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tober 1883 nicht einzutreten", füge jedoch nochmals bei, daß die Begründung des Antrages als individuelle Ansicht des Referenten IM betrachten ist.

B e r n , den 9. Dezember 1885.

Der Vorsitzende der Ständer äthlichen Commission:

3. Altwegg.

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Bericht einer

Fraktion der ständeräthlichen Kommission betreffend die Eintretensfrage in die Berathung des Gesetzentwurfes über eidgenössische Wahlen und Abstimmungen.

(Vom 9. Dezember 1885.)

Tit.

Ihre Kommission hatte sich auftragsgemäß vorab zwei Fragen zu beantworten : 1) D ü r f e n wir in die Berathung des Gesetzentwurfes eintreten, nachdem der Nationalrath, welcher die Priorität besaß, das Gesetz verworfen hat ?

2) S o l l e n wir, vorn Opportunitätsstandpunkte, dermalen eintreten ?

Die erste Frage erhielt von der Kommission mit Einmuth eine bejahende Antwort. Der Sprechende will die Gründe nicht einläßlich wiederholen, welche Herr Präsident A l t w e g g Ihnen vorgeführt. Der Bundesrath hat gegenüber der Bundesversammlung von seinem Recht der Initiative Gebrauch gemacht, indem er ihr einen bezüglichen Gesetzentwurf mittelst Botschaft vom 30. Oktober 1883 unterbreitete. Er hat das verfassungsgemäße Recht zu verlangen, daß b e i d e eidgenössische Kammern auf Grund einläßlicher Prüfung über die Eintretensfrage schlüssig werden. Dieses Recht beruht auf dem gegenseitigen, zumal in Art. 102, 4, der Bundesverfassung ausgeprägten staatsrechtlichen Verhältnis zwischen Bundesrath und Bundesversammlung, und das betreffende Verfassungsrecht

46 fand seine nähere Präzisirung und Ausbildung im Bundesbeschluß über die Organisation des Bundesrathes, im Gesetz über den Geschäftsverkehr zwischen beiden Räthen, sowie in den Geschäftsordnungen des National- und Ständerathes. B e i d e Räthe sind m a t e r i e l l in allen Fragen gleichberechtigt und darum geht es absolut nicht an, daß derjenige Rath, welcher die geschäftliche Priorität besitzt, durch seinen ablehnenden Entscheid die Behandlung im andern Rathe hindert. Es wäre andernfalls der Prioritätsvertheilung eine viel zu große staatsrechtliche Bedeutung beigemessen.

Es läge hierin auch ein gewaltiges Präjudiz zu Ungunsten des Ständerathes, indem der Nationalrath bei der Mehrzahl der wichtigsten Geschäfte das Recht der Erstbehandlung für sich in Anspruch nimmt.

Es kann übrigens erstmals der eine Rath mit knappem Mehr Nichteintreten beschließen oder sein eigenes Werk verwerfen, und wenn dann der andere Rath gleichwohl in die Behandlung eintritt, so kann ja der erste Rath bei der zweitmaligen Berathung dem andern Rathe beipflichten. Recht und Pflicht zu beidseitigem Untersuche der Eintretensfrage sind sonach im Initiativrecht des Bundesrathes sowie im Zweikammer System begründet.

Unsere s t a a t s r e c h t l i c h e Unterlage ist aber l e d i g l i c h der b u n d e s r ä t h l i c h e Entwurf und keineswegs das Ergebniß der artikelweisen Berathung im Nationalrathe. Dieses Resultat der artikelweisen Berathung hat der Nationalrath durch seine ablehnende Schlußabstimmung selber aufgehoben. Was uns diesbezüglich die Bundeskanzlei zu Händen stellte, sollen und wollen wir als schätzbares Material in Ehren halten, parlamentarisch und konstitutionell gesprochen hat es aber absolut keinen positiven, staatsrechtlichen Charakter, indem der Nationalrath endschaftlich seine eigene Arbeit vernichtet und damit auf sein Recht der Erstbehandlung Verzicht geleistet hat. Der Unterfertigte vermag auch durchaus nicht die Ansicht des verehrlichen Kommissionnlpräsidiums zu theilen, daß der Nationalrath seine Generalabstimmung hatte vertagen sollen.

Art. 56 des nationalräthlichen Geschäftsreglementes besagt sehr klar: ,,Besteht ein Berathungsgegenstand aus mehreren Artikeln, so wird nach dem S c h l ü s s e d e r a r t i k e l w e i s e n B e r a t h a n g eine Abstimmung ü b e r d a s G a n z e vorgenommen. a
Es entspricht dieß der Vorschrift in Art. 57 der standeräthlichen Geschäftsordnung; es entspricht dieß aber auch der logischen Zusammengehörigkeit und Einheit eines Verhandlungsgegenstandes und speziell eines Gesetzentwurfes. Es entspricht dieß überhin dem Zweikammersystem, denn was der eine Rath in globo beschlossen hat, dazu erklärt er sich gegenüber dem andern Rathe haftbar und dabei wird er durch die Zustimmung des andern Rathes behaftet. Ein Gesetzentwurf muß in seiner G e s a m m t h e i t der Rathsmajorität

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entsprechen, bevor er durch sie zum Beschluß erhoben ist, und wie würde sonst die Sache sich gestalten, wenn das artikelweise Resultat ohne Geueralabstimmung an den andern Rath gelangen würde, wenn der zweite Rath keine oder sehr unwesentliche Aenderungen daran vornehmen und wenn d a n n e r s t der erstbehandelnde Rath in der Schlußabstimmung das Gesetz verwerfen würde? Ohne Generalabstimmung hat man aber keine formelle Gewähr, daß eine wahre und eigentliche Mehrheit zu dem Gesetze steht, und bei einer bloß artikelweisen Abstimmung, ohne Schlußvotation, kann durch zufällige Mehrheiten ein Gesetz an logischer Gediegenheit und innerer Einheit ungemein verlieren.

Der Unterfertigte betonte Letzteres, weil er dießbezüglich von der Anschauungsweise des Herrn A 1 t w e g g abweicht. Er mußte aber überhaupt die Kompetenzfrage bezüglich des Eintretens präzisiren, weil d i e s e Frage auf Antrag des Herrn C o r n a z mit Einmuth zur Begutachtung an die Kommission gewiesen wurde, und weil sie, zumal vorn Standpunkte des Zweikammersystems und der staatsrechtlichen Stellung des Ständerathes, ihre weittragenden Konsequenzen hat. Der Sprechende reassumirt sich also dahin, daß wir, keineswegs auf Unterlage der nationalräthlichen Arbeit, wohl aber der bundesräthlichen Botschaft und des bundesräthlichen Entwurfes, die Eintretensfrage materiell zu prüfen berechtigt und verpflichtet sind.

Und wenn wir n u n , vom Standpunkte der Opportunität, die Eintretensfrage untersuchen, so stellt sich jene Abtheilung Ihrer Kommission, für welche der Sprechende zu referiren die Ehre hat, keineswegs auf einen schroff ahlehnenden Boden, aber sie will zum vorneherein thunlichste Gewähr dafür, daß etwas zu Stande komme, wozu sie schließlich Ja und Amen sagen könne. Im höchsten parlamentarischen Interesse möchte sie es vermeiden, gleich dem Nationalrath eine Sysiphusarbeit zu beginnen, denn das entspricht dem praktischen Sinn des Schweizervolkes am allerwenigsten, und es ist nach unserer Ansicht eine äußerst loyale Stellungnahme, wenn man für das Eintreten keine übertriebenen Postulate stellt, wenn man aber von allem Anfang genau präzisirt und gentiu betont, von welch' unabänderlichen Bedingungen man vom grundsätzlichen Standpunkte seine endschafi liehe Zustimmung abhängig machen m ü s s e . Für Eintreten zu stimmen mit dem
Hintergedanken, schließlich doch All,es zu verwerfen, entspricht viel weniger der Würde und dem ehrenvollen Charakter einer politischen Partei, und das Eintreten erscheint uns vor dem Richterstuhl des gesunden Menschenverstandes und darum des Schweizervolkes d a n n nur gerechtfertigt, wenn man zur Voraussetzung befugl. ist, daß schließlieh die parlamentarische Arbeit die ausdrückliche oder still-

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schweigende Zustimmung des Souveräns erhalte. Wir dürfen nicht die Schleusen öffnen zu wochenlangen Debatten in beiden Räthen, von denen man zum vornherein ohne Prophetengabe prophezeien muß, dieselben haben doch nur einen akademischen Charakter, und der langen Rede kurzes Endziel sei doch ein rein negatives infolge der unvermittelten Gegensätze zwischen den politischen Parteien.

Wir wollen einen ehrlichen Kompromiß, und darum haben wir unser Absehen auf keine Markterei gerichtet. Wir haben unsere Postulate auf das Allernothwendigste beschränkt, auf das, was unsere grundsätzliche Anschauungsweise von uns gebieterisch erheischt, aber auch nur auf solche Punkte, in denen man bei gutem Willen uns sehr leicht entgegenkommen kann ; in allen andern Dingen lassen wir als überaus friedliebende Eidgenossen mit uns reden. Daß wir aber unsere Zustimmung zum Eintreten von gewissen ebenso bescheidenen als unabänderlichen Bedingungen abhängig erklären, dafür liegen noch besonders gewichtige Rechtfertigungsgründe vor.

Das Zustandekommen eines Abstimmungsgesetzes hat überhaupt weniger einen absoluten als einen relativen Werth, es hängt nämlich Alles von der Qualität des Gesetzes ab. Bin g u t e s Abstimmungsgesetz, das die Ausübung der höchsten Souveränetätsreehte nicht ungebührlich erschwert, wohl aber mit thunlichster Garantie umfriedet, ist nicht nur ein Requisit von Art, 47 der Bundesverfassung, sondern es liegt zweifellos im hohen Interesse einer friedlichen und würdigen Eutwickelung des schweizerischen Staatslebens. Das Bedürfniß ist aber keineswegs d e r a r t urgent, daß j e d e s neue Gesetz dem dermaligen Zustande vorzuziehen ist.

Allerdings hat bisan Manches und Wichtiges eine zu wenig präzisirte, einheitliehe Regelung erhalten, und deßwegen ga.b es nicht bei Referendumsabstimmungen, wohl aber bei den Nationalrathswahlen, wo die Parteien in engern Kreisen und mit beschränktem Kräften sich zu messen in der Lage sind, unliebsame Rekurse, die dannzumal stets um so unliebsamer sind, weil für die Anerkennung der Objektivität des nur aus Einer Kammer bestehenden Gerichtshofes wenige Wochen nach einer stürmischen Wahlschlacht sich naturnothwendig keine übergroße Geneigtheit zeigt. Immerhin ist soviel Thatsache, daß an der Hand der jeweiligen Entscheidungen ein ziemlich ausgiebiges Rekursrecht sich ausgebildet
hat, welches man später vom Standpunkte politischen Auslandes nicht schnurstracks in sein Gegentlieil verwandeln konnte, und daß daher die verwichene Zeit an der Hand praktischer Ei-fahrungen manch' nützliche Abklärung geschaffen hat. Wir erinnern unter manch' Andermi

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1) des Beschlusses, inwieweit die theilweise leeren Stimmkarten für Ermittelung des absoluten Mehrs in Anrechnung zu bringen sind; 2) der Fürsorge für Versiegelung und Verwahrung der Stimmkarten ; 3) der Vorschrift formal identischer Stimmkarten; 4) der Vorschrift, daß der Wähler zu Hause nur dann eingeschrieben werden dürfe, wenn er dortsei bst seinen Wohnsitz habe, und 5) zumal der erfolgreichen Einladung an sämmtliche Kantonsregierungen, dafür Sorge zu tragen, daß die Ausübung des Stimmrechtes in thunlichster Nähe des Wohnsitzes ermöglicht werde.

Endlich hat man auch sporadisch einen Anlauf gegen die Wahlknechterei genommen.

Dem praktischen Werthe und wohl auch der politischen Annehmlichkeit, welche diesem empirisch-kasuistischen Vorgehen innewohnt, sowie den großen Schwierigkeiten, welche der Erzielung einer gesetzgeberischen Uniformität entgegenstehen, ist es zweifellos zuzuschreiben, daß so viele Postulate, welche auf den Erlaß eines Abstimmungsgesetzes hinzielten, immer und immer wieder zu den griechischen Kaienden verschoben wurden. Im Jahre 1877 fand der Bundesrath trotz mannigfacher Erfahrungen die Vereinheitlichung des Verfahrens nicht dringlich. Im Jahre 1879 fand der Bundesrath, zur Wahrung des Geheimnisses, der Freiheit und Unabhängigkeit bei der Abstimmung bedürfe es keiner besondern Bestimmungen. Dazumal erklärte Dr. Alfred Escher : ,,Uniformität sei weniger wünschenswerth, als Uebereinstimmung in gewissen materiellen Punkten, eine formelle Einheit sei kaum erzielbar.11 Und der Nationalrath beschloß jedes Mal einfache Rüekweisung an den Bundesrath ohne alle Direktive.

Die dießjährige Berathung im Schöße des Nationalrathes hat allerdings dem sei. Herrn Escher Recht gegeben, indem man nur zur Aufstellung eines keineswegs verbindlichen Normalverfahrens gelangen konnte, welches endschaftlich nicht viel größern Werth hat als das dermalige Maß der Kantonal-Autonomie.

Ein einheitliches Verfahren hätte selbstverständlich vom prinzipiellen und praktischen Gesichtspunkte ungemein viel für sich, allein es ist leider gar keine Hoffnung vorhanden, daß man über die Allgemeinverbindlichkeit des Couverts- oder des Stempelkartensystems eine Verständigung erzielen kann. Und ebenso unmöglich ist die Verständigung über die Frage des Stimmzwanges. Die Zu-

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läßigkeit des Bußensystems in einigen Kantonen und die absolute Freiheit in den meisten andern Ständen, sowie die bundesgesetzliche Besiegelung dieser Willkür und dieses Dualismus seheint aber dem Sprechenden mit den logischen und praktischen Elementarbegriffen eines eidgenössischen Abstimmungsgesetzes unvereinbar, indem naturgemäß die Kantone mit dem Obligatorium ein unverhältnißmäßig größeres Schwergewicht in die Urne werfen als die Kantone ohne Obligatorium. Und wenn man sieh auch nur zur Autstellung eiaes unverbindlichen Normalverfahrens erschwingen kann, so hätte alle dings die Klausel einen gewissen Werth, daß die Kantone, welche einer andern Verfahrens weise den Vorzug geben, dieselbe der Genehmhaltung der eidgenössischen Behörden unterbreiten müssen. Aber ein absolut unzulängliches Wahl- und Abstimmungsverfahren soll jetzt schon von Eidgenossenschafts wegen nicht geduldet werden, und mit dieser clausula salvatoria ist für mit der Politik so eminent verwobene Fragen keine Gewähr verliehen, daß gegen alle Kantone und gegen alle Systeme die gleiche Strenge zur Anwendung gelangt, während dann diese wichtigen Entscheide so wie so dem gesetzgeberischen Mitspracherecht des gesammten Schweizervolkes entzogen werden. Wir hätten auf diese Weise dann allerdings ein paragraphenreiches Abstimmungsgesetz, aber für die all erwichtigsten Fragen hätten wir doch nicht viel mehr als die F o r m eines Abstimmungsgesetzes. AIT diese fast unübersteiglichen Schwierigkeiten, all' diese ungemein ernüchternden Aussichten auf ein ziemlich trostlos fragmentarisches Ergebniß wurden uns aber gleichwohl für sich allein nicht bestimmen, bei der Eintretensfrage eine ablehnende Haltung einzunehmen, indem wir so wie so herzlich gern die Hand zu allen Maßnahmen bieten würden, welche der Wahlknechterei den Riegel schieben könnten.

Und dießhezüglich verkennen wir nicht den guten Willen, welcher sich im Schöße des Nationalrathes kund gegeben hat. Nur sind wir der Meinung, daß der Antrag des Bundesrathes und die Schlußnahme des Nationalrathes dießbezüglich zu wenig kategorisch vorgehen, indem mit Bezug auf die Wahlen ein Monat für die Domizilnahrne eine zu geringe Zeitfrist ist, zumal die Detailberechnungen und Operationsplane der Parteien häufig bedeutend früher ihren Anfang nehmen, und zumal dieser Dotnizilverzeig bei der
Gewogenheit des Ortsvorstandes oftmal eine kiuderlei' hte und höchst formelle Sache ist.

Es that und thut uns also sehr leid, daß die grundsätzliche Debatte in der Kommission die Unmöglichkeit zu Tage gefördert hat, sich über die wesentlichsten formalen Kontroverspunkte zu verständigen. Das allein würde uns aber nicht abhalten, für Eintreten zu votiren, wenn man uns nur die allernothwendigsten g r u n d s ä t z -

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l i c h e n Garantien geben würde, und diese Garantien sollte man um so eher uns gewähren, weil so wie so mit der Volksstimme gerechnet werden muß, und weil unsere Postulate erfahrungsgemäß das Gesetz zu popularisiren in der Lage sind. Für Denjenigen, welcher nicht blind sein will, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die allzu weitgehende Begünstigung der Konkursiten mehr als alles Andere zwei Stimmrecbts-Gesetzentwürfe an der Klippe des Referendums scheitern ließ. Auch die negative Beweislast der Gemeinde zu Gunsten unbekannter, flottanter Stimmrechtskandidaten wurde von der Opposition gegen diese zwei mißglückten Gesetzentwürfe mit vielem Erfolg in's Feld geführt. Und das Postulat einer gerechten Wahlkreiseintheilung entspricht so sehr dem natürlichen Billitçkeitsgefühl des Schweizervolkes, daß deren grundsätzliche Zusicherung das Gesetz ungemein akkreditiren müßte. Nachdem wir also überzeugt sind, daß die Volksstimme unsern Wünschen Recht gibt, und nachdem wir das durch die Thatsachen bestbegründete Bewußtsein haben, daß ohne unsere Zustimmung das Gesetz nicht zu Stande kommt, ist es, wie schon gesagt, allen Requisiten parlamentarischer und politischer Loyalität entsprechend, daß wir mit unsern keineswegs übertriebenen Postulaten nicht hinter dem Berge halten, sondern zum Vornherein unsere grundsätzlich bedingte Stellungnahme thunlichst präzisiren.

Wir müssen und wollen diesbezüglich den Gang der Dinge in der Kommission und unsere konsequente Stimmgabe bei der Schlußabstimmung in Zürich zu beleuchten suchen.

Wir haben uns nicht geweigert, auf eine grundsätzliche Debatte einzugehen, indem dieselbe über die Möglichkeit eines glückverheißenden Kompromisses einzig zu orientiren in der Lage war. Im Verlaufe derselben gingen wir dem Frieden zu lieb von verschiedenen Desiderata ab.

Als conditiones sine qua non bezeichneten wir aber: E r s t l i c h die Verständigung in der K o n k u r s i t e n f r a g e .

Diese Verständigung kam unter fünf Mitgliedern der Kommission auf den Vorschlag des Sprechenden allerdings zu Stande, und zwar auf d e m Boden, daß der Konkurs nicht de facto den Ausschluß von der Stimmberechtigung bedingen dürfe, sondern daß hierüber eine Gerichtsbehörde zu entscheiden habe, und daß dem Konkursiten der Nachweis vorbehalten bleibe, die Katastrophe sei ohne sein eigenes
Verschulden eingetreten. Es ist dieß die nationalräthliche Fassung und es wird damit dem Unrecht vorgebeugt, daß einen Schuldlosen eine Strafe trifft. Der Fall muß untersucht werden, und es hat hierüber eine Gerichtsbehörde zu entscheiden. Gegen Willkür und Härte wäre hiermit ein gewaltiger Wall gezogen.

52 Auf der andern Seite aber würde der Termin gestrichen, demgemäß der Entzug der bürgerlichen Ehrenrechte nur auf höchstens zehn Jahre ausgesprochen werden dürfte. Diese Bestimmung kann eine Reihe von Kantonen, die es mit dem Begriff des Fallimentes ernst nimmt, unmöglich sich gefallen lassen. Die Folge eines solchartigen gesetzlichen Termins wäre einfach die, daß der Konkursit in der Regel auf eine sehr kurze Zeit sein Aktivbürgerrecht verlieren würde, daß die Rehabilitation nicht mehr abhängig wäre von der Befriedigung der Gläubiger, daß sonach dießbezüglich für den Konkursiten jeder Ansporn wegfiele und daß nun sofort ein ungezähltes Heer älterer B'alliten rehabilitirt würde. Auf der andern Seite würde aber der Sprechende es den Kantonen überlassen, ob sie überhaupt die Falliten im Aktivbürgerrechte einstellen wollen oder nicht. Die romanische und germanische Auffassung gehen dießbezüglich zu sehr auseinander und wir dürfen in unserer föderativen Schweiz in dieser sozial so tiefgehenden Frage unmöglich an's Majorisiren denken. Bin Gesetz, welches den Kantonen hier nicht Freiheit läßt, würde ganz zweifellos vom Volk verworfen werden. Denjenigen Kantonen und derjenigen Rechtsanschauung, welche hier einer strengem Richtung huldigen, muß aber um so mehr an Aufrechthaltung der Kantonalsouveränetät gelegen sein, weil die Konkursiten nicht nur in eidgenössischen, sondern auf dem Wege der natürlichen Konsequenz auch in kommunalen Angelegenheiten Stimmberechtigung erhalten würden. Es kann aber zu einem halben administrativen Kommunismus führen, wenn die flottanten, steuerfreien Elemente an der Gemeindeversammlung die Mehrheit bilden und infolge eigener Initiative oder auf die Parole einiger Streber luxuriöse und unproduktive Ausgaben herausmehren, welche durch die Minderheit zu zahlen sind und welche das Gemeinwesen in eine Schuldenlast hineinstürzen, die' allen vernünftigen Fortschritt verunmöglicht, die ungemein lähmend auf den Gewerbfleiß di'ückt und die der demoralisirende Weg zu Steuerfraudationen ist. Nur so lang wir blühende Gemeinden haben, hat die vaterländische Demokratie einen guten und gesunden Boden, und vom sozialen Standpunkte ist eine solide, ehrenwerthe Gemeindeverwaltung das wichtigste Gebiet aller öffentlichen Arbeit. Sodann dürfen wir den gesunden Reehtsbegriffen unseres Volkes
ungestraft nicht zu nahe treten. Dasselbe betrachtet den selbstverschuldeten Geltstag absolut nicht als eine indifferente Sache. Es kann nicht begreifen, daß der arme Familienvater, der von der Noth getrieben in der harten Winterszeit aus dem Gemeindewald etwas Holz entwendet oder um eine Bagatelle am Gut des Nächsten sich vergreift, hinter Schloß und Riegel wandern muß, während Derjenige, der durch ein liederliches Leben und durch

gewissenlos leichtsinnige Spekulationen gutgläubige, ehrliche Leute um einen Großtheil ihres Vermögens brachte, nach wie vor neben seinen braven, tiefgeschädigten Gläubigern in öffentlichen Angelegenheiten den Ton angeben soll. Der betrügerische Geltstag ist in der Regel äußerst schwierig auszumitteln, und der freche Konkursit weiß mitunter gar gernüthlich auf den weichen Polstern des sogenannten Frauenvermögens auszuruhen; darum soll man, soweit möglich, den Lumpen als das hinstellen, was er ist, und das Rechtsgefühl im Volke schonen, welches das Stimmrecht als ein hohes, respektables Ehrenrecht betrachtet. Der altgermanische Freiheitsgedanke fand seine Verkörperung im inhaltvollen, schönen Axiom : wer thatet, der soll rathen. l; Wir wollen nun diesem Axiom keineswegs die plutokratische Deutung geben, daß nur der Steuerpflichtige stimmberechtigt sein soll, die Ausübung der Wehrpflicht ist eine nicht minder verdienstvolle That für's Vaterland, aber wir müssen uns im höchsten politischen und sozialen Interesse auch vor allen Ausschreitungen hüteu, welche das Schwergewicht des öffentlichen Lebens allzu sehr in's Proletariat verlegen. Mein Antrag und der eventuelle Kommissionsbeschluß bieten die Gewähr, daß kein schuldloser Konkursit mit Strafe belegt wird. Es war aber kein Anderer als Dr. S i m o n K a i s e r , welcher im Nationalrathe den Satz aufstellte, daß in seinem Heimatkanton von 100 Fällen 90 verschuldete Fallimente seien, und wir dürfen, wie schon erwähnt, ob des leichtsinnigen Falliten des Gläubigers nicht vergessen, welcher keineswegs immer ein Wucherer und Schacherer, sondern sehr oft ein wohlwollender, edelfühlender Mann ist, der aus lauter Gutherzigkeit zu seinem Schaden und zum Schaden seiner Familie fremder Noth abhelfen wollte und der seinen Edelsinn einem Unwürdigen zugewendet hat. Nicht umsonst finden wir in der Rechtsgeschichte der Freistaaten in der Regel die strengsten Gesetze gegen das liederliche Falliment, denn nur auf dem Fundamente des öffentlichen Vertrauens, einer gefesteten Rechtsordnung und der Heiligkeit des gegebenen Wortes kann die Volksherrschaft gedeihen, kann sich eine Nation eine solide, gesegnete Freiheit wahren.

Wegen der Wichtigkeit der Frage und im Interesse eines produktiven gesetzgeberischen Vorgehens freute es den Sprechenden, daß bezüglich dieser ersten
Kontroverse in der Kommission auf scintili Antrag ein Kompromiß zu Stande kam. Leider war (ließ bis zur Stunde nicht der Fall bei den zwei andern Kontroverspunkten.

Die zweite Kontroverse, die Frage über den S t i r n i n r e e h t sa u s w e i s , hat zunächst eine grundsätzliche Bedeutung. Diese Krage wurde im Schöße des Ständerathes sehr einläßlich erörtert, nicht nur bei der Diskussion über die zwei frühern Ahslimrnuntcsjïesetze, sondern zumal auch anläßlich der wiederholten BehandBundesblatt. 38. Jahrg. Bd. I.

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lung des Rekurses D ü r n t e n . Der Ständerath stellte sieh beim Rekurs D U r n t e n iu Anlehnung an die ausgezeichneten Referate der Herren N a g e l und Dr. S t ä h l i n konsequent auf den Boden, daß der Stimmrechtsausweis voll und ganz von Demjenigen zu erbringen sei, der zum ersten Male anderwärts als in seiner bisherigen Wohngemeinde stimmen will. Art. 43 der Bundesverfassung besagt eben ungemein deutlieh, der Schweizerhürger könne an seinem neuen Wohnsitz an den Wahlen und Abstimmungen Antheil nehmen, nachdem er sich über seine Stimmberechtigung ,, g e h ö r i g " ausgewiesen habe. Der klare Wortlaut dieses Verfassungsartikels läßt unmöglich in dem Sinne eine Spaltung der Beweislast zu, daß der Stimmrechtskandidat nur darüber sich auszuweisen hat, er sei Sehweizerbttrger und habe das 20. Altersjahr erreicht, während das Vorhandensein von Ausschlußgründen die Gemeindebehörde zu beweisen hat. Sehen wir es denn dem völligunbekannten Manne in Gottes Namen an, ob er ein aufrechtstehender Schweizerbürger ist? Kann man überhaupt ihm gegenüber verständiger Weise etwas präsumiren ? Hat nicht in allen Gebieten des Rechtslebens Derjenige, welcher die Ausübung eines Rechtes prätendirt, sich zu diesem Rechte zu legitirairen ? Gilt nicht der negative Beweis, der hiermit der Gemeindebehörde aufgebürdet wird, im Rechte überhaupt als ein Absurdum? Allerdings gelten dießbezüglich im Abstimmungsgesetze vom Jahre 1872 andere Grundsätze. Aber dieses Gesetz kam unter einer ganz andern Verfassung zu Stande. Unter der frühem Bundesverfassung mußte man zum Erwerb der Niederlassung oder der Aufenthaltsbewilligung sich darüber ausweisen, daß man ein aufrechtstehender Schweizerbürger sei. Man mußte auch einen Leumundschein vorlegen. Jetzt muß Jemand zum Zwecke der Niederlassung nur mehr einen Heimatschein oder eine andere gleichbedeutende Ausweisschrift über sein schweizerisches Indigenat einbringen. Und darum ist jetzt nicht mehr wie früher zum Vornherein der Beweis der Stimmberechtigung geleistet. Uebrigens abrogirt das spätere Gesetz das frühere und es steht der klare Wortlaut der Verfassung über dem Gesetze. Die Bundesverfassung nimmt es aber ernst mit dem Stimmrechtsausweis und sie will hiermit der Wahlkneehterei den Riegel schieben. Es ist aber der Konsequenz wegen hochgefährlich, wenn man aus Opportunitätsgründen
den klaren Wortlaut des Grundgesetzes in sein Gegentheil verkehrt. Wir wollen übrigens die Ausübung des Stimmrechtes auch nicht mehr erschweren als es sein muß, und wir wollen, daß der Gemeinderath der neuen Wohngemeinde das Stimmfähigkeitszeugniß auf das Verlangen des Stimmrechtskandidaten vom Gemeinderath der früheren Wohngemeinde einzuholen pflichtig sei. Weiter kann man an der Hand

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der Verfassung in Erleichterung des Stimmrechtsausweises doch unmöglich gehen, und wir stellen uns dießbezüglich auf einen möglichst liberalen Boden. Wenn man sich von der andern Seite im Antrage der nationalräthlichen Kommissionsminderheit am Worte ,,Stimmrechtsausweis"1 stößt und wenn man, mit Herrn G a v a r d, lieber nur vom Vorhandensein einzelner spezieller Ausschlußgründe sprechen will, indem man befürchtet, die weniger liberale Behandlung der Konkurse dürfte sonst den Luzerner und den Obwaldner Konkursiten bis nach Lausanne und nach Genf verfolgen, so hat der Berichterstatter nichts dagegen einzuwenden. Ueberhaupt bietet der Sprechende dem Frieden zu lieb zu jeder Redaktion und zu jedem Kompromiß die Hand, welche ihm mit dem Grundgesetz verträglich scheinen. Aber nach seiner vollendeten Ueberzeugung enthält die nationalräthliche Schlußnahme in Art. 4, Absatz l, des Gesetzentwurfes eine Verfassungsverletzung, indem gemäß Art. 43 der Verfassung ein v o l l g e n ü g e n d e r Ausweis der Stimmberechtigung vom Stimmrechtskandidaten gefordert werden m u ß , und indem Art. 74 die drei Bedingungen für das Stimmrecht aufstellt, nämlich : 1) das Schweizerbürgerrecht; 2) das zurückgelegte 20. Altersjahr und 3) das N i c h t v o r h a n d e n s e i n von A u s s c h l u ß g r ü n d e n .

Man kann und darf nun rilcksichtlich der Beweislast ganz unmöglich einen Unterschied bezüglich dieser drei StimmrechtsRequisite aufstellen. Aber dazu hilft der Sprechende herzlich gern, daß dieser Beweis faktisch und praktisch möglichst erleichtert wird.

Es soll dem Stimmrechtskandidaten von der Gemeindebehörde m ö g l i c h s t an die Hand gegangen werden. Bei unserm loyalen Entgegenkommen sollte deßwegen von unsern verehrten politischen Gegnern sich unschwer eine redaktionelle Brücke finden lassen, wodurch man unsern bestbegründeten konstitutionellen Bedenken Rechnung trägt. Es ist dieß bei uns keineswegs eine Frage der Parteipolitik oder doktrinärer Rechthaberei, sondern eine Frage klarliegenden Verfassungsrechtes, und wir haben dießbezüglich rechtshistorisch um so bessern Boden, weil die Protokolle des Ständerathes dem Art. 43 des eidgenössischen Grundgesetzes absolut die unserer Anschauungsweise entsprechende Interpretation verleihen.

Dießbezüglich besteht also unsere Opposition lediglich in der Verfassungstreue,
und die speziellen Freunde und Gevattersleute der Verfassung von 1874 werden diese Verfassungstreue an uns zweifelsohne nur mit bundesbrüderlicher Rührung anerkennen.

Am schwierigsten dürfte erfahrungsgemäß eine Verständigung wegen unseres dritten Postulates sein, weil uns hier die Interessen

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des dominirenden, glücklichen Besitzes gegenüberstehen. Wir verlangen eine sehr beschränkte Garantie für eine gerechtere W a h l kreiseintheilung.

Wenn man uns entgegenhält, diese Frage berühre nicht den vorliegenden Gesetzentwurf, so müssen wir dieser Einrede mit aller Entschiedenheit entgegentreten. Unser Gesetzentwurf enthält ein größeres Kapitel, handelnd ,,von den Nationalrathswahlen", und die Ueberschrift des Gesetzes lautet mit allem Fug: ,,Bundesgesetz betreffend die eidgenössischen W a h l e n und Abstimmungen."

Der Ingreß ruft ausdrücklich denjenigen Verfassungsartikeln, welche dem Nationalrath seine Existenz verleihen. Wir würdigen vollauf, daß die geographische Einzel-Umschreibung der Wahlkreise mit Rücksicht auf die jeweiligen Ergebnisse der Volkszählung einem Spezialgesetz vorbehalten werden muß. Aber dieses Spezialgesetz ist logischer Weise eben nur ein Ausführungsgesetz zu vovwürfigem Fundamentalgesetze, welches sonst umfassend und vollinhaltlich A l l e s regeln will, was auf die eidgenössischen Wahlen sich bezieht.

Bin Wahlgesetz aber, welches kein Wort von der Wahlkreiseintheilung enthält, erscheint uns als eine contradictio in adjecto, als eine logische Absurdität. Uebrigens spricht für unsere Forderung ein wichtigerer Faktor als nur derjenige einer rationellen Gesetzgebungsökonomie. Wir wollen und verlangen, daß man mit unserm dringendsten und natürlichsten Postulate Ernst mache, mit dem Postulate einer gerechten Repräsentation des Schweizervolkes. Man hat uns dießbezüglich immer mit vagen Versprechen hingehalten, und jede neue Wahlkreiseintheilung war nur eine Verschlechterung der alten. Das Postulat, wie es der Nationalrath faßte, ist soviel als nichts, weil man darunter Alles und nichts verstehen kann.

Daß wir aber in unserer Forderung bescheiden sind und daß diese Forderung eine höchst gerechte ist, erleuchtet schon aus d e m Umstände, daß die nationalräthliche Kommission ursprünglich mit entschiedener Mehrheit, unter Beihiilfe sehr radikaler Mitglieder, unser Postulat zum Beschluß erhoben hatte. Jetzt herrscht in der eidgenössischen Kreiseintheilung eine Systemlosigkeit, wie sich eine solche in keinem andern Lande findet. Ueberall finden sich sonst Einer-, Arrondissements- oder Departementalwahlkreise, das deutsche Reich hat Einer-Kreise, Frankreich hat sein Listenskrutinium,
in der Schweiz haben wir eine Configuration von Kreisen, welche Allem eher als einer schlichten, ehrlichen Logik Ehre macht. Es ist auch unvergleichlich besser, man stelle jetzt ein Princip fest, als wenn mai die Kreise jeweilen am Vorabend der Nationalrathswahlen abzirkelt. Jetzt geschieht dieß mit einem entschieden größern Maß von Ruhe und Objektivität. Wir verlangen nicht das Proportionalsystem, trotzdem dasselbe prinzipiell das gerechteste

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sein würde. Wir wollen aber die Einrede zum Vornherein vermeiden, unser Postulat sei unausführbar und es würde die Schweiz zu einem Versuchsfeld anderwärts nicht erprobter Theorien machen.

Wir verlangen auch nicht Einer-Wahlkreise, trotzdem der Bundesrath im Jahre 1850 dieses System in detaillirter Ausführung als das einfachste und gerechteste vorgeschlagen hatte. Wir wollen aber den Bedürfnissen größerer Städte und Kantone Rechnung tragen, und wir weichen dem Vorwurf aus, als ob wir die Vertretung von Kirchthurmsinteressen fördern wollten. Wir wollen nur eine verständige Grenzlinie nach Oben, wir verlangen eine Maxiinallimite von Dreierkreisen. Wir wollen damit nur vermeiden, daß man größere Landestheile majorisiren und durch unnatürliche Amalgamirungen mundtodt machen kann. Das geschieht jetzt, und darin iiegt ein Stoff gerechter Unzufriedenheit, welcher mehr als alles Andere das Repräsentativsystem diskreditirt. Es kann sich ja unmöglich darum handeln, dem Nationalrath eine andere Majorität zu geben, und unser Vorschlag würde auch in sein politisches Stärkeverhältniß keine einschneidenden Aenderungen bringen.

Aber es handelt sieh darum, ob man uns einmal thatsächlich den guten Willen manifestiren will, mit einer thunlichst getreuen Repräsentation des Schweizervolkes überall Ernst zu machen. Man wende uns ja nicht ein, die Minderheit sei im Ständerathe stark genug vertreten. Der Ständerath beruht auf einem logisch durchschlagenden , historisch tiefberechtigten und staatsrechtlich vom Schweizervolke sanktionirten prinzipiellen Fundamente. Aber nicht nur das, er war thatsächlich seit Jahren eine getreuere Repräsentation nicht nur der eidgenössischen Stände, sondern auch der schweizerischen Volksstimmung als der Nationalrath, aus dem einfachen Grunde, weil der Wahlart des letztem die gesunde, richtige, ungekünstelte Unterlage mangelt. Welch' eklatante Gegensätze haben sich nun wiederholt, und zwar bei tiefgehenden Fragen, für große schweizerische Landestheile zwischen den Gewählten und der Wählerschaft ergeben ! Das kommt Alles daher, weil durch die Kreiseintheilung viele Minderheiten unnatürlich gebunden sind, und jede unnatürliche Kreiseintheilung führt eine doppelte Ungerechtigkeit mit sich, indem dann die Kopfzahl der majorisirten Minderheit die Vertretung ihrer politischen Gegnerschaft
verstärken muß. Das ist die reinste Ironie auf die Elementargrundsätze des republikanischen Staatslebens. Darunter leiden aber am allermeisten die politische Mäßigung und die gemäßigten Parteien, indem in der Wahlschlacht, und im Parlamente sich zum Schaden des Landes Alles viel mehr politisch zuspitzt. Und Letzteres liegt gar nicht im Willen des Schweizervolkes, durch dessen tiefe und breite Schichten eine maßvolle, friedliche Strömung geht. Es liegt

58 aber auch am allerwenigsten im Interesse des Parlamentes, wenn aus seiner Mitte dann aum Vornherein manch' ruhiger, tüchtiger, aber dem Parteileben fernstehender Fachmann ausgeschlossen ist, und wenn es bei den Referendumsabstimmungen sich dann nicht im Einklang findet mit der Mehrheit der Nation.

Solch' ablehnende Volksentscheide wirken aber schon in ihren Präliminarien sehr aufregend und in ihren Konsequenzen sehr entmuthigend, während ja die soziale Noth von uns eine praktisch fruchtbare Gesetzgebung erheischt. Die Kluft zwischen Parlament und Volk ist für keine Partei vom Guten ; so lange aber Luft und Licht nicht gleich vertheilt sind bei den Wahlen, so lange muß die auf der Wahlstatt beeinträchtigte Partei zur erfolgreichen Waffe des Referendums greifen. Ich glaube, der Augenblick für ein loyales Entgegenkommen sei kaum jemals geeigneter als im gegebenen Momente, wo die loyale Mithülfe der parlamentarischen Minderheit zum Frommen des gesammten Landes einen glänzenden, äußerst glückliehen Volksentscheid herbeiführte. Das haben aber die Ereignisse der letzten Jahre zur Evidenz bewiesen, daß wichtige und tiefgehende Fragen ohne das Zusammengehen der verschiedenen Parteien einfach nicht durchzubringen sind; und so nehme man uns, -- wir bitten darum im Interesse des vaterländischen Friedens, wo wir das heilige Recht zu fordern haben, -- so nehme man uns endlich den Stachel weg, der uns vom republikanischen Gesichtspunkte tiefer als alles Andere verletzt, ich meine das Gefühl der Rechtsschmälerung und der gesetzlichen Vergewaltigung bei der Wahl des schweizerischen Volksrathes. Es ist doch wahrhaftig an der Hand von Art. 4 der Bundesverfassung nach 37 Jahren nicht zu frühe; es handelt sich ja, wie gesagt, nicht um die parlamentarische Herrschaft, die hiedurch nicht in Frage kommt, es handelt sich aber um das ungemein versöhnende Bewußtsein, daß keinem schweizerischen Landestheil mehr ein schreiendes Unrecht geschieht in der fundamentalsten Angelegenheit des öffentlichen Lebens.

Auf den 25. Weinmonat hätte die Stunde zu diesem Akte des Friedens sicherlich geschlagen. Und die parlamentarische Mehrheit würde hiemit im höchsteigenen Interesse handeln, indem das Parlament ungemein an volkstümlicher Wurzelhaftigkeit gewinnen würde. Ich lege hierauf Betonung viel weniger vom politischen als vom
patriotischen Gesichtspunkte. Die Revindikation des materiellen Vertretungsrechtes für unsere nicht vertretenen Gesinnungsgenossen in einzelnen Landestheilen ist aber vom Standpunkte der Loyalität und des politischen · Rechtsgefühls für uns ein so unabweisliches und ernstes Pflichtgebot, daß wir jeden geeigneten, rechtlichen Anlaß ergreifen müssen, um dieser Revindikation feierlichen Ausdruck zu verleihen, und tiefgehender als jedes andere politische

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Interesse ist das republikanische Interesse, daß man im freien Vaterlande keine minder berechtigten Landestheile kennt. Wir bilden wahrhaft nicht eine Opposition, die der Opposition wegen Opposition macht, wir wollen nichts Unbilliges und wir prätendiren absolut kein Vorrecht, aber im Interesse eines wahren, rechtschaffenen Landfriedens, im Interesse einer richtigen, familiären Fühlung zwischen Parlament und Volk, im Interesse einer möglichsten Milderung der Parteikärnpfe und darum auch einer möglichst gesegneten, produktiven parlamentarischen Arbeit hält jene Abtheilung der Kommission, für welche der Sprechende ref'erirt, ihr gewiß nicht extrem gefaßtes Postulat mit aller Entschiedenheit aufrecht, und weil es hierbei unmöglich um eine Erschütterung der bisherigen Parlamentsmehrheit, wohl aber um ein äußerst gesundes Prinzip sich handelt, so dürfen wir denn doch mit allem Recht verlangen, daß man e n d l i c h und e n d l i c h dieses Hauptmotiv zu politischer Unzufriedenheit beseitige und auf jene viel normalern Bahnen einlenke, in welchen sich das konstitutionelle Leben der größten und fortgeschrittensten Staaten Europa's und Amerika's bewegt.

Der Sprechende ist länger geworden als er wollte; denn nachdem er und seine Freunde in der Kommission gegen ihren Willen zum Antrag auf Nichteintreten sich genöthigt sahen, so lag uns sehr daran, zu konstatiren, daß wir keineswegs das Zustandekommen eines gediegenen eidg. Abstimmungsgesetzes hindern, daß wir überhaupt keine Obstruktionspolitik treiben, daß wir aber auch nicht ohne die Garantie des Entgegenkommens bei wenigen, bescheiden gefaßten Postulaten in das Labyrinth unfruchtbarer Debatten uns verirren wollen, wobei wir schließlich doch wieder ein verneinendes Volkävotum herbeizuführen hätten. Der Werth eines eidgenössischen Abstimmungsgesetzes reduzirt sich allerdings in hohem Grade dadurch, daß man sich zum Vornherein leider sagen muß, ein allgemein verbindliches Normalverfahren sei in der großen Schweiz ein utopistisches Verlangen. Was den Kampf gegen die Fälschung des souveränen Volkswillens in dieser oder jener Form, was zumal auch den Kampf gegen die grundschlechte Wahlknechterei betrifft, so bieten wir hierzu auf dem Wege von Rekursalentscheiden wie spezieller Erlasse immer herzlich gern die Hand, aber es ist ebenfalls eine folgenschwere
Trübung des Volkswillens, wenn mächtig ausgeprägte, tiefwurzelnde Strömungen und prinzipielle Anschauungen in gewissen Landestheilen infolge einer unnatürlichen Wahlkreiseintheilung die Reihen der politischen Gegner im Parlamente zu mehren verurtheilt sind. Es war zweifellos angezeigt, daß der endgültigen Erledigung der Eintretensfrage in der Kommission eine grundsätzliche Debatte vorausgegangen ist. Vom Ausgang dieser Debatte hing eben mit Notwendigkeit unser Votum bei der Ein-

tretensfrage ab. Wir wissen schon, daß man uns heute von dei andern Seite des Rathes keine sattsamen Garantien bezüglich der Erfüllung unserer Postulate geben kann, indem ja die Stimmführer der nationalräthlichen Majorität hiezu auch ein Wort zu sprechen haben. Wir fürchten auch sehr, daß später der Ständerath gegenüber dem Nationalrathe «'Jeder eine Kapitulation eingehen dürfte,, gegen welche wir dann den Appell an die Volksinstanz ergreifen müßten. Darum ist, zumal bei der Zerfahrenheit, welche sich im Schöße des Nationalrathes zeigte, zweifellos der einzig richtige Ausweg, wenn das Gesetz für dermalen, ich betone für d e r m a l e n , an den Bundesrath zurückgewiesen wird. Wir möchten dann aber den Bundesrath und unsere ehrenwerthen politischen Gegner dringend bitten, sie wollen unsere Postulate einer reifen, objektiven Prüfung unterziehen, und sie werden sehen, daß dieselben keineswegs schroff gefaßt und keineswegs unerfüllbar sind, sondern daß deren Gewährung im intensivsten Interesse einer friedlichen Entwickelung unseres öffentlichen Lebens liegt.

Gegen den Vorwurf, daß ich den Antrag auf dermaliges Nichteintreten zu breitspurig vertheidigt habe, möchte ich, hochverehrte Herren Kollegen, dadurch mich entschuldigen, daß manche grundsätzliche Frage mit diesem uns aufoktroirten Antrage in innigster,, unlösbarer Wahlverwandtschaft steht, und daß es der Würde des Ständerathes und der Pflicht seiner Kommission kaum entsprochen hätte, wenn man über ein staatsrechtliches Fundamentalgesetz, mit dessen Berathung sich die andere Kammer wochenlang abmühte, ohne alle Motivirung und ohne alle grundsätzliche Diskussion zur Tagesordnung schreiten würde. Aus der altdemokratischen Landsgemeinde-Idee und aus der Volksgesetzgebung Alt-Fry-Rhätiens entwickelte sich diegemeineidgenössische Landsgemeinde. Es hebt dieselbe ungemein das Gefühl der Zusammengehörigkeit unter dem Volke der Eidgenossen; ein Sonntag, wo ungefähr eine halbe Million freier, wehrhafter Männer zur Urne schreitet, um über die Grundfragen und die künftigen Geschicke des Vaterlandes zu entscheiden, ist immer ein hochfeierlicher, erhebender Moment für jeden freigesinnten Patrioten, und auch die föderalistischen Elemente können sich mit der gemeinschweizerischen Landsgemeinde innert dem Rahmen der Bundesverfassung gut befreunden, weil ja der
föderative Gedanke weit- und tiefverzweigte Wurzeln hat im Volke der Eidgenossen.

Bin solcher Volksentscheid besitzt doch wahrhaftig mehr Solennität und eine nicht geringere naturrechtliche Sanktion, als das Edikt einer knappen Parlamenlsmehrheit oder einesabsolutenn Herrschers a u f d e m Throne.

Darum i s t e s allerdings hochwichtig, d a ß

d

61 gesetzlicher Garantie umkleidet sei. In einem gesetzlos anarchischen Zustande leben wir aber auch dermalen dießbezüglich nicht im Schweizerlande, und noch viel wichtiger ist es, daß das Rechtsund Würdegefühl der Nation alle Ungebühr von sich ablehnt, und daß eine gesunde öffentliche Meinung gegen alle Fälschung und gegen alle widerrechtliche Beeinflussung des Volkswillens mit aller Entschiedenheit Protestation erhebt. Und ein kaum minder wichtiges Element der staatlichen Organisation und des öffentlichen Lebens besteht in der gesetzlichen Garantie, daß die Volkskammer, diesellegislative Wahlkörper für Landesregierung und Gerieht, sich stets in thunlichster Harmonie mit dem souveränen Willen der Nation befinde, und daß die Wahlart dieser Volkskammer eine thunliehst treue Vertretung der Nation verbürge. Nur soweit dieß geschieht, ist das Repräsentativsystem Wahrheit und nicht eine schlimme, trügerische Fiktion. Wir wollen nun zu einem organisatorischen Gesetze helfen, welches für eine exakte Ermittelung des Volkswillens in den Urversammlungen und für eine richtige Repräsentanz des Volkswillens im obersten Rathe der Nation innert dem Kahmen des praktisch Erreichbaren gleichzeitige Gewähr bietet. Dieses g l e i c h z e i t i g e Vorgehen ist ein Postulat der Logik, und es ist für uns auch taktisch höchst gerechtfertigt und begründet. Darum müssen wir es bei aller Friedensliebe als eine conditio sine qua non hinstellen. Und wenn wir in allerletzter Zeit gezeigt, daß wir auf sozialem Boden zu tiefgreifenden Reformen gerne die Hand bieten, und wenn ganz zweifellos feststeht, daß jeder große, nachhaltige Portschritt im Vaterlande das friedliche, patriotische Zusammenwirken der verschiedenen Parteien zur unerläßlichen Vorbedingung hat, so dürfen wir denn doch mit verdoppeltem Recht erwarten und verlangen , daß endlich hald einmal ein ergänzender hundesrälhlieher Antrag zum Abstimmungsgesetze, bezielend eine gründliche Revision des Gesetzes über die Wahlkreiseintheilung.

dem politischen Frieden im Lande die intensivste Förderung verleihe.

In d i e s e r Hoffnung und mit d i e s e r Wegleitung, Überhaupt zu möglichst baldiger Erzielung einer Vorlage, die auf dem Wege der Verständigung der Annahme durch alle Parteien thunliehst gewiß sein kann, und aus dem fürwahr sehr nahe liegenden Beweggrunde, daß
dieses so erwünschte Endziel hei der obwaltenden Divergenz der Anschauungen ohne die Initiative und die Mitbethätigung des Bundesrathes, zumal bei der sachbezüglichen Situation im andern Eathe, kaum erreichbar ist, beantragen wir keineswegs definitive S t r e i c h u n g des Verhandlungsgegenstandes

62 aus Abschied und Traktanden, sondern d e r m a l i g e Ruckweisung der Vorlage an den Bundesrath.

Mit vollkommener Hochachtung!

B e r n , den 9. Dezember 1885.

Namens der einen Kommissionshälfte, Deren Berichterstatter: Theodor Wirz.

Obiger Bericht wurde abgegeben im Kamen der Herren Schultheiß F i s c h e r , Dr. L or e tan und des Berichterstatters.

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Bericht einer Fraktion der ständeräthlichen Kommission betreffend die Eintretensfrage in die Berathung des Gesetzentwurfes über eidgenössische Wahlen und Abstimmungen. (Vom 9. Dezember 1885.)

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Bundesblatt

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1886

Année Anno Band

1

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03

Cahier Numero Geschäftsnummer

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23.01.1886

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