der Völkerbund Massnahmen ergreifen solle oder könue, um gegenüber drohenden oder bereits ausgebrochenen Kriegen den Völkerfrieden zu schützen. Es wird dabei nicht bestimmt, in welcher Weise vorzugehen sei und welche Mittel hierfür dem Völkerbunde zur Verfügung stehen. Sicher aber ist, dass die in Art. 16 vorgesehenen Massnahmen von den Gliedern des Völkerbundes nur unter den dort spezifizierten Voraussetzungen gefordert werden können. Es ist dies bereits oben (S. 556) in bezug auf den Art. 10 ausgeführt worden; es gilt aber auch für andere Fälle. Das Recht der Mitglieder des Völkerbundes, neutral -- und zwar auch unterschiedslos neutral -- zu bleiben, kann deshalb, von den Gesamtaktionen im Sinne des Art. 16 abgesehen, durch die vom Völkerbund in bezug auf kriegerische Verwicklungen allenfalls zu treffenden Massuahmen nicht berührt werden.

Neutraiität Anders gestalten sich die Verbältnisse in den Kriegen, gegen bei Gesamt- welche der Völkerbund einheitlich auftritt. Hier gibt es zunächst aktionen keine Neutralität. Der Friedensbrecher tritt nach Art. 16 ohne des Völker- weiteres in Kriegszustand zu allen Gliedern des Bundes.

bundes.

Für Staaten, welche nicht die Neutralität als Staatsmaxime beobachten oder rechtlich zu einer solchen Haltung verpflichtet sind, stellt sich die Frage einfach: wollen sie durch den Eintritt die Risiken auf sich nehmen, unter Umständen an der Seite des Völkerbundes in einen Krieg verwickelt zu werden?

Das ist eine rein politische und keineswegs eine rechtliche Frage.

Anders dagegen die Schweiz. Der Abschluss eines Vertrages, durch den die Schweiz unter Umständen verpflichtet würde, kriegerische Massnahmen zu treffen gegen einen Staat, von dem sie nicht selber angegriffen ist, widerspricht der Idee der Neutralität, wie sie von unserer Bundesverfassung vorausgesetzt wird und wie sie 1815 von den Mächten förmlich anerkannt wurde.

Man könnte zwar sagen, dass die Gesamtaktionen des Völkerbundes keine Kriege im Sinne des bisherigen Völkerrechts, Kämpfe unter gleichgestellten Parteien, seien, sondern polizeiliche Bestrafungen internationaler Verbrecher durch die Staatengesellschaft, und dass deshalb von der
Neutralität im herkömmlichen Sinne überhaupt nicht die Rede sein könne. Indessen vollziehen sich diese Aktionen wie andere Kriege, und namentlich würden Staaten, die dem Völkerbund nicht angehören, eine derartige.,

575

vom Standpunkte des heutigen Völkerrechts aus kaum haltbare Unterscheidung nicht anerkennen, auch das rechtsbrüchige Bundesglied würde es, wenn irgendmöglich, bestreiten, dass die Gesamtaktion zu Recht gegen ihn erfolge. Übrigens spricht Art. 16 unzweideutig vom Kriegszustand, der öhno weiteres durch den Bruch der Friedenspflichten entsteht.

Nachdem aber die schweizerische Neutralität als mit dem Volkerbund vereinbar anerkannt worden ist, können für sie die Bundespflichten nicht in Betracht kommen, die sich aus der Tatsache des Kriegszustandes zwischen dem Friedensbrecher und allen Bundesgliedern ergeben. Anderseits wäre die Schweiz , natürlich gehalten, die Pflichten zu erfüllen, die ihre Neutralität nicht berühren.

Die Abgrenzung der Neutralitäts- und der Völkerbunds- Neutralität pflichten ist nicht einfach, weil der Begriff der Neutralität ver- und Völkerschiedene Auslegungen zulässt. Immerhin sind mit der Neutralität «"'ht gewisse Pflichten untrennbar verbunden. Dazu gehört vor allem die Nichtbeteiligung an den Kriegshandlungen und die Bewahrung der Unverletzlichkeit des neutralen Gebietes. Auch der Völkerbund darf seinem neutralen Mitgliede gegenüber keine Zumutungen in dieser Beziehung machen. Auf der ändern Seite ergeben sich aus dem Völkerbundsvertrag eine grosse Reihe von Pflichten, die in keiner Weise die Neutralität berühren können. Kein Grund liegt vor, dem Neutralen in dieser Hinsicht eine Sonderstellung einzuräumen.

Zwischen diesen beiden Komplexen von Pflichten liegt ein Gebiet von Rechtsverhältnissen, hinsichtlich deren Zweifel bestehen können. Je weiter der Begriff der Neutralität in bezug auf die damit für den Neutralen verbundenen Pflichten gefasstwird, um so weniger Bewegungsfreiheit hat dieser, um seine politische Haltung den Bestimmungen des Völkerbundes anzupassen.

Es muss zwischen diesen beiden Pflichtenkreisen eine Abgrenzung gesucht werden, die einerseits dem Neutralen Aussicht bietet, seine Neutralität respektiert zu sehen, und anderseits eine Beeinträchtigung der Gesamtaktionen des Völkerbundes ausschliesst.

Eine Abklärung dieses Verhältnisses durch eine Übereinkunft mit allen für die Behauptung unserer Neutralität wichtigen Staaten würde die beste Lösung darstellen. Sie während der Friedensverhandlungen oder im gegenwärtigen Zeitpunkt zu erreichen, ist
ausgeschlossen. Zurzeit kann es sich nur darum handeln, Gesichtspunkte aufzustellen, die wir für die Orientierung unserer Neutralitätspolitik während der Gesamtaktionen des Völkerbundes für zutreffend erachten.

576

Da die immerwährende Neutralität der Schweiz innerhalb des Völkerbundes eine einzigartige ist, ist ihr Verhältnis zu den Gesamtaktionen des Bundes nicht ausdrücklich im Völkerbundsvertrag geregelt. Der Art. 16 findet, da er von einem Kriegszustand zwischen den Bundesgliedern und dem bundesbrüchigew Staat ausgeht, formell nicht Anwendung. Indessen bietet er doch die massgebenden Anhaltspunkte für die Bestimmung der Stellung auch eines neutralen Mitgliedes. Die gemeinsame Abwehr gegen gewisse Kriege bildet einen Hauptzweck des Völkerbundes. DeiNeutrale, der dem Bund beitritt, muss, soweit das die Neutralität zulässt, die Mitglieder des Bundes in dieser Aufgabe unterstützen.

Das ist ein Gebot der Treue ihnen gegenüber, eine Pflicht, die, auch ohne ausdrückliche Vertragsbestimmung, in der Natur der Sache liegt.

Bedeutung Ehe auf den Inhalt der Neutralität eingetreten werden soll, der Akte vom jgt e j ne Vorfrage zu entscheiden : bestimmt sich die Haltung 20 c er 1815 ' Schweiz als eines dauernd neutralen Staates nach dem, was 1815 unter Neutralität verstanden wurde, oder nach dem, was nach heutigem Völkerrecht die Neutralität ausmacht. Diese Frage ist im letztern Sinne zu beantworten. Die Akte vom 20. November 1815 spricht lediglich von Neutralität ; sie ist ein Blankett.

Im Auge hatten die Mächte wohl die Neutralität im eigentlichen Sinne, d. h. die militärische Stellung unseres Landes bei Kriegen unter unsern Nachbarn ; aber aus diesem Umstände kann nicht gefolgert werden, dass damit für alle Zeiten die schweizerische Neutralität umschrieben sein solle. In einem gegebenen Zeitpunkt gibt es nur einerlei Neutralität, d. h. die Summe von gegenseitigen Rechten und Pflichten der Kriegführenden und Neutralen, welche die Aufrechterhaltung des Friedenszustandes zwischen ihnen gewährleistet. Im XVII. und XVIII. Jahrhundert wurden Dinge mit der Neutralität vereinbar erachtet, die heute als offenbare Verletzung dieser gelten müssten. Die immerwährende Neutralität der Schweiz ist, soweit sie ein völkerrechtliches Verhältnis darstellt, ein Begriff, der seinen materiellen Inhalt mit der Eatwicklung des Neutralitätsrechts wechselt.

Neutralität Um sich ein richtiges Urteil über die Tragweite der Neuund Neutrali- tralität und damit über deren Vereinbarkeit mit den Völkerbundstätspolitik. pflichten zu bilden,
ist es notwendig, Neutralität und neutrale Politik auseinanderzuhalten. Neutralität ist der Inbegriff der mit dem Neutralitätszustand verbundenen völkerrechtlichen Rechte und Pflichten.; Neutralitätspolitik ist die Haltung eines neutralen Staates in den Angelegenheiten, die zwar nicht durch das Neu-

577

tralitätsrecht bestimmt sind, auf die aber die Neutralität mittel. bar einen Einfluss hat. Ein dauernd neutraler Staat wie die Schweiz hat besondern Anlass, durch seine Politik sich mehr als den strikten Rechtsanspruch auf Achtung der Neutralität zu sichern, nämlich das allgemeine Vertrauen zu erwerben ; er wird vieles unterlassen, was er von Rechts wegen tun dürfte. Aber gerade weil Neutralitätspolitik in den freien Willen des Neutralen gestellt und eine Frage des politischen Ermessens ist, darf die Möglichkeit der Betätigung solcher Politik nicht durch missbräuchliche Ausdehnung der Neutralitätspflichten eingeschränkt oder unterdrückt werden. Die Neutralitätspolitik ist gerade das Gebißt, auf dem der Neutrale den Kriegführenden gegenüber seino Freiheit bewahrt und auf dem er -- je nach ihrem Verhalten -- ihnen entgegenkommen oder entgegentreten darf. Das beansprucht die Schweiz auf Grund ihrer Selbstbestimmung und ihrer Souveränität.

Nichts kann den Interessen eines Neutralen, vorab eines immerwährend neutralen Staates, mehr entgegen sein als eine übermässige Ausdehnung der Neutralitätspflichten -- denn das Grundrecht des Neutralen, vom Krieg verschont zu bleiben, und in seinen friedlichen Beziehungen zu ändern Staaten nicht gestört zu werden, ist eine Selbstverständlichkeit. Die Neutralitätspflichten sollen nicht über das Mass ausgedehnt werden, das den Kriegführenden ein genügendes Interesse an der Respektierung der Neutralität lässt. Die Kriegführenden müssen sich begnügen, wenn der Neutrale nicht schädigend in ihre Kriegführung sich einmischt. Sie selber gehen in der Wahrnehmung ihrer durch die Kriegslage bestimmten Interessen an die äussersten Grenzen dessen, was die Neutralen sich noch gefallen lassen können. Die Geschichte der Neutralität ist im grossen ganzen eine Leidensgeschichte der Neutralen.

Die Unterscheidung zwischen Neutralität und Neutralitäts- Inhalt und politik wird nun allerdings als gekünstelt angefochten und das Wesen der Schwergewicht der Neutralität nicht auf die Beobachtung der Neutralität, durch Verträge und Herkommen festgesetzten Neutralitätspflichten gelegt, sondern auf die allgemeine Orientierung der Politik im Sinne gleichmässig unparteiischer Behandlung beider Parteien und tunlichster Vermeidung jeder auch nur indirekten Beeinflussung des Krieges.

Demgegenüber ist
nun doch daraufhinzuweisen, dass das positive Recht weit davon entfernt ist, den Neutralen so vollständig zu binden. Die Neutralität im Landkriege -- nur diese

57S

kommt hior in Betracht -- ist dermalen geregelt durch das V. Hanger Abkommen vom 18. Oktober 1907*). Obwohl nicht von allen Staaten ratifiziert -- z. ß. von Grossbritannien nicht -- und nur gültig, wenn in einem Kriege alle Parteien das Abkommen anerkennen, kann angenommen werden, dass dieser Haager Vertrag in der Hauptsache der. Ausdruck des allgemein anerkannten Neutralitätsrechtes zur Zeit seiner Abfassung war.

Eine Begriffsbestimmung der Neutralität enthält das Abkommen" nicht, aber es lassen sich aus ihm drei Ilauptgrundsätze ableiten : 1. Jede unmittelbare Benutzung de:j neutralen Gebietes für Feindseligkeiten, Duruhzüge, überhaupt militärische Unternehmungen jeder Art, sind den Kriegführenden versagt und dürfen von Neutralen nicht geduldet werden. Übertretende sind in der Regel zu internieren.

2. Der Neutrale darf gestatten, dass durch oder aus seinem Gebiet die Kriegführenden von Privaten Kriegsmaterial oder andere für die Armeen nützliche Waren beziehen oder Nachrichte?!

jeder Art selbst durch die staatlichen Telegraphen erhalten.

Wenn der Neutrale diesen Verkehr beschränkt, muss er beide Kriegsparteien gleich behandeln. Der Grundsatz der Unparteilichkeit ist nur für diese Beziehungen ausdrücklich ausgesprochen.

3. Das Abkommen ordnet ausschliesslich militärische Verhältnisse oder Verkehrsbeziehungen, die unmittelbar der Kriegführung zugute kommen.

Diese Konvention kann jederzeit auf ein Jahr geküudigt werden. Durch ihren Wegfall würde das frühere Gewohnheitsrecht wieder massgebend sein, das -- wenn auch nicht wc.süntlic'i verschieden -- doch wegen seiner Unsicherheit und Unbestimmtheit in vielen Punkten den Neutralen eine grössere Bewegungsfreiheit bieten würde.

Neutralität Trotz der mannigfachen Wandlungen, welche der Xeutralials tätsbegriff in den letzten Jahrhunderten durchgemacht hat, ergibt militärisches Verhältnis. sich aus der Betrachtung der völkerrechtlichen Praxis und Doktrin immer wieder, dass die Neutralität ein wesentlich militärisches Verhältnis ist. Der Kampf von bewaffneter Macht zu bewaffneter Macht ist das wesentliche des Krieges als eines völkerrechtlichen Verhältnisses 5 die Stellung der neutralen Staaten zu den Kriegführenden und umgekehrt in bezug auf eben diesen Kampf bildet die Neutralität. Ein blosser Zollkrieg, der Abbruch aller Beziehungen, selbst die sogenannte Friedensblockade, die in blosser Absperrung einer Küste, ohne gleichzeitige militärische Aktionen, *) Beilage III. 15.

579

besteht, lösen keinerlei neutralitätsrechtliche Verhältnisse aus; sie können höchstens zu Kriegen überleiten.

Dass dio Neutralität ein militärisches Verhältnis ist, geht auch daraus hervor, dass da, wo eine dauernde Neutralität an: erkannt oder auferlegt wurde, dies ausschliesslich oder doch ganz vorwiegend aus strategischen Überlegungen geschah. Mit Rücksicht auf die wirksame Verteidigung der Neutralität wurden 1815 die Grenzen der Schweiz verbessert. Die Neutralisierung Savoyens ist ebenfalls nur aus militärischen Rücksichten erfolgt. Das gleiche gilt von Belgien und Luxemburg, welch letzteres in wirtschaftlicher Beziehung zu Deutschland gehörte. Bei der eigenartigen Ncutralisierung des Suezkanals und des Kongos haben wohl verkehrs- und handelspolitische Gründe im Vordergrunde gestanden.

Nun hat aber im jüngsten Kriege der sogenannte Wirtschaftskrieg (Blockade, Verbot des Handels mit dem Feinde usw.) eine besonders grosse Rolle gespielt. Allerdings ist dies keine Neuheit.

Der Seekrieg ist zu allen Zeiten vorwiegend ein Kampf um wirtschaftlichen Interessen gewesen gegen den feindlichen, wo nicht gegen den neutralen Seehandel, und die angelsächsischen Staaten haben immer die Grundsätze gehandhabt, die sie und damit ihre Alliierton im letzten Weltkriege auf wirtschaftlichem Gebiet durchgesetzt haben. Dass der sogenannte Wirtschaftskrieg auch schon früher eine grosse Rolle gespielt hat, beweist die Kontinentalblokade in den napoleonischen Kriegen. Lediglich der Umstand, dass diesmal fast alle Staaten im Kriege waren, und die in den letzten Jahrzehnten ausserordentlich gesteigerte Entwicklung der weltwirtschaftlichen Beziehungen haben die Wirkungen dieses sogenannten Wirtschaftskrieges sowohl für die von ihm namentlich betroffene Kriegspartei wie auch für die Neutralen besonders fühlbar gemacht. So ist der Ausdruck ,,wirtschaftliche Neutralität"1 geprägt worden, als Gegenstück zum Wirtschaftskrieg.

Wenn wirtschaftliche Neutralität etwas bedeutet, so kann Wirtschaftliche es zweierlei sein: 1. Das Recht des Neutralen, in seinen wirt- Neutralität.

schaftlichen und sonstigen finanziellen und persönlichen Verkehrsbeziehungen zu den Kriegführenden und übrigen Neutralen nicht gestört zu werden. Die Scblussakte der II. Haagerkonferenz enthält einen ^Wunsch'"'- dieses Inhalts. Die Geschichte der letzten
fünf Jahre beweist, dasa diese Unverletzlichkeit des neutralen Wirtschaftslebens nicht besteht, sondern dass der Wirtschaftskrieg, wo es die sogenannten Kriegsnotwendigkeiteu zu erheischen scheinen, unerbittlich auch zum Schaden der Neutralen zu Land und zu Meer

580

geführt, ja in der Form der schwarzen Listen, der Überwachung neutraler Firmen selbst auf neutrales Gebiet übertragen wird. Die Handels- und Niederlassungsverträge, auch soweit sie nicht durch Kriegsklauseln suspendiert waren, hatten tatsächlich zu gelten aufgehört. Die aktive Seite der Neutralität für den Neutralen, die Unverletzlichkeit, besteht auf wirtschaftlichem Gebiet offenbar in der Wirklichkeit des Krieges nur in sehr unvollkommener Weise. 2. Die passive Seite der sogenannten wirtschaftlichen Neutralität würde für den Neutralen in der Pflicht bestehen, seine wirtschaftlichen, finanziellen und persönlichen Beziehungen zu den Kriegführenden unvermindert aufrechtzuerhalten oder mindestens in bezug auf Einschränkungen und Leistungen ein grundsätzlich gleiches Mass zu halten. An das letztere denkt man namentlich bei der wirtschaftlichen Neutralität.

Abgesehen von Art. 7 bis 9 des erwähnten Haager Abkommens betreuend den privaten Handel mit Kriegsmaterial und das Nachrichtenwesen besteht keine Vertragsbestimmung, die eine gleichmässige Behandlung beider Kriegsparteien oder gar die Aufrechterhaltung der Wirtschaftsbeziehungen forderte. Mit Ausnahme der Freiheit des Seehandels der Neutralen, die seit Jahrhunderten in der völkerrechtlichen Doktrin und in internationalen Verträgen eine grosse Rolle spielt, sind die Verhältnisse des sogenannten Wirtschaftskrieges überhaupt weder in Abkommen geordnet, noch bestehen aus der Übung abgeleitete spezielle Rechtsnormen. Das erklärt sich dadurch, dass man es hier mit einer Materie zu tun hat, wo es in vielen und wesentlichen Beziehungen noch nicht zur internationalen Rechtsbildung gekommen ist, weil keine übereinstimmende Ansicht zur Anerkennung gebracht werden konnte. So bestand namentlich ein tiefgehender Unterschied zwischen der kontinentalen und anglo-amerikanischen Auffassung, ein Umstand, der auch die Regelung des Rechts des neutralen Soehandels aufs äusserste erschwerte. Auf diesem, vom Völkerrecht wenig geordneten Gebiet macht eben jeder Staat, was ihm passt, soweit nicht politische Rücksichten ihn daran hindern.

Dies muss, wenn es g e g e n die Neutralen gilt, auch für sie gelten.

·Wie sollte überhaupt ein Neutraler sich gegen Unhill von Seiten eines Kriegführenden wehren können, ohne sich der ändern Partei anzuschliessen, wenn seine ganze Politik
bestimmt sein würde von der Idee, dass beide Kriegsparteien wegen der Neutralität grundsätzlich immer gleich zu behandeln wären ?

Die ausserordentliche Bedeutung, welche der Wirtschaftskampf im letzten Kriege genommen hat, könnte dazu fuhren, die eigentlichen Neutralitätspflichten auch auf dieses Gebiet auszu-

581 dehnen. Alsdann müsste auch in entsprechender Weise das Wirtschaftsleben der Neutralen sicher gestellt werden, denn dieses leidet fast ebensosehr wie dasjenige der Kriegführenden unter dem Kriege und bei beiden ist es die gleiche Ursache : die weltwirtschaftliche Abhängigkeit der meisten modernen Staaten. Da aber alle geschichtliche Erfahrung und die jüngste besonders eindrücklich lehrt, dass die Kriegführenden rücksichtslos den Wirtschaftskampf führen, würde aller Wahrscheinlichkeit nach jede Ausdehnung der Neutralitätspflichten in dieser Richtung lediglich eine Mehrbelastung und Einschränkung der Neutralen bedingen.

Diese werden deshalb in aller Unabhängigkeit prüfen, wie sie sich in diesem ihre Existenz bedrohenden Widerstreit der Interessen am besten durchschlagen.

Der Abbruch von Verkehrbeziehungen, wie er in Art. 16 Verhältnis vorgesehen ist, kann allerdings nicht nur das Neutralitätsrecht zu ändern « · volkprberühren, sondern auch andere völkerrechtliche Verhältnisse, ins- rechtlichen besondere die Handels-, Niederlassungs- und Verkehrsverlräge. Pflichten, Wenn der Neutrale diese Verträge während der Durchführung als denen der der Gesamtaktion des Völkerbundes gegen den bundesbrüchigen Neutralität.

Staat suspendiert, so wird er sich darauf berufen, dass nach Art. 20 die Verpflichtungen aus dem Völkerbund den ändern Abmachungen vorgehen. Im übrigen wird er namentlich auch gegenüber dem Völkerbunde nicht angehörigen Staaten sich darauf berufen, dass die Verletzung des vom Völkerbunde gewährleisteten Friedens auch ihn bedrohe und zu Repressalien berechtige. IQ den meisten Fällen dürfte die Suspension der Verträge ohne weiteres als Vergeltungsmassre'gel zulässig sein, weil die Kriegführenden selber diese Verträge nicht oder nur sehr unvollkommen erfüllen werden.

Wünschbar aber wäre es, wenn in Zukunft beim Abschluss von Verträgen ausdrücklich Vorbehalte zugunsten der Völkerbundspflichten gemacht werden könnten.

Wenn wir der Ansicht sind, dass die Pflichten der Neutralität Tragweite nicht so weit roichen, als oft behauptet wird, so verhehlen wir «ms Q^iêntierun" keineswegs, dass ein grundsätzlicher, sofortiger und allgemeiner ,jer Abbruch wichtiger wirtschaftlicher und anderer Beziehungen eine Neutralitätsvollständige Abweichung von der sonst befolgten neutralen Politik politik.
darstellt. Der Neutrale würde damit vielleicht an die äusserste Grenze dessen gehen, was mit den ihm durch die Neutralität auferlegten Rechtspflichten vereinbar ist.

Diese Massnahmen würden von dem Gegner des Völkerbundes um so mehr empfunden werden, als sie vielleicht gerade dann angewendet

582 würden, wenn sich dieser Staat mit fast allen ändern im Kriege -befindet und deshalb von einer wirtschaftlichen Sperre besonders stark getroffen wird. Es ist deshalb anzunehmen, dass das Verhältnis zu ihm ein gespanntes wird und dass, da sein Interesse an unserer Neutralität jedenfalls unter diesen Umständen vermindert ist, die Gefahr einer Verletzung unseres Landes sich erhöht. Die ungleiche Behandlung, die der bundesbriichigc Staat erfahren würde, würde diesem, wenn er ein Interesse hat, die Neutralität zu verletzen, hiezu einen Vorwand bieten. Er würde entweder die Neutralität ab unserseits durch die ungleiche Behandlung gebrochen oder die Suspension der Verträge und die Abbrechung des im Friedenszustand üblichen Verkehrs als casus belli erklären.

Das Blass der aus einer solchen Neutralitätspolitik der Schweiz erwachsenden wirtschaftlichen Nachteile und namentlich militärischen Risiken wird in den Abschnitten VII und VIII dieser Botschaft untersucht werden.

Notwendigkeit Weit davon entfernt, diese Nachteile und Gefahren gering einer JNeu-^ zu Batzen, sind wir der Ansicht, dass in den Kriegen, an denen "' der Völkerbund nach Art. 16 teilnimmt, eine solche voränderte Neutralitätspolitik nicht nur gerechtfertigt, sondern auch fast unvermeidlich ist.

Unvermeidlich auch für den ausserhalb des Völkerbundes stehenden Neutralen ist sie deshalb, weil der Bund alles tun wird, um zu verhindern, dass seine Aktion durch die Neutralen vereitelt wird. Die geographische Lage und wirtschaftliche Abhängigkeit würde es der Schweiz äusserst schwer machen, sich der mittelbaren Wirkung der Sperrmassnahmen des Völkerbundes zu entziehen. Durch eine von vornherein erklärte Anpassung an die Massnahmon des letztern würde es sich die Schweiz ersparen, nach und nach zu einer ähnlichen Haltung doch gedrängt zu werden, und es würde -- ein Vorteil für alle Beteiligten -- von Anfang an eine klare Situation geschaffen.

KeehtGerechtfertigt ist die Orientierung der Politik im Sinue des fertiguug Völkerbundes zunächst deshalb, weil der Neutrale ein nicht weniger vom Stand- grosses Interesse als andere Staaten au der Vermeidung von Kriegen punkte der immer- und damit an der vom Völkerbund verfolgten Friedenspolitik hat.

währenden Er darf gegen einen Staat, der durch Nichtachtung dieser FriedensNeutralität ordnung auch ihn
bedroht und der in der Wahrung seiner Kriegsinteressen crfahrungsgemäss keine oder wenig Rücksicht auf da* Wirtschaftsleben des Neutralen nimmt, selber einmal für die Wahrung seiner eigenen Friedensinteresseu die Rücksichtslosigkeit zeigen, die ihm 'nutwendig erscheint.

583

Dio Änderung der Neutralitätspolitik ist aber auch gerechtfertigt, weil sie nicht nach Willkür oder momentanem Interesse und nicht zugunsten einer beliebigen Partei erfolgen würde, sondern unter ganz bestimmten, jedermann von vornherein bekannten Voraussetzungen und zugunsten einer allgemeinen Friedensorganisation.

Aus'diesem Grande ist eine derartige Politik auch nicht mit dem Geist immerwährender Neutralität unvereinbar. Nicht um eigene, auf Machterweiterung gerichtete Ziele oder die Interessen bestimmter anderer Staaten zu fördern, träte die Schweiz aus ihrer bisherigen Neutralitätspolitik gegebenenfalls heraus, sondern um die Friedenspolitik zu fördern, die sie für sich durch ihre bisherige neutrale Politik verfolgt hat, und der sie, nach der Erklärung von 1815, gleichzeitig im Interesse ganz Europas gedient hat.

Wie sich im einzelnen die Handhabung der Neutralität bei Durchführung Gesamtaktionen des Völkerbundes gestalten wird, lässt sich, da einer différents sich in mancher Beziehung um wesentlich veränderte Ver- ?-tef rvjf' Mitnisse handelt, nicht mit Bestimmtheit sagen. Wünschbar wäre ^ e j Gesamteine vertragliche Regelung, durch die alle oder doch sämtliche aktioneu des in dieser Hinsicht für uns in Betracht kommenden Staaten die mit Völkerbundes.

Rücksicht auf den Völkerbund diö'ercnzielle Neutralitätspolitik ausdrücklich anerkennen würden. Indessen können wir mit einer solchen Regelung nicht als mit etwas sicher Voraussehbarem rechnen, sondern müssen vielmehr uns darüber klar sein, dass unser Standpunkt vielleicht nicht sogleich und allseitig anerkannt werden, wird und dass die Neuorientierung Unserer Neutralitätspolitik gegebenenfalls gewisse Gefahren für uns mit sich bringen kann. Diese Verhältnisse sind in den Abschnitten VII und VIII der Botschaft, die von der militärischen und der wirtschaftlichen Bedeutung des Völkerbundes für die Schweiz handeln, des näheren dargelegt.

Nach zwei Richtungen erscheint unsere Neutralitätspolitik bei den Gesamtaktionen des Völkerbundes als gegeben : auf militärischem Gebiete werden wir uns an die bisherigen Grundsätze strikter Neutralität gegenüber beiden Kriegsparteien halten. Im Bereich der wirtschaftlichen und der Verkehre-Beziehungen im allgemeinen worden wir im Interesse des Völkerbundes und in unserem eigenen mit dem Bunde solidarisch sein
müssen. Wie sich dies im einzelnen etwa gestalten wird, ist in den bereits erwähnten Abschnitten VII und VIII dargelegt.

Es giebt daneben aber noch eine Reihe von Verhältnissen, namentlich solche des persönlichen Verkehrs, die weder in den Bereich der militärischen Neutralität noch in denjenigen der

584

wirtschaftlichen Solidarität fallen. Darunter sind gerade Beziehungen, die in das Gebiet der humanitären Aufgaben fallen, die dem Schweizervolk seit langem eine Herzenssache sind.

Dass das Asylrecht, auf Grand dessen unser Land seit Jahrhunderten Flüchtlingen aller Art eine Zuflucht bieten konnte, in keinem Falle mit den in Übereinstimmung mit Art. 16 zu ergreifenden Massnahmen im Widerspruch steht, betrachten wir als selbstverständlich. Angehörige des bundesbrüchigen Staates, die bei uns ein Asyl suchen, werden dies nur tun, weil sie von jenem Staate verfolgt werden oder sich jedenfalls im Gegensatz zu seiner Regierung befinden. Ihre Aufnahme kann deshalb keine Durchbrechung der Verkehrssperre zugunsten jenes Staates darstellen.

Aber auch noch auf einem ändern Gebiet wird die Schweiz die Aufrechterhaltung persönlicher Beziehungen zum bundesbrüchigen Staat und dessen Angehörigen in Völkerbundskriegen nicht nur als ein Recht, sondern als eine hohe Pflicht betrachten. Es betrifft dies die Mission, die namentlich vom Roten Kreuz, aber auch von ändern amtlichen und privaten Stellen unseres Landes in Kriegszeiten übernommen worden ist. Welches auch die Schuld des bundesbrüchigen* Staates dem Völkerbunde gegenüber sein mag und wie wuchtig auch die gemeinsame Abwehr diesem gegenüber durchgeführt werde, so können doch auch in einem derartigen Kampf die Gebote der Humanität wie sie für die einzelnen Menschen -- seien es Verwundete, Kranke, Gefangene, Evakuierte und Ausgewiesene Geltung haben --, niemals entbehrt werden.

Die bürgerliche Gesellschaft mag ein einzelnes Individuum ausstossen und selbst vernichten ; die Staatengesellschaft könnte, ohne sich selbst zu gefährden, nicht ein ganzes Volk dauernd ausstossen und friedlos erklären oder auch nur die Möglichkeit der Wiederherstellung friedlicher Beziehungen aufs Spiel setzen.

Die moralische Pflicht, gerechte humanitäre Rücksichten auf die Menschen als solche zu nehmen, ist um so gebieterischer, als es sich auch bei den Völkerbundskriegen stets nur um einen vorübergehenden Zustand handelt. Man vergesse auch nicht, dass in jedem Kriege immer auf die Wiederherstellung freundschaftlicher Beziehungen Bedacht genommen werden nriuss. Das Band der Menschlichkeit darf nie zerreissen.

Aus demselben Grunde muss auch -- wegen der höheren Interessen des Völkerbundes -- die Aufrechterhaltung der diplomatischen Beziehungen zwischen dem neutralen und dem bundes-

585

brüchigen Staat in Betracht gezogen werden. Zwar ist der Abbrach der diplomatischen Beziehungen keine mit dem Friedenszustand schlechterdings unvereinbare Handlung, aber es ist doch «ine Massnahme, die häufig den Krieg nach sich zieht. Auch der bundesbrüchige Staat sollte auf irgendeinem legitimen Weg im dem Völkerbund verkehren können. Diesen Weg bietet naturgemäss der Neutrale im Völkerbund, und diese Aufgabe kann er nur erfüllen, wenn er selbst noch im amtlichen Verkehr mit jenem Staate steht.

Welches auch im Ein/einen die Neutralitätspolitik sein wird, so steht die Schweiz auf dem Standpunkt, dass sie durch die Behauptung ihrer unter allen Umständen militärisch neutralen Haltung das immer festhält, was, streng rechtlich und historisch betrachtet, den Kern der Neutralität ausmacht. Sie könnte deshalb, wenn, entgegen unserer begründeten Hoffnung, der Völkerbund nicht im Stande sein sollte, sich zu behaupten, stets wieder auf ihre bisherige Haltung zurückkommen, denn alle Wandlungen, welche die Politik immerwährender Neutralität der Schweiz durchmachen kann, werden bestimmt sein durch unser Bestreben, jeweilen die Neutralitätspolitik zu befolgen, mit der wir dem Frieden des Schweizervolks und dem Völkerfrieden am besten dienen.

Der dargelegte Standpunkt, wonach zwischen Neutralitätsrecht Änderung des und Neutralitätspolitik zu unterscheiden ist, bleibt freilich nicht Neutralitätsunangefochten. Die Einwendungen, die dieser Unterscheidung ent- ^jj|Len^aTM gegengehalten werden, sind bereits gewürdigt worden. Der Voll- Zu einer ständigkeit halber sei jedoch auch die Hypothese ins Auge gefasst, blossen Ändass Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik sich decken und dass der 1^erun?. ?er neutrale Staat im fast ausschliesslichen Interesse der Kriegführenden p,,*^* S" ·durch enge und starre Fesseln in all seinen Beziehungen zu den kriegführenden Staaten gebunden sei. In diesem Falle würde die differenzielle Behandlung der Kriegführenden, wie sie in Völkerbundskriegen für das nicht militärische Gebiet erfolgen soll, ·allerdings eine wesentliche Abweichung vom bisherigen Neutralitätsrecht bedeuten. Eine solche Änderung des Rechtes wäre aber vollkommen gerechtfertigt.

Wie das Neutralitätsrecht, das erst in den letzten vier Jahrhunderten zur Entwicklung kam, im Laufe der Zeit mannigfache Wandlungen
durchgemacht hat, so würde es sich auch der neuen internationalen Rechtsordnung, die vom Völkerbund ihr Gepräge «rhält, anpassen. In frühern Zeiten, als die Neutralität wesentlich ein Begriff1 des Seekriegrechtes war, stellte sie in der Haupt-

586

sache nur ein Kompromiss zwischen den Handelsinteressen der Neutralen und den militärischen Interessen der Kriegführenden dar -- nicht zum Vorteil des Ansehens der Neutralität.

Erst die dauernde Neutralität der Schweiz, wie sie 1815 als irn Interesse Europas liegend anerkannt wurde, brachte in das Neutralitätsrecht einen höhern Gedanken: die Einschränkung der Kriege durch deren räumliche Eindämmung. Auf der I. Haager Konferenz wurde von dem Belgier Descamps der bedeutsame Gedanke vertreten, dass die Neutralen aus ihrer passiven und egoistischen Rolle heraustreten und positiv irn Sinne der Friedenserhaltung und -Wiederherstellung wirken sollten (Pacigérat).

Der "Weltkrieg hat in weiten Kreisen, vorab in den Staaten, die den Völkerbund begründen, einer neuen Auffassung zum Durchbruch verhelfen. In einem Kampf, in dem die eine Partei das Recht und die andere das Unrecht verkörpert, soll es keine Neutralität, wenigstens keine bedingungslose Neutralität geben.

Die gerechte Sache ist die Angelegenheit aller; sie ist das höhere Interesse, dem alle ändern Interessen, auch diejenigen der Neutralen, sich unterordnen. Der Völkerbund soll die Form sein, in der dieser Gedanke zum erstenmal Gestalt nimmt und im Interesse dieser neuen internationalen Rechtsordnung soll die différentielle Neutralität zulässig sein.

Ob die Entwicklung wirklich diesen Weg gehen und sich konsolidieren wird, hängt wesentlich von der Dauer und Festigkeit des Völkerbundes ab. Aber wenn sich dieser bewährt, so werden sich die Neutralen der Wandlung des Neutralitätsrechtes nicht entziehen können. Die Neutralen werden diese Entwicklungauch nicht zu bedauern haben, wenn der Völkerbund sein Übergewicht nur im Interesse der Friedenserhaltung oder, noch besser, im Sinne eines gerechten Interessenausgleiches und einer unparteiischen internationalen Rechtsprechung geltend macht.

IV. Der Sitz des Völkerbundes in Genf.

Rechtsstellung des Sitzes.

In Art. 7 dés Völkerbundsvertrages wird Genf als Sitz des Völkerbundes bezeichnet. Gleichzeitig bestimmt der Artikel, dass der Rat des Völkerbundes -- durch einstimmigen Beschluss -- den Sitz an einen ändern Ort verlegen darf, und zwar nicht nur vorübergehend wegen ausserordentlicher Umstände, sondern dauernd. Die Bestimmung betreffend den Sitz in Genf ist somit nicht durch die besonderen erschwerenden Bestimmungen der Bundesvertragsrevision gegen Abänderung geschützt, noch viel weniger handelt es sich um ein vertragsmässiges Sonderrecht der

587 Schweiz oder um die Begründung einer besonderen Rechtsstellung der Schweiz wegen des Umstandes, dass sie den Sitz beherbergt.

Dennoch ist diese Bestimmung von höchster Bedeutung für Gründe unser Land. Dass die Wahl auf Genf gefallen ist, ist wohl für g^*111 hauptsächlich zwei Umständen zu verdanken : einmal sind es Überlegungen weitschauender Politik. Tn der Schweiz, die durch den Krieg hindurch neutral geblieben, findet der Völkerbund eine geistige Umgebung, die von den Erinnerungen an die furchtbare jüngste Vergangenheit weniger beherrscht ist, als es in kriegführenden Ländern der Fall sein kann, und die deshalb für die politischen Aufgaben der Zukunft einen besonders günstigen Boden bietet. Die eigenartige Entwicklung und föderative Gestalt der Schweiz gestattet unserem Lande, mit seiner Erfahrung im Zusammenleben verschiedenartiger Völkerschaften dem Völkerbunde in besonderer Weise zu dienen.

Alsdann sind wohl auch historische Gründe für die getroffene Wahl ins Gewicht gefallen. Eine Kette geschichtlicher Erinnerungen verbindet Genf mit der englischen und amerikanischen Demokratie. Mit dem Namen Rousseaus ist die Entwicklung des modernen Staates eng verbunden und das in Genf gegründete und von dort aus geleitete Rote Kreuz ist ein Symbol der Humanität, die über alle Grenzen hinweg, selbst im Krieg, die Menschen verbindet.

Die Wahl Genfs ist um so höher zu bewerten, als auch andere Staaten sich um den Sitz bewarben, insbesondere Belgien, das in einem heldenhaften Kampf für seine Neutralität sich für das Völkerrecht geopfert hat.

Der Gedanke, den Sitz des Völkerbundes in die Schweiz Verund speziell nach Genf zu verlegen, hat bestimmte Gestalt erst, ^ï'^Ffl'1 in den Verhandlungen der Völkerbundskommission der Pariser güz jn Genf.

Konferenz angenommen. Zwar hatte schon die schweizerische Expertenkommission in ihrem Entwurf vorgeschlagen, die Institutionen des Völkerbundes in der Schweiz und in anderen Staaten mit ähnlicher stabiler Friedenspolitik zu errichten. Doch unter nahm die Schweiz nach dieser Richtung keinerlei offiziellen Schritte, bis von den Organen der Friedenskonferenz aus selber ihr nahegelegt wurde, im Hinblick auf die bevorstehende Entschliessung der Völkerbundskornmission ihre Bereitschaft zur Annahme des Sitzes zu erklären*). Schon vorher hatte der Bundesrat erfahren, dass einflussreiche Mitglieder jener Kommission der Wahl Genfs zugeneigt waren. Diese Absicht kam auch deshalb den schwei*) Beilage IV, 16.

588

zerischen Wünschen entgegen, weil der Bundcssitz in der Schweiz nach unserer Auffassung ein gewichtiges Argument zugunsten der immerwährenden schweizerischen Neutralität bildet. Der Schweiz erwächst daraus die Aufgabe, ihr Gebiet und damit den Sitz des Völkerbundes gegen jeden Angriff zu schützen, selber ausserhalb der Konflikte zu bleiben und auf diese Weise den Organen des Völkerbundes eine Atmosphäre der Unparteilichkeit und geistigen Unabhängigkeit gegenüber den politischen Leidenschaften der Welt zu sichern.

Die Besprechungen über den Bundessitz in Genf sind wie die übrigen auf den Völkerbund bezüglichen Unterhandlungen unter der übrigens für alle Staaten selbstverständlichen Voraussetzung erfolgt, dass für eine endgültige Abmachung die Zustimmung der verfassungsmäßigen Instanzen erforderlich ist. Durch die Wahl Genfs ist der Beitritt der Schweiz keineswegs präjudiziert. Anderseits wäre es ganz undenkbar gewesen, eine den Sitz betreffende Erklärung aufzuschieben bis zu dem Zeitpunkt, in dem das Schweizervolk sich für oder gegen den Eintritt in den Bund ausgesprochen hätte. Da die Kommission der Friedenskonferenz zu dieser wichtigen Frage Stellung nehmen wollte, und auch andere Staaten mit begründeten Ansprüchen sich für den Sitz gemeldet hatten, würde eine andere Haltung als die vom Bundesrat eingenommene die Schweiz der einzigartigen Gelegenheit beraubt haben, auf ihrem Gebiet das Zentrum der neuen internationalen Ordnung errichtet zu sehen. Im Zusammenhang mit der Erörterung der Vor- und Nachteile eines Beitrittes der Schweiz zum Völkerbunde wird auf die Bedeutung des Sitzes in Genf für unser gesamtes öffentliches Leben noch zurückzukommen sein.

Pflichten ·^·us ^em Umstände, dass die Schweiz den Sitz beherberg!:, der Schweiz, entstehen für sie keine besonderen Pflichten, mit Ausnahme der Gewährung der in Art. 7 vorgesehenen diplomatischen Privilegien für die Vertreter der Völkerbundsstaaten und Beamten des Bundes selber, sowie der Unverletzlichkeit der dem Völkerbund dienenden oder von ihm benutzten Gebäude und Liegenschaften. Dass der Völkerbund mit seinen Organen in der Schweiz der Privilegien und 'Befreiungen teilhaftig ist wie jeder Staat, mit dem wir in diplomatischem Verkehr stehen, erscheint als. selbstverständlich.

Ausser dieser Verpflichtung liegt es dem Staat, der den Sitz
beherbergt, ob, dem Völkerbund die für dessen Bedürfnisse erforderlichen Grundstücke zur Verfügung zu stellen. Zu diesem Zwecke könnte der Bund jedenfalls, wenn nötig, das Expropria-

589 tionsrecht ausüben. Der Bundesrat hat durch seinen Delegierten gegenüber der Völkerbundskommission die Bereitwilligkeit erklärt, gegebenenfalls die Massnahmen zu treffen, um für den Völkerbund die gewünschten Liegenschaften erhältlich zu machen. Von Seiten der Konferenzkommission ist die Erklärung abgegeben worden, dass alle daraus entstehenden Kosten vom Völkerbunde übernommen werden. Es ist somit den eidgenössischen Räten und auch den genferischen Staats- und Gemeindebehörden anheimgestellt, ob und in welchem Masse sie sich an der Ausstattung des Völkerbundes selber beteiligen wollen. Die Organe des Völkerbundes und die bei ihm beglaubigten Vertreter der Gliedstaaten sollen den Eindruck haben, dass unser Land in ihnen die Repräsentanten einer hohen Idee freudig begrüsst.

Solange die Zahl der Völkerbundsbeamten klein ist, kann man sich vorläufig mit den bestehenden -- übrigens in vielen Beziehungen reformbedürftigen -- Regeln des gemeinen Völkerrechts über diplomatische Privilegien begnügen. Wird der Völkerbund aber eine umfangreiche Organisation mit einem zahlreichen Beamtenstab, und werden von ihm Grundstücke von beträchtlichem Umfang in Anspruch genommen, so wird es sich empfehlen, diese ganzen Beziehungen zwischen dem Völkerbunde und der örtlichen, eidgenössischen und kantonalen, Staatsgewalt durch ein Abkommen zu regeln und, wenn nötig, auf dem Wege der Bundesgesetzgebung besondere Bestimmungen im Interesse des Völkerbundes aufzustellen, z. B. den Beamten einen qualifizierten Schutz gegen rechtswidrige Handlungen zu gewähren.

Die Errichtung des Sitzes in der Schweiz wird sehr wahrscheinlich auch die Installierung einer funkentelegraphischen Station auf unserm Boden zur Folge haben. Für den Völkerbund ist der Besitz eines leistungsfähigen und unabhängigen Nachrichtendienstes von der grössten Bedeutung (vgl. auch unten S. 610).

Y. Die zum Völkerbund gehörenden Staaten.

Art. l des Völkerbundsvertrages unterscheidet zwischen ur- Ursprüngliche sprünglichen Mitgliedern und solchen, die erst nachträglich zuge- Mitglieder, lassen werden.

Die ursprünglichen Mitglieder sind im Anhang zum Völkerbundsvertrag bezeichnet, und zwar sind es bzw. können es folgende Staaten sein : a. Sämtliche alliierten und assoziierten Staaten, die mit Deutschland sich im Kriege befunden haben. Es sind dies 27 Staaten, nicht eingerechnet die vier britischen Dominions und Bundesblatt. 71. Jahrg. Bd. IV.

42

590

Indien, die eine besondere Mitgliedschaft, neben derjenigen des britischen Reiches, im Völkerbunde haben. Diese Staaten haben durch Unterzeichnung des Friedensvertrages den Völkerbund angenommen, und er tritt für sie durch Ratifikation in Kraft, sobald der Friedensvertrag mit Deutschland in Kraft erwächst. Diese Staaten*') hatten eine Gesamtbevölkerung vor dem Kriege von zirka 900 Millionen, was ungefähr 60 % der Gesamtbevölkerung der Erde ausmacht.

b. Binnen zwei Monaten nach Inkrafttreten des Friedensvertrages können die dreizehn zur Konferenz vom 20./21. März eingeladenen Staaten durch einfache, jedoch vorbehaltslose Erklärung beitreten und erlangen damit die Stellung ursprünglicher Mitglieder. Diese Erklärung ist bereits von Spanien abgegeben worden, welchem Staate auch bereits einer der vier nichtständigen Sitze im Rat gemäss Art. 4 vorläufig eingeräumt ist. Ob die übrigen zwölf neutralen Staaten von dem Rechte des Anschlusses Gebrauch machen werden, ist derzeit noch nicht bekannt. Indessen weisen verschiedene Umstände darauf hin, dass sowohl die europäischen wie die aussereuropäischen Staaten, die bis zum Schluss des Krieges neutral geblieben sind, sämtlich oder doch zum allergrössten Teil bereit sind, sich dem Völkerbund sofort anzuschliessen.

Diese Staaten repräsentieren, ohne die Schweiz, eine Bevölkerung von zirka 116 Millionen.

Zum Beitritt Staaten, welche nicht zur Teilnahme eingeladen sind, jedoch nicht nicht zur Gruppe der frühern Zentralmächte gehören, sind foleingeladene gen nur in einem sehr unentwickelten völker*) 26 ohne China, das den Vertrag am 28. Juni 1919 nicht unterzeichnete. Mit China wären es zirka 1250 Millionen oder 4/5 der Menschheit.

591

rechtlichen Verkehr bisher gestanden haben. Alle diese Staaten haben zusammen eine Bevölkerung von nur zirka 30 Millionen, wovon allein auf Mexiko 15, auf Abessynien 8 und Afghanistan 5 Millionen entfallen.

Eine Gruppe von Staaten, welche nicht als ursprüngliche Mitglieder · vorgesehen sind und als solche nicht zu den Kriegführenden gehört haben, bilden, mit Ausnahme Polens, die aus dem russischen Reich sich loslösenden und nach Selbständigkeit strebenden Völkerschaften der Ukraine, Litauens, Livlands, Esthlands, Lettlands, Georgiens usw. Auch Finland, dessen politische Konsolidierung am weitesten vorgeschritten ist und das von der Schweiz sowie auch ändern Staaten in seiner Unabhängigkeit anerkannt ist, befindet sich nicht unter den ursprünglichen Mitgliedern, da es weder zu den Alliierten und Assoziierten noch zu den Neutralen gehört. Mit der Ordnung der russischen Verhältnisse wird wohl auch für diese Staaten der Zeitpunkt der Abklärung ihrer Beziehungen zum Völkerbund gekommen sein, Die Bevölkerungszahlen dieser Gebiete sind zurzeit schwer zu bestimmen.

Die wichtigsten Staaten, welche nicht unter den ursprünglichen Mitgliedern figurieren, sind die als Zentralmächte bezeichnete Kriegspartei, Deutsches Reich, Deutsch-Österreich, Ungarn, Bulgarien und die Türkei und sodann Russland. Speziell der vorläufige Ausschluss der Zentralmächte ist geeignet, dem Völkerbund ein besonderes politisches Gepräge zu geben. Diese Staaten umfassen mit Russland zusammen mehr als die Hälfte der Bevölkerung Europas. Ihre Zugehörigkeit zum Völkerbunde ist deshalb für die Bedeutung des Bundes, wenigstens in Europa, von der allergrössteu Wichtigkeit, um so mehr, als Europa auch nach dem Friedensschluss wegen der vielen in ihm enthaltenen staatlichen, sozialen und wirtschaftlichen Gegensätze den Herd internationaler Gegensätze bilden wird.

In annähernden runden Ziffern repräsentieren die verschiedenen Gruppen von Staaten folgende Bevölkerungen: 1. Signatare des Friedensvertrages 900 bzw. 1250 Millionen 2. Eingeladene Neutrale 120 ,, 3. Zentralmächte, soweit ihre Gebiete nicht an Signatärstaaten übergegangen sind . . . 100 ,, 4. Russland, im ehemaligen Umfang, ohne Polen 160 ,, 5. IJbrige nicht eingeladene Staaten . . .

18 r 6. Afghanistan und Abessynien 13 ,.,

592

Bedingungen Die Aufnahme neuer Staaten, sei es solcher, die jetzt nachbestehen, aber im Anhang zum Vörkerbundsvertrag nicht aufgeB toitt;611 führt sind, sei es solcher, die in Zukunft durch Verschmelzung oder Aufteilung entstehen, erfolgt nach Art. l durch einen mit Zweidrittelsmehrheit zu fassenden Beschluss der Versammlung sämtlicher Gliedstaaten. Die Versammlung bestimmt, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, wobei der Rat gemäss Art. 8 die obere Grenze der Rüstungen des aufzunehmenden Staates festsetzt.

Sie hat dabei auch zu würdigen, ob d'er kandidierende Staat die erforderliche Gewähr für die loyale Erfüllung seiner internationalen Verpflichtungen bietet.

Da nur wenige Staaten im Rat vertreten sind, ist es gegeben, dass die nachträglich aufgenommenen zunächst keine Vertreter im Rate haben. Wenn es sich aber um Staaten handelt wie Deutschland und Russland, die trotz ihrer Gebietsverlusto und der wirtschaftlichen Erschütterungen vermöge ihrer Volkszahl, ihrer kulturellen und ökonomischen Bedeutung zu den wichtigsten Mächten gehören, würde deren Teilnahme am Völkerbund, unter Ausschluss aus dem Rate, eine auf die Dauer unhaltbare Situation sein. Art. 4 bestimmt denn auch, dass der Rat, mit Zustimmung der Mehrheit der Versammlung, die Zahl der ständig oder zeitweise im Rate vertretenen Staaten erhöhen kann. Das Erfordernis der Einstimmigkeit des Rates kann allerdings unter Umständen der Aufnahme eines Staates unter angemessener Berücksichtigung in der Organisation des Bundes Schwierigkeiten bieten. Immerhin beweist die Aufnahme dieser Bestimmung in den endgültigen Text des Vertrages, dass man sich der allfälligea Notwendigkeit der Erweiterung des Rates bewusst ist.

Der Umstand, dass zwei Nachbarstaaten der Schweiz, Deutschland und Deutsch-Österreich, trotz ihres ausdrücklich gestellten Begehrens um Aufnahme, vorläufig vom Völkerbunde ausgeschlossen sein sollen, und dass Russland, der volksreichste Staat europäischer Rasse, ebenfalls noch ausserhalb des Bundes ist, ist für die Schweiz von der allergrössten Bedeutung. Der Entschluss zum Beitritt wird ihr besonders erschwert durch die Tatsache, dass sie wegen des gegenwärtigen Ausschlusses ihres nördlichen und östlichen Nachbars gewissermassen räumlich an der Grenze des Völkerbundes liegt und damit in der Zone, in welcher die Friedensgarantien
des Völkerbundes nicht nach allen Seiten vollkommen zur Auswirkung kommen. Gefahren aus dem Ausschluss von Staaten und für die Schweiz speziell aus dem Ausschluss von Nachbarstaaten können auch deswegen erwachsen, weil die

593

revolutionäre Gärung in diesen Ländern infolge deren politischer Isolierung weniger leicht überwunden, vielleicht sogar gefördert wird.

Allerdings kann nach Art. 17 der Völkerbund den ihn nicht Verhalt»» eee angehörigen Staaten dieser die Beachtung seiner Satzungen Völkerbandes (Art. 12--15) auferlegen. Die Staatengesellschaft muss das Recht ^^^ haben, von allen Staaten die friedliche Streiterledigung zu verlangen. Soweit es sich aber um Staaten handelt, die gegen ihren Wunsch nicht dem Völkerbund angehören, ist die einseitige Auferlegung solcher Pflichten nicht ohne sehr grosse Bedenken, um so mehr, als Art. 17 nicht alle Garantien für eine Art der Streitendigung bietet, welche von vornherein jeden Schein von Parteilichkeit vermeidet. Einmal ist die Pflicht der Völkerbundsstaaten zur Beobachtung des bundesmässigen Friedensverfahrens nicht ausdrücklich ausgesprochen. Sodann hat der Nichtgliedstaat keinen Rechtsanspruch auf ein paritätisch gebildetes Schiedsgericht oder eine Vermittlung dieser Art. Er kann gezwungen werden, vor den Rat oder die Versammlung des Völkerbundes zu gehen, die, weil aus Völkerbundsgenossen der Gegenpartei zusammengesetzt, den Schein der Befangenheit gegen sich haben müssen. Auch kann der Rat die ihm notwendig scheinenden Abänderungen an den für die Mitglieder des Völkerbundes geltenden Bestimmungen vorschreiben, wobei nicht gesagt ist, in welcher Richtung und in welchen Grenzen diese Abänderungen erfolgen können. Es ist nicht nur das Interesse der aussenstehenden Staaten, sondern des Völkerbundes selbst, dass auch die Friedenssicherung gegenüber Nichtgliedstaaten mit voller Unparteilichkeit gehandhabt werde, da andernfalls unter Umständen die Ausführung der Sanktionen nach Art. 16 die Völkerbundsstaaten in eine schwierige Lage bringen würde. Die neutrale Schweiz müsste einem solchen Konflikt mit grosser Besorgnis entgegensehen, und der Umstand, dass für die Schweiz die Gesamtaktion des Völkerbundes unter diesen anormalen Voraussetzungen aktuell werden könnte, ist ein wesentlicher Grund für sie, von ihrer bisherigen neutralen Politik so wenig als möglich abzugehen.

Allein für die Schweiz fällt nicht nur diese Durchführung Universalität des Friedensverfahrens in Betracht. Der Umstand, dass eine Reihe als gruadvon Staaten vorläufig ausgeschlossen sind, ist an sich schon ge-
sätzliehe eignet, eine gewisse Gegensätzlichkeit zwischen dem Völkerbund or eruD8' und jenen Staaten zu entwickeln, um so mehr, als jene Staaten die ehemaligen Kriegsgegner der bedeutendsten Mitglieder des Völkerbundes sind.

594 Es geht nun aber aus den in der Schlusaanwort der Alliei-ten au die deutschen Unterhändler enthaltenen Erklärungen*) hervor, dass der Völkerbund allen Staaten grundsätzlich offen stehen solle und dass zu hoffen sei, dass die Aufnahme Österreichs und Deutschlands in einer nicht fernen Zeit erfolgen könne. In ähnlichem Sinne sind aus einflussreichen Kreisen alliierter Staaten, namentlich Englands, Stimmen laut geworden, welche diese Auffassung entschieden vertreten.

Der Völkerbund ist seinem Wesen nach universell. In diesem Sinne ist die Idee nicht nur in der Schweiz verstanden worden, sondern wohl auch von den meisten öffentlichen und privaten Persönlichkeiten, die während des Krieges für den Völkerbund eingetreten sind. Das ist aber auch eine Forderung der politischen Zweckmässigkeit; denn ein Völkerbund, von dem ein oder gar mehrere Staaten ausgeschlossen bleiben, welche nach ihrer geographischen Lage und ihrer wirtschaftlichen oder kulturellen Bedeutung für die Bundesglieder von Wichtigkeit sind, könnte niemals den Frieden wirklich verbürgen. Aus der Ausschliessung entwickeln sich Gegensätze, aus diesen Gegensätzen Sonderallianzen. Damit würde aber gerade das Gegenteil von dem Zustande herbeigeführt, den der Völkerbund verwirklichen soll: die Sicherheit des Friedens durch die Solidarität aller Staaten.

VI. Der Völkerbund in seinem Verhältnis zum Friedensvertrag.

Äussere VerDer Völkerbundsvertrag bildet mit seinen 26 Artikeln nebst bindung von Anhang den ersten Teil des Friedensvertrages. Diese Verbindung ist "Völkerbund offenbar aus einem sachlichen Grunde und aus einem solchen der vert politischen Taktik erfolgt. Nach den während des Krieges bekanntgegebenen Kriegszielen und auf Grund der beim Waffenstillstand abgegebenen Erklärungen sollte eine dauernde internationale Friedensordnung die Grundlage des ganzen durch den Friedensvertrag zu schaffenden neuen Rechtszustandes bilden. Der Frieden sollte nicht nur den Abschluss des gegenwärtigen Krieges, sondern, wenn möglich, : ' das Ende der Kriege bringen. Im weitern sollte der Völkerbund das Mittel sein, durch welches die vom Friedensvertrag ungelöstgelassenen Probleme zu einer Lösung gebracht und namentlich die internationale Rechtsordnung im Sinne der von Präsident Wilson erstmals in seiner Botschaft vom 22. Januar 1917 entwickelten Ideen aus*) Vgl. Beilage V, 19.

595

gebaut werden sollte. Dem Völkerbund war aber noch die weitere Aufgabe zugedacht, die Ausführung des Friedensvertrages, gewissermassen als eine über den Parteien stehende Instanz, da zu übernehmen, wo dies nicht den unmittelbar beteiligten Staaten zweckmässigerü'eise zu überlassen ist.

Die Wichtigkeit des Völkerbundes für das ganze Friedenswerk rechtfertigt an sich die enge Verbindung beider Teile. Ihre äusserliche Verbindung, die es ausschliesst, das eine ohne das andere anzunehmen, ist vielleicht für das Zustandekommen des Völkerbundes eine unerlässliche Voraussetzung gewesen. Für sich allein wäre der Völkerbund vielleicht gescheitert, weil er als neue Idee auf der einen Seite zu wenig Glauben und Vertrauen vorgefunden hätte und auf der ändern als zu starker Eingriff in die Unabhängigkeit der Staaten in sehr vielen Regierungen und Parlamenten auf unbesieglichen Widerstand gestossen wäre.

Für die Neutralen ist, wie bereits oben angeführt, diese Verbindung von Friedensvertrag und Völkerbund unerfreulich.

Einmal, weil sie so von der vollwertigen Teilnahme an den Verhandlungen ausgeschlossen waren, und sodann, weil die Staaten, die dem Kriege fern geblieben sind, nicht ohne Bedenken an einem Vertrage mitbeteiligt sind, der vor allem den Krieg zu liquidieren bestimmt ist und den die eine Vertragspartei als ihr durch die Macht'der Sieger auferlegt betrachtet und als hart und rücksichtslos empfindet.

Immerhin muss betont werden, dass die zum Beitritt zum Völkerbund eingeladenen Neutralen durch ihren Anschluss sich keineswegs zu Parteien des Friedensvertrages machen oder irgendeine generelle Zustimmung zu den vom Friedensvertrag getroffenen Ordnungen aussprechen. Die auf den Völkerbund bezüglichen Bestimmungen haben ein eigenes rechtliches Dasein, was schon daraus hervorgeht, dass alle Glieder des Völkerbundes, auch die Signatare des Friedens Vertrages, von dem erstem zurücktreten können, während dies in bezug auf den letztern ausgeschlossen ist.

Die Zusammenhänge zwischen Völkerbund und Friedensvertrag sind indessen mannigfaltige und beschränken sich keineswegs auf die bereits dargelegte äussere Verbindung.

Der mit Deutschland geschlossene Friedensvertrag*) nimmt an zahlreichen Stellen Bezug auf den Völkerbund und umgekehrt in zwei Punkten auch der letztere auf den erstem. So wird die Bestimmung über die erforderlichen Mehrheiten im Völkerbund *) Beilage V, 18.

Bedeutung der Verbindung für die Neutralen.

Weitere Zusammen'

596

im Friedensvertrag für bestimmte Fälle (Art. 50, Anlage § 40; Art. 213 ; Art. 280) abgeändert, und namentlich wird das Regime der von Deutschland abgetretenen Kolonien sowie der Teile des osmanischen Reiches durch Art. 22 des Völkerbundsvertrages geregelt. Da den Völkerbundsstaaten in gewissen Kolonialgebieten Gleichbehandlung in Handelssachen zugesichert wird, würden die neutralen Mitglieder mittelbar dadurch einen gewissen Vorzug auf Kosten des zedierenden Staates erlangen.

Die Artikel des Friedensvertrages, die auf den Völkerbund verweisen, können zum Teil auch vom Standpunkte der Neutralität aus kaum Bedenken erregen. Abgesehen von dem Xin. Teil (Artikel 387--426), welcher das internationale Arbeitsrecht betrifft (vgl. unten, S. 620 ff.), sind hier zu erwähnen die Bestimmungen betreffend die Gerichtsbarkeit des Völkerbundes bei Streitigkeiten über gewisse internationale Verkehrswege : Erhaltung der Schiffbarkeit von Elbe, Oder, Niémen, Donau (Art. 336/38); Einsetzung einer internationalen Kommission für den Niémen (Art. 342); generelle Bestimmung betr. Zuständigkeit des Völkerbundes für Streitigkeiten über verkehrsrechtliche Bestimmungen (u. a. betr. den Rhein) (Art. 376) ; Schiffahrtsfreiheit auf dem Kieler-Kanal (Art. 386). Der Völkerbund entscheidet auch über die Ordnung der Verkehrsbeziehungen zwischen Ostpreussen und dem übrigen Deutschland sowie zwischen Polen und Danzig, sofern sich die beiden beteiligten Staaten nicht auf einen Vertrag einigen (Art. 98).

Vom Standpunkte der Neutralität könnte dagegen Anstand daran genommen werden, dass der Völkerbund unmittelbar mit dem Vollzug gewisser Teile des Friedensvertrages betraut wird.

So übt während 15 Jahren der Völkerbund die Staatsgewalt als Treuhänder über das Saargebiet aus. Der Rat ernennt zu diesem Zwecke eine Regierungskommission ; der Völkerbund leitet auch die spätere Volksabstimmung und entscheidet darauf gestützt über die endgültige Zuteilung dieses Gebietes (Art. 48/49, Anlage dazu, § 16--30, § 35--40)«).

In bezug auf die freie Stadt Danzig (Art. 102) steht dem Völkerbund, der daselbst einen Oberkommissär hält (Art. 103), ein Schutzrecht zu.

Eine Befugnis des Völkerbundes zu einer rein politischen Einmischung ist durch Art. 80 festgesetzt: Die Unabhängigkeit Deutsch-Österreichs kann nur mit Zustimmung des Völkerbundes *)
Betreffend die Berücksichtigung der Wünsche der Bevölkerung der an Belgien nach Art. 34 abzutretenden Gebiete steht ebenfalls dem Völker-, bund eine Entscheidungsbefugnis zu.

597.

aufgegeben werden, wobei speziell an den Anschluss an Deutschland gedacht sein wird.

Zuständigkeiten des Völkerbundes, welche spezielle Verpflichtungen für Deutschland bedeuten und den interessierten Staaten die Möglichkeit, durch das Mittel des Völkerbundes einseitig ihre Interessen wahrzunehmen, einräumen, sind folgende : Art. 213 (Einsetzung von Untersuchungskommissionen durch den Rat betreffend militärische Verhältnisse), Art. 280 (zeitliche Erstreckung der Gültigkeit der zugunsten der alliierten und assoziierten Mächte in den Art. 264--272 und 276 festgesetzten wirtschaftlichen Rechte durch den Rat des Völkerbundes). Ebenso kann der Rat nach Art. 378 die Dauer der Vergünstigungen erstrecken, welche den alliierten und assoziierten Mächten ohne Reziprozitätspflicht in bezug auf dio Verkehrswege eingeräumt sind.

Nach Art. 304 bestellt, sofern die beteiligten Staaten sich nicht einigen, der Rat des Völkerbundes die Schiedsgerichte, welche die aus den Art. 296--303 und 306--311 allenfalls entstehenden Streitigkeiten entscheiden*). Nach Art. 289 funktioniert endlich der Völkerbund als Richter zwischen den alliierten und assoziierten Mächten darüber, welche früheren Verträge mit Deutschland wiederhergestellt werden dürfen.

Der Friedensvertrag hat aber keineswegs konsequent den Völkerbund mit dem Mandat des Vollstreckers des Friedensvertrages und des Schiedsrichters in den aus diesem Vertrage erwachsenden Streitigkeiten betraut. In der Mehrzahl der Fälle sind es die Interessenten selbst, bzw. die alliierten und assoziierten Mächte und unter diesen wieder die Hauptmächte, die bei der Erfüllung des Friedensvertrages mitzuwirken haben.

Die Möglichkeit für den Völkerbund, in Ausführung, ja selbst in Erstreckung des Friedensvertrages Verfügungen zu treffen, lässt sich mit seiner gegenüber der Vergangenheit grundsätzlich neutralen Stellung nicht wohl vereinigen, insbesondere solange Deutschland als beteiligte Partei nicht ebenfalls im Völkerbunde eine angemessene Vertretung besitzt.

Ob der Völkerbund diese Befugnisse im Sinne einer Entspannung der durch den Friedensvertrag zwischen den Kontrahenten entstandenen Situation ausüben wird, ist ungewiss; doch steht es zu hoffen. Das Fernbleiben der Neutralen wäre jedenfalls nicht geeignet, es dem Völkerbund zu erleichtern, dass die Spuren seiner
Entstehung aus der Gruppe der alliierten und assoziierten Mächte nach und nach verschwinden. Diejenigen, welche an der Verbindung von Friedensvertrag und Völkerbund eine oft *t Vgl. auch Art. 312 (Beilage V, 18).

598 ausserordentlioh scharfe Kritik üben, vergessen übrigens leicht, dass ohne die Existenz eines Völkerbundes Lösungen gewählt worden wären, die sie wahrscheinlich noch weniger befriedigt hätten.

Welche Wirkungen im allgemeinen der Friedensvertrag auf die internationalen Beziehungen der Schweiz tatsächlich und rechtlich ausübt, ist an dieser Stelle nicht zu untersuchen. Grundsätzlich ist folgendes zu sagen : Der Friedensvertrag ist eine Angelegenheit unter den Vertragsparteien und kann die Schweiz nicht verpflichten. Auch durch den Beitritt zum Völkerbund wird an dieser Tatsache nichts geändert.

VII. Die militärische Bedeutung des Völkerbundes für die Schweiz.

Militärische In einer doppelten Beziehung ist der Völkerbundsverlrag Bedeutung des für die militärische Lage der Schweiz von Bedeutung: einmal Völkerbunds- ,juj.0h
Abgesehen von diesen das militärische Gebiet unmittelbar beeinflussenden Bestimmungen ist die Mitgliedschaft im Völkerbunde an sich imstande, auf die politische Stellung eines Staates und dadurch mittelbar auch auf dessen militärische Situation einzuwirken. Doch auch die dem Bunde nicht angehörenden Staaten werden sich unfehlbar mit der neuen Tatsache eines Völkerbundes auseinanderzusetzen und sich dementsprechend vielleicht auch in militärischer Beziehung neu zu orientieren haben.

Begutachtung Der Bundesrat hat mit Rücksicht auf die Wichtigkeit dieser durch die Frage das schweizerische Militärdepartement mit der Begutachtung Landes- ^er militärischen Tragweite des Beitritts der Schweiz zum Völkerkommission Dua de betraut. Das Departement legte die Angelegenheit der Landesverteidigungskommission vor, die sich in mehreren Sitzungen damit befasste. Die Kommission verzichtete darauf, ein einheitliches Gutachten zu erstatten, da in einer Reihe der wichtigsten Punkte sich die Ansichten gegenüberstanden. Es sind zwei Gutachten dem Departement erstattet worden. Das eine tritt entschieden für die Beibehaltung unbedingter Neutralität in allen Fällen ein und erklärt den Eintritt der Schweiz in den Völkerbund als für unsere Sicherheit und Unabhängigkeit gefährlich.

Das andere Gutachten kommt zum Schlüsse, dass die Schweiz beitreten sollte, da die aus dieser Zugehörigkeit sich ergebenden Nachteile nicht von ausschlaggebender Bedeutung seien.

099

Der Bundesrat erachtet es als seine Pflicht, in dieser Darlegung auch die von militärischer Seite gegen den Beitritt der Schweiz geäusserten Bedenken der Öffentlichkeit bekanntzugeben. Dabei muss folgende Tatsache erwähnt werden : Die Risiken, die unser Land wegen der Zugehörigkeit zum Völkerbund bei Konflikten, wie sie namentlich Art. 16 in Betracht zieht, laufen würde, lassen sich nicht wohl auf Grund verschiedener, mehr oder weniger wahrscheinlicher, politischer und strategischer Situationen, als militärisch-technisches Problem, berechnen. Vielmehr ist für die Einschätzung dieser Risiken hauptsächlich ausschlaggebend die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit, dass der Völkerbund politisch geschlossen bleibt und nicht in einem Konflikt, in dem er interveniert, sich einer Mächtegruppe gegenüber sieht, die mit einiger Aussicht auf Erfolg ihm entgegentreten kann. Hier handelt es sich um die Beurteilung einer im wesentlichen rein politischen Frage. Das gleiche gilt auch von der Abschätzung der Gefahr kriegerischer Konflikte, die sich in einer absehbaren Zei aus der vom Weltkriege geschaffenen Lage heraus entwickeln könnten, und von dem Vertrauen in die Wirksamkeit der Friedensmittel des Völkerbundes. Es ist allerdings selbstverständlich, dass nicht nur die gegenwärtige Lage und die günstige Entwicklung des Völkerbundes in Betracht gezogen werden dürfen, sondern es muss auch damit gerechnet werden, dass sich eine neue Gleichgewichtslage mit der Zeit bilde, welche die Wirksamkeit des Völkerbundes in dem am meisten kritischen Moment wesentlich beeinträchtigen könnte.

Die Herabsetzung der Rüstungen hat schon längst eine Förde- Die Frage der rung der Friedensfreunde gebildet. Sie war die ursprüngliche Rüstungsran un Hauptaufgabe der I. Haager Friedenskonferenz. Nachdem ein ^' zweiter, weit schüchternerer Versuch der II. Haager Konferenz ebenfalls gescheitert war, wurde die Rüstungskonkurrenz bis zum Kriegsausbruch immer schärfer. So war es gegeben, dass die Beschränkung der Rüstungen, ja sogar die Ersetzung der nationalen Heere durch eine bewaffnete Macht des Völkerbundes, als Postulate während des Weltkrieges von denjenigen aufgestellt wurden, die an der Grundlegung eines dauerhaften Friedens arbeiteten. Auch das Wilson'sche Programm der 14 Punkte verlangt, dass die bewaffnete Macht auf das mit der innern
Sicherheit der einzelnen Staaten notwendige Mass herabgesetzt werde.

In einer sehr unvollkommenen Weise hat der Völkerbunds- Mass der Riivertrag die Forderung nach Beschränkung der Rüstungen in seinen stungeD nach Art 8 Art. 8 und 9 verwirklicht. Er anerkennt zwar den Grundsatz als - solchen und verlangt, dass die Rüstungen auf das Mindestmass

600

Private Rüstungsindustrie.

herabgesetzt werden, das vereinbar ist mit der Innern Sicherheit der Staaten und mit der Erfüllung der internationalen, durch ein gemeinsames Vorgehen auferlegten Pflichten. Darin kommen beide Gedanken, die vom Pazifismus aufgestellt worden sind und sich teilweise widersprechen, zum Ausdruck : einerseits sollen die Heere zu einer blossen polizeilichen Schutzmacht herabgedruckt werden, anderseits soll durch Vereinigung nationaler Streitmittel die Bildung einer überwältigenden internationalen Macht zur Verhinderung der Kriege angestrebt werden.

Die Schwäche des in Art. 8 vorgesehenen Systems besteht darin, dass der Völkerbund lediglich die Befugnis hat, den einzelnen. Regierungen Vorschläge über das Mass der Rüstungen zu machen, dass aber die Regierungen frei sind, diese Vorschläge anzunehmen oder nicht. Die Annahme hat zur Folge, dass der betreffende Staat ohne Zustimmung des Rates das Mass der in dem Plane vorgesehenen Rüstungen nicht -überschreiten darf.

Mindestens alle zehn Jahre soll der Plan der Rüstungen nachgeprüft und eventuell revidiert werden. Auch in diesem Falle ist die Freiheit, bzw. Bindung der Glieder des Völkerbundes dieselbe wie bei dem ursprünglichen Rüstungsplane.

Praktisch bedeutet diese vom Völkerbundsvertrag vorgesehene Ordnung, dass Verhandlungen über die Rüstungen geführt werden sollen. Die Möglichkeit, in dieser Beziehung zu einem Resultate zu kommen, liegt, vielleicht neben innerpolitischen und finanzpolitischen Umständen, namentlich darin, dass durch die ausserordentlich weitgehende Beschränkung der deutschen Wehrmacht im Friedensvertrag die Voraussetzungen für einschneidende Änderungen in ändern Staaten gegeben sind. Die Antwort der alliierten und assozierten Mächte auf die deutschen Gegenvorschläge*) weist auch daraufhin, dass die Bestimmungen über das deutsche Heer und die deutsche Flotte gewissermassen den Fixpunkt bilden, nach dem das Niveau der Rüstungen der ändern Staaten bestimmt werden soll.

Noch weniger bindend sind die Bestimmungen über die Beaufsichtigung oder Verstaatlichung der privaten Rüstungsindustrie -- e j ne Forderung, die schon lange erhoben worden ist, weil vermutet wird, dass zwischen den mit jener Industrie verbundenen Kapitalinteressen und einem Teil der Presse und gewissen politischen Kreisen Zusammenhänge bestehen. Der Art. 8 gibt dem Rat
lediglich einen Auftrag, auf eine Beseitigung dieser Gefahr bedacht zu sein; irgendwelche Kompetenzen haben die Organe des Völkerbundes in dieser Beziehung nicht.

*) Vgl. Beilage V, 19.

601 Eine allen Mitgliedern des Völkerbundes obliegende Ver- Mitteilungspflichtung betrifft die gegenwärtige, vollständige und offene Erpflicht.

teilung von Auskünften über die Rüstungen, die Heeres- und Flottenprogramme und den Stand der Industrien, die für den Krieg in Betracht kommen. Anträge, die dahin gingen, dem Völkerbund ein Aufsichtsrecht über diese Verhältnisse der einzelnen Mitglieder einzuräumen, sind nicht durchgedrungen, weil 'die Regierungen sich eine solche Kontrolle nicht gefallen lassen wollten, und weil die wichtigsten und gefährlichsten Erfindungen sich vielleicht doch verheimlichen Hessen. Nur in bezug auf Deutschland steht dem Völkerbund nach Art. 213 des Friedensvertrages*) vom 28. Juni 1919 ein solches Aufsichtsrecht zu.

Die Bestimmungen des Völkerbundsvertrages betreffend die Bedeutung des Rüstungen berühren die dem Bunde nicht angehörenden Staaten ^Jj". f nur insofern, als solche Staaten, wenn sie aufgenommen werden |jjjtoiie(jer wollen, im Gegensatz zu den ursprünglichen Mitgliedern, in bezug auf ihre Rüstungen diejenigen Bedingungen anzunehmen haben, die vom Rat als dem allgemeinen Rüstungsplan und den besondern Verhältnissen dieser Länder entsprechend erachtet werden.

Es wird aber auch sonst der Völkerbund gegenüber den Rüstungen von Nichtgliedstaaten nicht gleichgültig bleiben können, und er wird seinen Einfluss dahin geltend machen, dass der für seine Mitglieder aufgestellte Rüstungsplan nicht durch andere Staaten gefährdet werde. Für diese Auffassung spricht der Umstand, dass in der definitiven Fassung des Artikels 8 nicht, wie ursprünglich, von Gliedstaaten, sondern schlechthin von Staaten gesprochen wird.

Was die Schweiz anbelangt, so war die Landesverteidigungs- Bedeutung kommission darin einig, dass die Behauptung der Neutralität, sei _ .. ®8 , es im Völkerbund, sei es ausserhalb desselben, stets eine starke und f ür dag schlagfertige Armee erfordere. Nur eine bewaffnete Neutralität Wehrwesen hat Aussicht, geachtet zu werden, und nur sie ist imstande, einer der Schweiz, neutralen Schweiz im Völkerbunde Ansehen und Einfluss zu geben.

Die Landesverteidigungskommission erblickt, die Hauptgefahr für unser Land darin, dass sich unser Volk beim Eintritt in den Völkerbund einem Gefühl sehr grosser Sicherheit hingebe und aus diesem Grunde die Sorge für die Erhaltung
unserer Wehrfähigkeit und damit unserer Unabhängigkeit vergesse.

Welches auch das Mass der Sicherheit sei, das der Völkerbund seinen Mitgliedern und dem Frieden der Welt überhaupt zu bieten imstande sein wird, so ist es sicher, dass ein Staat, *) Vgl. Beilage V, 18.

602

der in jeder Situation seine Neutralität behaupten will, in der Lage sein muss, mit eigenen Mitteln die Unverletzlichkeit seines Gebietes zu verteidigen und den Kriegsparteien dieses Vertrauen einzuflössen.

Die Schweiz wird auch dem Völkerbund gegenüber, wenn dieser im Fall des Art. 16 als Kriegspartei auftritt, unbedingt daran festhalten, dass sie zu bestimmen hat, ob und wann im Falle eines Angriffes seitens eines Kriegführenden sie die Hilfe anderer Staaten anrufen will. Das gilt in gleicher Weise für Hilfe gegen Neutralitätsverletzungen in Kriegen unserer. Nachbarn wie für den Schutz, den wir bei einem Konflikt zwischen uns selber und einem ändern Staat für die Integrität unseres Gebietes, sei es auf Grund der Akte von 1815, sei es auf Grund des Art. 10 des Völkerbundsvertrages, beanspruchen würden. Die Schweiz könnte mit Rücksicht auf ihre Neutralität nicht zugeben, dass der Völkerbund vorsorglich zum Schütze der Schweiz irgendwelche Massnahmen auf ihrem Gebiete treffen würde.

Anderseits muss der Völkerbund, wenn wir nicht nur jede aktive Teilnahme an seinen militärischen Unternehmungen ablehnen, sondern ihm auch jede Unterstützung durch Einräumung des Durchzuges sowie jede präventive Hilfeleistung versagen, darauf zählen können, dass unsere Neutralität eine wirksame sei und nicht für ihn selber mittelbar eine Gefahr bedeute.

Die besondern Anstrengungen, die wir machen müssen, damit wir, wenn irgendmöglich, mit eigenen Mitteln unser Gebiet verteidigen können, sind aber mehr als aufgewogen dadurch, dass wir so unsere Neutralität beibehalten können und dabei auch weniger der Gefahr ausgesetzt sind, dass unser Land Kriegsschauplatz werde. Das Mass der Rüstungen -- der Schweiz wie anderer Länder -- ist wechselseitig durch dasjenige der übrigen Staaten bestimmt. Durch die weitgehende Beschränkung der deutschen Wehrmacht ist eine Voraussetzung zu einer allgemeinen Reduktion gegeben. Eine weitere Voraussetzung ist aber eine allgemeine politische Entspannung, eine Erhöhung des Sicherheitsgefühls. Der Völkerbund soll diese Sicherheit schaffen, aber erst die Zukunft wird zeigen, ob er dazu imstande ist. Die Schwierigkeit des ganzen Problems liegt darin, dass Einschränkung der Rüstungen und Stärkung der internationalen Friedensordnung sich gegenseitig bedingen und deshalb gleichzeitig vor sich gehen müssen, damit ein Erfolg eintrete.

Die Frage, ob bei einem nachträglichen Beitritt die Gefahr besteht, dass der Schweiz ein Höchstmass der Rüstungen vor-

603

geschrieben würde, das sie als für ihre Sicherheit ungenügend erachten müsste, ist wohl zu verneinen; denn auch der Völkerbund hätte ein Interesse daran, dass die Schweiz, wenn sie neutral bleiben will, genügende Mittel zu ihrer Verteidigung besitze ; sein Interesse ist dem unsrigen deshalb gleich. Aus eben diesem Grunde ist auch nicht anzunehmen, dass der Völkerbund der Schweiz, wenn sie als ursprüngliches Mitglied beitritt, in bezug auf das Maas ihrer Wehrkraft Vorschläge machen würde, deren Annahme unsere Neutralität in Frage stellen könnte. Anderseits ist es ausgeschlossen, dass der Völkerbund uns zu übermässigen Rüstungen anhalten könnte, denn sein Rüstungsplan schafft lediglich eine Begrenzung nach oben.

In dem Teil dieser Botschaft, der von der Neutralität handelt, ist unterschieden worden zwischen den Kriegen, die der Völkerbund toleriert, und solchen, in denen nach Art. 16 eine Gesamtaktion ausgelöst wird (vgl. oben S. 573).

In den erstem bleibt die Neutralität rechtlich und tatsächlieh und damit auch militärisch, was sie bisher war. Immerhin befürchten diejenigen, die nur eine unbedingte Neutralität gelten lassen wollen, dass das allgemeine Ansehen unserer Neutralität und das Vertrauen in sie auch in diesem Falle nicht mehr dasselbe wäre, weil die Neutralität nicht mehr in allen Fällen-etwas absolut Unveränderliches und Undiskutierbares darstellen würde.

Was diejenigen Kriege anbelangt, in denen zwar nicht der Fall des Art, 16 zutrifft, mit denen sich aber der Völkerbund gemäss Art. 10, 11, 13 und 17, Abs. 4, befasst, so bleibt auch hier nach dem oben, S. 574, Ausgeführten die Neutralität unverändert. Würde -- entgegen dem hier vertretenen Standpunkt -- die Neutralitätspolitik in allen Fällen sich modifizieren müssen, in denen der Völkerbund als solcher gegenüber kriegerischen Verwicklungen interveniert, so würde die Wahrscheinlichkeit der mit einer ungleichen Behandlung der Parteien verbundenen Risiken erhöht; es entstünden jedoch keine besondern militärischen Situationen hieraus.

Die wichtigste Frage militärischer Natur, die wir uns zu stellen haben, ist folgende: welche Aussicht auf Respektierung der Neutralität besteht, wenn die Schweiz sich auf eine bloss militärische Neutralität beschränken, im übrigen aber ihre Neutralitätspolitik, namentlich auch in wirtschaftlicher Beziehung,
im Sinne der Solidarität mit dem Völkerbunde orientieren würde?

Mit ändern Worten : welchen Wert hat eine bloss militärische Neutralität der Schweiz für die Kriegführenden und, umgekehrt,

Neutralität der Schweiz jils yîjfl bundes bei von diesem tolerierten

Neutralität ! i^/T6^ ^ yö^jer.

[bundes bei GesamtAktionen des z ern '

d( r

604

welchen Wert hat eine bedingungslos gleichmässige Neutralität für die Schweiz?

Hierbei ist in erster Linie zu betonen, dass die militärische Neutralität, wenigstens in allen ihren wesentlichen Auswirkungen, eine unbedingte sein muss. In dieser Beziehung kann es sich nur ntn eine strikte, stets mit genügenden militärischen Mitteln verteidigte Neutralität handeln, die beiden Parteien Vertrauen einflössen kann. Alles andere wäre unehrlich und gefährlich.

Aus der Neutralität ergibt sich für die Kriegführenden die Unverletzlichkeit unseres Gebietes und umgekehrt für die Schweiz die Pflicht, nichts auf ihrem Gebiet zu dulden, was einer Einwirkung auf die militärischen Unternehmungen der Kriegführenden gleichkäme. Von einer aktiven Teilnahme schweizerischer Truppen kann überhaupt keine Rede sein. Ebenso ist jeder Durchzug von Truppen zu verwehren. Neutralität und Durchzugsgewährung schliessen sich wie vom militärischen so auch vom rechtlichen Standpunkt aus. Derselbe Grundsatz muss gelten für Truppen, die sich auf Schweizergebiet flüchten. Es wäre unzulässig, Truppen von Völkerbundsstaaten unter solchen Verhältnissen nicht zu internieren, sondern wieder auf den Kriegsschauplatz übertreten zu lassen.

Es wird vielfach darauf hingewiesen, dass ein gemeinsames Vorgehen des Völkerbundes, wie es Art. 16 vorsieht, ganz und gar unwahrscheinlich sei, solange nicht der oder die bundesbrüchigen Staaten Aussicht haben, dem Völkerbund einigermassen gewachsen zu sein. Die Situation bei den Gesamtaktionen würde nach dieser Meinung keineswegs die sein, dass dem Friedensbrecher ein politisch, wirtschaftlich und militärisch weitüberlegener Völkerbund gegenüberträte ; der Neutrale stünde gegebenenfalls vielmehr zwischen annähernd gleich starken Kriegsparteien.

Diese Annahme ist wohl zutreffend; gleichzeitig bedeutet sie aber auch, dass der Völkerbund in allen übrigen, d. h. in den meisten Konflikten seinen Zweck erfüllt und die Beobachtung des Art. 12 erreicht haben wird. -- Denn wie jede Sanktion des Rechtes will auch Art. 16 vor allem präventiv wirken, durch die Stärke und Allgemeinheit der vom Völkerbund zu treffenden Gegenmassnahrnen von bundeswidrigen Kriegen abschrecken. Diese Wirkung aber kann um so eher erzielt werden, je geschlossener der dem Friedensbrecher drohende Widerstand sein wird, und auf diesem Umstände beruht das Interesse des Völkerbundes an der Beteiligung möglichst vieler Staaten an den wirtschaftlichen Sanktionen.

605

Indessen ist es durchaus denkbar, dass der Völkerbund unter für ihn und namentlich für einzelne seiner Glieder sehr ungünstigen Umständen zu einer Gesamtaktion schreiten muss, nämlich dann, wenn mehrere starke Staaten als Partei den Bund gemeinsam brechen, oder gar, weil innere Zerwürfnisse innerhalb der übrigen Staaten ein gemeinsames Vorgehen in Frage stellen. Diese Gefahr wird übrigens, und zwar gerade für die schwierigsten Situationen wesentlich durch das Einstimmigkeitserfordernis des Art. XV, Abs. 6, vermindert. Es könnte auch die politisch- ' militärische, Lage so sein, dass die Schweiz zunächst neben annähernd gleich starken Kriegsparteien stünde und der Völkerbund erst nach längerer Zeit in der Lage wäre, sein Übergewicht militärisch und wirtschaftlich geltend zu machen.

Es ist klar, dass zwischen dem Fall des isolierten Friedensbrechers und dem Fall einer tatsächlichen Spaltung des Völkerbundes in zwei annähernd gleich starke Gruppen die verschiedensten Übergänge möglich sind. Je weniger das Übergewicht des Völkerbundes von Anfang an . und speziell auf den der Schweiz benachbarten Kriegsschauplätzen vorhanden ist, um so eher wird der Gegner des Völkerbundes, wenn er es für vorteilhaft hält, sich gestatten, auch das neutrale Mitglied des Völkerbundes zu verletzen, und er wird dies um so eher tun, wenn ·dieser Staat in seiner Politik den Völkerbund bevorzugt.

Die Gründe, weshalb eine bloss militärische Neutralität wenig Wert oder -- nach der Ansicht einzelner keine -- Aussicht auf Respek- lsFnweî!; ^jf.

tierung habe, sind namentlich folgende : différentielle?

Der durch eine différentielle Neutralitätspolitik benachteiligte dBt?hp"^|_ Staat wird geltend machen, dass eine ungleichmässige Neutralität überhaupt keine Neutralität sei, dass er deshalb auch keine Rücksichten auf den Neutralen zu nehmen habe. Das ganz besondere Ansehen, das die schweizerische Neutralität wegen ihres Alters und ihrer Konsequenz geniesst und das ihr einen erhöhten moralischen Schutz gewährt, würde verloren gehen, wenn dieses Prinzip durch den Völkerbund irgendeine Abschwächung und Minderung erfahren sollte.

Die wirtschaftlichen Mittel können, wie der jüngste Krieg zeigte, gerade die wichtigsten sein. Wer sie gegen einen Kriegführenden anwendet, wird von diesem als Feind betrachtet und mit den Mitteln bekämpft, die der Geschädigte zur Verfügung hat. Der Abbruch der persönlichen Beziehungen würde die Bundesblatt. 71. Jahrg. Bd. IV.

43

606

durch die wirtschaftliche Sperre bewirkte Spannung wesentlich verschärfen.

Die Gewichtigkeit dieser Gründe kann nicht übersehen werden. Indessen ist folgendes zu bedenken : Der Vorwurf, eine différentielle Behandlung der Parteien sei keine Neutralität mehr, ist für einen Kriegführenden stets nur ein -- vielleicht günstiger -- Vorwand oder eine Begründung, die Neutralität zu verletzen ; aber die ungleiche Behandlung als solche wird kaum je eine wirkliche Kriegsursache sein. Es müssen militärische, vielleicht auch wirtschaftliche Interessen im Spiele sein, um den Ausschlag zu einem Angriff auf den Neutralen zu geben, und wenn solche Gründe -- wirkliche oder vermeintliche -- vorliegen, wird auch bei einer bedingungslosen Neutralität ein Vorwand sich in angeblich drohenden Blassnahmen der Gegenpartei finden lassen. Die Kriegshandlungen können durch das Vorhandensein von mehr oder weniger plausibehi Gründen erleichtert und ausgelöst, nicht aber -- von den Fällen reiner Prestigepolitik abgesehen -- ursächlich bestimmt sein. Dem erhofften Gewinn stehen immer Nachteile gegenüber, zunächst der Kraftverbrauch zur Überwindung des Widerstandes des Neutralen und der durch die Neutralitätsverletzung voraussichtlich bewirkten militärischen Gegenmassnahmen des Völkerbundes. Die militärische Widerstandskraft unseres Landes bildet gerade gegenüber dem bundesbrüchigeri Staat, der sich unter allen Umständen wohl in erster Linie, durch rein militärische Rücksichten bestimmen lassen wird, den wichtigsten Schutz unserer Neutralität. Und was eine différentielle Neutralität vielleicht an Ansehen bei diesem Staat verloren hat, gewinnt sie beim Völkerbund.

Dass die wirtschaftlichen Massnahmen bei Kriegen, wo dio Zahl und Bedeutung der Neutralen gering und die wirtschaftlich» Selbstgenügsamkeit der einen Partei klein ist, von grösster, ja entscheidender Bedeutung sein können, ist gewiss. Die Schweiz ist aber, wenn die übrigen Staaten nach Art. 16 verfahren, gar nicht in der Lage, Avirtsehaftlich einem Staate irgend etwas von Belang zu bieten; materiell kann ihre Stellungnahme nicht ins Gewicht fallen. Die wirtschaftlichen Vorteile, welche die Okkupation der Schweiz bieten könnte, würden jedenfalls nicht die allgemeinen politischen und militärischen Risiken eines solchen Gewaltaktes aufwiegen. Übrigens üben die wirtschaftlichen Massnahmen gegenüber einem grossen, wenn auch allseitig abgesperrten Lande nur nach einer mehr oder weniger langen Zeit ihre Wirkung aus.

607

Wesentlich für die Kriegführung ist, weil allein unmittelbar auf Stabilität der sie einwirkend und durch sie wiederum zu beeinflussen, eigentlich Neutralität, nur das militärische Verhalten des Neutralen, d. h. seine Nichtteilnahme an den militärischen Unternehmungen der Gegenpartei und die Verhinderung, dass vom neutralen Gebiet aus solche Unternehmungen direkt begünstigt, vorbereitet oder gar ausgeführt werden. Dass die Kriegführenden in diesen Beziehungen auf eine bestimmte Haltung des Neutralen zählen können, und zwar jederzeit und unter allen Umständen, erscheint als die wesentliche Voraussetzung für die Anerkennung einer Neutralität.

Das Verhalten in ändern Dingen, welche die Neutralität berühren können (Zuzug Freiwilliger, private Lieferung von Kriegsmaterial, Benutzung von Anstalten des Nachriehtenverkehrs) ist daneben von verhältnismässig geringer Bedeutung; es wird übrigens in dieser Beziehung der Neutrale sich in der Hauptsache an das bisherige Neutralitätsrecht halten können, ohne dadurch den Völkerbund zum Vorteil seines Gegners zu benachteiligen.

Auch wenn man den politischen und militärischen Wert einer differentiell gehandhabten Neutralität sehr gering einschätzen wollte, müsste doch dem Element der Stabilität und Bestimmtheit auch einer solchen Neutralität für die benachteiligte Kriegspartei eine Bedeutung beigemessen werden -- zumal im Anfang des Krieges, in dem die Parteien mit vielen unbekannten Faktoren zu rechnen haben und deshalb geneigt sind, die Neutralität in der Form anzuerkennen, in der sie sich ihnen bietet. In dem einen Gutachten der Landesverteidigungskommission wird diese Auffassung allerdings ausdrucklich abgelehnt. Der Umstand, dass eine différentielle Neutralitätspolitik nicht eine Frage der politischen Z weck mässigkeit oder willkürlicher Parteinahme ist, sondern unter bestimmten, vertragsmässig festgelegten Voraussetzungen eintreten würde, könnte den Kriegsparteien beweisen, dass die verschiedene Behandlung der Parteien nicht den Übergang zum Anschluss an die eine bildet, sondern in ihrer Art etwas Fixes ist wie die militärische Neutralität selber. Dass die Schweiz nach ihrer ganzen Vergangenheit und nach ihren offensichtlichen Interessen nicht von sich aus in einen Krieg eintritt, in dem sie nichts zu gewinnen hat, dürfte ebenfalls das Vertrauen in ihr
unwandelbares militärisches Verhalten bei den Kriegsparteien befestigen.

Die Gefahr, dass der Völkerbund selber unsere Neutralität verletze, ist einmal deshalb nicht als gross zu betrachten, weil ein solch schmählicher Rechtsbruch dem Völkerbund als Träger der Rechtsidee schweren moralischen Schaden brächte, und sodann,

608

weil sich kaum Fälle denken lassen, in denen der Völkerbund sich in einer solchen militärischen Zwangslage befände, dass er einen derartigen Schritt in Erwägung ziehen würde. Gegen die Gefahr, dass der Völkerbund uns seine Hilfe aufdrängen möchte, schützen wir uns am wirksamsten durch unsere eigene Wehrhaftigkeit.

Interesse der Was nun das Interesse der Schweiz selber an der BehauptungSchweiz an einer in allen Fällen bedingungslos gleichmässigen Neutralität tefche?103 an')elangt;) so 'st es nach dem auf dom negativen Standpunkt Neutralität, stehenden militärischen Gutachten dann am grössten, wenn das militärische Interesse der einen Partei an der Respektierung unserer Neutralität am geringsten ist, d. h. wenn diese Partei übermächtig ist und wenn zudem die différentielle Neutralitätspolitik sich gegen sie richten müsste. Ist der Völkerbund übermächtig, so bietet die ihm günstige Politik für uns keine besondere Gefahr.

Ist dagegen die Gegenpartei im Übergewicht, so sind die Grundlagen des Völkerbundes überhaupt erschüttert, und es läge dann wohl gerade auch in dessen Interesse, dem Neutralen eine solche Haltung zu gestatten, welche die meisten Aussichten für die Respektierung der Neutralität bietet.

Ethische In einem der Gutachten der Landesverteidigungskommission Momente, jst auch dem Gedanken Ausdruck gegeben worden, dass Ehre und Ansehen der Schweiz und ihrer Bürger unfehlbar darunter leiden, wenn unser Land an den Massregeln nach Art. 16 sich beteiligt, aber der Teilnahme am Kampfe für das angeblich verletzte Völkerrecht sich gänzlich entziehe. Es ist schon oben (S. 566 f.) bei der Begründung unseres Anspruches auf Beibehaltung der Neutralität im Völkerbunde ausgeführt worden, dass dadurch die Schweiz keine ungerechtfertigte Vorzugsstellung, sondern lediglich eine billige Verteilung der Risiken anstrebe. Dio meisten Mitglieder des Völkerbundes worden weder aktiv sich an den in Art. 16, Abs. 2 vorgesehenen militärischen Massnahmen beteiligen noch aufgefordert werden, den Durchpass zu gestatten ; sie werden also in einer ähnlichen Lage sein, wie ein neutraler Staat, der sich an den wirtschaftlichen Sanktionen beteiligt. Und von den Retorsionsmassregeln des bundesbrüchigen Staates wird der Neutrale nicht weniger als die ändern Glieder des Völkerbundes betroffen werden : es wird deshalb kein
stossendes Missverhältnis zwischen Vorteilen und Nachteilen bestehen.

Auf der ändern Seite könnte man fragen, ob nicht auch die Ehre und das Ansehen der Schweiz und ihrer Bürger leiden würden, wenn -unser Land in einem Konflikt, wo der Völkerbund auf der einen Seite unzweifelhaft als Hüter des Friedens

609

und des Rechtes dastünde, und auf der ändern Seite ein Staat, der durch einen offenbar frivolen Überfall eine ungebührliche Machtstellung anstrebte, eine bedingungslos gleiche Behandlung beider Parteien durchführen wollte.

Der Sitz des Völkerbundes in der Schweiz kommt vom Sitz des militärischen Standpunkte in verschiedener Beziehung in Betracht Völkerbundes · und echweizeIn Kriegen, an denen der Völkerbund in keiner Weise als rische Neutrasolcher beteiligt ist und während derer die Schweiz eine voll- . litä* ständig gleichmässige Haltung gegenüber beiden Kriegsparteieu ^rieg^ ^ beobachtet, bildet die Tatsache, dass der Völkerbund seinen Sitz in der Schweiz hat, einen erhöhten Schutz für unser Land. Die Verletzung der schweizerischen Neutralität, die wohl nur unter Bruch des Art. 12 erfolgen könnte, würde sofort den ganzen Völkerbund gegen unsere Angreifer in Bewegung setzen, und es kann angenommen werden, dass in einem solchen Falle auch die in Art. 16, Abs. 2, vorgesehene militärische Aktion sofort und in bedeutendem Umfange in Wirksamkeit träte, insbesondere seitens der Staaten, die ohnehin die Unverletzlichkeit unseres Gebietes gewährleistet haben. Ganz abgesehen aber davon, hätte der Völkerbund selbst ein Interesse an unserer Verteidigung, da die Verletzung unseres Gebietes eine Bedrohung oder gar Verletzung des Völkerbundssitzes zur Folge hätte.

Bei den Kriegen, in denen der Völkerbund nach Art. IG bei Gesamtinterveniert, liegen die Verhältnisse wesentlich weniger günstig, aktionen nach Einmal würde die Verletzung der schweizerischen Neutralität ^rt- *®durch den Friedensbrecher nicht erst die Aktion des Völkerbundes nach sich ziehen, denn sie ist schon gegen diesen Staat im Gange.

Immerhin ist es möglich, dass in diesem Falle mehr Staaten zur militärischen Aktion übergingen als sonst.

Sodann aber könnten sich aus dem Umstände des Sitzes des Völkerbundes auf unserm neutralen Boden Komplikationen mit der Neutralität und gewisse Gefahren für diese ergeben. Es ist möglich, dass am Sitze des Völkerbundes, als dem Zentrum der politischen Leitung des Bundes, auch die militärische Oberleitung der auf Grund von Art. 16, Abs. 2, mobilisierten Truppen sich befände. Die Anwesenheit einer Anzahl höherer Offiziere könnte zwar nicht als eine die andere Kriegspartei bedrohende Anwesenheit von Truppen
auf neutralem Boden gelten ; denn sie würden ja nicht dort sich aufhalten, um durch den Schutz deiNeutralität einen besondern Vorteil zu haben, sondern würden, je nach der Kriegslage, ihren Aufenthalt auch in einem kriegführenden

610

Staate nehmen. Aber ihre Anwesenheit liesse sich doch nicht wohl mit der Neutralität vereinbaren.

Eine andere Schwierigkeit ergäbe sich aus dem Nachrichtendienst. Es ist gegeben, dass der Staat, der den Völkerbundssitz beherbergt, den Organen des Völkerbundes auch in Kriegszeiten und selbst während der Aktionen im Sinne des Art. 16 den Verkehr mit dem Ausland durch irgendwelche Verkehrsmittel nicht verbieten oder unter Zensur stellen kann. Solauge der Neutrale beide Parteien gleichbehandelt, würden daraus nach Art. 8 und H des V. Haager Abkommens keine Kollisionen entstehen. Auch das Bestehen einer eigenen Station für drahtlose oder andere Télégraphie \viirde nach Art. 3 des gleichen Abkommens die Neutralität nicht tangieren, wenn die Station nicht erst im Kriege errichtet würde und wenn sie dem öffentlichen Verkehr freistünde. Da aber die Gleichbehandlung unter Umständen eine Begünstigung des bundesbrüchigen Staates bedeuten könnte, ist es möglich, dass ein Widerspruch zwischen den Anforderungen der Neutralität und den Rücksichten auf den Völkerbund entstünde.

Endlich wäre vielleicht auch zu befürchten, dass der Gegner des Völkerbundes den Sitz des letztern zum Gegenstand von Angriffen machen wollte, sei es, um die dortige Organisation zu stören, sei es, um durch Erzwingung einer Evakuation der Organe des Völkerbundes dessen Ansehen einen Schlag zu versetzen.

Die Entwicklung des Luftkrieges hat die Möglichkeit solcher Angriffe wesentlich vergrössert.

Die schweizerische Neutra^alb^des1" Völkerbundes,

In diesen Fällen ·-- wenigstens wenn der bundesbrüchige Staat von uns nicht sehr entfernt ist -- bedeutet die Tatsache des Sitzes eine gewisse Gefahr und unter Umständen ein Hindernis für eine restlose Durchführung der Neutralität, wie sie in der V. Haager Konvention umschrieben ist.

Ausserhalb des Völkerbundes -- und damit wohl auch ohne dessen Sitz in ihrem Gebiet -- könnte die Schweiz ihre Neutralitiltspolitik im Prinzip ganz so gestalten, wie sie glaubt, dass dies eine1' bedingungslosen Neutralität am besten entspreche. Darin liegt der entscheidende Vorteil des Nichtbeitrittes nach der Auffassung derjenigen, die in einer in allen Lagen grundsätzlich absoluten Neutralität die beste Bürgschaft für die Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes erblicken.

Wenn auch durch die Massnahmen des Völkerbundes nach Art. 16 die Schweiz tatsächlich gezwungen wäre, sich -- um existieren zu können -- mehr oder weniger dem Völkerbund

611 wirtschaftlich anzuschliessen, so würde nach der Auffassung, wonach in allen Situationen eine absolute Neutralität zu beobachten wäre, eine derartige erzwungene Ungleichheit der Behandlung der Kriegsparteien dem Prinzip der Neutralität viel geringeren Abbruch tun als eine freiwillige Differenzierung zugunsten des Völkerbundes; damit würde auch nach dieser Ansicht die Gefahr einer Verletzung der Neutralität unvergleichlich vermindert.

Die Verletzung der Neutralität durch den Völkerbund wäre in diesem Falle ebensowenig wie bei Mitgliedschaft im Bund zu befürchten, da die gleichen moralischen und militärischen Momente für diese Annahme sprechen. Immerhin wäre die Geneigtheit zur Respektierung der schweizerischen Neutralität auf Seite des Völkerbundes, solange dieser nicht einem annähernd gleichen Gegner gegenüberstünde, geringer als in bezug auf die Neutralität eines Mitgliedes. Gleichzeitig wäre aber vielleicht auch die Geneigtheit zur Respektierung beim Gegner des Bundes grösser. Bei einer annähernden Gleichgewichtslage, welche die natürliche Voraussetzung der Kriege bildet, würde nach dem auf dem ablehnenden Standpunkt stehenden Gutachten die absolute Neutralität die grössfccn Garantien bieten. Anderseits darf nicht übersehen werden, dass der Völkerbund seinen Mitgliedern durch Art. 12 und 16 einen Schutz bietet gegen Überfälle, der kaum nach Art. 17 rechtzeitig vom Völkerbund auf einen ihm nicht angehörenden Staat ausgedehnt werden könnte.

Ein entscheidendes Moment für die Beurteilung der militärischen Lage der Schweiz ausserhalb des Völkerbundes wird aber die allgemeine politische Situation sein, in der wir uns dann befinden.

Eine Vereinsamung der Schweiz und eine Erkältung der Beziehungen zu wichtigen Staaten des Völkerbundes wäre kaum ohne Einfluss auf die Stellung der Schweiz in Kriegszeiten und auf die Möglichkeit für unser Land, sich militärisch und auch wirtschaftlich in einer künftigen Krise zu behaupten. Wir kommen darauf in den Schluss folgerungen dieser Botschaft (S. 636 ff.) noch zurück.

VIII. Die wirtschaftliche Bedeutung des Völkerbundes für die Schweiz.

Das Volkswirtschaftsdepartement hat die Frage des Bei- Wirfcschafttrittes zum Völkerbund vom wirtschaftlichen Standpunkte aus liche Begu*spoziell geprüft und sie auch einer kleinen wirtschaftlichen ac un^" Kommission unterbreitet. Es ist mit dieser Kommission zum

612

Schlüsse gelangt, dass die Schweiz dem Völkerbunde nicht fernbleiben könne.

WirtschaftNach der Ansicht vieler ist es Hauptaufgabe eines Völkerliche Bestim- bundes, zwischen den Staaten einen gerechten Ausgleich in wirtTolkerbunds- schaftlicher Beziehung herzustellen, da der wirtschaftliche Friede Tcrtrages. die wichtigste Grundlage auch des politischen Friedens bildet» So hat z. B. der von der deutschen Reichsregierung vorgelegte Entwurf eines Völkerbundsstatuts eingehende Bestimmungen über Handelsfreiheit, Freizügigkeit usw. aufgestellt. Indessen gehen die Ansichten über die Mittel, wie der Wirtschaftsfriede am besten zu sichern sei, weit auseinander. Während die einen vom unbeschränkten Freihandel die Beseitigung aller Spannungen erwarten,, verlangen andere gerade den Schutz der wirtschaftlich schwächeren Nationen gegen diejenigen, die vermöge der kommerziellen Betriebsamkeit ihrer Bevölkerung oder infolge des Besitzes wichtiger Rohstoffe im internationalen Wettbewerb einen Vorsprung haben.

Hätte man versucht, diese Probleme für alle Staaten gleichzeitig mit dem Völkerbunde zu regeln, so wäre es sehr fraglich, ob in naher Zeit irgendein positives Resultat überhaupt erreicht worden wäre.

Nun haben allerdings die Gründer des Völkerbundes nicht vollständig auf die Ordnung wirtschaftlicher Interessen verzichte!, aber es ist ziemlich spärlich, was der Völkerbund -- wenigstens unmittelbar -- den Staaten bietet, die sich ihm anschliessen. Die folgenden Bestimmungen des Vertrages haben Bezug auf wirtschaftliche Verhältnisse: 1. Art. 23, lit. a, bezeichnet die Ordnung des internationalen Arbeitsrechts als eine Aufgabe des Völkerbundes. Hier ist bereits ein positiver Schritt durch den Abschluss eines besonderen Abkommens getan worden, von dem der IX. Abschnitt dieser Botschaft handelt (vgl. S. 620 ff.).

2. Art. 23, lit. e, stellt einige allgemeine Grundsätze für die Handels- und Verkehrsbeziehungen auf; die praktische Tragweite dieser Bestimmung ist zu prüfen.

3. Von grosscr wirtschaftlicher Bedeutung sind die Vorschriften des Art. 16 über die Sanktionen; sie bilden die einschneidendste Bestimmung des Vertrages auf wirtschaftlichem Gebiete, und zwar eine Bestimmung, die in erster Linie Risiken, und zwar bedeutende, für die Mitglieder des Völkerbundes begründet.

613

Wichtiger aber als die unmittelbaren Vorteile und Nachteile, die aus dem Beitritt zum Völkerbund sich ergeben können, ist die allgemeine politische Lage, die sich im Falle des Beitrittes oder Nichtbeitrittes zum Völkerbunde ergeben und bestimmend auch auf unsere wirtschaftlichen Beziehungen und den Abschluss handels- und verkehrspolitischer Abkommen einwirken würde.

Nach Art. 23 e treffen die Mitglieder des Völkerbundes unter Verkehre-und Vorbehalt der gegenwärtig bestehenden oder späterabzuschliessenden Transitfreiinternationalen Übereinkünfte und in Übereinstimmung mit diesen Behandlunc die Verfügungen, die geeignet sind, die Garantie und die Auf- des Handels rechterhaltung der Freiheit der Verkehrswege, sowie eine billige nach Art. 23 e.

Behandlung des Handels a l l e r Mitglieder zu sichern.

Bis jetzt bestanden für die Schweiz mit den wichtigsten in Betracht kommenden Staaten Handels-, Freundschafts- und NiederJassungsverträge, die das Prinzip des ungehinderten Transites, die freie Niederlassung der beidseitigen Staatsangehörigen sicherten und über die Handelsbeziehungen Bestimmungen enthielten ; ÌD der Regel wird das Recht der Meistbegünstigung eingeräumt.

Es handelt sich, da keine bestimmten Grenzen für die autonome Regelung dieser Gegenstände durch die einzelnen Staaten festgesetzt sind, im Grunde nur um eine prinzipielle Erklärung.

Es wäre deshalb irrig, direkte Vorteile von dieser Bestimmungerwarten zu wollen. Ebenso aber würde es unzutreffend sein, wollte man dieser Bestimmung allen praktischen Wert absprechen.

Sie ist ein -- unsern wirtschaftlichen Interessen durchaus günstiges -- Programm für die Gestaltung der Verkehrs- und Handelsbeziehungen.

Was den Verkehr anbelangt, so ist es für uns als Binnenstaat namentlich wichtig, dass wir die Möglichkeit ungehinderter Beziehungen auch mit den Ländern besitzen, von denen wir durch andere Staaten getrennt sind ; der freie Zugang zum Meere ist uns dafür besonders wertvoll. Dieser Grundsatz ist auch in den 14 Punkten des Wilsonschen Programmes anerkannt. Normalerweise besteht diese Freiheit und Gleichbehandlung der Transporte aller Länder als Folge der sich konkurrierenden Bahnen.

Häfen und Schiffslinien, aber gleichwohl ist es wichtig, dass diese Verhältnisse eine vertragliche und wenn möglich viele Staaten gleichzeitig bindende Festlegung
erfahren, und dass jede willkürliche Differenzierung oder Verkehrsbeschränkung völkerrechtlich ausgeschlossen werde.

Für den Eisenbahnverkehr besteht die Berner Übereinkunft vom 14. Oktober 1890 über den Eisenbahnfrachtverkehr nebsl

«14

ihren Zusatzverträgen; dieses Abkommen zwar ist von einer Reihe von Staaten (Frankreich, Belgien, Italien und Serbien) gekündigt, aber durch Art. 366 dos Friedensvertrages mit Deutschland vorläufig unter den Signataren des Friedensvertrages erneuert worden und soll im Laufe der nächsten fünf Jahre durch ein neues und erweitertes Abkommen ersetzt werden.

Eine unmittelbare Verbesserung der Rechtsstellung der Schweiz bringen die Art. 354--356, welche die Schiffahrtsfreiheit auf dem Rhein von Basel zum Meere für alle Nationen festsetzen und der Schweiz in der Liheinschiffahrtskommission Sitz und Stimme neben Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Grossbritannien und Italien einräumen. Damit erlangt die Schweiz, was ihr seit dem Wiener Kongress zu Unrecht vorenthalten worden ist, nämlich die vollen Rechte eines Rheinuferstaates.

Die Pariser Friedenskonferenz hat auch bereits die Ausarbeitung einer allgemeinen Konvention betreffend Transit, Wasserwege, Häfen und Eisenbahnen in Angriff genommen. In Art. 379 hat Deutschland zum voraus seine Zustimmung zu dieser Übereinkunft erteilt, sofern der Völkerbund sie gutheisst. Die Schweiz hat verlangt und erreicht, dass sie der mit dieser Angelegenheit befassten Kommission ihre Forderungen darlegen konnte. Der Friedensvertrag enthält eine Reihe von Bestimmungen im Interesse der Verkehrsfreiheit, namentlich auch zugunsten von Staaten ohne oder nur mit ungenügender Meeresküste ; die hierbei anerkannten Grundsätze können gegebenenfalls auch für die Schweiz mittelbar Interesse haben, und sie zeigen, in welchem Sinne das Programm des Art. 23, lit. e, seine Verwirklichung finden könnte.

Was den Handel anbelangt, so stellt der Völkerbund nur den allgemeinen Grundsatz auf, dass in dieser Beziehung allen Völkerbundsstaaten eine billige ßehandlung zugesichert sei. Der Friedensvertrag enthält im übrigen keine Bestimmungen, welche die kommerziellen Beziehungen der Schweiz unmittelbar berühren.

Die Bestimmung zugunsten der im Weltkriege verwüsteten Gebiete dürfte vermutlich bezwecken, dass auch im Völkerbünde, trotz der grundsätzlichen Gleichbehandlung aller Staaten, Vorsorge getroffen werden kann, dass die Länder, deren Industrie durch den Krieg nicht zerstört worden ist, sich nicht zu sehr auf Kosten jener wirtschaftlich entwickeln, deren Kraft in den nächsten Jahren
durch den Wiederaufbau in Anspruch genommen ist.

Die Wichtigkeit des Völkerbundes für unsere Wirtschaftsbeziehungen liegt in der mittelbaren Förderung, die er ihnen bieten kann. Zunächst liegt es ganz allgemein im Interesse eines

615 so sehr auf den internationalen Handel angewiesenen Staates, wie es die Schweiz ist, die Entwicklung des internationalen Rechtes und die Sicherheit der internationalen Beziehungen zu begünstigen. Auch wenn eine unmittelbare Wirkung nicht zu ·erwarten wäre, müssen wir doch die durch das Völkerbundsprinzip verkörperte Tendenz der internationalen Politik begrüssen.

Der Völkerbund bietet mindestens die Blöglichkeit einer weltwirtschaftlichen Ordnung, in der ein kleines, über keine politischen Machtmittel verfügendes, aber arbeitstüchtiges Volk seinen Vorteil findet. Ohne Völkerbund dagegen würde sich aus der Isolierung und Eifersucht der Staaten ein Zustand entwickeln, in dem auch das internationale Wirtschaftsleben mehr und mehr durch politische Interessen und Leidenschaften als durch wirklich ökonomische Gesichtspunkte beeinflusst würde.

Neben der Würdigung des allgemeinen Interesses am Zustandekommen des Völkerbundes hat die Schweiz sich zu fragen, welchen Einfluss ihre Zugehörigkeit zum Bunde, bzw. ihr Fernbleiben von ihm auf ihre Handelsbeziehungen haben würde.

Diese Frage soll im Zusammenhang mit der Würdigung der politischen Vor- und Nachteile der einen und der ändern Stellungnahme zum Völkerbund (unten S. 638 ff.) ihre Beantwortung finden.

Während der Völkerbundsvertrag positiv in wirtschaftlicher Beziehung sehr wenig bietet, legt er in Art. 16 den Gliedern des Bundes und unmittelbar auch allen ändern Staaten eine schwere Verpflichtung auf': nämlich den Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen mit einem Staate, der die Bundespflichten aus Art. 12, 13 oder 15 verletzt. Der Abbruch hat nach Art. 17 auch gegenüber Staaten ausserhalb des Völkerbundes zu erfolgen, wenn diese für einen Streitfall die entsprechenden Bundespflichten übernommen haben, aber verletzen, oder gegen ein Bundesglied Krieg führen unter Zurückweisung des bundesmässigen Verfahrens.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Staat unter solchen Umständen Krieg führt, dass er die Sanktionen des Art. 16 gegen sich provoziert, ist nicht gross, aber sie muss -- in allen ihren Konsequenzen -- ins Auge gefasst werden.

Diese Sanktionen bestehen 1. im A b b r u c h -- und zwar im sofortigen und allgemeinen Abbruch -- aller kommerziellen und finanziellen Beziehungen ; 2. im V e r b o t des Verkehrs zwischen den Angehörigen der Völkerbundstaaten
und den Augehörigen des bundesbrüchigen Staates; 3. in der V e r h i n d e r u n g der Handels- und Finanz- und persönlichen Beziehungen zwischen den Angehörigen des bundesbrüchigen Staates mit den Angehörigen i r g e n d e i n e s Staates.

Wirtschaftliche Sanktionen nach Art. 16 : Auwendungs fälle.

Formen der wirtschaftlichen Sanktionen.

616

Der Ausdruck ,,Angehörige" (nationaux, nationale) kann entsprechend der anglo-amerikanischen Völkerrechtstheorie und -praxis auch in dem Sinne interpretiert werden, dass hierunter nicht die durch das Band des Staatsbürgerrechts mit einem bestimmten Staate verbundenen Personen zu verstehen sind, sondern diejenigen Personen, die durch ihr Domizil im Territorium eines Staates dessen Herrschaft unterworfen sind. Bei Annahme dieser Interpretation, die nach dem Ursprung der erster) Entwürfe des Pariser Völkerbundsvertrages naheliegt, würde die Anwendung des Art. 16 eine bedeutend weniger weitreichende und mildere sein,, als der französische und deutsche Wortlaut zunächst vermuten Messe.

Der unter 1. genannte Abbruch ist die wichtigste Massnahme und wird in einer Grenzsperre seine Durchführung zu linden haben. Auch die Untersagung von Zahlungen an Personen in dem gesperrten Staate wird als Folge dieses Abbruches zu betrachten sein. Das unter 2. erwähnte Verbot des Verkehrs zwischen Angehörigen von Staaten, die Mitglieder des Völkerbundes sind, und solchen des bundesbrüchigen Staates kann, wenn für den Begriff der Staatsangehörigkeit das Staatsbürgerrecht, ohne Rücksicht auf das Domizil, massgebend ist, sowohl als ein Verbot des Verkehrs über die Grenze wie innerhalb der an den Sanktionen beteiligten Staaten verstanden werden. Was die Ausführung des Verbotes in letzterem Sinne anbelangt, so ist schwer einzusehen, wie diese ohne Internierung oder Ausweisung praktisch durchführbar wäre.

Letztere Massregel, die nach dem Wortlaut des Art. 16 nicht vorgeschrieben ist, müsste vom neutralen Standpunkte aus abgelehnt werden und müsste auch in der Schweiz mit Rücksicht auf den ungewöhnlich hohen Prozentsatz von Ausländern, namentlich in einzelnen Städten, zu unhaltbaren Zuständen führen.

Von grosser Wichtigkeit ist die unter 3. erwähnte Verpflichtung der Verhinderung des Verkehrs zwischen Angehörigen des bundesbrüchigen Staates mit Angehörigen jedes ändern Staates.

Der Zweck dieser Bestimmung ist offenbar der, zu verhindern, dass die von den Völkerbundsstaaten auf ihrem Gebiet durchgeführte Sperre und gehandhabten Verbote durch Angehörige dritter Staaten illusorisch gemacht werden. Es würde das wohl zu einem System der Kontrolle des Personen- und Warenverkehrs führen, wie es sich nach und nach im letzten Kriege ausgebildet hat; nur würden diese Massregeln bei einheitlich durchgeführten Sanktionen des Völkerbundes voraussichtlich noch schärfer und yollständiger sein.

617

Eine sehr wichtige Bestimmung ist die Pflicht (Art. 16, Abs. 3) zu gegenseitiger Aushülfe: das notwendige Korrelat der ungleichen Verteilung der Risiken. Die Rückwirkung der wirtschaftlichen Massnahmen ist eine sehr verschiedene auf die einzelnen Staaten und kann unter Umständen zunächst für das eine oder andere Glied des Völkerbundes von grössern Störungen begleitet sein, als für den Staat selber, gegen den sich die Sanktionen richten.

Dem Anspruch auf Unterstützung durch die ändern Völkerbundsglieder entspricht die Pflicht, selber diesen wiederum beizustehen. Über das Mass der Unterstützung, das jeder Staat, empfangen oder zu leisten haben wird, kann etwas Bestimmtes nicht gesagt werden. Das hängt von der jeweiligen Lage ab ; im allgemeinen wird man annehmen können, dass die Unterstützungspflicht um so grösser ist, je geringer die eigene Gefährdung. Die weit vom Kriegsschauplatz entfernten Staaten werden in erster Linie berufen sein, durch ihre wirtschaftliche Kraft die mehr ausgesetzten und militärisch oder wirtschaftlich mehr in Mitleidenschaft gezogenen Staaten zu unterstützen. Dass dies geschehe, ist nicht nur das Interesse des Völkerbundes, sondern auch das eigene Interesse jener weniger betroffenen Staaten selber.

Aushülfepflicht.

Nicht im Vertrag -ausdrücklich festgesetzt, aber als selbstverständlich anzusehen ist die Pflicht des bundesbrüchigen Staates, den Mitgliedern des Völkerbundes allen -- mindestens allen direkten -- Schaden zu ersetzen, der diesen aus seinem rechtswidrigen Verhalten und den dadurch ausgelösten Sanktionsmass- .

nahmen erwächst. Diese Schadensersatzpflicht wird den bundesbrüchigen Staat auch davon abhalten, die Sanktionsmassnahmen mit Repressalien zu beantworten, jedenfalls ihn veranlassen, in der Rétorsion massvoll zu seint Es ist unwahrscheinlich, dass die Schweiz selber je Ziel der Die Lage der Sanktionen sei. Dagegen wird sie von diesen in Mitleidenschaft Schweiz bei gezogen werden, sei es, dass sie diese mitmacht, sei es, dass sie ^fa?TM^^ als ausser dem Bunde stehender Neutraler sich daran nicht oder schaftlichen doch nur sowenig als möglich beteiligt. Wenn die Schweiz sich Sanktionen, auch als Glied des Völkerbundes mit Rücksicht auf ihre Neutralität die Freiheit des Verkehrs mit dem Völkerbund und gleichzeitig dem Friedensbrecher vorbehalten wollte und könnte, so müsste ihre Lage in diesem Falle im wesentlichen die gleiche sein, wie wenn sie die Neutralität ausserhalb des Völkerbundes behaupten würde. Der Völkerbund würde jedenfalls einem neutralen Mitglied nicht eher als einem ändern Neutralen die Mög-

618

Folgen deiTe una hme an den Sanktionen.

Folgen der grundsätzlichen Nichtbeteilignng an den Sanktionen.

lichkeit lassen, die Wirksamkeit der von ihm unternommenen Sanktionsmassnahmen abzuschwächen.

Die Beteiligung an den Sanktionen, soweit eine solche mit der Neutralität vereinbar ist, kann für unser Land unzweifelhaft sehr empfindliche Folgen haben. Die Schweiz ist in so hohem Masse für ihre Bezüge und ihren Absatz auf verschiedene fremde Staaten angewiesen und steht namentlich mit ihren Nachbarn in engem wirtschaftlichen Zusammenhang, dass die plötzliche Abbrechung dieser Beziehungen nicht ohne eine gewisse Erschütterung unseres Wirtschaftslebens erfolgen kann. Auch hat dio Schweiz im Verhältnis zu ihrer Grosse eine bedeutende Zahl von Bürgern im Ausland und hat dort sehr beträchtliche finanzielle und geschäftliche Interessen aller Art. Man wird sich nicht verhehlen dürfen, dass der bundesbrüchige Staat wohl seinerseits die von uns seinen Angehörigen gegenüber angewendeten Massnahmen den unsrigen gegenüber vergeltungsweise ebenfalls ergreifen würde.

Indessen ist gegenüber diesen Nachteilen und Risiken zu beachten, dass in der Kegel diese nur dann gross sein werden, wenn sich die Aktion des Völkerbundes in unserer Nähe, d. h.

gegen einen oder gar mehrere unserer Nachbarstaaten, vollzieht.

Alsdann wird -- das hat die Schweiz in den letzten Jahren zur Genüge erfahren -- unser Handel und Verkehr auf alle Fälle den nachteiligsten Beschränkungen und Unterbrechungen unterworfen, und zwar voraussichtlich von allen Kriegsparteien. Immerhin würde die Störung der Beziehungen zu dorn bundesbrüchigen Staate, weil eine vollständige oder doch nahezu vollständige, grösser sein, als es bei Einhaltung der bisherigen Neutralitätspolitik der Fall wäre. Dagegen bietet die Beteiligung an den Sanktionen auf der ändern Seite ,den Vorteil eines freieren Verkehrs und freieren Güteraustausches mit den au den Sanktionen beteiligten Staaten und damit voraussichtlich mit dem grössern Teile der Welt. Infolge davon wäre auch die Lage unseres Landes voraussichtlich eine weniger prekäre, als wenn dieses, von keiner Seite grundsätzlich unterstützt, von zwei Kriegsparteien die unentbehrlichen Zufuhren und Absatzmöglichkeiten sich erhandeln müsste und dabei mehr und mehr in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt würde. Der Vorteil eines solchen wirtschaftlichen Anschlusses kann wohl die damit verbundenen politischen und ökonomischen Risiken aufwiegen.

Wie aber wäre die Stellung der Schweiz ausserhalb des Bundes, bzw. bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung der Verkehrs-

ï?*""1

61& beziehungen zu beiden Parteien? Auf der einen Seite hätte sie den oder die bundesbrüchigen Staaten, die, von allen übrigen blockiert, kaum in der Lage wären, die Schweiz mit dem Unentbehrlichen zu versehen ; der Völkerbund würde aller Voraussicht nach mindestens wirtschaftlich die stärkere und sich mehr genügende Partei sein. Die Staaten des Völkerbundes aber wären nach Art. 16 gezwungen, im Bereiche ihrer Macht, d. h.

vor allem auf ihrem Gebiet und voraussichtlich auch auf dem maritimen Kriegsschauplatz, dio nach jener Bestimmung verbotenen Beziehungen, wirtschaftlicher und anderer Art, zwischen den Angehörigen des bundesbrüchigen Staates und allen ändern Personen zu verhindern. Diese Staaten würden somit weitgehende Bedingungen an die Gestattung des Verkehrs zwischen ihnen und einem Neutralen stellen, wenn sie nicht -- wie es schon im.

letzten Kriege versucht worden ist -- die Aufrcchtorbaltung ihres Verkehrs mit dem Neutralen abhängig machen würden von einer bestimmten Ordnung des eigenen, sie nicht einmal mittelbar berührenden Verkehrs des Neutralen mit dem bundesbriichigen Staate.

Der Völkerbund würde in seinem Bestreben, indirekt seine Sanktionen auch durch die Neutralen auf seinen Gegner wirken zu lassen, mit um so mehr Nachdruck vorgeben, weil er glaubt, in diesen .Fällen nicht -nur das Interesse einzelner Staaten, ein Parteiinteresse, sondern dasjenige der Staatengesamtheit wahrzunehmen. Es ist vorauszusehen, dass der Völkerbund in wirtschaftlicher Beziehung einem Staate gegenüber nicht gerade sehr entgegenkommend wäre, der ihn dem bundesbrüchigen Staat gleichbehandeln und eine Wirtschafts- und Verkehrspolitik befolgen will, die geeignet ist, die Massnahmen des Völkerbundes abzuschwächen.

Die Gefahr läge alsdann nahe, dass der Neutrale, um sich nicht nach beiden Seiten zu isolieren, doch sich dem System des Völkerbundes anpassen müsste. Ob die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit und die Freiheit der übrigen Verkehrsbeziehungen> nach beiden Seiten gezwungenerweise oder von vornherein aufgegeben wird, ist für den dadurch benachteiligten Kriegführenden materiell gleichgültig. Dabei soll nicht bestritten werden, dass die Art, wie diese Abschliessung erfolgt, politisch von Bedeutungsein kann.

Es können kaum rein wirtschaftliche Gründe sein, welche den Neutralen veranlassen würden, in
den übrigens wohl Seinseltenen Aktionen des Völkerbundes eine in der Praxis doch nur höchst unvollkommene und mit Opfern verbundene Gleichbehandlung der Kriegsparteien zu versuchen. Den Ausschlag z;i-

620

gunsten einer solchen Politik könnte nur die durch die Teilnahme an den wirtschaftlichen Hassnahmen bedingte Steigerung der Kriegsgefahr geben, sowie die Überzeugung von der Notwendigkeit einer grundsätzlich gleichmässigen Haltung des Neutralen gegenüber den Parteien. Diese Momente sind in andenn Zusammenhang gewürdigt worden.

IX. Völkerbund uiid internationales Ai-beitsrecht.

Bisherige BeZurzeit bestehen auf dem Gebiete des internationalen Arbeiter» strebungenfür schutzes zwei Übereinkünfte von 1906, nämlich: 1. Internationale «alw^belts Übereinkunft betreffend das Verbot der Nachtarbeit von in Gerecht werbebetrieben beschäftigten Frauen; 2. Internationale Übereinkunft betreffend das Verbot der Verwendung von weissem (gelbem) Phosphor in der Zündholzindustrie. Eine dritte Übereinkunft wurde im Jahre 1913 durch eine technische Konferenz in Bern vorbereitet. Zur diplomatischen Konferenz und zum Abschlüsse der Übereinkunft kam es nicht mehr, da inzwischen der Krieg ausbrach. Ein internationales Arbeitsamt bestand bis jetzt nicht; dagegen unterhält die internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeitersehutz ein Bureau in Basel, welches von den verschiedenen Industriestaaten subventioniert wird, und welches jeweilen die Vorarbeiten für die zu treffenden Konventionen besorgte.

Gegenseitiges Der Friedensvertrag will nun auf diesem Gebiete bedeutende Verhältnis. Neuerungen bringen. Der XIII. Teil des Friedensvertrages enthält das von der Pariser Konferenz in ihrer Plenarsitzung vom 11. April 1919 angenommene Abkommen über das internationale Arbeitsrecht. Obwohl formell nicht ein Bestandteil des Völkerbundes, so ist es doch die erste Verwirklichung des in Art. 23, lit. a, des Völkerbundsvortrages aufgestellten Postulates der Sicherung gerechter und menschenwürdiger Arbeitsverhältnisse, und es ist auch organisatorisch mannigfach mit dem Völkerbund verknüpft.

Das Abkommen über das Arbeitsrecht ist die einzige bis jetzt für den Völkerbund nicht nur postulierte, sondern bis KU einem gewissen Grad ausgeführte Ordnung wirtschaftlicher Verhältnisse ; denn die übrigen positiven Vorschriften dos Völkerbundes sind im wesentlichen auf die Verhütung politischer Konflikte gerichtet. Nun muss aber, wie auch die schweizerische Expertenkommission anerkannt hat, gerade die internationale Ordnung der Arbeitsverhältnisse als vornehmste Aufgabe des Völkerbundes betrachtet werden.

Alle Staaten des Völkerbundes sind von Rechts wegen an diesem Abkommen beteiligt. Das hat zur Folge, dass sich die Schweiz durch den Beitritt zum Völkerbunde ohne weiteres auch

621

dem Abkommen über das internationale Arbeitsrecht anschliesst, und es bedarf aus diesem Grunde keines besonderen Genehmigungsbeschlusses der Bundesversammlung.

Das Verhältnis der dem Völkerbund nicht angehörigen Staaten ( ist nicht klar bestimmt; es ist anzunehmen, dass sie von der Mitgliedschaft ausgeschlossen sind. Es ist dies ein Grund mehr für die Aufnahme aller Staaten in den Völkerbund.

Indien und die britischen Dominions werden als selbständige Parteien des Abkommens behandelt; andere Kolonien können vom Völkerbund in gleicher Weise zugelassen werden. Im übrigen sind unter gewissen Vorbehalten Kolonien als Teile der vertragsschliessenden Staaten inbegriffen.

Dieses Abkommen kann als eine sehr erfreuliche Erscheinung Allgemeiner betrachtet werden. In organisatorischer Beziehung bringt es wert- Charakter.

volle Fortschritte ; eine unzulässige Präponderanz der Grossmächte wird vermieden ; in der Hauptsache ist die Gleichheit der Staaten respektiert.

In mancher Beziehung erinnert der Vertrag, insbesondere in bezug auf die Befugnisse der Konferenz und die Schlichtung der Streitigkeiten, stark an den schweizerischen Völkerbunds-Vorentwurf. Er verwirklicht nahezu genau dessen Postulate, d. h. eine für alle Staaten des Bundes bindende Organisation zum Ausbau des internationalen Arbeitsrechts, verzichtet dagegen vorderhand auf eine durch Mehrheitsbeschlüsse zu treffende Ordnung des materiellen Rechtes; statt dessen wird der Abschluss von Konkordaten begünstigt.

Neben dem Abkommen sind, auch als Bestandteile des Friedensvertrages, eine Reihe von grundsätzlichen Forderungen des materiellen Arbeitsrechtes aufgestellt worden. Diese Forderungen aber haben mehr programmatischen Charakter, da die Staaten nicht verpflichtet sind, sie unmittelbar zu verwirklichen (vgl. unten, S. 624).

Die Bestimmungen enthalten im wesentlichen folgendes: 1. Organisation. Das Abkommen sieht die Schaffung von Organisation.

drei Organen vor: n. die Generalkonferenz, die von allen dem Abkommen angeschlossenen Staaten zu beschicken ist und jährlich mindestens einmal ordentlicherweise am Sitz des Völkerbundes zusammentritt. Und zwar haben alle Staaten eine gleiche Vertretung: zwei Regierungsvertreter und je einen Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer (Art. 3)*)- Etwas *) Die Numerierung des Abkommens im Friedensvertrag
beginnt mit 387. Die hier gebrauchte Zitierung bezieht sich auf das den Neutralen als selbständiges Dokument vorgelegte Abkommen (vgl. Beilage VI, 20).

Bundesblatt. 71. Jahrg. Bd. IV.

44

622

ganz Neues für eine amtliche internationale Konferenz ist der Umstand, dass nicht Staatenstimmen abgegeben werden, sondern jeder Delegierte individuell stimmt (Art. 4) ; b. ein Verwaltungsrat aus 24 Mitgliedern (12 Regierungsvertreter, je 6 Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer), dem namentlich die Aufsicht über das internationale Arbeitsamt zukommt (Art. 7). Die 12 Regierungsvertreter werden verteilt wie folgt: 8 fallen auf die 8 wichtigsten Industriestaaten (im Streitfall entscheidet hierüber der Rat des Völkerbundes) und vier werden durch dio Regierungsdelegierten der nicht bereits vertretenen Staaten in der Generalkonferenz gewählt. Die Amtsdauer beträgt drei Jahre.

c. das internationale Arbeitsamt, mit einem Direktor an der Spitze, das sich am Sitze des Völkerbundes befindet. Diesem liegt namentlich ob die Beschaffung und Verteilung von Informationen über das Arbeitsrecht und die Arbeitsverhältnisse, sowie die Vorbereitung der Arbeiten der Generalkonferenz (Art. 10).

Beschlüsse 2. Beschlussfassung der Generalkonferenz. Diese erfolgt, so· der weit es sich nicht um interne Geschäftsangelegenheiten handelt, Konferenzen. ;n zwe j pormea un( j erfordert eine Zweidrittelmehrheit (Art. 19): a. Empfehlungen an dio Regierungen, dahingehend, dass die Staaten autonom einen Gegenstand ordnen mögen ; b. Entwürfe von Staatsverträgen, die der Ratifikation jedes Staates unterliegen. Für Bundesstaaten, die nicht die Kompetenz für die Gesetzgebung über das Arbeitsrecht haben, sind die Entwürfe als Empfehlungen im Sinne von lit. a zu betrachten.

In beiden Fällen müssen alle Regierungen innerhalb eines Jahres die Beschlüsse der Konferenz den Behörden vorlegen, welche zu deren Verwirklichung zuständig sind. Verhalten sich letztere ablehnend, so bleibt der Beschluss der Konferenz für den betreffenden Staat gegenstandslos. Die Kommission hat immerhin den Wunsch ausgesprochen, dass im Völkerbund die Konferenz mit selbständiger Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiete des Arbeitsrechts ausgestattet werde.

Beschlüsse, die keine Zweidrittelmehrheit erreichen, können gleichwohl zu Verträgen unter den zustimmenden Staaten führen (Art. 21).

Kontrolle und 3. Kontrolle und Entscheidung von Streitigkeiten. Die VertragsEntsclieidung Staaten haben jährlich einen Bericht über alle Massnahmen zu von . Streitig- eretatten, die sie zur Ausführung der von ihnen angenommenen internationalen Verträge ergreifen (Art. 22).

623

Das Recht, beim internationalen Arbeitsamt eine Beschwerde einzulegen wegen Verletzung eines internationalen Vertrages über Arbeitsrecht, haben : a. die Berufsorganisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber (Art. 23) ; b. jeder Vertragsstaat (Art 25); c. der Verwaltungsrat, von Amtes wegen oder auf Antrag eines Konferenzdelegierten (Art. 25).

Im Falle a wird dem beklagten Staate Gelegenheit zur Aussprache, jedenfalls im Verwaltungsrat, gegeben. Äussert er sich zur Beschwerde nicht oder befriedigt die Antwort den Rat nicht, so kann' dieser die Beschwerde und die allfällige Antwort publizieren. In den Fällen b und c dagegen kann der Verwaltungsrat eine Untersuchungskommission bilden (Art. 26). Diese Kommission wird vom Generalsekretär des Völkerbundes wie folgt zusammengesetzt : ein Arbeitervertreter, ein Vertreter der Arbeitgeber und eine dritte, keiner dieser beiden Kategorien angehörende Person, alle aus unbeteiligten Staaten. Diese drei Personen werden einer Liste entnommen, für welche jeder Vertragsstaat je eine Nomination für die drei genannten Kategorien innerhalb 6 Monaten nach Zustandekommen des Abkommens über das internationale Arbeitsrecht zu machen hat.

Die Kommission erstattet einen Bericht, in dem sie, wenn die Beschwerde gerechtfertigt ist, sich darüber ausspricht, durch welche Massnahmen dem Beschwerdeführer entsprochen werden soll und welche wirtschaftlichen Gegenmassnahmen der ändern Staaten im Falle des Ungehorsams gerechtfertigt wären (Art. 28).

Der Bericht wird veröffentlicht.

Innerhalb eines Monates haben die Parteien zu erklären, ob sie den Vorschlag der Kommission annehmen oder nicht und, in letzterem Falle, ob sie an den internationalen Gerichtshof (bis zu dessen Errichtung ein vom Rat des Völkerbundes bestelltes Schiedsgericht) appellieren (Art. 29). Der letztere Entscheid ist endgültig (Art. 31). Wenn ein Staat sich dem Kommissionsvorschlag bzw. dem Urteil des Gerichts nicht unterwirft, kann jeder Staat gegen ihn die im Kommissionsantrag bzw. Urteil bezeichneten wirtschaftlichen Repressalien anwenden (Art. 33).

Diese Repressalien können fortgesetzt werden, bis wieder eine Untersuchungskommission auf Verlangen des fehlbaren Staates festgestellt hat, dass dieser seinen Verpflichtungen nachgekommen ist (Art. 34).

624 Alle Anstände betreffend Interpretation des Abkommens und der weitern auf dessen Grundlage abgeschlossenen Übereinkünfte werden vom internationalen Gerichtshofe des Völkerbundes entschieden (Art. 38).

Diese Bestimmungen über Kontrolle und Beschwerderecht sind geeignet, einen erheblichen Fortschritt auf dem Gebiete des internationalen Arbeitsrechts herbeizuführen.

Revision, 4, Die Revision des Vertrages erfolgt durch Beschlüsse der Generalkonferenz ; eine Zweidrittelmehrheit ist hierfür notwendig.

Die revidierten bzw. neuen Bestimmungen treten aber erst in Kraft, wenn der Beschluss der Konferenz von allen im Rat des Völkerbundes vertretenen Staaten einbegriffen also die Grossmächte) und von drei Vierteln der in der Delegiertenversammlung des Völkerbundes vertretenen Staaten ratifiziert ist. Eine Kündigung des Vertrages ist nicht vorgesehen; sie ist offenbar unmöglich ohne Rücktritt aus dem Völkerbund.

Materielles 5. Materielles Arbeitsrecht. Wie schon bemerkt, haben die Recht.

Grundsätze materieller Natur, nach denen das Arbeitsrecht zu gestalten ist und die in dem Friedensvertrag Aufnahme finden sollen, nicht den Charakter unmittelbar verpflichtender Rechtsnormen.

Diese Grundsätze, die sich zum Teil mit den Forderungen des Programms der Konferenz des internationalen Gewerkschal'tsbundes (I. G. B.) vom 1.--4. Oktober 1917 decken, sind, abgesehen von der mehr ethischen Forderung, dass die Arbeit nicht als Ware behandelt werden dürfe, folgende: a. Koalitionsfreiheit (I. G. B., II a); b. Verbot der Arbeit von Personen unter 14 Jahren (I. G. B., VII a: 15 Jahre). Von 14--18 Jahren Arbeit nur zulässig, soweit mit körperlicher Entwicklung und beruflicher Weiterbildung vereinbar (I. G. B., VII o, 15--18 Jahre); c. der Lohn muss eine angemessene Lebenshaltung sichern ; d. gleicher Lohn für männliche und weibliche Arbeiter bei gleicher Leistung (I. G. B., Vili e); e. wöchentlicher Ruhetag (Sonntag) (I. G. B., IV d) ; f. Sstundentag bzw. 48stundenwoche (I. G. B., IV a, vorläufig 10 Stunden Maximum) ; g. Gleichstellung der Ausländer mit den Inländern in bezug auf die Rechtsstellung als Arbeiter und für die Sozialversicherung (I. G. B., III &) ; h. Pflicht zur Errichtung von Arbeitsinspektoraten unter Beizug von Frauen (I. G. B., X a und V).

625 Über Freizügigkeit, Heimarbeit, Hygiene sind keine Bestimmungen aufgenommen.

Im Oktober 1919 soll diese Konferenz in Washington zuVorsammentreten und folgende Traktanden behandeln (Art. 39) : bereitungs0 arbeiten.

a. Sstundentag (48stundenwoche) ; b. Fürsorge gegen Arbeitslosigkeit; c. Frauenarbeit; d. Kinderarbeit; e. Ausdehnung und Anwendung der Berner Abkommen von 1906.

Die für die Vorbereitung dieser Konferenz bestellte Kommission umfasst Vertreter folgender Staaten : Vereinigte Staaten, Frankreich, Grossbritannien, Italien, Japan, Belgien und die Schweiz. Es können noch andere Staaten zugezogen werden.

Die Schweiz nimmt, unpräjudizierlich für ihren Beitritt zum Völkerbund, an diesen vorbereitenden Arbeiten bereits teil. Sie glaubt auf Grund ihrer wirtschaftlichen Entwicklung als einer der acht industriell am meisten entwickelten Staaten dem Verwaltungsrate anzugehören.

X. Zeitpunkt und Modalitäten des. Eintritts. .

Wie bereits oben, Seite 590, ausgeführt ist, können die drei- jrri8t für aie zehn eingeladenen neutralen Staaten binnen zwei Monaten nach Ausübung des Inkrafttreten des Völkerbundes (Art. 1) durch Abgabe einer Beitrittsvorbehaltlosen Erklärung beitreten. Die Nichtbenutzung dieser rechtes.

Frist präjudiziert den spätem Beitritt nicht, der alsdann aber in den Formen erfolgt, die für die Staaten gelten, die nicht eingeladen worden sind, als ursprüngliche Mitglieder beizutreten.

Der Völkerbundsvertrag sagt nicht, wann er in Kraft tritt ; dagegen stellen die Schlussbestimmungen des Friedensvertrages fest, dass der Vertrag mit Deutschland in Kraft trete, wenn er von diesem und drei der fünf Hauptmächte (Vereinigte Staaten, Frankreich, Grossbritannien, Italien und Japan) ratifiziert sei und dass von jenem Zeitpunkt an die im Friedensvertrag festgesetzten Fristen zu laufen beginnen *). · Es ist anzunehmen, dass auch die in Art. l des Friedens- und des Völkerbundsvertrages bestimmte Frist mit dem Tag, da ausser Deutschland die dritte Hauptmacht den Friedensvertrag ratifiziert haben wird, ihren Anfang nimmt.

') Beilage V, 18 (am Schlüsse).

626 Bedeutung ursprünglicher Mitgliedschaft · für die Schweiz.

Die Vorteile des Eintrittes innerhalb dieser Frist sind folgende : eine Abstimmung über die Aufnahme, für die eine Zweidrittelsmehrheit erforderlich ist, findet nicht statt; Schwierigkeiten, die anlässlich dieser Abstimmung wegen der Sonderstellung der Schweiz im Völkerbünde allenfalls -- wenn auch zu Unrecht - entstehen könnten, würden vermieden. Sodann steht es den ursprünglichen Mitgliedern frei, die Vorschläge des Rates betreffend die obere Grenze der Rüstungen anzunehmen oder abzulehnen (Art. 8), während nachträglich eintretenden Staaten das Mass ihrer Rüstung als Bedingung der Zulassung vorgeschrieben wird.

Würde die Schweiz nachträglich doch durch die Umstände auf den Beitritt angewiesen sein, so würde sie in der Bestimmung ihrer Wehrkraft ihre Unabhängigkeit tatsächlich verloren haben.

Der Verzicht auf den Anschluss als ursprüngliches Mitglied würde aber auch als Ausdruck des Misstrauens oder mindestens als Mangel an Vertrauen in den Völkerbund gedeutet werden und die vorteilhafte Stellung, welche die Schweiz durch ihr bisheriges entschiedenes Eintreten für den Völkerbundsgedanken sich erworben hat, würde verloren gehen. Auch die Sitzfrage würde von neuem aufgerollt. Selbst wenn der Rat des Völkerbundes nicht ohne weiteres den Sitz von Genf weg verlegen würde, könnte das Verhältnis zwischen der Schweiz und dem Völkerbund in bezug auf den Sitz nicht mehr das bleiben, als das es jetzt gedacht ist, da eine wesentliche Voraussetzung, der Beitritt der Schweiz, wegfiele.

Der Verzicht auf die Benutzung der Frist von zwei Monaten würde zwar nicht die Ablehnung bedeuten, aber er würde aussen- und innenpolitisch viele der Nachteile hervorrufen, welche die Ablehnung zur Folge hätte. Die Schweiz würde durch ihr vorläufiges Fernbleiben in keiner Weise die Zulassung der jetzt noch ausgeschlossenen Staaten beschleunigen und ihr späterer Beitritt, gleichzeitig mit diesen, würde ihr keineswegs etwa als ein Beweis der Selbständigkeit, sondern im Gegenteil als ein solcher einseitiger Orientierung zugunsten dieser Staaten ausgelegt. Es könnte jedenfalls die Schweiz, wenn sie sich unter solchen Umständen später anschlösse, kaum erwarten, im Völkerbund irgendwie die Rolle zu spielen, die ihrer bisherigen Mission in internationalen Angelegenheiten entsprechen würde.

Unter gar keinen Umständen will es der
Bundesrat verantworten, diese Frist von zwei Monaten unbenutzt verstreichen zu lassen; die Räte müssen seibor darüber entscheiden,-ob sich die Schweiz in dieser Frist erklären will.

627 Mit Rücksicht darauf, dass, wie der Bundesrat annimmt, Frist und das Volk selber die endgültige Entscheidung zu treffen hat, ist Volksabstimmun für die Schweiz die Einhaltung der Frist von zwei Monaten sehr g schwierig. Es ist aber nach Mitteilungen von massgebender Stelle anzunehmen, dass eine vorläufige Erklärung der Bundesbehörden, unter Vorbehalt der Ratifikation durch Volk und Stände, genügte zur Wahrung des durch die Frist begrenzten Rechtes. Es würde nicht verstanden werden können, wenn im Zeitalter, in dem die Demokratie sich auch die internationale Politik erobern soll, dem einzigen Land der Welt, das für die Entscheidung über den Völkerbund an das Volk selbst appelliert, aus der Befolgung dieses Grundsatzes ein Rechtsnachteil erwachsen sollte. Dass zwei Monate für eine Behandlung der Angelegenheit vor einem Parlament und für die Durchführung einer Volksabstimmung zu kurz sind, ist klar, um so mehr als es sich um eine neuartige und äusserst wichtige Entscheidung handelt und vor dem Inkrafttreten des Fricdensvertrages formell rechtlich überhaupt keine Grundlage für eine Beschlussfassung vorliegt.

Es entspricht auch den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, dass ein Anspruch auf Geltendmachung eines Rechtes nicht verloren geht, wenn der Berechtigte ohne Verschulden eine Frist nicht hat einhalten können, die für die Ausübung des Rechtes angesetzt ist.

Die Entscheidung innerhalb zweier Monate hat den Nach- Vorausteil, dass diese unter Umständen erfolgen muss, ehe man sicher setzungen Inkraftweiss, welche Staaten den Friedensvertrag ratifizieren und welche des tretens des Neutralen beitreten. Für die Schweiz ist es namentlich wichtig, Völkerdass die sämtlichen grossen Staaten, insbesondere Europas, die bundes.

jetzt unter den Gründern des Völkerbundes sind, diesem endgültig angehören ; auch die Zugehörigkeit der Vereinigten Staaten wird für uns von allergrösstem Werte sein.. Diese Macht, die hauptsächlich die Völkerbundsidee vertreten hat und die vermöge ihrer geographischen Lage den europäischen Konflikten fern steht, ist ganz besonders berufen, als ausgleichendes und stabilisierendes Element der europäischen Politik im Völkerbund zu wirken.

Es erscheint nun aber ausgeschlossen, dass der Völkerbund tatsächlich in Kraft gesetzt wird, ehe sämtliche fünf Grossrnächte den Friedensvertrag und
damit den Völkerbund ratifiziert haben.

Ihre Zugehörigkeit ist nach Art. 4 ein integrierender Bestandteil des Völkerbundes und die erstmalige Berufung des Rates und der Versammlung hat durch den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu geschehen. Wenn nun durch unwahrscheinliche und

628

unvorhersehbare Ereignisse einer der ständig im Rat vertretenen Staaten ausscheiden würde, müssten neue Verhandlungen geführt werden, weil damit der Völkerbundsvertrag selber eine Änderung erleiden würde.

AueschlusB Art. l schreibt vor, dass die ursprünglichen Mitglieder vorh°h iT°r" ^enaltì°s beitreten. Unter Vorbehalt in diesem Sinne ist eine Wahrung der Erklärung zu verstehen, durch die ein Glied des VölkerNeutralität, bundes eine aus dem Bunde sich ergebende Verpflichtung ablehnt, eine Auslegung einseitig von sich aus festlegt oder gar ein Sondervorrecht über die vertraglichen Rechte hinaus für sich in Anspruch nimmt. Der Vorbehalt durchbricht den Vertrag zugunsten des Staates, der ihn anbringt. Der ausdrückliche Ausschluss von Vorbehalten erklärt sich aus den sehr schlechten Erfahrungen, die man an der II. Haager Konferenz gemacht hatte, wo Abkommen, die das Ergebnis mühsamer Kompromisse gewesen, von einzelnen Staaten schliesslich nur unter Ausschluss der diesen nicht passenden Artikel unterzeichnet oder ratifiziert wurden.

Ein Vorbehalt zugunsten der Neutralität -- durch welche die aus Art. 16 fliessenden Mitgliedschaftspflichten eine wesentliche Änderung erfahren -- wäre ausgeschlossen. Es ist aber kein Vorbehalt, wenn die Schweiz die Neutralität auf Gruud des Art. 21 als mit dem Völkerbundsvertrag vereinbares Abkommen zur Wahrung des Friedens beibehält; denn hier hat die Ausnahmestellung wie für die Monroedoktrin ihre Begründung im Völkerbundsvertrag selbst und stellt nicht eine einseitige Erklärung des Beitretenden dar. Dass die schweizerische Neutralität als ein Abkommen zur Wahrung des Friedens zu betrachten ist, geht aus Art. 435 des Friedensvertrages hervor, und da dieser Vertrag gleichzeitig den Völkerbundsvertrag enthält und von den gleichen Staaten unterzeichnet ist, enthält Art. 435 eine authentische Auslegung in bezug auf Art. 21.

Mit Rücksicht darauf, dass die Schweiz einen besoudern Wert auf die Neutralität legt, und dass die Sicherheit dieser Neutralität ganz wesentlich davon abhängt, dass über die Voraussetzungen ihrer Geltung keine Zweifel bestehen, ist es wichtig, dass die Schweiz über diesen Punkt anlässlich ihres Beitrittes eine Erklärung abgibt. Zwar kann eine Meinungsverschiedenheit darüber nicht bestehen, dass die Zusicherung der BcibehaltuDgder Neutralität sich speziell auf die Völkerbundsaktionen des Art. 'J6 bezieht -- denn nur für diesen Fall ist sie überhaupt

629 notwendig --, aber es darf nichts unterlassen werden, was Anlass zu verschiedenen Auslegungen in wichtigen Punkten geben könnte. Die Schweiz will weder den Völkerbund durch eine zu weite Auslegung der Neutralität nachträglich enttäuschen, noch den Gegner des Völkerbundes durch eine nach dessen Auffassung zu scharf differenzierende Neutralität überraschen.

XI. Die verfassungsrechtliche Regelung des Beitrittes.

Der Völkerbundsvertrag vom 28.. April 1919 ist ein Abkommen, wie es in dieser Art wohl noch nie bestanden hat; für einen Staatenbund im bisherigen Sinne ist seine Organisation zu lose und seine Tendenz zu universell ; im Vergleich zu den bisherigen internationalen Unionen ist der Völkerbund nach der politischen Seite ausserordentlich stark ausgebildet, und von einem Bündnis unterscheidet ihn seine auf Universalität und unbegrenzte Dauer gerichtete Tendenz. Trotzdem läge es nahe, den Völkerbundsvertrag als ein Bündnis zu .betrachten, das nach Art. 85, Yiiff. 5, der Bundesverfassung von der Bundesversammlung endgültig abgeschlossen werden dürfte. Aber die Gründer dej Verfassungen von 1848 und 1874 haben bei der Aufstellung der erwähnten Verfassungsbestimmung zweifelsohne an eine Verbindung im Sinne des heutigen Völkerbundes nicht gedacht. Eine neue Weltlage und neue Ideen über die internationalen Verhältnisse haben eine neue politische Form werden lassen.

Ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer Verfassungsrevision?

Mit Rücksicht darauf, dass ein Völkerbund seinem Wesen nach etwas Einziges ist, kann es sich nicht um eine allgemeine Bestimmung über Völkerbünde handeln, sondern nur um die Stellungnahme zu einer bestimmten Erscheinung der internationalen Politik, dein Völkerbuntlsvertrag vom 28. April 1919.

Die Beschreitung des Weges der Verfassungsrevision kann aus folgenden Gründen notwendig sein : Einmal könnte die durch den Beitritt zum Völkerbunde für die Schweiz geschaffene Rechtslage eine Änderung der Bundesverfassung bedingen. Eine solche Änderung bringt der Völkerbund jedoch nicht: er greift weder in die Organisation noch in die Befugnisse der Eidgenossenschaft ein. Die Bindungen, welche die Eidgenossenschaft übernimmt, gehen grundsätzlich nicht weiter als z. B. in obligatorischen Schiedsverträgen oder in VerwaltungsUnionen.

Eigenart des VölkerbundaYertrages.

Bedingt der Völkerbund eine Abänderung der Bundesverfassung ?

630 Sodann könnte es sich fragen, ob der Völkerhund nicht io bezug auf die Institution der Neutralität die Verfassung tangiere.

Nun bleibt aber die Neutralität, wenn auch in einer neuen Ausprägung, erhalten. Und wäre das auch nicht der Fall, d. h. würde der Art. 16 in seinem vollen Umfang auf die Schweiz Anwendung finden, so wäre zu sagen, dass die Neutralität in der Verfassung nirgends als Rechtsvorschrift aufgestellt ist. Vielmehr liât man bei der Verfassungsberatung im Jahre 1847 -- im Gegensatz zum Bundesvertragsentwurf von 1832 -- die Erwähnung der Neutralität iu Art. 2 abgelehnt, wohl unter dem Eindruck der verschiedenen Einmischungsversuche, welche die Grossmächte unter unzulässiger Berufung auf die Garantie der Neutralität bzw. des Bundesvertrages von 1815 gemacht hatten. Gleichwohl ist zu sagen, dass die Bundesverfassung von der immerwährenden Neutralität als etwas Gegebenem ausgeht. In den Kornpetenzbestimmungen der Art. 85, Ziff. 6, und 102, Ziff. 9. wird sie zusammen mit der Unabhängigkeit als Gegenstand der Aufgaben der Bundesbehörden bezeichnet.

Politische Indessen ist diesen juristischen Überlegungen kein entscheiGründe dendes Gewicht beizulegen. Wir befinden uns einer neuen, vom für eine Verfassungs- Verfassungsgesetzgeber nicht in Betracht gezogenen Situation abstimmung. gegenüber, und da es sich um eine Angelegenheit von höchster Bedeutung handelt, ist es eine politische Pflicht der Behörden, sich an die Instanz zum Entscheid zu wenden, von der sie ihre Befugnisse ableiten. Für die Verfassungsgesetzgebung gibt es nur Schranken der Form, aber keine des Inhaltes. Zwar soll eine verfassungsmässig zuständige Behörde nicht durch das Mittel einer Verfassungsrevision eine ihr unzweifelhaft obliegende Verantwortlichkeit abwälzen. Aber darum handelt es sich hier nicht, sondern es liegt gerade ein Fall vor, für den die Verfassung keine bestimmte Regelung getroffen hat.

Seit die Schweiz 1499 bzw. 1648 aus dem Römischen Reich ausgeschieden, ist sie immer, von der Periode der Hei vetik und Mediation abgesehen, ein Staat gewesen, der mit keinem ändern in irgendwelcher organischer, politischer Verbindung stand. Und in Übereinstimmung damit handhabte sie ihre Neutralität im Sinne möglichster Passivität gegenüber den Kriegen anderer Staaten. Durch den Völkerbund und durch die von diesem bedingte
neue Orientierung der Neutralitätspolitik erhalten die auswärtigen Beziehungen der Schweiz zum Teil veränderte Grundlagen. Hierzu muss das Volk Stellung nehmen können. Nichts wäre verderblicher für unsere innere Politik, als wenn von den Räten ein Entscheid getroffen würde, von dem es ungewiss wäre, ob er die Mehrheit

631

des Volkes hinter sich hat. Der Völkerbundsgedanke könnte durch nichts mehr geschädigt werden als durch den Schein, dass der Beitritt zum Völkerbund von den Behörden aus Gründen, die das Volk nicht kennt oder billigt, erzwungen worden wäre.

Ist der Entscheid auf dem Wege der Verfassungsrevision herbeizuführen, so hat die Bundesversammlung einen Beschluss zu fassen, der dem Volk und den Ständen nach Bundesverfassung Art. 123 zur Abstimmung zu unterbreiten ist.

Dieser Beschluss kann entweder der Bundesversammlung Vollmachtslediglich die Vollmacht erteilen, den Völkerbundsvertrag zu rati- erteilung oder ntsc ei tizieren, wobei es den Räten überlassen bleibt, von dieser Befugnis ' Gebrauch zu machen oder nicht, oder aber die Räte beschliessen den Beitritt unter Vorbehalt der Zustimmung von Volk und Ständen. Ein positives Ergebnis der Abstimmung würde dann den ßeitrittsbeschluss zu einem endgültigen machen.

Der erstere Weg erscheint ausgeschlossen. In einer so wichtigen Angelegenheit will das Volk entscheiden, nicht bloss Vollmachten erteilen, wobei es im Ungewissen bliebe, was schliesslich geschieht. Unrichtig wäre dieses Vorgehen auch deshalb, weil alsdann die Benützung der Frist zum Beitritt als ursprüngliches Mitglied ausgeschlossen wäre. Wenn dagegen der Beschluss der Räte ein positiver ist, so kann, unter Vorbehalt des Ergebnisses der Volksabstimmung, eine Erklärung in nützlicher Frist abgegeben werden. Ob diese Erklärung nur den Charakter einer Mitteilung haben würde, oder ob sie der unter Ratifikationsvorbehalt erfolgten Unterzeichnung eines Vertrages gleichzustellen sein würde, lässt sich zurzeit nicht beantworten. Es wird die Form zu wählen sein, die einerseits so wenig als möglich auch nur den Schein einer Präjudizierung des Volksentscheides besitzt und anderseits als vollgültige Wahrung des Beitrittsrechtes anerkannt wird.

Der Bundesbeschluss hat in erster Linie die Frage des Beitrittes zu regeln. Soll er sich darauf beschränken ? Zwei Punkte sind allenfalls gleichzeitig zu ordnen und sollten geordnet werden : die Revision des Völkerbunds Vertrages und der Austritt.

Was zunächst die Revision anbelangt, so bedarf diese der Ratifikation durch die einzelnen Völkerbundsstaateu. Der Staat, der die Ratifikation verweigert, kann zurücktreten. Tritt er nicht zurück, so bleibt er bis zur gültigen
Kündigung gebunden durch den revidierten Vertrag. Wer soll die für die Schweiz verbindliche Erklärung über Annahme oder Verwerfung einer Revisionsbestimmung abgeben?

Revision des VölkerbundsVertrags und sisches Verfassungsrecht.

632 Die Revision ändert den Völkerbundsvertrag, wie er in dem Zeitpunkt besteht, da Volk und Stände gegebenenfalls den Beitritt gutheissen. Soll deshalb jede Revision wieder in gleicher Form ratifiziert werden? Dieser Weg ist zu umständlich, um so mehr, als viele Revisionen sich jedenfalls auf untergeordnete Punkte beziehen werden. Auch handelt es sich jetzt für das Volk und die Stände nur darum, ob die Schweiz beitreten soll, nicht aber darum, ob die einzelnen Artikel des Völkerbundsvertrages wie revidierte Artikel unserer eigenen Verfassung angenommen werden sollen. Mit der Annahme des Völkerbundes nimmt man auch die in Art. 26 vorgesehene Revidierbarkeit des Vertrages an.

Die Revision selbst ist deshalb rechtlich nicht auf eine Linie mit dem Beitritt zu stellen, wenn schon es denkbar ist, dass es sich einmal um Revisionen von einschneidender Bedeutung handeln könnte. In diesem Falle aber wurde nichts im Wege stehen, wenn die Räte wiederum wie jetzt den Weg der Verfassungsabstimmung einschlagen würden.

Die zweckmässigste Lösung dürfte darin bestehen, dass die Revision des Völkerbundsvertrages, wenigstens als Regel, staatsrechtlich dem Abschluss eines Vertrages gleichgestellt wird. Denn tatsächlich ist die Ratifikation der Revisionsbeschlüsse des Völkerbundes die Eingehung einer internationalen Verpflichtung. Der . Umstand, dass nicht die übliche Form eines Vertragsschlusses in Betracht kommt, sondern dass ein Boschluss der Versammlung und des Rates des Völkerbundes die Grundlage der Verpflichtung bildet, ist unerheblich.

Vor den eidgenössischen Räten liegt gegenwärtig die Staatsvertragsinitiative. Es ist noch unentschieden, ob ein Gegenvorschlag und, 'wenn ja, welcher gemacht wird. Jedenfalls wäre es nicht empfehlenswert, die durch die erwähnte Initiative angeregte Revision von B. V. Art. 89 mit einer speziellen Bestimmung betreffend die Genehmigung der Völkerbundsvertragsrevisionen /u belasten. Anderseits geht es auch nicht wohl an, die durch die Staatsvertragsinitiative herbeizuführende Mitwirkung des Volkes in bezug auf die Revision des Völkerbundes einzuschränken.

Wenn nun die Entscheidung über die Revision des Völkerbundes einem internationalen Vertragsschluss gleichgestellt wird, so folgt ohne weiteres, dass eine Revision des Art. 89 der Bundesverfassung auch' auf diese Entscheidungen
sich gegebenenfalls bezieht.

Genehmigung Diese Lösung ist auch deshalb empfehlenswert, weil nicht von besondern nur Revisionen des Völkerbundsvertrages in Betracht kommen, aum Völker, ., . , ,,. , , °, . , , TT , .

bund gehören- sonuern we'l voraussichtlich auch sonst Abkommen m Verbinde« Ab- düng mit dem Völkerbund abgeschlossen werden müssen. So ist kommen.

633

bereits das Abkommen über das internationale Arbeitsrecht ein für alle Glieder des Völkerbundes verbindlicher Vertrag. Es ist wahrscheinlich, dass weitere solche Verträge abgeschlossen werden, z. B. das jn Vorbereitung befindliche Abkommen über den internationalen Transit (Art. 23 e). Aber auch andere Übereinkünfte -- Konkordate, denen die Völkerbundsstaaten beitreten oder nicht beitreten können --- werden voraussichtlich von der Versammlung ausgehen. Gerade im Ausbau des internationalen Rechtes erblicken wir eine Hauptaufgabe der Versammlung.

Ein letzter Punkt bildet die Ausübung des Kündigungs- Kündigung rechtes nach Art. l und des Rücktrittsrechtes nach Art. 26. Das ·R-,'Sd-tt erstere kann jederzeit auf zwei Jahre hinaus ausgeübt werden ; das letztere jederzeit und sofort, wenn gegen den Willen des Rücktretenden ein Revisionsbeschluss angenommen worden ist.

Die Ausübung des Kündigungsrechtes wird in der Regel als in die Zuständigkeit der Regierung fallend angesehen : die Genehmigung der Parlamente ist nur zur Knüpfung, nicht aber zur Lösung eines Vertragsverhältnisses erforderlich. Bei einem Vertragsverhältnis, wie es der Völkerbund darstellt, hat aber die Kündigung bzw. der Rücktritt in jedem Falle eine sehr grosse Bedeutung und ist unter Umständen noch wichtiger in seinen Folgen als der Beitritt. Durch das Ausscheiden werden auch der vom Volk und den Ständen angenommene Beitritt und die zu diesem Zwecke in die Bundesverfassung aufgenommenen Bestimmungen hinfällig. Es erscheint deshalb gerechtfertigt, Beschlüsse über Ausübung des Kündigungs- und Rücktriltsrechtes den Beschlüssen über den Beitritt zum Völkerbund gleichzustellen.

Da die Kündigung in jedem B'alle nur auf zwei Jahre hinaus, aber jederzeit erfolgen kann (Art. 1) und in Art. 26 keine bestimmte Frist für die Ausübung des Rücktrittsrechtes festgesetzt ist, kann die mit einer Volksabstimmung verbundene Verzögerung keine Nachteile zur Folge haben (vgl. indessen unten S. 679).

Was die äusserliche Einreihung des Artikels in die Bundes- Stellung des Verfassung anbelangt, so könnte man daran denken, dass dieser neuen Ajukels entweder im Zusammenhang mit Art. 8 (Recht der Eidgenossenfassung.

schaft zum Abschluss von Staatsverträgen) als Art. 8bis oder mit Art. 85 (Befugnisse der Bundesversammlung) als Art. 85bis untergebracht, oder in
die Übergangsbestimmungen versetzt würde, weil er in bezug auf seinen wichtigsten Teil, d. h. die Genehmigung der Beitrittserklärung, nur vorübergehend gilt und durch den vollzogenen Beitritt gegenstandslos wird. Indessen kann

634

weder die eine noch die andere dieser Lösungen befriedigen, da der Artikel, weil auf ein bestimmtes Abkommen bezüglich, ein fremdartiger Bestandteil ia den jetzigen Abschnitten der Verfassung wäre und weil die Übergangsbestimmungen die Einführung der Verfassung von 1874 betreffen. Unter diesen Umständen erscheint es als das richtigste, der Verfassung einen neuen, vierten Abschnitt, überschrieben ,,Völkerbund" und enthaltend einen neuen Art. 124, anzufügen.

XII. .Schlussfolgerungen.

Standpunkte Wie in den einleitenden Sätzen zu dieser Botschaft ausder Beurtei- geführt worden ist, muss für die Entscheidung der Frage: Beiu "£' tritt oder Nichtbeitritt? ein doppelter Gesichtspunkt in Betracht kommen. Wir fragen uns zunächst, welche Vorteile und welche Nachteile ergeben sich voraussichtlich für unser Land im einen und im ändern Falle als unmittelbare Folge unserer Stellungnahme.

Sodann aber müssen wir uns auch darüber Rechenschaft geben, welche Haltung sich für uns als Pflicht ergibt vom höhern Standpunkte der Menschheit aus, von der unser Volk nur ein Teil ist.

Und letzten Endes hängt das Wohl jedes Gliedes von dem Wohl der Gesamtheit ab.

UnabhängigUnser höchstes politisches Gut ist die Unabhängigkeit. Forkeit.

keine Einschränkung meu kann diese durch den Völkerbund erleiden, da die Schweiz bei jeder Änderung des Vertrags zurücktreten und auch sonst jederzeit auf zwei Jahre hinaus kündigen kann. Aber auch während der Dauer der Mitgliedschaft ergeben sich für sie keine Pflichten, die nicht in gleicher Weise allen ändern Staaten obliegen, und die sich mit Ausnahme der Neutralitätspolitik im übrigen decken mit der Haltung, welche unser Land auch sonst beobachten würde.

Aber wenigstens eine mittelbare Abhängigkeit von den mächtigsten Staaten des Völkerbundes wird befürchtet. Infolge des vorläufigen Ausschlusses wichtiger Staaten vom Völkerbund besteht die Gefahr, dass dessen schwächere Mitglieder in den politischen Gegensatz zwischen den Hauptmächten des Völkerbundes und den ausserhalb des Bundes stehenden Staaten hineingezogen werden und dabei an die ersteren gebunden wären. Der Umstand, dass der Völkerbund nicht wenigstens ganz Europa umfasst, ist in der Tat geeignet, die Schweiz als Glied desselben unter Umständen in eine Lage zu bringen, die sie im Interesse ihrer Unabhängigkeit vermieden sehen möchte. Diese Unabhängigkeit wäre aber durch ihr Fernbleiben vom Völkerbund keineswegs besser gewahrt. Im

635 Gegenteil. Jene Politik, die ihre Grundlage in einer annähernden Gleichgewichtslage der Kontinentalmächte und ihrer Gruppierungen hatte, ist heute nicht mehr möglich, nicht nur weil der Krieg die Machtverhältnisse der Staaten wesentlich verschoben hat, sondern auch weil das Britische Reich und die überseeischen Staaten, vorab die Union, in viel engere Beziehungen zur Politik der Festlandsstaaten getreten sind als je zuvor.

Der Völkerbund, der den allergrössten Teil der Staaten in eine, wenn auch lose, so doch immerhin stabile und organische Verbindung bringen wird, schliesst, solange er besteht -- und wir hoffen, dass er bestehe und sich lebensfähig entwickle --, eine politische Orientierung aus, die ein labiles Gleichgewicht isolierter Staaten voraussetzen würde. Wenn die Unabhängigkeit der Schweiz jeweilen am wenigsten gesichert war, sobald eine einzelne Macht ein entschiedenes politisches Übergewicht besass, wie z. B. in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts und zur Zeit Napoleons I., so können daraus für die Gegenwart nicht ohne weiteres Schlüsse gezogen werden. Damals war die überragende Macht in einem einzigen Staate konzentriert. Der Völkerbund dagegen ist eine Zusammenfassung zahlreicher und in. verschiedenem Masse und in verschiedenem Sinne an der Schweiz interessierter Staaten. Wir glauben, dass nirgends die Absicht besteht, auf die Schweiz einen Druck auszuüben. Wir dürfen auch darauf zählen, dass wir unter den führenden Mächten des Völkerbundes immer solche finden würden, die uns unterstützen.

Grund zu dieser Annahme ist die Tatsache, dass unser Land während der fünfjährigen Weltkrisis trotz mancherlei Schwierigkeiten immer Verständnis und Unterstützung für seine wichtigsten Bedürfnisse gefunden hat. Was aber jeden Vergleich zwischen heute und früheren Zeiten sehr fraglich erscheinen lässt, das ist die Demokratie, die sich seither in allen Ländern durchgesetzt hat.

Bliebe die Schweiz ausserhalb des Völkerbundes, so wäre ihre tatsächliche Unabhängigkeit nur scheinbar eine grössere. Die Bedeutung des Völkerbundes würde um dieser Tatsache willen nicht geringer sein ; er würde gleichwohl die meisten und mächtigsten Staaten umfassen und gleichwohl das Hauptbezugsgebiet für unsere Rohstoffe und Lebensmittel und der Hauptmarkt für unsere Industrien sein. Wir blieben somit doch in
manchen Beziehungen auf jene Länder angewiesen. Aber unsere Beziehungen zu jenen Staaten würden wohl kaum erleichtert, da sie in unserem Fernbleiben vom Völkerbund einen Mangel an Vertrauen zu ihnen, eine eigenwillige und selbstsüchtige Absonderung von

636

dem erblicken würden, was sie als die allgemeine Sache der Menschheit betrachten. Jedenfalls ist zu fürchten, dass unsere Haltung so ausgelegt würde. Ausserhalb des Völkerbundes stehend, hätten wir auch viel weniger Aussicht, bei Anständen mit einer der führenden Mächte des Bundes freundschaftliche Unterstützung bei einer ändern von ihnen zu finden.

Unvermeidlich würden wir, wenn wir nicht beitreten, an die Seite der Staaten gedrängt, die dem Bunde noch nicht angehören. Wir sind wirtschaftlich zu abhängig und kulturell mit unsern Nachbaren viel zu nahe verbunden, als dass wir uns gegenüber dem Völkerbund bis zu einem gewissen Grad isolieren und uns doch in gleichem Masse von den übrigen Staaten unabhängig halten könnten. Diese wären aber, mit Rücksicht auf ihre gegenwärtigen finanziellen Schwierigkeiten und zum Teil auch wegen der Ähnlichkeit ihrer Volkswirtschaft mit der unsrigen, gar nicht in der Lage, uns einen Ersatz für die Länder des Völkerbundes zu bieten. Viel eher wäre eine unsere Aufnahmefähigkeit übersteigende Zuwanderung und wirtschaftliche Durchdringung von jener Seite zu befürchten, der wir in unserer Isolierung kaum den nötigen Widerstand leisten könnten.

Sicherheit.

Die Unabhängigkeit unseres Landes ist aufs engste mit unserer äussern Sicherheit verbunden. Je mehr die Möglichkeit kriegerischer Angriffe auf unser Land und die Kriegsgefahr überhaupt zurücktritt, um so grösser ist unsere Unabhängigkeit ; denn gegenüber unsern grossen Nachbarn sind wir zu schwach und, in einen Krieg verwickelt, vermögen wir auch als Verbündete uns nicht genügend zur Geltung zu bringen.

Wenn der Völkerbund auch nur zu einem Teil seinen Zweck erreicht, so bringt er uns eine erhöhte Sicherheit. Der Zustand, wie er seit einigen Jahrzehnten bestanden und sich im letzten Jahrzehnt immer mehr zugespitzt hat, war namentlich für ein Land wie die Schweiz ein derart gefährlicher und liess dem Einsichtigen unsere Lage so prekär erscheinen, dass wir nichts unterlassen dürfen, was irgendwelche Aussicht bietet, aus den Zuständen der Vergangenheit hinauszukommen. Dass uns ein gnädiges Schicksal vor dem Kriege bewahrt hat, darf uns nicht in falsche Sicherheit wiegen, uns nicht hindern, dass wir die Augen auftun und uns besinnen, was wir aus der furchtbaren Katastrophe zu lernen haben und nach welchen Gesichtspunkten
wir in der Zukunft unsere Aussenpolitik zu orientieren haben.

Man könnte vielleicht sagen, dass, wenn der Völkerbund den allgemeinen Frieden sichert, er dies mit und ohne uns in

637

gleicher Weise tua könne. Abgesehen davon, dass ein so kleinlicher Standpunkt, wonach man dem Völkerbund gleichzeitig misstraut und doch von ihm Vorteil erwartet, unser unwürdig wäre, würde dies auch nicht richtig sein. Die Zugehörigkeit zum Völkerbund allein gibt uns in allen Fällen einen Anspruch auf. die durch den Völkerbund in Art. 12 und 17 geschaffenen Friedenssicherungen, und nur sie bringt uns die Vorteile, welche der Art. 10 über die in der Neutralitätsakte von 1815 ausgesprochene Gebietsgarantie hinaus'bieten kann.

Wenn wir eine Erhöhung der Sicherheit von dem Bestehen des Völkerbundes, d. h. von der dadurch bewirkten Verminderung der Kriege erwarten, so wollen wir uns keineswegs verhehlen, dass die Mitgliedschaft im Völkerbund uns auch eine vermehrte Gefahr bringen kann, weil wir bei den Gesamtaktionen des Bundes nicht in der Lage sein werden, beiden Parteien in allen Beziehungen «ine gleiche Behandlung zuteil werden zu lassen. Diese Gefahr kann verschieden eingeschätzt werden, sowohl mit Bezug auf die Möglichkeit, dass es überhaupt zu Gesamtaktionen des Völkerbundes komme, als auch auf die Wahrscheinlichkeit, dass gegebenenfalls eine différentielle Handhabung der Neutralität Vorwand zur Verletzung unseres Landes bietet. Mit Rücksicht darauf, dass in der Landesverteidigungskommission die Ansicht vertreten worden ist, dass diese Gefahr eine bedeutende sei, wollen wir sie in der Abwägung aller für oder gegen den Eintritt in Betracht kommenden Umstände durchaus als das Hauptbedenken betrachten. Sie ist, zusammen mit den wirtschaftlichen Rückschlägen, die unsere Teilnahme an den Sanktionen in jedem Falle nach sich zieht, tatsächlich der einzige materielle Nachteil, der sich vom Eintritt in den Völkerbund voraussehen lässt.

Bei der Einschätzung dieses Nachteils müssen wir in erster Linie uns sagen, dass er das Risiko ist, das wir auf uns nehmen, um die grosse Idée des Völkerbundes verwirklichen zu helfen.

Aber im weitern müssen wir uns auch vergegenwärtigen, dass unsere Lage beim grundsätzlichen Festhalten an einer bedingungslosen Neutralität auch gegenüber den Gesamtaktionen des Völkerbundes eine äusserst heikle und schwierige, wenn nicht geradezu unhaltbare sein würde. Die dannzumalige Lage würde sich mit derjenigen im letzten oder gar in früheren Kriegen überhaupt nicht ohne
weiteres'vergleichen lassen. Als neutrales Mitglied des Bundes würde einmal unsere Stellung eine schiefe sein gegenüber diesem, weil wir mit ihm nicht solidarisch wären. Das gleiche wäre aber auch der Fall gegenüber dem Friedensbrecher, weil wir indirekt Bundesblatt. 71. Jahrg. Bd. IV.

45

638

doch durch die vom Völkerbunde ausgeübte Blockade gezwungen wären, ihm gegenüber uns abzuschliessen.

Stünden wir ausserhalb des Bundes, so wären wir in allen Fällen politisch isoliert. Der Völkerbund würde unserer Neutralität kaum freundlich gegenüberstehen; er würde sie als eine indirekte Begünstigung seines Gegners betrachten und der letztere -- von dem grössten Teil der Welt bekämpft -- würde sich uns gegenüber wohl auch in erster Linie durch blosse Zweckmässigkeitsüberlegungen, nicht aber durch Dankbarkeit für unsere bedingungslos neutrale Haltung bestimmen lassen.

Wir stehen -- das dürfen wir uns nicht verhehlen -- vor neuen Tatsachen, denen gegenüber wir Entschlüsse fassen müssen, die nicht nur Vorteile für uns haben können.

Die miliDie Prüfung der militärischen Lage hat ergeben, dass -- teriache Lage, abgesehen von den Aussichten der Respektierung der Neutralität bei den Gesamtaktionen des Art. 16 -- diese für uns innerhalb und ausserhalb des Völkerbundes etwa die gleiche sein würde. Die Behauptung der Neutralität in allen kriegerischen Konflikten verlangt, dass wir eine ausreichende und schlagfertige Armee besitzen, weil wir in jedem Falle die Verteidigung der Unverletzlichkeit unseres Gebietes mit eigenen Mitteln durchführen müssen und nicht lediglich ein Kontingent zu einer grossen Völkerbundsarmee, die auch uns zu verteidigen hätte, stellen müssen. Dafür haben wir auch erhöhte Aussicht, dass die Schweiz nicht Kriegsschauplatz wird.

Ob der Völkerbund -- wie er es vor hat -- eine wesentliche Herabsetzung der Rüstungen erreicht, ist vielleicht ungewiss.

Sicher aber ist, dass, wenn überhaupt das Wettrüsten unterdrückt und das Mass der Rüstungen herabgesetzt werden kann, dies nur durch den Völkerbund möglich ist; andernfalls werden die Zustände voraussichtlich noch schlimmer werden als vor dem Krieg. Ob die Schweiz im Bunde sei oder nicht, ist für den Erfolg der Abrüstungsbestrebungen wohl nebensächlich; aber wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, so müssen wir auch dazu beitragen, da man unsere Mitwirkung wünscht.

Die wirtDer Völkerbundsvertrag sichert den Mitgliedern des Völkerschaftliche bundes wirtschaftliche Vorteile nur in sehr unbestimmter Form.

Lage.

]jg Wäre deshalb irrig, ihm beizutreten in der Meinung, dadurch unmittelbar Sicherheiten für unsere auswärtigen Handelsbeziehungen zu erlangen.

Dagegen muss bedacht werden, dass, wenn wir ausserhalb des Völkerbundes bleiben, unsere politische Isolierung uns auch

639 die Schaffung sicherer und vorteilhafter Grundlagen für unseren auswärtigen Handel sehr erschweren könnte. Heute und wohl noch für längere Zeit werden manche Länder geneigt sein, ihrer Handelspolitik eine schutzzöllnerische Orientierung zu geben. Und ebenso ist es denkbar, dass die im Kriege vereinten Staaten sich in den internationalen Handelsbeziehungen gegenseitig bevorzugen.

Jedenfalls wird ein Staat, der zum Beitritt in den Völkerbund eingeladen, diesem fern bleibt, in der Regel weniger günstige Vorbedingungen für den Abschluss von Handelsverträgen finden, als wenn er durch den Völkerbund mit dessen Gliedern in eine intimere Beziehung getreten wäre. In einer Zeit, in der gefühlsmässige Momente einen so starken Einfluss auf die Politik haben, dürfen auch für die wirtschaftlichen Fragen diese Imponderabilien nicht unterschätzt werden. Es wäre deshalb viel zu optimistisch, anzunehmen, dass die Schweiz als kräftiger Abnehmer handelspolitisch sich auch als Verkäufer unter alten Umständen eine befriedigende Stellung erringen könnte.

Bei der Beurteilung dieser Seite des Völkerbundsproblems darf nie ausser acht gelassen werden, dass die wirtschaftliche Existenz der Schweiz in weitestgehendem Masse auf ihren Beziehungen zum Auslande beruht. Unsere Industrien arbeiten im wesentlichen auf den Export. Unsere Rohstoffversorgung kommt aus dem Auslande 5 unsere Transportverhältnisse, und zwar sowohl was die Benützung der schweizerischen Scihienenstränge durch ausländische Transporte als was unsere Zufuhren betrifft, sind von Verständigungen mit dem Auslande abhiangig.

Bietet das Völkerbundsstatut handelspolitisch positiv sehr wenig -- oder in den Augen des Skeptikers nichts -- so erlaubt doch der Beitritt der Schweiz die engere Fühlungnahme; sie erleichtert den Kontakt mit den Regierungen der ändern Staaten, und sie bildet einen wesentlichen moralischen Faktor, auf den sich die Schweiz, wenn sie in ihren vitalen Interessen bedroht ist, berufen kann. Tritt die Schweiz Sicht bei, so sind eine Menge von Verhandlungen und Verständigungsmöglichkeiten ausgeschlossen ; die internationalen Beziehungen der Völker werden in ihrer Abwesenheit geregelt, und sie wird die besten .Gelegenheiten verlieren, wo sie ihre Stimme erheben kann.

Anderseits muss berücksichtigt werden, dass der Völkerbund durch sein Svstem
der Sanktionen auch bedeutende Gefahren und Nachteile wirtschaftlicher Art bringen kann, und zwar in besonderm Mass für ein Land, das, wie die Schweiz, so eng mit der Weltwirtschaft verbunden ist. Diese Nachteile und Gefahren bestehen,

640

wenn auch in verschiedener Form, sowohl wenn die Schweiz dem Völkerbund beitritt, als wenn sie ihm fernbleibt. Im letztem Falle würde sie bei der Aufrechterhaltung ihres Wirtschaftslebens während der Völkerbundsaktionen voraussichtlich auf noch grössero Schwierigkeiten stossen als im vergangenen Kriege, da die Blockade noch allgemeiner und noch strenger wäre ; und die Schweiz würde, als dein Völkerbund nicht angehörend, auf weniger Entgegenkommen und Sympathien rechnen, können als bisher. Ist die Schweiz dagegen als Glied des Völkerbundes an den wirtschaftlichen Massnahmen gegen den Friedensbrecher beteiligt, so wird sie nicht nur selber vom Verkehr mit diesem Staate, auch zu ihrem Nachteil, abgeschnitten sein, sondern sie wird ihr Vermögen und vielleicht auch ihre Angehörigen in jenem Staate Retorsionsmassregeln ausgesetzt sehen. Diesen Nachteilen, die bei einem Koaflikt namentlich mit unsern Nachbarstaaten, aber auch mit verschiedenen ändern Ländern, sehr grosse sein können, steht als Vorteil gegenüber der Anspruch auf wirtschaftliche Aushilfe seitens der ändern Völkerbundsstaaten.

Die soziale Der Umstand, dass im Falle des Nichtbeitrittcs die Schweiz Lage.

auch an der Konvention über das Arbeitsrecht nicht teilnehmen könnte, würde an sich weniger ins Gewicht fallen, da nichts die Schweiz hindern würde, von sich aus ihre Arbeitsgesetzgebung fortschrittlich auszubauen; aber sie würde die bis zu einem gewissen Grade führende Rolle, die sie auf dem Gebiete des internationalen Arbeitsrechts innegehabt, verlieren und damit jeden Einfluss auf diesem Gebiet einbüssen. Es ist auch ihre moralische Pflicht, hier mitzuarbeiten.

Die heftige Gegnerschaft, auf welche der Völkerbundsvertrag in manchen Kreisen stösst, wird teilweise damit begründet, dass dieser Völkerbund gewissermassen das konservative Prinzip in der Welt bedeute, dass er kapitalistischen Interessen diene und den Zweck habe, die Staatswesen, die mehr oder weniger stark in der Sozialisierung oder Kommunisierung vorgeschritten sind, niederzuhalten. Es wird daraus etwa die Forderung abgeleitet, dass die Schweiz durch ihr Fernbleiben gegen diese einseitige Tendenz des Völkerbundes Stellung nehmen und sich nicht binden solle, bis durch die als unausbleiblich und nahe bevorstehend betrachtete revolutionäre Bewegung der Boden für einen wahrhaft
demokratischen und sozialen Völkerbund geschaffen sei. Von diesem Standpunkte aus wäre eine unbedingt neutrale Haltung auch deshalb geboten, weil die sozialen Gegensätze, die durch unser Land gehen, einerseits vom Völkerbund, anderseits von den ausgeschlossenen Staaten verkörpert wären und nun gewissermassen

641 die konfessionellen und nationalen Gegensätze ablösten, die früher, und zum Teil bis heute, die dauernde Neutralität der Schweiz zu einer Notwendigkeit für uns gemacht haben.

Dem gegenüber ist in erster Linie :zu sagen, dass keine einzige Bestimmung des Vertrages in irgend einer Weise die Staats Verfassung oder das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der Mitglieder des Völkerbundes präjudiziert oder dem Bunde ein Einmischungsrecht in die innern Angelegenheiten der Staaten gewährt. Dass diejenigen Staaten, in denen sich die soziale Bewegung besonders stark geltend gemacht hat, nicht unter den ursprünglichen Mitgliedern figurieren, ist keineswegs ein Beweis dafür, dass der Völkerbund solche Staaten nicht aufnehmen würde. Ihr vorläufiger Ausschluss ist die Folge des Umstandes, dass diese Länder bis jetzt mit den Gründern des Völkerbundes im Kriege gestanden, bzw. heute noch nicht Frieden geschlossen haben oder keine stabilen und anerkannten Regierungen besitzen. Die sozialen Umwälzungen in Russland und Ungarn ebenso wie in Deutschland zeigen übrigens, dass auch für soziale Neuordnungen der bisherige nationale Staat die Unterlage bildet. Der Völkerbund, der sich auf diesen Staaten aufbaut, bildet deshalb kein Hindernis für wirtschaftliche Umwandlungen, und es hängt ausschliesslich von der politischen Entwicklung in den einzelnen Staaten ab, welche Wirtschaftssysteme im Völkerbund vertreten sein werden. Übrigens gehören gerade einige der wichtigsten Länder des Völkerbundes zu denjenigen Staaten, die in ihrer demokratischen und sozialen Entwicklung weit vorgeschritten sind.

Wenn der Völkerbund ein Mittel ist, den wirtschaftlichen Wiederaufbau zu erleichtern, so ist er auch gleichzeitig eine Voraussetzung für soziale Fortschritte. In dem Masse, als das Wirtschaftsleben von kriegerischen Katastrophen befreit und die wirtschaftlichen Mittel für friedliche Zwecke frei werden, wird sich die Produktion und mit ihr die Lebenshaltung heben.

Aber auch wenn man den Völkerbund und dessen wirtschaftliche Vorteile noch so skeptisch betrachten will, wird ma;i - :; " doch zugeben müssen, dass ohne den Völkerbund die internationalen Beziehungen noch unsicherer, die Anforderungen an die Kriegsbereitschaft immer noch grösser und damit die Aussichten für eine freiheitliche und sozial fortschrittliche Entwicklung
der Staaten entsprechend geringer sein werden.

Das Verhältnis der Schweiz zu den einzelnen Staaten kann Die Stellung durch die gemeinsame Zugehörigkeit zum Völkerbund wohl nur &er Schweiz zu den einzelnen Staaten.

6i2

Förderung erfahren ; das Fernbleiben dagegen hätte fast unvermeidlich eine Erkältung in den Beziehungen zu einigen der führenden Mächte des Völkerbundes zur Folge.

Das Verhältnis an den dem Völkerbund nicht angehörenden Staaten wird wesentlich dadurch bestimmt sein, ob diese Staaten Wert auf den Beitritt zum Völkerbund legen oder ob sie sich mehr oder weniger eng gegen die Politik .des Völkerbundes zusammeuschliessen. Im erstem Falle könnte uns die Mitgliedschaft in den Beziehungen zu diesen Staaten keiueswegs ein Hindernis sein; vielmehr vermöchten wir dank dem ungetrübt gebliebenen Verhältnis eine Verbindung zwischen ihnen und dem Völkerbund herzustellen. Im letztern Falle dagegen würde die Schweiz in eine schwierige Lage kommen, gleichgültig, ob sie dem Völkerbund angehört oder ihm fernbleibt. Tritt die Schweiz bei und würde sich nachträglich ergeben, dass der Völkerbund seiner Mission als Träger einer allgemeinen Friedensordnung nicht gerecht zu werden vermöchte, so müsste die Schweiz die Frage ihrer Zugehörigkeit zum Bunde in Wiedererwägung ziehen. Doch hoffen wir bestimmt, dass diese für uns schmerzliche Lage nicht eintreten wird ; denn in diesem Falle wären die Voraussetzungen für unsere selbständige Existenz auf alle Fälle die denkbar ungünstigsten geworden.

Wir vertrauen vielmehr darauf, dass der jetzige Völkerbund sich in nicht ferner Zeit zu einem allgemeinen Völkerbunde erweitert.

Geschieht dies nicht, so erscheint es fast unvermeidlich, dass sich in ihm selber auflösende Kräfte früher oder später geltend machen würden. Dann wäre die Unabhängigkeit der Schweiz vielleicht nicht mehr durch die Gefahr einer einseitigen Orientierung ihrer Politiker bedroht, sondern durch die allgemeine Unsicherheit, welche die unausbleibliche Folge des Rückfalls in den chaotischen, organisationslosen Zustand der Staatenwelt sein müsste.

Die interDie internationale Stellung der Schweiz wird durch ihre nationale Stel- Mitgliedschaft im Völkerbunde und speziell durch die Tatsache, "^iorfder18" dass der Sitz des Bundes sich in der Schweiz befindet, gehoben.

Schweiz im Wir treten damit in engere Beziehungen zu den massgebenden allgemeinen. Faktoren und den ständigen Trägern des internationalen Lebens.

Dio Sessionen des Rates und der Versammlung werden in der Regel in Genf stattfinden, und der Rat wird in
den ersten Jahren, vielleicht aber bleibend, mehr oder weniger permanent sein.

Daraus müssen sich mannigfache Wechselbeziehungen ergeben, bei denen wir mittelbar Empfangende und Gebende sind. Namentlich stark aber werden die Einflüsse sein, die von den ständigen Ämtern des Völkerbundes, dem Generalsekretariat und den ander-

643

weitigen, dem Völkerbund unterstellten Organisationen ausgehen.

Die geplante Zusammenfassung internationaler öffentlicher Tätigkeit im Völkerbunde wird einen Brennpunkt weltweiter Interessen schaffen, von dem starke Anregungen auf unser politisches Denken ausgehen müssen. Diese Einflüsse haben wir, da sie nicht einseitig nationaler, sondern, universeller Art sind, nicht nur nicht zu fürchten, sondern wir müssen sie auf das freudigste begrüssen: unser Staat erhält dadurch die Impulse und die Kräfte, um über seine individuelle, nationale Autgabe hinaus in eine höhere, internationale hineinzuwachsen.

Lange hatte die Schweiz eine Daseinsberechtigung, nicht nur als ein lebensfähiges geschichtliches Gebilde, sondern als Trägerin des demokratischen und republikanischen Prinzips, vorab in Buropa. In dem Masse als diese staatspolitischen Prinzipien sich im Leben aller Völker, insbesondere auch aller unserer Nachbarn, durchsetzen, hören sie auf, imstande zu sein, der Schweiz eine besondere politische Individualität zu geben und eine besondere Mission unseres Landes zu begründen.

Die föderative Zusammenfassung freiheitlich organisierter Staaten zur gemeinsamen Förderung und Sicherung der Rechtsordnung ist die grosse Aufgabe der Zukunft auf dem Gebiete der Staatenpolitik: es ist die Idee des Völkerbundes. Durch ihre Geschichte, die eine fortschreitende Entwicklung des Föderativprinzips darstellt, sowie durch ihre Zusammenfassung verschiedensprachiger Völkerstämme ist die Schweiz von vornherein in der Richtung der kommenden Entwicklung eingestellt. Indem sie tatkräftig in dieser Richtung mitarbeitet, bleibt sie ihrem eigensten Wesen treu und verfolgt eine Politik, die ein alle Eidgenossen einigendes, positives Ziel hat. Was wäre mehr imstande, diese für uns notwendige Bereicherung und Erweiterung unseres politischen Denkens und Wirkens zu fördern, als die Verlegung des Mittelpunkts des Völkerbundes in die Schweiz. Eine einzigartige Gelegenheit, über unsere räumliche Kleinheit, die leider manchmal auch eine geistige Enge bedeutet, hinauszuwachsen, ist uns jetzt geboten. Ob wir Sitz und Stimme im Rat haben und ob mehr oder weniger Schweizer in den Ämtern des Völkerbundes stehen, ist nebensächlich. Zwar wäre eine Mission, wie sie der schweizerische Vorentwurf den neutralen Staaten geben wollte, für den Völkerbund
selber wertvoll und uns erwünscht gewesen.

Aber auch ohne die enge Verbindung mit der Leitung des Völkerbundes wird schweizerisches Denken mittelbar auf diesen einwirken, da beide geistig verwandt sind.

644

Was aber wäre diese unsere internationale Stellung und Mission ausserhalb des Völkerbundes? Beiseitestehend würden wir früher oder später den Einfluss und das Ansehen verlieren, das wir jetzt vielleicht besitzen, und unsere materielle Kleinheit durch kein Hervorragen in der internationalen Politik ausgleichen können.

Aber nicht nur unsere internationale -Stellung würde gemindert. Die Ablehnung des Beitrittes würde voraussichtlich auch innere Gegensätze verschärfen oder neu hervorrufen, Gegensätze, die um so gefährlicher für unser Vaterland wären, als sie wegen unserer politischen Isolierung alsdann vielleicht in ausländischen Tendenzen eine Förderung fänden.

Die Hoffnung, durch Fernbleiben vom Völkerbund dessen Umgestaltung im Sinne unserer besonderen Wünsche und Ideale zu erzwingen, wäre nicht nur trügerisch, sie wäre eine gefährliche Überschätzung unserer Bedeutung und schöpferischen Kraft. Die Abkehr vom Völkerbund bringt uns die Gefahr politischer Verkümmerung.

Abwägen der Überblicken wir nochmals die Vorteile und Nachteile des Vor- und Beitritts und Fernbleibens vom speziell schweizerischen Standpunkt Speziell aus' so werden wir kaum durchschlagende, greifbare Vorteile und schweize- jedenfalls nicht ein starkes Überwiegen solcher feststellen können, rischen Stand-Die Vorzüge erhöhter Sicherheit durch den Völkerbund und die punkt aus. Hebung unserer internationalen Stellung werden sogar nach der Ansicht vieler weit überschattet durch die unverkennbaren militärischen und wirtschaftlichen Risiken, die sich aus der Solidarität mit dem Völkerbund ergeben können. Aber die Gefahr politischer und wirtschaftlicher Vereinsamung wiegt sicherlich doch schwerer, als diese Bedenken, auch wenn die Nachteile des Fernbleibens nicht unmittelbare sind und man vielleicht versucht sein möchte, zu glauben, dass wir in diesem Falle die gleiche -- vielleicht überschätzte -- Sicherheit wie bisher haben werden. Jedenfalls ist es ein Abwägen von so komplexen und aus so unsicher» Elementen sich zusammensetzender Faktoren, dass deren Beurteilung äusserst schwierig jind unsicher wird, und fast mehr eine Sache des Gefühls als des rechnenden Verstandes ist.

Der Würden wir uns auf einen eng nationalen und utilitaristischen allgemeine Standpunkt stellen, so könnte uns die Entscheidung vielleicht b> npunkt. schwer sein,
aber sie müsste -- alles nüchtern erwogen -- doch positiv ausfallen. Ausschlaggebend aber ist die Erkenntnis, dass in dem Augenblick, wo an die Völker der Ruf zur Schaffung einer neuen, bessern internationalen Ordnung ergeht, die Schweiz

645

aus freiem Entschluss nicht beiseite stehen darf. Haben nachträglich die Skeptiker und Pessimisten recht, entartet der Völkerbund zu einer gewöhnlichen Machtallianz oder fällt er kraftlos auseinander, dann werden die, welche von vornherein klug sich zurückgehalten, die naiven Optimisten belächeln. Was werden aber diese verloren haben? eine Hoffnung, nicht aber das Bewusstsein, das Richtige gewollt zu haben.

Wenn aber aus den unvollkommenen heutigen Anfängen etwas Lebensfähiges und dem Ideal des Völkerbundes Näherkommendes sich entwickelt? Wie stünden wir da, wenn wir in einem grossen geschichtlichen Augenblick, aus Kleinmut, aus Skepsis oder Selbstsucht unterlassen hätten für eine Sache einzutreten, welche die Sache der Menschheit und die Weiterentwicklung unseres eigenen Staatsgedankens ist. Dass auch ohne unser kleines Staatswesen die Völkerbundsidee sich verwirklichen könnte, enthebt uns in keiner Weise der Verantwortlichkeit, jetzt die Entscheidung zu treffen, die unsere Pflicht ist.

Diese Pflicht, aus der furchtbaren Lehre dieses Krieges den Entschluss zur Tat zu fassen, kann nicht hoch genug bewertet werden. Oder sollten wir die Erinnerungen an den Krieg vergessen haben, an unsere Besorgnisse um unser Land und um das tägliche Brot, vergessen den Widerwillen gegen all die Greuel, gegen die Hochflut des Hasses und der Verleumdung? Sollten wir, kaum ist die unmittelbare Gefahr vorüber, gleichgültig und tatenlos in die Zukunft hineinleben und unsere Kinder und Enkel einem noch schlimmem Schicksal überlassen? Gedankenlos ist es, sich damit zu trösten, dass es immer Kriege gegeben hat.

Der Krieg war immer eine Geissel der Menschheit, eine Auflehnung gegen das höchste Sittengebot. Aber der Krieg bleibt nicht, was er war. Er wächst mit der Entwicklung der menschlichen Technik ins Riesenhafte, und es ist nicht abzusehen, wo die Zerslörungsmöglichkeiten eine Schranke finden. Ungehemmt sich weiterentwickelnd, ist der Krieg jetzt schon zu einer Gefahr für unsere ganze Zivilisation geworden, eine Gefahr, der gegenüber die Beschränkungen und Risiken, die uns der Völkerbund bringt, wenig oder nichts bedeuten.

Nur dann dürften wir unsere Mitarbeit am Völkerbund versagen, wenn das, was sich jetzt als Völkerbund darstellt, ein Hindernis wäre für die Herbeiführung einer wirklich gerechten und dauernden
Friedensordnung. Diese Auffassung wird begründet teils mit den Unvollkommenheiten des Völkerbundsvertrags, teils mit dem Umstände, dass er formell und politisch eng verbunden

64ü

sei mit einem der Gerechtigkeit widersprechenden Friedensvertrag, teils auch damit, dass auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung überhaupt .jede Sanierung der internationalen Zustände von vornherein unmöglich sei.

Mit Gegnern, die auf diesem Standpunkt stehen, ist eine Diskussion aussichtslos, weil sie sich auf einen grundsätzlich ändern Boden stellen. Diejenigen, die den Völkerbund bekämpfen, weil sie Gegner des Friedensvertrages sind, können wir kaum überzeugen, weil uns zu viele Voraussetzungen zur richtigen Beurteilung des Friedensvertrages fehlen, weil die Urteile in dieser Sache vielfach aus gefühlsmässigen Auffassungen erfolgen und weil auch unsere neutrale Stellung Zurückhaltung in dieser Frage gebietet. Gegenüber denjenigen, die den Völkerbund wegen seiner Unvollkommenheiten bekämpfen, sagen wir, dass uns diese Unvollkommenheiten keineswegs entgangen sind, dass sie sich aber zum Teil fast unvermeidlich aus den derzeitigen politischen Verhältnissen ergeben und in absehbarer Zeit kaum zu vermeiden sein werden. Wie sollte überhaupt aus der durch den Weltkrieg geschaffenen Lage unmittelbar etwas Vollkommenes hervorgehen können? Und weiter darf nicht übersehen werden, dass unter den bittersten Kritikern des Völkerbundes sich nicht wenige finden, die noch unlängst diese Idee verlacht haben oder nur als ein Mittel zur Täuschung der öffentlichen Meinung begreiflich fanden, sie jetzt aber in ihrer realen Verwirklichung dadurch zu diskreditieren suchen, dass sie an die Tatsachen den Massstab eines unerreichbar hohen Ideales anlegen.

Wer fest auf dem Boden der politischen Realitäten und Möglichkeiten steht und gleichzeitig der hohen Idee entschlossen nachstrebt, der wird den Völkerbundsvertrag nach dem beurteilen, was aus ihm werden kann, und ihn vergleichen mit dem, was wir ohne ihn hätten. Dass der Völkerbund grosse, ja sehr grosso Fortschritte gegenüber der Vergangenheit bietet und dass wertvolle Entwicklungsmöglichkeiten in ihm liegen, glauben wir gezeigt zu haben. Ob er diese Erwartung rechtfertigt, kann heute niemand voraussagen. Es ist eine Sache des Vertrauens. Alle grossen Entschlüsse beruhen auf Vertrauen, denn sie fordern ein Erfassen werdender Dinge und unmessbarer Kräfte. Wir haben dieses Vertrauen, weil der Völkerbund an sich eine Forderung der Vernunft und der Moral ist. Es
ist auch gerechtfertigt, da die Staatsmänner, die vor allem dem Völkerbundsvertrag den Stempel ihrer Denkungsart gegeben haben, gegenüber allen Widerständen und aller eisigen Skepsis durchgedrungen sind, weil sie selber

647

von der Grosse und von der Notwendigkeit der Völkerbundsidee durchdrungen waren.

Umgekehrt ist die Hoffnungslosigkeit der internationalen Verhältnisse, wenn kein Völkerbund zustande kommt, eine Erkenntnis, der sich niemand verschliessen kann. Nicht nur wird der krankhafte Zustand des gegenseitigen Misstrauens, steter Kriegsbereitschaft und fortschreitender Untergrabung des Rechtsempfindens, wie er vor dem Kriege bestand und im Kriege sich masslos gesteigert hat, fortdauern ; er wird infolge der wirtschaftlichen und seelischen Erschöpfung vieler Völker zu völlig unhaltbaren Situationen und zu sozialen Katastrophen führen. Noch schlimmer aber als das wirtschaftliche und soziale Elend, das erzeugt werden muss durch die latente Fortdauer des Krieges, durch das Fehlen jeder stabilen Organisation zur friedlichen Entwicklung und Abwicklung internationaler Verhältnisse und Konflikte wäre die Hoffnungslosigkeit, die sich aller bemächtigen müsste, die an fortschreitende Verbesserung der politischen ° Ver, hältnisse glauben. Wenn den Menschen aus dem riesenhaften Leid dieses Krieges kein Entschluss zur Betretung neuer Wege reift, wenn sie aus Stumpfheit, Kurzsicht oder Frivolität den Dingen den Lauf lassen, dann ist nicht einzusehen, was geschehen müsste, um die Menschheit einem Völkerbunde näher zu bringen.

Mit vollem Recht hat unlängst Präsident Wilson den Völkerbund als die einzige Hoffnung in der gegenwärtigen Lage bezeichnet. Was soll denn ohne diese Organisation die friedliche Weiterentwicklung sicherstellen? Welches Mittel bestünde sonst, ohne neue, immer verderblichere Katastrophen die Zustände zu wandeln, die, als der Gerechtigkeit oder den Forderungen neuer Verhältnisse widersprechend, eine Gefahr für den Frieden sind?

Und mit welchem Recht kann man erwarte*, dass ein neuer Krieg bessere Voraussetzungen für einen Völkerbund schaffen sollte ?

Das Rechtsbewusstsein ist in der Welt so sehr geschwächt worden, dass neue gewaltsame Konflikte die Menschheit nur immer weiter von der Möglichkeit des Wiederaufbaues der Rechtsordnung abtreiben.

Wenn wir die Überzeugung haben, dass der Völkerbund eine Notwendigkeit ist, dass sich jetzt zum erstenmal die Möglichkeit zur Verwirklichung dieses Gedankens bietet, und dass der Völkerbund um so mehr zu einem allgemeinen Friedensbunde der Völker sich entwickeln kann, je rascher und freudiger die Neutralen ihm beitreten, dann darf die Schweiz nicht zurückbleiben; sie hat die Pflicht, unter den ersten Neutralen Stellung

648

zu nehmen, wie sie auch bisher sich in besonderem Masse für die Völkerbundsidee eingesetzt hat.

Draussen bleiben hiesse sich jedes Einflusses auf die weitere Entwicklung berauben. Selbst alle Neutralen zusammen könnten die Abänderung des durch die Unterzeichnung des Friedens festgelegten Vertrages nicht erreichen. Nur als Glieder des Völkerbundes sind sie in der Lage, an dessen Revision mitzuwirken.

Auf einen neuen Völkerbund die Hoffnung zu setzen, wäre verfehlt. Würde aus irgendeinem Grunde das jetzige Werk untergehen, so würde kaum so bald ein neuer Bund entstehen. Nur in seltenen Momenten der Geschichte kann eine Idee, die gegen soviel Vorurteile und soviel Eifersucht stösst, sich in die Welt der Tatsachen durchsetzen. Der gegenwärtige Friede ist ein solcher Moment. Seien wir nicht klein in einer grossen Stunde, die von uns fordert, dass wir durch die Tat zu der Idee des Völkerbundes uns bekennen.

Wir empfehlen Ihnen den nachstehenden Entwurf eines Bundesbeschlusses zur Annahme und benutzen diesen Anlass, Sie unserer ausgezeichneten Hochachtung zu versichern.

B e r n , den 4. August 1919.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Ador.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Steiger.

649

(Entwurf.)

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrates vom 4. August

1919 und unter ausdrücklicher Feststellung, dass die immerwährende Neutralität der Schweiz, die insbesondere in der Akte vom 20. November 1815 anerkannt worden ist, in Art. 435 des zwischen den alliierten und assoziierten Mächten und Deutschland am 28. Juni 1919 abgeschlossenen Friedensvertrages als ein Abkommen zur Aufrechterhaltung des Friedens anerkannt ist und dass sie nach Art. 21 des Völkerbundsvertrages als mit keiner Bestimmung dieses Vertrages unvereinbar anzusehen ist, besch li esst: I. Der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 ist ein vierter Abschnitt (Völkerbund) mit einem einzigen Art. 124 anzufügen, welcher lautet: Die Schweiz tritt dem Völkerbundsvertrag bei, der am 28. April 1919 von der Pariser Friedenskonferenz angenommen worden ist.

Für die Ratifikation der Abänderungen des Völkerbundsvertrages, sowie für die Genehmigung von mit dem Völkerbund zusammenhängenden Übereinkünften jeder Art kommen die von der Bundesverfassung für die Genehmigung von Staatsverträgen aufgestellten Bestimmungen zur Anwendung.

Beschlüsse über Kündigung des Völkerbundsvertrages oder über Rücktritt von diesem sind dem Volk und den Ständen zur Abstimmung vorzulegen.

II. Der vorliegende Bundesbeschluss ist der Abstimmung des Volkes und der Stände zu unterbreiten.

III. Der Bundesrat ist mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

650

Völkerbundsvertrag.*) In der Erwägung, dass es zur Forderung der gemeinsamen Arbeit unter den Völkern und zur Gewiihrleistung des Friedens und der Sicherheit unter ihnen geboten ist, Verpflichtungen einzugehen, nicht zum Kriege zu schreiten, die internationalen Beziehungen auf die Grundlage der Gerechtigkeit und Ehre zu stellen und in voller Öffentlichkeit zu pflegen, die Satzungen des Völkerrechts, die fortan als tatsächliche Richtlinien für die Regierungen anerkannt sein sollen, genau zu beobachten, im Verkehr der Staaten untereinander Gerechtigkeit walten zu lassen und alle vertraglichen Verpflichtungen gewissenhaft zu achten, einigen sich die hohen vertragschliessenden Teile auf den folgenden Völkerbundsvertrag, der den Völkerbund begründet: Art. 1. Ursprüngliche Mitglieder des Völkerbundes sind dieMitglieder jenigen Signatars taaten, die im Anhang zum gegenwärtigen Völkerdes Völker- bundsvertrag aufgeführt sind, sowie diejenigen ebenfalls im Anhang Dun es. genannten Staaten, welche dem Völkerbundsvertrag ohne Vorbehalt beitreten. Der Beitritt erfolgt mittels einer innerhalb der ersten zwei Monate nach Inkrafttreten des Völkerbundsvertrages beim Sekretariat eingereichten Erklärung. Den übrigen Mitgliedern des Bundes wird diese Erklärung mitgeteilt.

Alle sich selbst regierenden Staaten, Dominien und Kolonien, die nicht im Anhang aufgeführt sind, können Mitglieder des Völkerbundes werden, wenn ihre Aufnahme mit Zustimmung von zwei Dritteln der Versammlung erfolgt und sofern sie wirksame Gewähr ihrer redlichen Absicht bieten, ihren internationalen Verpflichtungen nachzukommen, und die vom Völkerbund in Ansehung ihrer Land-, See- und Luftstreitkräfte und Rüstungen festgesetzte Regelung annehmen.

Jedes Mitglied des Völkerbundes kann zwei Jahre nach erfolgter Kündigung vom Bund zurücktreten unter der Bedingung, daes es im Augenblick des Rücktritts' alle seine internationalen Verpflichtungen, einschliesslich der in diesem Völkerbundsvertrag niedergelegten, erfüllt hat.

*) Betreffend die Unterschiede zwischen dem am 28. April 1919 angenommenen Text und demjenigen, der im Friedensvertrag vom 28. Juni 1919 aufgenommen ist, vgl. die Vorbemerkung zu Beilage II, 11. Siehe daselbst auch den französischen, englischen und italienischen Text.

651

Art. 2. Die Tätigkeit des Völkerbundes, wie sie im vor- Behörden liegenden Völkerbundsvertrag umschrieben ist, vollzieht sich durch des Völkereine Versammlung und einen Rat unter Mitwirkung eines ständigen buntleaSekretariats.

Art. 3. Die Versammlung besteht aus den Vertretern der Versammlung.

Mitglieder des Völkerbundes.

Sie tritt in bestimmten Zwischenräumen und, wenn die Umstände es sonst erfordern, in jedem ändern Zeitpunkt am Sitze des Völkerbundes oder an irgendeinem ändern zu bezeichnenden Orte zusammen.

Die Versammlung befindet in ihren Beratungen über alle Fragen, welche in den Tätigkeitsbereich des Völkerbundes fallen oder den Frieden der Welt betreffen.

Jedes Mitglied des Völkerbundes verfügt nur über eine Stimme und kann nicht mehr als drei Vertreter in der Versammlung zählen.

Art. 4. Der Rat besteht aus Vertretern der Vereinigten Staaten von Amerika, des Britischen Reiches, Frankreichs, Italiens und Japans *), sowie aus den Vertretern von vier ändern Mitgliedern des Völkerbundes. Diese vier Mitglieder werden von der Versammlung frei und zu beliebigen Zeiten bezeichnet. Bis zur erstmaligen Bezeichnung durch die Versammlung sind die Vertreter von Belgien, Brasilien, Spanien und Griechenland Mitglieder des Rates.

Mit Zustimmung der Mehrheit der Versammlung kann der Rat weitere Mitglieder des Völkerbundes bezeichnen, deren Vertretung im Rate von da an eine ständige sein soll. Mit der gleichen Zustimmung kann er die Zahl der von der Versammlung für die Vertretung im Rate gewählten Mitglieder erhöhen.

Der Rat versammelt sich sooft die Umstände es erfordern und wenigstens einmal im Jahr am Sitze des Völkerbundes oder au irgendeinem anderen zu bezeichnenden Orte.

Der Rat befindet in seinen Beratungen über alle Fragen, die in den Tätigkeitsbereich des Bundes fallen oder den Frieden der Welt berühren.

*) Im endgültigen Text des Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 ist, entsprechend der auch sonst in jenem Vertrag angewendeten Terminologie, statt der Namen der fünf hier aufgezählten Mächte der Ausdruck ,,die hauptsächlichsten alliierten und assozierten Mächte" gebraucht. Vgl, auch die Vorbemerkung zu Beilage II, 11.

Der Rat.

652

· '

Jedes Mitglied des Völkerbundes, das im Rate nicht vertreten ist, wird, so oft Beratungen stattfinden, welche seine Interessen besonders berühren, eingeladen werden, einen Vertreter zu entsenden, der mit Stimmrecjjt an diesen Verhandlungen des Rates teilnimmt.

Jedes im Rate vertretene Mitglied des Völkerbundes verfügt über eine einzige Stimme und kann auch nur einen Vertreter haben.

Verfahren.

Art. 5. Unter Vorbehalt ausdrücklich gegenteiliger Bestimmungen des vorliegenden Völkerbundsvertrages oder des Friedensvertrages*) werden die Beschlüsse der Versammlung und des Rates von den in der Sitzung vertretenen Mitgliedern des Völkerbundes einstimmig gefasst.

Alle Fragen des Verfahrens, die bei den Beratungen der Versammlung oder des Rates auftreten, einschliesslich die Bezeichnung von Kommissionen für die Untersuchung besonderer Angelegenheiten, werden von der Versammlung oder dem Rate geregelt und von der Mehrheit der in der Sitzung vertretenen Mitglieder des Völkerbundes entschieden.

Die erste Zusammenkunft der Versammlung, sowie die erste Zusammenkunft des Rates werden durch den Präsidenten der Vereinigten Staaten von. Amerika einberufen werden.

Sekretariat.

Art. 6. Das ständige Sekretariat wird am Sitze des Völkerbundes errichtet. Es umfasst einen Generalsekretär, sowie die erforderlichen Sekretäre und Beamten.

Der erste Generalsekretär wird im Anhang bezeichnet. In der Folge wird der Generalsekretär vom Rate mit Zustimmung der Mehrheit der Versammlung ernannt.

Die Sekretäre und die Beamten des Sekretariates werden vom Generalsekretär mit Zustimmung des Rates ernannt.

Der Generalsekretär des Völkerbundes ist von Rechts wegen Generalsekretär der Versammlung und des Rates.

Die Kosten des Sekretariats werden von den Gliedstaaten des Völkerbundes in dem Verhältnis getragen, das für das internationale Bureau des Weltpostvereins festgestellt ist.

Sitz und Immunitäten.

Art. 7. Der Sitz des Völkerbundes ist Genf.

Der Rat kann jederzeit beschliessen, den Sitz an einem ändern Ort einzurichten.

*) Es handelt sich um den Vertrag von Versailles vom 28. Juni 1919.

653

Alle Stellen des Völkerbundes und der ihm angegliederten Ämter stehen in gleicher Weise Männern und Flauen offen.

Die Vertreter der Mitglieder und die Beamten des Völkerbundes geniessen in Ausübung ihrer Amtsgeschäfte die diplomatischen Vorrechte und Befreiungen.

Die Gebäude und Grundstücke, die durch den Völkerbund, dessen Dienstzweige und Zusammenkünfte benutzt werden, sind unverletzlich.

Art. 8. Die Mitglieder des Völkerbundes anerkennen, dass Rüstuugsbedie Aufrechterhaltung des Friedens die Beschränkung der natio- schräukung.

nalen Rüstungen auf das Mindestmass verlangt, welches mit der nationalen Sicherheit und mit der Erfüllung der internationalen durch ein gemeinsames Vorgehen auferlegten Verpflichtungen vereinbar ist.

Der Rat wird unter Berücksichtigung der geographischen Lage und der besonderen Verhältnisse jedes Staates die Pläne dieser Rüstungsbeschränkung zwecks einer Prüfung und Entscheidung durch die verschiedenen Regierungen ausarbeiten.

Diese Pläne sollen wenigstens alle zehn Jahre einer neuen Prüfung und, gegebenenfalls, einer Revision unterzogen werden.

Nach Annahme dieser Pläne durch die einzelnen Regierungen kann die darin festgesetzte Rüstungsgrenze ohne Zustimmung des Rates nicht überschritten werden.

Die Mitglieder des Völkerbundes anerkennen, dass die Herstellung von Munition und Kriegsmaterial durch die Privatindustrie schweren Bedenken ruft. Sie betrauen den Rat mit der Aufgabe, Mittel und Wege ins Auge zu fassen, um die verderblichen Folgen einer derartigen Herstellung zu vermeiden. Dabei ist den Bedürfnissen derjenigen Mitglieder des Völkerbundes gebührende Rücksicht zu tragen, die nicht in der Lage sind, die zu ihrer Sicherheit notwendigen Mengen von Kriegsmaterial und Munition herzustellen.

Die Mitglieder des Völkerbundes verpflichten sich, in der offensten und vollständigsten Weise sich gegenseitig alle Auskünfte über den Massstab ihrer Rüstungen, ihre Heeres- sowie See- und Luftflottenprogramme und über den Stand derjenigen ihrer Industrien zu geben, die für den Krieg Verwendung finden können.

Art. 9. Es wird eine ständige Kommission gebildet, um dem Militär- und Rat über die Durchführung der Bestimmungen der Art. l und 8, Marinekomsowie im allgemeinen über militärische, maritime und aviatische ml381onFragen Gutachten zu erstatten.

Bundesblatt. 71. Jahrg.

Bd. IV.

46

654

Garantie von Art. 10. Die Mitglieder des Völkerbundes verpflichten sich, Gebiet und ( j- s territoriale Unversehrtheit und die bestehende politische UnU^bhäng'g- abhängigkeit aller Mitglieder des Völkerbundes zu achten und gegen jeden äusseren Angriff aufrechtzuerhalten. Im Falle eines solchen Angriffs, der Drohung oder Gefahr eines solchen Angriffs ist der Rat auf Mittel bedacht, die Erfüllung dieser Verpflichtung sicherzustellen.

Kriegsgefahr.

Art. 11. Es wird ausdrücklich erklärt, dass jeder Krieg und jede Kriegsdrohung, mag e'.n Mitglied des Völkerbundes dadurch unmittelbar berührt werden oder nicht, den ganzen Völkerbund angeht, und dass dieser die erforderlichen Massnahmen ergreifen soll, die als geeignet und wirksam erscheinen, um den Völkerfrieden aufrechtzuerhalten. In solchen Fällen beruft der Generalsekretär unverzüglich auf das Verlangen irgendeines Mitgliedes des Völker); undes den Rat ein.

Ferner wird erklärt, dass jeder Gliedstaat das Recht hat, in freundschaftlicher Weise die Aufmerksamkeit der Versammlung oder des Rates auf jeden Umstand hinzulenken, der geeignet ist, die internationalen Beziehungen zu beeinflussen, und der in der Folge den Frieden oder das gute Einvernehmen unter deu Nationen,, von dem der Friede abhängt, zu stören droht.

Verfahren in Art. 12. Alle Mitglieder des Völkerbundes kommen darin ' überein, dass, wenn sich zwischen ihnen eine Streitfrage erheben sollte, die zu einem Bruch führen könnte, sie diese entweder dem schiedsgerichtlichen Verfahren oder der Prüfung durch den Rat des Völkerbundes unterbreiten werden. Sie kommen ferner überein, in keinem Falle vor Ablauf einer Frist von drei Monaten nach dem Schiedsspruch oder dem Bericht des Rates zum Kriege zu schreiten.

In allen von diesem Artikel getroffenen Fällen soll der Schiedsspruch in einem angemessenen Zeitraum erlassen und der . Bericht des Rates innerhalb sechs Monaten nach der Vorlegung des Streitfalles erstattet werden.

SchietlsspreArt. 13. Die Mitglieder des Völkerbundes sind darin einig, clumg.

dass5 wenn sich zwischen ihnen eine Streitfrage erheben sollte, die nach ihrer Ansicht sich zu einer schiedsrichterlichen Lösung eignet, und, wenn der Konflikt auf diplomatischem Wege nicht in befriedigender Weise gelöst werden kann, die Frage in ihrer Gesamtheit der Schiedssprechung zu unterbreiten ist.

655 Als Streitfälle, die im allgemeinen einer schiedsrichterlichen Lüsung fähig sind, werden unter anderen diejenigen erklärt, welche sich auf die Auslegung eines Vertrages sowie auf jede Frage des internationalen Rechts, ferner auf die Tatsachen die, wenn bewiesen, den Bruch einer internationalen Verpflichtung bedeuten würden, sowie endlich auf das Mass oder die Art der für eine solche Rechtsverletzung geschuldeten Wiedergutmachung beziehen.

Das Schiedsgericht, dem die Angelegenheit unterbreitet wird, ist ein von den Parteien bestimmtes oder in deren früheren Verträgen vorgesehenes Gericht.

Die Mitglieder des Völkerbundes verpflichten sich, die ergangenen Schiedssprüche nach Treu und Glauben auszuführen und gegen kein Mitglied des Völkerbundes, das einem Schiedssprüche nachkommt, kriegerische Massnahmen zu ergreifen. Im Falle der Nichtausführung des Spruches schlägt der Rat die Massnahmen vor, die dessen Vollzug sichern sollen.

Art. 14. Der Rat hat den Plan eines ständigen internationalen Gerichtshof.

Gerichtshofes vorzubereiten und ihn den Mitgliedern des Völkerbundes vorzulegen. Dieser Gerichtshof wird über Streitigkeiten internationaler Natur befinden, welche ihm die Parteien unterbreiten werden. Er wird auch über alle ihm vom Rat oder der Versammlung vorgelegten Streitfälle oder Rechtsfragen Gutachten abgeben.

Art. 15. Entsteht zwischen den Mitgliedern des Völkerbundes Untersuchung eine Streitigkeit die zu einem Bruche führen könnte, so kommen, 7on Streitwenn dieser Konflikt nicht nach Massgabe des Art. 13 der Schieds- jTM (^rt° gerichtsbarkeit unterbreitet wird, die Mitglieder des Völkerbundes oder die überein, die Angelegenheit vor den Rat zu bringen. Zu diesem Versammlung.

/wecke genügt es, dass eine der Parteien von dem Streitfall dem Generalsekretär Kenntnis gibt. Dieser trifft alle Anordnungen für die Vornahme einer erschöpfenden Untersuchung und Prüfung.

In kürzester Frist sollen die Parteien eine Darlegung ihres Falles unter Anführung aller einschlägigen Tatsachen und mit Belegstücken übermitteln. Der Rat kann unverzügliche Veröffentlichung anordnen.

Der Rat soll sich bemühen, einen Vergleich herbeizuführen.

Wenn ihm dies gelingt, veröffentlicht er, soweit ihm gut scheint, eine Darlegung der Tatsachen, die erforderlichen Erläuterungen, sowie die Bestimmungen des Vergleichs.

Wenn der Streitfall auf diese Weise nicht geschlichtet werden kann, verfasst und veröffentlicht der Rat einen Bericht, um die

656

näheren Umstände des Streitfalles und die Lösungen, die er als die billigsten und im gegebenen Falle geeignetsten empfiehlt, zur Kenntnis zu bringen. Dieser Bericht wird entweder einstimmig angenommen oder mit Mehrheit zum Beschluss erhoben.

Jedes im Rate vertretene Mitglied des Völkerbundes kau r.

ebenfalls eine Darlegung der dem Streitfall zugrunde liegenden Tatsachen samt seinen eigenen Anträgen veröffentlichen.

Wenn der Bericht des Rates einstimmig angenommen wimlo -- wobei die Stimmen der Vertreter der Parteien nicht gezählt werden -- , verpflichten eich die Mitglieder des Völkerbundes, gegenüber keiner Partei, welche sich den im Bericht niedergelegten Anträgen fügt, kriegerische Massnahmen zur Anwendung zu bringen.

In dem Falle, dass es dem Rate nicht gelingt, seinen Bericht bei allen denjenigen seiner Mitglieder, die nicht Partei sind, zur Annahme zu bringen, behalten sich die Mitglieder des Völkerbundes das Recht vor, zur Behauptung des Rechts und zur Wahrung der Gerechtigkeit die ihnen geeignet scheinenden Schritte zu tun.

Wenn eine der Parteien behauptet, dass der Streitfall sich auf eine Frage bezieht, die nach Völkerrecht im ausschliesslichen Bereich ihrer eigenen Staatshoheit Hege, und der Rat die Berechtigung dieser Behauptung anerkennt, soll der Rat diese Tatsache in seinem Bericht feststellen, jedoch keine Lösung vor schlagen.

Der Rat des Völkerbundes kann in allen im gegenwärtigonArtikel vorgesehenen Fällen die Streitfrage vor die Versammlung bringen. Ebenso ist der Streitfall auf das Verlangen einer der beiden Parteien vor die Versammlung zu bringen, sofern dieses Verlangen binnen vierzehn Tagen nach Vorlegung der Streitfrage vor den Rat gestellt wird.

In allen Angelegenheiten, die der Versammlung unterliegen.

finden alle Bestimmungen des gegenwärtigen Artikels und des Artikels 12, welche auf die Tätigkeit und Befugnisse des Rates Bezug haben, in gleicher Weise auf die Tätigkeit und Befugnisse der Versammlung Anwendung. Es besteht Einverständnis darüber, dass ein Bericht, der von der Versammlung mit Zustimmung der Vertreter der Mitglieder im Rate und einer Mehrheit der anderen Mitglieder des Völkerbundes -- jeweilen unter Ausschluss der Vertreter der Parteien -- ausgearbeitet wurde, die gleiche Verbindlichkeit haben soll wie ein Bericht des Rates, den alle Mitglieder, mit Ausnahme der Vertreter der Parteien, einstimmig angenommen haben.

657 Art. 16. Sofern ein Glied des Völkerbundes in Missachtung Sanktionen, der Verpflichtungen aus Art. 12, 13 oder 15 zum Kriege schreitet, soll es ohne weiteres so angesehen werden, als hätte es eine Kriegshandlung gegen alle anderen Mitglieder des Bundes begaagen. Diese verpflichten sich, unverzüglich alle Handels- und Finanzbeziehungen mit ihm abzubrechen, jeden Verkehr ihrer Angehörigen mit denjenigen des bundesbrüchigen Staates zu untersagen und alle finan/iellen, kommerziellen und persönlichen Verbindungen zwischen den Angehörigen dieses Staates und denjenigen jedes ändern Staates, mag er Mitglied des Völkerbundes sein oder nicht, zu verhindern.

In diesem Falle ist der Rat verpflichtet, den verschiedenen beteiligten Regierungen die Stellung militärischer, maritimer oder aviatischer Streitkräfte anzuempfehlen, mit denen die Mitglieder des Völkerbundes für ihren Teil zu der bewaffneten Macht beizutragen haben, die dazu bestimmt ist, die Achtung der Bundesverpflich, tungen z,u erzwingen.

Die Mitglieder des Völkerbundes kommen außerdem überein, sich gegenseitig in der Anwendung der wirtschaftlichen und finanziellen Massnahmen zu unterstützen, die auf Grund dieses Artikels getroffen werden müssen, urn die Verluste und Nachteile, die aus diesen Massnahmen erwachsen können, auf ein Mindestmass zu beschränken. Sie werden sich desgleichen gegenseitig unterstützen, um gegen jede besondere Massregel, die von dem bundesbruchigen Staat gegen einen von ihnen gerichtet wird, Widerstand zu leisten. Sie tun die erforderlichen Schritte, um den Streitkräften jedes Mitgliedes des Völkerbundes, das an einer gemeinsamen Aktion zürn Schutz der Bundespflichten teilnimmt, den Durchzug durch ihr Gebiet zu erleichtern.

Jedes Mitglied des Völkerbundes, das sich der Verletzung einer aus dem Völkerbundsvertrag sich ergebenden Verpflichtung schuldig gemacht hat, kann aus dem Völkerbunde ausgeschlossen werden. Die Ausschliessung erfolgt durch Abstimmung aller anderen im Rate vertretenen Mitglieder des Völkerbundes.

Art. 17. Irn Falle eines Streitfalles zwischen zwei Staaten, von denen nur einer oder keiner dem Völkerbund angehört, wird der Staat oder werden die Staaten, die ausserhalb des Völkerbundes stehen, eingeladen, die den Mitgliedern des Völkerbundes obliegenden Verpflichtungen für die Beilegung des Streitfalles
auf sich zu nehmen, und zwar zu den Bedingungen, die der Rat für gerecht hält. Wird dieser Aufforderung Folge geleistet, so kommen die Art. 12 bis 16 unter Vorbehalt der vom Rate für notwendig befundenen Abänderungen zur Anwendung.

358

Sobald diese Aufforderung ergangen ist, eröffnet der Rat anverzüglich eine Untersuchung über die näheren Umstände des Streitfalles und schlägt diejenige Massnahme vor, die unter den gegebenen Umständen als dio geeignetste und wirksamste erscheint.

Wenn'der in dieser Weise eingeladene Staat sich weigert, lie Verpflichtung der Bundesmitgliedschaft für die Beilegung des Streitfalles auf sieh zu nehmen und gegen ein Mitglied des Völkerbundes zun> Kriege schreitet, so finden die Bestimmungen des Art. 16 auf ihn Anwendung.

Wenn beide aufgeforderten Parteien es ablehnen, die Verpflichtungen von Gliedstaaten für die Beilegung des Streitfällen a,uf sich zu nehmen, kann der Rat alle Massnahmen ergreifen und alle Vorschläge machen, die geeignet sind, Feindseligkeiten vorzubeugen und eine Schlichtung des Streites herbeizuführen.

Fertigung der Art. 18. Jeder Vertrag und jedes internationale Übereinkommen, Verträge. ( das in Zukunft von einem Mitgliede des Völkerbundes abgeschlossen

wird, soll sofort beim Sekretariat eingetragen und sobald als möglich von diesem veröffentlicht werden. Kein solcher Vertrag and kein solches internationales Übereinkommen ist vor der Eintragung verbindlich.

Nachprüfung Art. 19. Die Versammlung kann von Zeit zu Zeit die Mitder Verträge. glieder des Völkerbundes auffordern, eine Nachprüfung der uti-

inwendbar gewordenen Verträge, sowie der internationalen Verhältnisse vorzunehmen, deren Fortdauer den Frieden der Welt gefährden könnte.

Mit dein Art. 20. Die Mitglieder des Völkerbundes anerkennen, jedes Völkerbunds- für seinen Teil, dass der gegenwärtige Bundesvertrag alle Ververtrag unver- pflichtungen oder Abmachungen unter sich, die mit seinen Beeinbare Abmachungen. stimmungen im Widerspruch stehen, ausscr Kraft setzt, und ver-

pflichten sich feierlich, in Zukunft keine mit dem Völkerbundsvertrag unvereinbaren Abkommen einzugehen.

Sollte ein Mitglied vor seinem Eintritt in den Völkerbund mit diesem unvereinbare Verpflichtungen übernommen haben, so muss es unverzüglich Schritte unternehmen, um sich von diesen Verbindlichkeiten zu lösen.

Mit dem Art. 21. Die internationalen Übereinkommen, wie die SchiedVölkerbunds- gerichtsverträge und die regionalen Verständigungen, wie die vertragvereinbare Ab- Monroedoktrin, welche die Aufrechterhaltung des Friedens sichern, machungen. werden nicht als unvereinbar mit irgend einer Bestimmung des

gegenwärtigen Völkerbundsvertrages angesehen.

659

Art. 22. Die folgenden Grundsätze finden auf die Kolonien und Gebiete Anwendung, die infolge des Krieges aufgehört haben, unter der Hoheit der Staaten zu stehen, die sie vorher beherrschten, und die von Völkern bewohnt sind, die noch nicht fähig sind, sich unter den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen Welt selbst zu regieren. Das Wohlergehen und die Entwicklung dieser Völker bilden eine geheiligte Aufgabe der Zivilisation, und es geziemt sich, in den gegenwärtigen Völkerbunds vertrag Garantien für die Durchführung dieser Aufgabe aufzunehmen.

Der beste Weg, diesen Grundsatz wirksam zu gestalten, ist die Übertragung der Vormundschaft über diese Völker an fortgeschrittene Nationen, die auf Grund ihrer Hülfsmittel, ihrer Erfahrung oder ihrer geographischen Lage am besten imstande und bereit sind, diese Verantwortung zu tragen und auf sich zu nehmen.

Diese Nationen würden diese Vormundschaft als Mandatare und im Namen des Völkerbundes führen.

Die Art des Mandates muss je nach der Entwicklungsstufe des Volkes, der geographischen Lage des Gebietes, nach dessen wirtschaftlichen Bedingungen und nach anderen ähnlichen Umständen ein verschiedener sein.

Gewisse Gemeinwesen, die ehemals dem ottomanischen Reich angehörten, haben eine solche Entwicklungssufe erreicht, dass ihr Bestand als unabhängige Nationen vorläufig anerkannt werden kann, unter der Bedingung, dass die Ratschläge und Unterstützung einer Mandatarmacht ihre Verwaltung bis zu dem Zeitpunkt lenken, bis sie in der. Lage sein werden, sich allein zu regieren. Die "Wunsche dieser Gemeinwesen müssen bei der Wahl der Mandatare in erster Linie in Betracht gezogen werden.

Die Entwicklungsstufe, auf der sich andere Völker, insbesondere diejenigen Zentralafrikas, befinden, macht es erforderlich, dass der Mandatar in jenen Gegenden die Verwaltung des Gebietes unter den folgenden Bedingungen übernehme: Verbot von Missbräuchen, wie Sklavenhandel und Vertrieb von Waffen und Alkohol; Glaubens-und Gewissensfreiheit nur unter Beschränkungen, welche die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der guten Sitten gebietet; Verbot der Anlage' von Befestigungen, Heeres- und Flottenstützpunkten, sowie der militärischen Unterweisung von Eingebornen für andere Zwecke als für die Polizei oder die Verteidigung des betreffenden Gebietes; endlich gleiche
Möglichkeiten für Handel und Verkehr für die anderen Mitglieder des Völkerbundes.

Schliesslich gibt es Gebiete, wie den Südwesten Afrikas und gewisse Inseln der Südsee, die infolge ihrer geringen Bevölkerungs-

Mandate.

660

dichte, ihrer geringen Ausdehnung, ihrer Entfernung von den Mittelpunkten der Zivilisation, ihrer geographischen Nachbarschaft zur Mandatarmacht oder infolge anderer Umstände am besten vom Mandatarstaat nach seinen Gesetzen verwaltet werden können, als integrierender Bestandteil seines Gebietes unter Vorbehalt der Garantien, die vorstehend im Interesse der eingeborenen Bevölkerung vorgesehen sind.

In allen Fällen von Mandaten soll die Mandatarmacht dem Völkerbund jährlich einen Bericht betreffend die ihr übertragenen Gebiete erstatten.

Wenn das Mass von Machtbefugnis, Aufsicht oder Verwaltung, das dem Mandatar zusteht, nicht Gegenstand eines früheren Abkommens zwischen den Gliedern des Völkerbundes bildet, wird der Rat hierüber ausdrücklich Beschluss fassen.

Eine ständige Kommission wird den Auftrag haben, die jahrlichen Berichte der Mandatare entgegenzunehmen und zu prüfen und dem Rat ihre Ansicht hinsichtlich sämtlicher Fragen, die mit der Durchführung der Mandate zusammenhängen, bekanntzugeben.

Internationaler Wirkungskreis.

Art. 23. Unter Vorbehalt und in Übereinstimmung mit den Vorschriften der gegenwärtig zu Recht bestehenden oder später abzuschliessenden internationalen Übereinkommen erklären die Mitglieder des Völkerbundes : a. dass sie sich bemühen werden, gerechte und menschenwürdige Arbeitsbedingungen für Männer, Frauen und Kinder sowohl in ihren eigenen Gebieten wie auch in allen Ländern, auf die sich ihre Handels- und Gewerbeboziehungen erstrecken, aufzustellen und aufrechtzuerhalten, und dass sie /u diesem Zwecke die erforderlichen internationalen Organisationen errichten und unterhalten werden ; b. dass sie sich verpflichten, in den ihrer Verwaltung unterstellten Gebieten den eingebornen Rassen eine gerechte Behandlung angedeihen zu. lassen ; c. dass sie den Völkerbund mit der allgemeinen Überwachung über die Abkommen betrauen, die den Mädchen- und Kinderhandel, sowie den Handel mit Opium und ändern schädlichen Stoffen zum Gegenstand haben ; d. dass sie den Völkerbund mit der allgemeinen Überwachung des Waffen- und Munitionshandels mit denjenigen Ländern beauftragen, in denen diese Überwachung im gemeinsamen Interesse unentbehrlich ist;

IPW^

661 e. dass sic die erforderlichen Bestimmungen treffen werden, um die Freiheit der Verbindungswege und der Durchfuhr zu gewährleisten und aufrechtzuerhalten, sowie um eine gerechte Behandlung des Handels aller Mitglieder des Völkerbundes sicherzustellen. In dieser Hinsicht soll den besonderen Bedürfnissen der im Kriege von 1914--1918 verwüsteten Gebiete Rechnung getragen werden ; /'. dass sie sich bemühen werden, auf internationalem Boden Massnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten zu ergreifen.

Art. 24. Alle durch frühere Kollektivverträge errichteten Internationale Ämter.

internationalen Ämter sollen, vorbehaltlich der Zustimmung der Vertragsparteien, unter die Leitung des Völkerbundes gestellt werden. Das gleiche soll für alle andern künftig zu gründenden internationalen Ämter und Kommissionen zur Regelung von Angelegenheiten internationalen Interesses gelten.

Für alle Fragen von internationalem Interesse, die in allgemeinen Verträgen geregelt, aber der Überwachung durch Kommissionen oder internationale Ämter nicht unterstellt sind, soll das Sekretariat des Völkerbundes auf Verlangen der Vertragsparteien und mit Zustimmung des Rates alle zweckmässigen Erkundigungen einziehen und weiterleiten und jede notwendige oder gewünschte Mitwirkung leihen.

Der Rat kann die Auslagen für jedes Amt oder jede Kommission, die unter die Leitung des Völkerbundes gestellt ist, in die Auslagen für das Sekretariat einbeziehen.

Art. 25. Die Mitglieder des Völkerbundes verpflichten sich, Rotes Kreuz.

die Errichtung und die Zusammenarbeit der vorschriftsmässig anerkannten freiwilligen internationalen Rotkreuzorganisationen zu stützen und zu fördern, welche die Hebung der Gesundheit, die Verhütung von Krankheiten und die Linderung der Leiden der Menschheit bezwecken.

Art. 26. Die Abänderungen des gegenwärtigen Völkerbundsvertrages treten in Kraft, sobald sie von den Mitgliedern des Völkerbundes, deren Vertreter den Rat bilden, und von der Mehrheit derjenigen, aus deren Vertretern die Versammlung besteht, ratifiziert sind.

Jedem Mitglied des Völkerbundes steht es frei, die Abänderungen, die am Bundes vertrag angebracht werden, nicht anzunehmen. In diesem Fall hört es jedoch auf, Mitglied des Völkerbundes zu, sein.

Revision.

662

Anhang zum Bundesvertrag.

1. Ursprüngliche Mitglieder des Völkerbundes.

Signatare des Friedensvertrages: Vereinigte Staaten von Amerika Belgien Bolivien Brasilien Britisches Reich Canada Australien Südafrika Neuseeland Indien China Cuba .

Ecuador Frankreich Griechenland Guatemala

Haiti Hedschas Honduras Italien Japan Liberia Nicaragua Panama Peru Polen Portugal Rumänien Serbisch-kroatisch-slove-.

niseher Staat Siam Tschecho-Slowakieu Uruguay

Staaten, die eingeladen sind, dem Bundesvertrag- beizutreten : Argentinische Republik Chile Columbien Dänemark Niederlande Norwegen Paraguay

Persien Salvador Schweden Schweiz Spanien \ r enezuela

2. Erster Generalsekretär des Völkerbundes.

Sir James Eric Drummond.

i

s»SGw_ 'qfö^ '

G63

-A_nliang.

Erläuternde Bemerkuugeii zum Text des Völkerbundsvertrages.

Die wichtigsten Bestimmungen dos Völkerbundsvertrages werden in den Abschnitten I--X dieser Botschaft erläutert. In den folgenden Bemerkungen sollen Einzelbestimmungen des Vertrages, soweit sie nicht ohne weiteres verständlich und für die Schweiz von Interesse sind, erörtert werden, unter Verweisung ·auf die entsprechenden Abschnitte der Botschaft.

Als massgebende Originaltexte des Friedensvertrages mit Deutschland, dessen erster Teil der Völkerbunds vertrag bildet, gelten der französische und der englische, und zwar mit gleicher Kraft.

Was die ursprünglichen Mitglieder anbetrifft, vgl. oben, S. 589 f. ; betreffend die Frist, während welcher die eingeladenen Neutralen beitreten können, S. 625, betreffend die nachträgliche Aufnahme von Staaten S. 592; betreffend das Kündigungsrecht S. 633.

Nach Absatz 2 können auch Länder, die nicht souverän sind, aber eine volle Selbstverwaltung besitzen, als Gliedstaaten aufgenommen werden. Vorerst kommen in dieser Beziehung mir Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika, sowie Indien in Betracht. Ein Schutz dagegen, dass auf diese Weise einzelne Staaten sich indirekt eine Mehrheit von Stimmen verschaffen, ist dadurch geboten, dass es eine Zweidrittelmehrheit braucht, um die Aufnahme auszusprechen.

Der Vertrag ist lückenhaft in bezug auf das Verhältnis solcher autonomen Länder und Kolonien zu ihrem Multerstaat.

Da diese Staaten und Länder in einem Konflikt eine völkerrechtliche Einheit bilden, sollten sie boi Entscheidungen von Streitigkeiten, die eines von ihnen angehen, zusammen nach Art. 15, Abs. 6 und 10, in Ausstand treten. Richtigerweise sollte ein nichtsouveränes Mitglied nur soweit im Völkerbund stimmberechtigt sein, als es sich um Gegenstände handelt, für die das betreffende Mitglied international selbständig ist (z. B. Grenzfragen, wirtschaftliche Beziehungen, Einwanderung usw.).

Es ist zu beachten, dass die Versammlung an erster Stelle unter den Organen des Völkerbundes genannt ist. Prinzipiell und in Zweifelsfällen ist die Versammlung die oberste Vertretung des Völkerbundes. Sie befindet zumeist über organisatorische Fragen (Art. l, 6, 26), während die politische Aktion, insbesondere das Eingreifen in einzelne Fälle, fast ausschliesslieh in den Händen des Rates liegt (Art. 10, 1.1, 15, 16, 17).

Zu Art. 1.

Zu Art. 2.

664

Zu Art. 3.

Art 4.

Die Vertreter der Staaten in der Versammlung sind nicht nulwendig Regierungsvertreter ; immerhin können sie nur eine ein heitliche Staatenstimme abgeben. Über ihre Instruierung ist nichts gesagt. Die Vertretung im Rat ist mit derjenigen in der Versammlung vereinbar.

Die von der II. Haager Konferenz postulierte Periodizitiit, der allgemeinen Staatenversammlungen ist durch Art. (Ì gesichert.

Ein grosser Mangel ist es, dass das SelbstversammluDgsrec-ht bzw. das Recht einer Staatenminderheit, den Zusammentritt einer Konferenz zu verlangen, nicht geregelt ist.

Betreffend die Vorzugsstellung der Grossmächte, vgl. oben, S. 557 f. Das Verhältnis von 5 : 4 ist übrigens, untei Bezugnahme auf die Bevölkerungszahlen der Staaten, für die Nichtgrossmäehte nicht ungünstig (fünf Grossmächte zirka 700 Millionen, andere Staaten des Völkerbundes zirka 550).

Wann und wie die nichtständig vertretenen Staaten im Rate Platz finden, ist nicht geregelt. Hier muss eine Ergänzung des Vertrages eintreten. Das von der II. Haager Friedenskonferenz beschlossene Abkommen betreffend das internationale Prisengericht (Bundesbl. 1909, I, S. 74) z. B. sah für die Staaten, die nicht zu den damaligen acht Grossmächten gehörten, eine Vertretung im Turuus vor ; in dem Sinne, dass sie innei'halb einer Amtsperiode von zwölf Jahren während eines ihrer Bedeutung entsprechenden Zeitraumes vertreten sind. Auf diese Weise kommen alle Staaten an die Reihe, anderseits ist der Einfluss dieser Staaten bei zu häutigem Wechsel nicht gross. Es ist auch anlässlich der Konferenz der Neutralen die Möglichkeit erwogen worden, dass sich Gruppen von Staaten bilden können, um als Gruppe eine Vertretung im Rate zu erhalten.

Nach Absatz 2 kann die Zahl der ständigen und der von der Versammlung zu bezeichnenden Ratsmitglieder erweitert werden.

Eine Verschiebung des jetzigen Verhältnisses von 5 : 4 zu unguusten der Nichtgrossmächte ist nicht wohl möglich, da in beiden Fällen die Zustimmung der Staatenmehrheit erforderlich ist.

Der Rat wird, wenigstens bis normale, ruhige politische Verhältnisse zurückgekehrt sind, voraussichtlich in Permanenz funktionieren.

Nach dem schweizerischen Entwurf sollte der Mediationsrat ständig sein, um den unausgesetzten Kontakt aller Staaten an einer einheitlichen Stelle zu sichern. Die Frage bleibt offen, ob die im Rate nicht vertretenen Staaten Delegierte am Sitze des Völkerbundes unterhalten werden, wie dies der schweizerische Entwurf vorsieht (Art. 5).

665

Die Zuziehung von im Rat nicht vertretenen Staaten, weim deren besondere Angelegenheiten behandelt werden (Absatz 5), ist so zu verstehen, dass ein solcher Staat alle Mitgliedschaftsrechte -- einschliesslich des Vetorechtes -- in den betreffenden Fällen ausübt (englischer Text : to sit as a member). Darüber, ob ein Staat zugezogen werden nniss. entscheidet der Rat; wird der interessierte Staat aber nicht zur Mitberatung eingeladen, so ist ein ihn berührender Beschluss für ihn nicht verbindlich.

Diese Zuziehung erfolgt einerseits bei Streitigkeiten gemäss Art. 15, anderseits bei allen ändern Geschäften, bei denen spezielle Angelegenheiten eines nicht im Rate vertretenen Staates behandelt werden. Als Angelegenheiten, welche die Schweiz speziell interessieren, sind namentlich auch die mit der Neutralität zusammen^ hängenden Fragen zu betrachten. Nur bei Behandlung von Streitigkeiten gemäss Art. 15 werden die Stimmen der als Parteien interessierten Staaten nicht gezählt.

Die besondern Majoritäten, die der Friedensvertrag für gewisse Beschlüsse des Rates vorsieht, finden sich in § 40 des Reglements betreffend das Saargebiet, Art. 213 und 280 des Friedensvertrages. Vgl. Beilage V, 18.

Der Grundsatz der Einstimmigkeit entspricht den bisherigen Gepflogenheiten internationaler Versammlungen. Formell bietet er ein grosses Hindernis für Beschlüsse. Tatsächlich ist jedoch Einstimmigkeit oft leichter.als eine qualifizierte Mehrheit zu erreichen, da nicht ohne gewichtige Gründe ein Staat durch sein Veto eine direkte Verantwortung für das Nichtzustandekommen eines von den übrigen Mächten ernstlich gewollten Beschlusses übernimmt.

Eine Überstimmung einer Grossmacht könnte überdies leicht gefährliche Spannungen erzeugen und die Wirksamkeit des Völkerbundes auf eine schwere Probe stellen. Würde sich z. B. Amerika haben verpflichten sollen, in einen europäischen Konflikt zugunsten einer von der öffentlichen Meinung nicht gebilligten Sache miteinzugreifen? Das Einsümmigkeitsprinzip bietet in der Praxis eine ziemliche Anpassungsfähigkeit. Gleichzeitig liegt darin ein wirksames Gegengewicht gegen die Hegemonie des Rates. Es werden übrigens nur die Stimmen der in einer Sitzung vertretenen Staaten gezählt, so dass ein Staat sich durch Fernbleiben seines Vertreters leicht der Stimme enthalten kann.

Als eine Entscheidung
im Verfahren ist jedenfalls auch die Zulassung von im Rate nicht vertretenen Staaten nach Art. 4, Abs. 5, zu betrachten. Kommissionen, die spezielle Fälle zu untersuchen haben, sind namentlich die Untersuchungskommissionen, die zur Behandlung der nach Art. 15 zu. behandelnden Streitigkeiten zu bilden sind.

Zu Art. 5.

Abs. 1-

Abs. 2.

666

Art. 6.

Das Sekretariat soll einen durchaus internationalen Charakter haben und dementsprechend unter Berücksichtigung vieler Staaten zusammengesetzt sein.

Die Tätigkeit des Sekretariates ist, von der Besorgung der Sekretariatsgeschäfte der Versammlung und des Rates abgesehen, nicht näher bezeichnet. Vermutlich wird sie, wie bei ändern internationalen Ämtern, in der Sammlung und Bekanntgabe von allen für den Völkerbund wichtigen Informationen und in der Vorbereitung der Geschäfte der Versammlung und des Rates bestehen. Von besonderm Wert wäre die Einrichtung eines völlig unparteiischen internationalen politischen Nachrichtendienstes, wie ihn die schweizerische Expertenkommission postuliert hat.

Die Kosten des Sekretariates werden von allen Gliedstaaten nach dem Verhältnis des für den Weltpostvertrag aufgestellten und bereits von verschiedenen ändern Konventionen übernommenen Schlüssels getragen. Vgl. Beilage IV, 17.

Zu Art. 7.

vgl. oben, S. 586 ff.

Zu Art. 8 und 9.

Vgl. oben, S. 598 ff.

Zu Art. 10.

Für die Auslegung dieses Artikels ist nach unserer Auffassung insbesondere folgendes zu beachten (vgl. oben, S. 556 f.): a. Die Mitglieder des Völkerbundes verpflichten sich, nur den Besitzstand der Staaten gegen Angriffe (,,agression") zu schützen, nicht gegen jegliche Änderung. Die Möglichkeit der Änderung bestehenden Rechtes ist, wenigstens im Grundsatz, in Art. 19 anerkannt und kommt auch in den Äusserungen mehrerer autoritativer Verfasser des Völkerbundes zum Ausdruck.

b. Es kommen nur Angriffe von aussen, d. h. durch andere Staaten, in Betracht, also nicht innere Kämpfe, seien es soziale Bewegungen oder Bestrebungen zum Zweck der politischen Verselbständigung einzelner Landesteile. Der Völkerbund ist im Gegensatz zu der legitimistischen Heiligen Allianz und Pentarchie von 1815 keineswegs eine gegenseitige Versicherung der Regierungen.

c. Der Ausdruck ,,indépendance présente" im französischen Text gibt den englischen Wortlaut ,,existing indépendance" nicht richtig wieder. Im ursprünglichen französischen Text war ,,existing" nicht übersetzt. Nicht das 1919 bestehende Mass von Unabhängigkeit (volle Souveränität, Autonomie usw.) wird geschützt, sondern der Rechtszustand, wie er im Zeitpunkt des widerrechtlichen Angriffes besteht.

d. Der Rat kann nach diesem Artikel nur Ratschläge erteilen

667

(aviser, advise), nicht aber direkte Befehle. Auch ist mit keinem Wort die Rede von den in Art. 16 vorgesehenen allgemeinen Sanktionen ; diese greifen nur Platz, wenn gleichzeitig eine Verletzung der Art. 12, 13 oder 15 vorliegt.

Dafür, dass die Schweiz als dauernd neutraler Staat nicht aktiv an einer Gebietsgarantie beteiligt sein kann, sei auf den Vertrag vom 11. Mai 1867 betreffend die Neutralisierung Luxemburgs hingewiesen, in dem (Art. 2) Belgien, obwohl Vertragspartei, wegen seiner Neutralität, von der Garantiepflicht befreit wurde.

Vgl. oben, S. 555 f. und 574.

Zu Art. 11.

In diesem Artikel ist das Recht des Völkerbundes, jede Kriegsgefahr als eine . allgemeine Angelegenheit zu behandeln, anerkannt, und zwar bringt der jetzige Text, im Gegensatz zu demjenigen vom 14. Februar, den Gedanken, dass es sich um eine allgemeine Angelegenheit handelt, dadurch besonders zum Ausdruck, dass der V ö l k e r b u n d d i e erforderlichen vorbeugenden Massnahmen treffen soll, während dies ursprünglich dem völligfreien Ermessen der einzelnen Staaten überlassen bleiben sollte.

Der Gefahr, dass einzelne Regierungen von sich aus vorgehen und vollendete Tatsachen schaffen, wird wirksam dadurch vorgebeugt, dass auf Verlangen i r g e n d e i n e s Staates des Völkerbundes der Rat s o f o r t zusammentreten muss. Ohne eine manifeste Verletzung des Völkerbundsvertrages kann der Zusammentritt des Rates und damit die Befassung des Völkerbundes mit dem Konflikte nicht mehr vereitelt werden.

Über das durch Art. 12--15 vorgeschriebene Verfahren Zu Art. 12.

vgl. oben, S. 551 ff.

Ob eine Streitigkeit geeignet ist, zum Bruch zu führen, lässt sich zum voraus nicht bestimmen. Das nach Art. 12 obligatorische Verfahren muss jedenfalls durchgeführt werden, bevor ein Staat zum Kriege schreitet ; es soll aber schon dann eingeleitet werden, wenn der Konflikt eine Schärfe angenommen hat, dass er zum Bruche, nicht notwendigerweise zum Krieg, aber zum schroffen Abbruch der Verhandlungen (susceptible d'entraîner une rupture, likely to lead to a rupture) führen kann. Es ist von der allergrössten Wichtigkeit, dass die Streitigkeiten so früh als möglich durch das Friedens verfahren aus der Welt geschafft werden, nicht erst dann, wenn sie bereits eine derartige Schärfe erlangt haben, dass die Kriegsmöglichkeit ernstlich erwogen wird.
Aus dem gleichen Grund hat die schweizerische Delegation *) beantragt, dass -- wie im schweizerischen Vorentwurf, Art. 28 ff.)

---jeder Behandlung eines Streites durch ein Schiedsgericht oder den *) Beilage II, 10.

668

Rat eia Vergleichsverfahren vorangehen müsse. Auch die friedlichen Mittel des Art. 12 sollten nur ergriffen werden nach Erschöpfung aller derjenigen Möglichkeiten, die eine auf Verständigung der Parteien beruhende Lösung herbeizuführen geeignet sind.

Der Staat, der vor dorn Gericht oder dem Rat unterliegt, wird leicht verbittert werden. Überdies ist es aber auch das Interesse der kleineren, namentlich der im Rate nicht vertretenen Staaten, nur ausnahmsweise ihre Sache vor einem Forum vertreten zu müssen, für dessen Zusammensetzung mehr die politische Macht als die Unbefangenheit gegenüber den streitenden Parteien massgebend ist. In dieser Beziehung kann aber durch den Abschluss von Verträgen über obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit, die nach Art. 21 ausdrücklich vorbehalten sind, vorgesorgt werden.

Die Frist von drei Monaten ist in allen Fällen einzuhalten, d. h. nach der Fällung jedes Spruches, auch des in Art. 14 vorgesehenen Gerichtes, das -- wenn auch nicht ein Schiedsgericht im herkömmlichen Sinne -- doch ein Gericht der freien Wahl der Parteien ist. Und ebenso laufen die drei Monate nach Erstattung des Berichtes durch den Rat oder die Versammlung nach Art. 15. Ein solcher Bericht ist nicht identisch mit einem einstimmig oder mehrheitlich beschlossenen Ratschlag (conclusions, recommendations), sondern wird in jedem Falle erstattet, auch dann, wenn festgestellt wird (Art. 15, Abs. S), dass es sich um eine rein interne Angelegenheit handelt und der Völkerbund sich nicht einzumischen habe.

In Abs. 2 ist den Schiedsgerichten eine ,,angemessene1" Frist zur Durchführung des Verfahrens eingeräumt. Diese Frist ist jedenfalls, wie für den Rat. mindestens sechs Monate, da das formale gerichtliche Verfahren mit seinen konlradiktorischrm Erhebungen naturgemäss mehr Zeit beansprucht, als die freiere Behandlung vor einer politischen Instanz.

Zu Art. 13.

Es ist in hohem Grade zu bedauern, dass der Völkerbund die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit nicht bringt und somit hinter den Wünschen der grossen Mehrheit der II. Haager Konferenz zurückbleibt, welche das Obligatorium -- wenn auch verklausuliert und beschränkt -- gewollt hatte.

Der Artikel 13, Abs. 2, anerkennt wohl das Prinzip der Schiedsgerichtsbarkeit, und zwar in sehr weitem Umfange, statuiert aber nicht eine eigentliche Rechtspflicht. Immerhin
ist zu beachten, dass grundsätzlich jeder einer richterlichen Entscheidung zugängliche Streit, der durch direkte diplomatische Verhandlungen nicht hat beigelegt werden können, einem Schiedsgericht unterbreitet werden soll, nicht erst dann, wenn er sich so zuspitzt, dass er zum Bruche führen könnte.

669

Nach Art. 13 besteht für die Staaten die Pflicht, sich auf das gerichtliche Verfahren einzulassen nur, wenn sie sich dafür bereits durch einen Schiedsvertrag gebunden haben. Die meisten dieser -- auch von der Schweiz -- abgeschlossenen Verträge enthalten die sogenannten Ehren- und Interessenklausel, wonach ein Staat im Einzelfall bestimmt, ob seiner Ansicht nach der betreffende Streitfall sich zur richterlichen Entscheidung eignet. Auch nach Art. 13, Abs. l, bleibt es -- mangels einer gegenteiligen Bestimmung in einem Vertrage -- den Parteien überlassen, hierüber von sich aus zu entscheiden. Da hierdurch die praktische Verbindlichkeit der Schiedsverträge sehr herabgemindert ist, bat die Schweiz, entsprechend dem Vorentwurf der Expertenkommission, die Schaffung eines Kompetenzkonfliktshofes vorgeschlagen, um zu bestimmen, ob eine Streitigkeit entgegen dem Begehren des Klägers der Gerichtsbarkeit entzogen werden dürfe*). Leider ist sie damit nicht durchgedrungen.

Ohne eine Institution dieser Art wird eiae wirklich befriedigende Entwicklung der Schiedsgerichtsbarkeit kaum möglich sein. Der Kompetenzkonfliktshof sichert einerseits der .Rechtsprechung die Beurteilung aller Fälle, die sich zur richterlichen Beurteilungeignen, und verhindert anderseits, xlass die Schiedsgerichtsbarkeit in das rein politische Gebiet übergreift und deswegen entweder beargwöhnt oder abgelehnt wird oder aber dass die Richter statt üur Beurteilung nach Recht zu politischen Kompromissen im Interesse der Starken verleitet werden.

Nachdem ein Schiedsgericht gesprochen, ist jede kriegerische Aktion, auch nach Ablauf von drei Monaten, ausgeschlossen, sofern der durch das Gericht zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen verpflichtete Staat sich binnen drei Monaten dem Spruche unterwirft. Indessen ist die Selbsthülfe des Staates, dem gegenüber der Spruch erfüllt wird, nicht in erste Linie gestellt. Der Völkerbund selber trifft zunächst die Massnahmen, welche die Erfüllung des Spruches sichern sollen, ungleich den einstimmigen Ratsbeschlüssen, zu deren Vollstreckung der Völkerbund nicht verpflichtet ist mitzuwirken. Auf welche Weise der Völkerbund die Befolgung eines Schiedsspruches sichern wird, ist nicht bestimmt. Er wird, da die Voraussetzungen von Art. 16 nicht zutreffen, auf diplomatische Schritte sich beschränken oder den .Staaten,
die sich dazu bereit finden, andere Massnahmen, z. B.

wirtschaftliche Repressalien, empfehlen.

Dass in der Organisation des Völkerbundes ein Gerichtshof Zu Art. 1*.

noch fehlt, ist eine grosse Lücke ; indessen ist die Errichtung *) Vgl. Beilage II, 10.

Bundesblatt. 71. Jahrg. Bd. IV.

47

670

dieses Gerichtes in der Antwort der Konferenz an die Neutralen als eine erste Aufgabe des Völkerbundes erklärt worden, und es werden auch die ersten vorbereitenden Schritte bereits unternommen.

In Anlehnung an den schweizerischen Vorentwurf (Art. 12 ff.)

hat die Schweiz an der Konferenz der Neutralen*) einen Vorschlag betreffend Organisation eines ständigen internationalen Gerichtshofes gemacht, der alle Garantien der Unabhängigkeit von politischen Einflüssen bieten würde. In Anbetracht des Umstandes, dass die zweite Haager Konferenz kein positives Resultat in dieser Sache erzielt hat, weil sich die Grossmächte in der Organisation des Gerichtes eine Vorzugsstellung sichern wollten, ist zu hoffen, dass das Gericht des Völkerbundes eine allen Staaten annehmbare Lösung bieten werde. Der schweizerische Vorschlag, mit dem auch in diesem Punkte der Gegenentwurf der deutschen Friedensdelegation fast völlig übereinstimmt, wäre geeignet, eine praktische und grundsätzlich unanfechtbare Organisation des Gerichts zu schaffen.

Der internationale Gerichtshof ist nur zuständig, wenn beide Parteien sich ihm unterwerfen wollen-, er ist nicht, wie nach dem schweizerischen Vorentwurf (Art. 37), überall da zuständig, wo sich die Parteien nicht in angemessener Frist auf ein Schiedsgericht einigen können.

Eine wertvolle, sich mit Art. 55 des schweizerischen Vorentwurfs nahe berührende Bestimmung enthält der letzte Satz von Art. 14. Die vor den Rat oder die Versammlung gebrachten Streitigkeiten werden häufig ganz oder doch zum Teil reine Rechtsstreitigkeiten sein, deren Entscheidung durch eine wesentlich politische Instanz unzweckmässig ist. Dieser Fall wird namentlich dann eintreten, wenn eine Partei sich zu Unrecht dem Schiedsverfahren entzogen hat. Dann kann der Rat, bzw. die Versammlung die Rechtsfragen dem Gerichtshof zur Begutachtung vorlegen.

Die Äusserung des Gerichts ist dann zwar kein vollstreckbarer Spruch, aber sie wird wohl häufig die Grundlage eines einstimmigen, den Frieden gebietenden Vorschlages dos Rates sein und dadurch einer Umgehung der grundsätzlichen Pflicht zur Einlassung auf das Rechtsverfahren wirksam vorbeugen.

Zu Art. 15.

Ungleich dem Schiedsverfahren, mit dem beide Parteien einAbs. l und 2. verstanden sein müssen, kann eine einzelne Partei die Durchführung des Verfahrens nach Art. 15 verlangen. Wenn sich die Gegenpartei diesem entziehen wollte, würde sie den Völker*) Beilage II, 10.

671

bundsvertrag verletzen und das Verfahren nähme ohne sie seinen Gang. Der Rat hat die Befugnis, schon im ersten Stadium die Angelegenheit durch Publikation vor die weiteste Öffentlichkeit zu bringen. Leider fehlt eine ausdrückliche Verpflichtung der Staaten bzw. der Presse, für die tatsächliche Verbreitung einer solchen Publikation des Völkerbundes zu sorgen, wie dies die schweizerische Expertenkommission postuliert hat.

In erster Linie sucht der Rat einen Vergleich (règlement, Abs. 3.

seulement) herbeizuführen, d. h. eine von beiden Parteien freiwillig angenommene Lösung. Vorgängig dieses Vergleichsversuchs wird eine Untersuchung des Falles in der Regel nötig sein. Für die Untersuchung wird es sich empfehlen, im Sinne der ersten Haager Konvention von 1907 eine paritätische Kommission zu bilden, die auch einen Vergleichsvorschlag machen sollte. Von verschiedenen neutralen Staaten, nicht nur von der Schweiz, wird grosses Gewicht darauf gelegt, dass vom Rate unabhängige, absolut unparteiische Organe diese Untersuchungen und Vergleichsverhandlungen führen. Art. 15 schliesst dies nicht aus, schreibt es aber auch nicht vor.

Absatz 4 und 5 ordnen das Verfahren, das Platz greift, wenn Abs. 4 und 5.

ein Vergleich nicht zustande kommt. In jedem Falle (ausser bei Absatz 8) muss der Rat -- einstimmig oder mehrheitlich -- einen Vorschlag machen, welcher der Billigkeit und Zweckmässigkeit entspricht; er ist nicht an materielle Rechtsnormen gebunden.

Alle im Rate vertretenen Staaten -- wozu in jedem Falle die Parteien gehören -- können ihre Feststellungen und Anträge publizieren; das wird namentlich von Seiten der Ratsminderheit oder der nicht befriedigten Partei geschehen und wohl weitere Publikationen von der ändern Seite nach sich ziehen.

Absatz 6 und 7 regeln die Wirkungen der Berichterstattung Abs. 6 und des Rates. Ist der Bericht mit Einstimmigkeit der nicht beteiligten Staaten beschlossen worden, so hat das zur Folge, dass keine Partei -- und wohl nicht nur die ursprüngliche Klägerin -- wegen der durch den einstimmig gemachten Vorschlag erledigten Sache Krieg führen darf, sofern die andere Partei den aus dem Vorschlag sich für sie ergebenden Pflichten nachkommt. Ungleich der entsprechenden Bestimmung des Entwurfes vom 14. Februar 1919 und derjenigen des Art. 13 betreffend Schiedssprüche setzt sich
der Völkerbund nicht direkt für die Vollstreckung ein. Diese bleibt den Parteien überlassen : zunächst der Partei, die die Pflichten aus dem Vorschlag zu erfüllen hat, und, wenn diese sich weigert, der ändern Partei, die nach frühestens drei Monaten

672

sich selbst Recht schaffen darf. Nur dann, wenn trotz Befolgung des Vorschlages durch die eine Partei die andere doch Krieg beginnt, treten gegen den Friedensbrecher die Sanktionen des Art. 16 ein.

Der Umstand, dass sich der Völkerbupd nicht positiv für seine Vorschläge einsetzt, hat den Vorteil, dass unter solchen Umständen die Einstimmigkeit viel leichter zu erreichen sein wird. Dieses System hat allerdings einen grossen Nachteil : wenn der belangte Staat sich im Besitz befindet, so bleibt dem Belangenden, auch wenn ihm der Rat einstimmig recht gibt, nichts übrig als die Selbsthülfe, wenn die Gegenpartei nichtTreiwillig erfüllt. Die Möglichkeit, sich durch Krieg oder andere Selbsthülfe Recht zu verschaffen, ist aber in vielen Fällen für den Berechtigten völlig illusorisch, namentlich für einen kleinen Staat in der Lage der Schweiz.

Wird die Einstimmigkeit nicht erreicht, so erhalten nach drei Monaten die Parteien volle Handlungsfreiheit, d. h. sie können zum Kriege schreiten.

Eine schwierige Frage, die zu verschiedenen Interpretationen Anlass gegeben hat, bildet das Verhältnis der übrigen Staaten zu den Streitparteien in diesem Falle. Der Ausdruck ,,die Mitglieder des Völkerbundes" in Absatz 6 und 7 kann an sich alle Mitglieder, ohne Unterschied, bedeuten oder aber nur die Mitglieder, auf welche die aus Art. 12 und 15 resultierenden Verpflichtungen als Parteien im vorliegenden Falle Anwendung finden.

Würde man die erstere Auslegung annehmen, so käme man zum Resultat, dass immer, wenn die Einstimmigkeit des Rates nicht erreicht wird, alle Staaten des Bundes freie Hand erhielten.

Das würde dann auch für solche gelten, die an dem Verfahren, wenn dieses nicht vor die Versammlung gezogen worden ist, vielleicht gar keinen Anteil gehabt haben. Dass die Parteien Krieg führen können, ist sicher. Hätten aber andere Staaten das gleiche Recht? Man könnte dies meinen, da in Absatz 7 von keinem Unterschiede die Rede ist. Indessen erscheint eine solche Auslegung nicht nur unannehmbar, weil sie eine sehr starke Abschwächung des ganzen Völkerbundes bedeutete und mit dessen Grundtendenz der Friedenssicherung schlechterdings unvereinbar wäre, sondern sie würde auch dem Art. 12 direkt widersprechen. Dieser Fundamentalartikel schreibt für alle Fälle die Einhaltung eines bestimmten Verfahrens vor, und zwar
vorgängig jedem Kriege. Der Umstand, dass eine einstimmige Erledigung im Konflikt zwischen zwei Staaten nicht erreicht wird, kann dritte Staaten nicht von den ihnen aus Art. 12 erwachsenden

673

Pflichten befreien. Wenn ein Staat auf Grund einer Defensivallianz sich gegebenenfalls auf die Seite der einen Partei stellen will, so muss er sich dieser als Streitgenosse schon im Verfahren anschliessen oder selber ein neues Verfahren einleiten. Es geht aus Art. 15 deutlich hervor, dass ein Staat nicht gleichzeitig Partei und Richter sein darf -- ein übrigens selbstverständlicher Grundsatz. Partei ist aber nicht nur der, welcher im friedlichen Verfahren Partei ist, sondern noch vielmehr der, welcher sich am allfällig folgenden gewaltsamen Konflikt beteiligen will.

Viel natürlicher und dem ganzen Aufbau der Art. 12--15 besser entsprechend erscheint die Auslegung, wonach die Bestimmungen in Absatz 6 und 7 nur die am Streite beteiligten Mitglieder des Völkerbundes betreffen. Jn Art. 12 übernehmen diese im Hinblick auf mögliche Streitigkeiten und für ihre gegenseitigen Beziehungen bestimmte Pflichten. Art. 15 enthält Ausführungsbestimmungen zu Art. 12 ; er setzt fest, was je nach dem Ergebnis der Intervention des Rates eintritt : im einen Fall bleibt eine Bindung der Parteien bestehen, im ändern Fall wird diese, nach Ablauf von drei Monaten, aufgehoben.

Aus dem Umstände, dass in Art. 15, speziell auch in Absatz 6 und 7, von ,,Parteien11 die Rede ist, kann nicht geschlossen werden, dass im übrigen jeweilen alle Mitglieder des Völkerbundes gemeint seien. Die Parteien sind in bëzug auf Ermittlung der Stimmabgabe als solche bezeichnet, weil sie nicht in ihrem gegenseitigen Verhältnis, sondern im Verhältnis zu den unbeteiligten Staaten dort bezeichnet werden sollen. Der Satz, dass ,,die Mitglieder des Völkerbundes gegenüber keiner Partei, welche sich' den im Bericht niedergelegten Anträgen fügt, kriegerische Massnahmen zur Anwendung bringen" bedeutet, dass ein kriegerisches Vorgehen in diesem Falle gegen jeden Staat ausgeschlossen ist, d. h. gegen jede einzelne unter mehreren Parteien und ohne Rücksicht darauf, welche Partei die ursprüngliche Klägerin ist.

Nach der hier vertretenen Auslegung bewirken die Vorschriften des Artikels 12, dass die allfälligen kriegerischen Konflikte zwischen den Staaten auf diejenigen beschränkt bleiben, welche als Parteien an dem Friedensverfahren teilgenommen haben. Die übrigen Staaten dagegen können ihren Einfluss auf die Austragung der Streitigkeit in den Formen ausüben,
die nicht den Bestimmungen des Völkerbundes widersprechen. Sie sind deswegen nicht zu einer völligen Passivität verurteilt oder gehalten, beiden Parteien gegenüber die gleiche Haltung einzunehmen.

Die Befugnis zum unmittelbaren militärischen Einschreiten könnten

674

die Mitglieder des Völkerbundes höchstens aus Art. 10 ableiten, aber auch in diesem Falle nur zu rein defensiven Zwecken.

In diesem Sinne müsste auch die Handlungsfreiheit der Mitglieder des Völkerbundes, die nicht Partei sind, ausgelegt werden, wenn unter ,,Mitgliedern des Völkerbundes" jeweilcn alle Staaten gemeint wären.

Abe. 8.

Der in diesem Absatz ausgesprochene Gedanke ist folgender : Angelegenheiten, die nach Völkerrecht eine interne Angelegenheit eines Staates sind, d. h. hinsichtlieh welcher ein Staat für die Betätigung seiner Staatsgewalt weder durch Verträge noch durch das gemeine Völkerrecht gebunden ist, gehen den Völkerbund nichts an. Dieser soll sich auch nicht durch unverbindliche Ratschläge in die innern Angelegenheiten seiner Glieder einmischen.

Abs. 9 und 10.

Die in Art. 15 dem Rat zugeschriebenen Kompetenzen kommen in völlig gleicher Weise der Versammlung zu, sobald diese vom Rat oder durch Begehren einer Partei mit der Sache befasst wird. Es entscheidet aber nur die .eine oder andere Instanz ; ein Appellationsverfahren gibt es nicht. Die Möglichkeit, jede Streitigkeit vor die Versammlung zu bringen, ist eine ganz wesentliche Garantie für die im Rat nicht vertretenen Staaten.

Ursprünglich war auch die Einstimmigkeit der Versammlung vorgesehen ; damit wäre aber die Einstimmigkeit fast ausgeschlossen gewesen. Die Schweiz beantragte*) Festsetzung einer hochqualifizierten Mehrheit; die jetzige Fassung erreicht in etwas anderer Form ungefähr den gleichen Zweck.

Zu Art. 16.

Die Bedeutung und Wirkung des Art. 16 ist oben, S. 576 und 615 ff., beleuchtet worden.

Abs. l.

Durch diesen Artikel wird ein für allemal, unter bestimmten Voraussetzungen, der Kriegszustand erklärt ; es braucht somit keine besondern Beschlüsse mehr wie eine Kriegserklärung. Betreifend die Bedeutung dieses Artikels für die neutrale Schweiz vgl. oben, S. 576 ff.

Die ausdrückliche Erwähnung der Art. 12, 13 und 15 erlaubt nicht, den Art. 16 auf die Verletzung anderer Vertragsbestimmungen auszudehnen.

Ob ein Bruch des Völkerbundes vorliegt, wird in der Regel klar sein ; gegebenenfalls wird der Rat -- oder, wenn der Streit vor der Versammlung hängig ist, die letztere Instanz -- konstatieren, ob die Voraussetzungen von Art. 16 zutreffen.

*) Beilage II, 10.

675

Im Gegensatz zu Absatz l handelt es sich hier um Aktionen, zu denen die Staaten nur soweit verpflichtet sind, als sie eine entsprechende Pflicht im Rate selbst übernehmen oder im voraus durch Defensivallianzen unter sich übernommen haben.

Da die wirtschaftlichen Massnahmen in sehr verschiedenem Mass auf die einzelnen, sie anwendenden und natürlicherweise auch retorsionsweise von Gegenmassregeln betroffenen Staaten wirken, ist die gegenseitige Aushülfe ein unentbehrliches Korrelat der Solidarität gegenüber dem Friedensbrecher.

Die Gewährung des Durchzuges, die eine gegenseitige Unterstützung auf militärischem Gebiet darstellt, erfolgt ohne weiteres ;, es bedarf dazu keines Beschlusses des Rates und keiner Zustimmung des Staates, dessen Gebiet beansprucht wird; nur über die Modalitäten (Benutzung der Bahnen etc.) bedarf es einer Verständigling.

Der Absatz 4 enthält seiner Fassung nach eine allgemeine Straf bestimmung, die bei jeder Verletzung des Völkerbundsvertrages Anwendung finden könnte. Indessen muss aus der Einreibung dieser Bestimmung in den Art. 16, der die Sanktionen von Verletzungen der Art. 12, 13 und 15 enthält, gefolgert werden, dass auch die Ausschliessung sich nur gegen den Friedensbrecher richtet und bezweckt, einen solchen Staat von der weitern Mitwirkung im Rat und in der Versammlung auszuschliessen (vgl.

S. 563).

Betreffend die Stellung von Staaten ausserhalb des Völkerbundes vgl. oben, S. 593.

Grundsätzlich ist das Verfahren nach Art. 17 das gleiche wie das für die Mitglieder des Völkerbundes nach Art. 12/15. In bezug auf Art. 15 sind immerhin folgende Unterschiede zu beachten : a. Der Rat kann nach Absatz l die allgemeinen Vorschriften in der ihm gerecht scheinenden Weise ändern. Billigerweise sollte dies im Sinne der Schaffung von besondern Garantien der Unparteilichkeit geschehen.

b. Wenn das Verfahren durchgeführt wird, so kann deiRat die ihm notwendig erscheinenden Modifikationen ad hoc in bezug auf die Art. 12--16 beschliessen. Bin so wesentliches Recht wie die Anrufung der Versammlung sollte dabei aber nicht geschmälert werden dürfen.

Diese wichtige Vorschrift bezieht sich nur auf künftige Verträge. Dieser Beschränkung kommt jedoch keine grosse Be-

Abs. 2.

Abs.3.

.

Abs. 4.

.

Zu Art. 17.

Zu Art. 18.

676

deutung zu, da nach Art. 20 alle mit dem Völkerbund unvereinbaren älteren Verträge aufgehoben sind, soweit sie unter den Gliedern des Völkerbundes bestehen, oder baldigst aufgehoben werden sollen, soweit andere Staaten daran beteiligt sind.

Für die Mitglieder des Völkerbundes in ihren gegenseitigen Beziehungen ist der Völkerbund der neuere, dem altern Recht delegierende Vertrag und in bezug auf künftige Abmachungen das höhere, den partikulären Abmachungen vorgehende Recht.

Seine Stellung ist ähnlich derjenigen, welche im Staatsreeht die Verfassung im Verhältnis zur gewöhnlichen Gesetzgebung einnimmt.

Die Registrierung ist die Voraussetzung der völkerrechtlichen Gültigkeit; nicht die Publikation durch das Sekretariat. Es ist aber anzunehmen, dass alle Glieder des Völkerbundes das Recht haben, in das Vertragsregister des Sekretariates Einsicht /u nehmen.

Die EintragungspHicht betrifft alle Abkommen der Mitglieder des Völkerbundes, gleichviel welcher Art. Formlose Verständigungen, von denen jede Partei beliebig zurücktreten kann,, fallen nicht unter die Vorschrift.

Zu Art. 19.

Ohne eine unmittelbare Verpflichtung der Staaten oder eine Kompetenz des Völkerbundes zu statuieren, spricht dieser Artikel den wichtigen Grundsatz der Weiterentwicklung des bestehenden?

Rechtes und der Änderung der erworbeneu Rechte ans.

Zu Art. 20.

Vgl. hierzu die Bemerkungen zu Art. 18.

Zu Art. 21.

Über das Verhältnis der schweizerischen Neutralität zu diesem Artikel vgl. oben, S. 571 und 628.

Der Ausdruck ,,regionalen Verständigungen'1 lässt für verschiedene Auffassungen Raum ; es ist denkbar, dass ortlich benachbarte Staaten innerhalb des Völkerbundes engere Gemeinschaften bilden, um unter sich intensiver die Grundsätze des Völkerbundes zu entwickeln. Die panamerikanische Union wäre ein derartiges Gebilde.

Die obligatorischen Schiedsverträge stehen mit dem Völkerbund keineswegs im Widerspruch, da nichts die Staaten hindert, sich auf die richterliche Entscheidung ihrer Konflikte nach Art. 13 festzulegen. In diesem Zusammenhang ist auf die Weitergeltung des Haager Abkommens betreffend friedliche Erledigunginternationaler Streitigkeiten hinzuweisen.

Zu Art. 22.

Dieser Artikel, der nur eine mittelbare Bedeutung für die Schweiz hat, enthält mit Ausnahme der drei letzten Absätze,

677

die von der Aufsicht des Völkerbundes über die Mandatsverwaltung sprechen, keine eigentlichen Rechtsvorschriften. Eientwickelt ein Programm für die Verwaltung der vom Deutschen Reich abgetretenen Kolonien und der vom Osmanischen Reich loszulösenden Gebiete.. Eine ständige Kommission des Völkerbundes sammelt die von den Mandatarstaaten jährlich zu erstattenden Berichte und gibt darüber ihren Befund ab.

Dieser Artikel, wie der vorhergehende, stellt in der Hauptsache keine unmittelbaren Verpflichtungen für die Staaten auf, sondern entwickelt ein Programm für die Tätigkeit des Völkerbundes auf dem Gebiet der Wirtschafts- und der Wohlfahrtspolitik.

Zu Art. 23.

Die in lit. a in Aussicht genommene Organisation zum Ausbau des internationalen Arbeitsrechtes hat ihre erste Verwirklichung im XIII. Teile des Friedens Vertrages mit Deutschland gefunden (vgl. oben, S. 620 ff. und Beilage VI).

Durch die in lit. b aufgestellte Forderung gerechter Behandhing der eingebornen Bevölkerungen werden für alle Staaten die Grundsätze verbindlich erklärt, die nach Art. 22 in den Mandatarkolonien gelten. Diese Bestimmung, zusammen mit derjenigen von lit. d betreffend Verbot des Waffenhandels, beschlägt ein Gebiet, das bereits durch verschiedene internationale Übereinkommen teilweise geregelt ist (Kongoakte vom 26. Februar 1885, Brüsseler Antisklavereiakte vom 2. Juli 1890, Algecirasakte vom 7. April 1906).

Die Bekämpfung gewisser unsittlicher und gemeingefährlichei1 Formen des Handels, die schon vor dem Kriege durch internationale Verträge unternommen wordin ist, soll unter der Oberaufsicht des Völkerbundes weiter verfolgt werden (Abkommen zur Unterdrückung des Mädchenhandels vom 18. Mai 1904, Opiummonopol des Art. 72 der Algecirasakte).

Aus dem gleichen Grunde wie im Falle von lit. c ist dem Völkerbund die internationale Hygiene, die Verhütung und Bekämpfung der Epidemien übertragen, da eine wirksame Aktion nur auf breitester Basis und unter planmässiger Zusammenfassung und Verwertung aller örtlichen Tätigkeilen möglich ist. Das wichtigste auf diesem Gebiete schon bestehende Abkommen ist das internationale Übereinkommen betreffend Massregeln gegen Pest, Cholera und Gelbfieber vom 3. Dezember 1903.

Die Tätigkeit des Völkerbundes für die Volksgesundheit soll durch die in Art. 25 erwähnte Rotkreuz-Organisation gefördert und popularisiert werden.

Lit. a.

Lit. b.

Lit. d.

Lit. c.

Lit. f.

678

Lit. e.

Das überaus wichtige Gebiet der wirtschaftlichen Beziehungen hat im Völkerbundsvertrag leider eine äusserst spärliche Berücksichtigung gefunden. Vgl. hierüber oben, S. 612 ff.

Zu Art. 24.

Internationale Bureaux, d. h. durch Staatsverträge eingesetzte Ämter zur Wahrnehmung von durch diese Abkommen geregelten Geschäften, sind bereits in grosser Zahl vorhanden, wovon eine Reihe der wichtigsten in Bern (Bureaux des Weltpostvereins und der internationalen Telegraphenunion, internationales Amt für geistiges Eigentum, Bureau der Union für Eisenbahn frachtverkehr; ferner das internationale Landwirtschaftsinstitut in Rom, das Amt der Meter-Union in Paris u. a. m.). Diese Ämter sollen, unter Zustimmung der an den betreffenden Unionen beteiligten Staaten, unter die Oberaufsicht des Völkerbundes gestellt werden, während diese Aufsicht, meist mit dem Ernennungsrecht verbunden, bis jetzt in der Regel der Regierung des Landes zusteht, in dem das internationale Amt seinen Sitz hat. Die Möglichkeit, die Zustimmung der Vertragsstaaten zu der Neuordnung zu erlangen, ist mittelbar durch die Kündbarkeit der Unions vertrage gegeben. Namentlich werden aber alle erst noch zu schaffenden internationalen Bureaux und ständigen internationalen Kommissionen dem Völkerbund unterstellt werden, so dass mit der Zeit sich eine internationale Verwaltung im Völkerbund herausbilden wird.

In denjenigen Fällen, in denen keine besondern Bureaux oder Kommissionen gebildet werden, können die betreffenden Funktionen mit Zustimmung des Rates dem Sekretariat des Völkerbundes selber übertragen werden.

2u Art. 25.

Art. 25 ist in den Völkerbundsvertrag aufgenommen worden auf Wunsch eines Komitees, das aus den Vertretern der nationalen Rot-Kreuz-Vereine Amerikas, Frankreichs, Grossbritauniens, Italiens und Japans zusammengesetzt ist. Diese Vereine haben die Bildung einer Liga der Vereine des Roten Kreuzes beschlossen, ausgehend von der Ansicht, dass die im Laufe des Krieges im Zeichen des Roten Kreuzes entfaltete Liebestätigkeit keinen Unterbruch erfahren sollte. Die Statuten dieser Liga enthalten ein dem Art. 25 entsprechendes Programm der Friedensarbeit. Um einen besondern Dankesbeweis dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes in Genf zu geben, haben die Gründer der Liga deren Sitz ebenfalls in dieser Stadt errichtet. Alle nationalen
Rot-Kreuz-Vereine der alliierten und neutralen Länder sind zum Beitritt eingeladen worden ; die meisten von ihnen haben bereits zustimmend geantwortet. Die Einladung wird wahrscheinlich

679

auch auf alle nationalen Vereine des Roten Kreuzes ausgedehnt werden, sobald der Völkerbund einen universellen Charakter hat.

Die Möglichkeit, einen Staatsvertrag durch Mehrheitsbeschlüsse Zu Art. 26.

abzuändern, ist eine radikale und völlige Neuheit auf dem Gebiet des internationalen Rechts. Die bisherigen internationalen Unionen bleiben, im Falle der Revision, in der bisherigen Form für diejenigen Vertragsstaaten bestehen, die den revidierten Vertrag nicht ratifizieren. Das Nebeneinanderbestehen älterer und neuerer, im wesentlichen übereinstimmender Abkommen ist beim Völkerbund unmöglich, da dieser grossenteils organisatorische Bestimmungen enthält: daher die Vorschrift, dass der revidierte Vertrag für alle Mitglieder verbindlich ist und den alten völlig ersetzt.

Da indessen die Staaten kaum heute schon bereit wären, einem Beschlüsse anderer Staaten sich zum vornherein zu unterwerfen, ist den dissentierenden Staaten das Recht des Rücktrittes eingeräumt. Dieses Recht ist unentbehrlich für diejenigen Staaten, die im Rate nicht vertreten sind und deshalb das jenen Staaten nach Art. 26 zugestandene Vetorecht nicht besitzen. Es entspricht diese Ordnung im Prinzip einem von der Schweiz gestellten Antrage*). Der schweizerische Antrag wollte aber nur den Rücktritt wegen wesentlicher Änderungen zulassen, wobei eine richterliche Instanz gegebenenfalls über das Vorhandensein dieser Voraussetzung entschieden hätte.

Über das Revisionsverfahren fehlt es noch an näheren Bestimmungen. Es ist anzunehmen, dass die Versammlung über die Revision berät und beschliesst. Der Beschluss wird aber erst rechtskräftig, wenn er von den einzelnen Staaten ratifiziert worden ist und wenn sich dabei die in Art. 26 geforderte qualifizierte Mehrheit ergibt. Es muss angenommen werden, dä'ss für den Beschluss der Versammlung, der den einzelnen Staaten zur Ratifikation unterbreitet wird, keine höher qualifizierte Mehrheit oder gar Einstimmigkeit gefordert werden kann. Dabei erscheint es aber nicht notwendig, anzunehmen, dass die Ratifikation eines Staates durch die von ihm in der Versammlung abgegebene Stimme präjudiziert sei. Massgebend für das Zustandekommen einer Revision und für die Ausübung des Rücktrittsrechtes ist die Ratifikation bzw. Verweigerung derselben. Der auf die Verweigerung gegründete Rücktritt muss jedenfalls tunlichst bald angezeigt werden und kann nicht beliebig später erfolgen.

*) Beilage II, 10.

680

Die Nichtratifizierung bedeutet an sich nicht den Austritt; sie ist nur als definitive Stellungnahme bei der Stimmabgabe zu betrachten. Erst wenn die definitive Annahme eines Revisionsbeschlusses nach Art. 26 erfolgt ist, können die nicht, ratifizierenden Staaten erklären, ob sie sich der Mehrheit unterwerfen oder aber ausscheiden wollen. Unseres Erachtens kann, was im schweizerischen Antrag deutlich gesagt war, auch nach Art. 26 nur ein solcher Staat zurücktreten, der nicht ratifiziert hat.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Frage des Beitrittes der Schweiz zum Völkerbund. (Vom 4. August 1919.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1919

Année Anno Band

4

Volume Volume Heft

35

Cahier Numero Geschäftsnummer

1119

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

03.09.1919

Date Data Seite

541-680

Page Pagina Ref. No

10 027 236

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.