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Schreiben des

Bundesrathes an die Haftpflichtgesetz - Kommission des Nationalrathes, betreffend die Haftpflicht für innere Krankheiten (Art. 5, litt, d, des Fabrikgesetzes, Art. 1bis des Haftpflichtgesetzentwurfes).

(Vom 28. September 1886.)

Hochgeehrte Herren !

Wir haben, veranlaßt durch Umstände, welche nach dem Zeitpunkt unserer Vorlage betreffend Ausdehnung der Haftpflichtgesetzgebung eingetreten sind, die Ehre, Ihnen hiernit nachträglich die Aufnahme einer neuen Bestimmung in den Gesetzesentwurf betreffend die Ausdehnung der Haftpflicht zu beantragen.

Art. 5, litt, d, des Bundesgesetzes betreffend die Arbeit in den Fabriken lautet: ,,Der Bundesrath wird überdies diejenigen Industrien bezeichnen, die erwiesenermaßen und ausschließlich bestimmte gefährliche Krankheiten erzeugen, auf welche die Haftpflicht auszudehnen ist."

Und Art. 3 des Bundesgesetzes betreffend die Haftpflicht aus Fabrikbetrieb bestimmt: ,,In denjenigen Industrien, welche der Bundesrath in Ausführung von Art. 5, litt, d, des Fabrikgesetzes als solche bezeichnet, die gefährliche Krankheiten erzeugen, haftet der Betriebsunternehmer auch für den durch Krankheit eines Angestellten oder eines Arbeiters entstandenen Schaden, wenn die Erkrankung erwiesenermaßen und ausschließlich durch den Betrieb der Fabrik erfolgt ist."

Es geht aus diesen Gesetzesbestimmungen hervor, daß der Bund prinzipiell eine Haftbarkeit für spezifische Berufskrankheiten in Fabriken ausgesprochen hat, daß aber dieselbe faktisch erst dann eintritt, wenn der Bundesrath sich seiner Aufgabe, eine Liste der Bundesblatt. 38. Jahrg. Bd. III.

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betreffenden gefährlichen Industrien aufzustellen, entledigt haben wird; bis dahin ist der gesetzliche Schutz des Arbeiters gegen die Folgen dieser Erkrankungen absolut unwirksam.

Angesichts dieser zwingenden Sachlage und der uns obliegenden Verantwortlichkeit haben wir seit Bestehen des Fabrikgesetzes Jahr für Jahr Versuche angestellt, die Aufgabe zu lösen. Aber die jeweilen zu diesem Zwecke unternommenen Untersuchungen fielen derart aus, daß es uns bis zur Stunde nicht gelungen ist, den erwähnten Art. 5, litt, d, zu vollziehen, und daß wir an dieser Stelle ganz positiv erklären müssen, die Vorschrift nach ihrem gegenwärtigen Wortlaute nicht vollziehen zu können.

Sie finden Näheres über diese Angelegenheit in der auch bei den Akten Ihrer Kommission befindlichen Sammlung der Dokumente, welche unser Handels- und Landwirthschaftsdepartement anläßlich seiner Studien zur Haftpflichtgesetzgebung gesammelt und zusammengestellt hat; in dem daselbst reproduzirten Schreiben avagenannten Departements vom 11. Oktober 1884 an den damaligen Herrn Bundesgeriehtspräsidenten (ein Auszug dieses Sehreibens ist am Schlüsse des gegenwärtigen abgedruckt) sind die Gründe, welche die Vollziehung des Art. 5, litt, d, hindern, weitläufig angegeben, und es dürfte daher überflüssig sein, an dieser Stelle die betreffenden Auseinandersetzungen zu wiederholen. Wir beschränken uns darauf, zu bemerken, daß auch unsere seitherigen Erfahrungen auf diesem Gebiete dieselben gänzlich bestätigen.

Trotzdem war unsere Expertenkommission, welche in ihren Sitzungen vom 12. und 13. Mai a. c. die Revision der Haftpflir.htgesetzgebung behandelte, nicht geneigt, auf den positiven Ani rag unseres HandetéOepartements, den Bundesrath durch eine in das neue Gesetz aufzunehmende Bestimmung von der erwähnten unausführbaren Verpflichtung zu befreien, einzutreten, indem die Ansicht vorwaltete, es dürfte nochmals der Versuch zur Aufstellung einer Liste der gefährlichen Industrien gemacht werden, welche immerhin nur diejenigen umfassen würde, deren Verhältnisse genügend bekannt wären, Der Versuch wurde demzufolge wieder unternommen ; die betreffende Liste enthielt nur diejenigen wenigen Industriezweige, über welche man mit einiger Sicherheit das Verdikt verhängen zu können glaubte (Bericht des Herrn Dr. Schuler vom 18. Mai).

Es schien nur billig, das Projekt Vertretern der in Aussicht genommenen Industrien mitzutheilen und dieselben ebenfalls anzuhören (Schreiben vom 27. August).

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Eine bezügliche Konferenz fand am 4. September a. c. in Ölten statt; ihr Resultat war derart (Bericht des Hrn. Schuler vom 7. September), daß wir ein für alle Mal darauf verzichten müssen, fernere Anstrengungen behufs Ausführung von Art. 5, litt, d, zu machen. Die Berathungen zeigten abermals, daß diese Anstrengungen ganz vergebliche wären. Die Gründe, welche vorgebracht wurden, entsprachen ganz den irn oben zitirten Schreiben des Handelsdepartements vorn 11. Oktober 1884 enthaltenen Auseinandersetzungen. Einerseits wurde die Seltenheit von Erkrankungen auch in gefährlichen Industrien hervorgehoben, andererseits Schaffung gleichen Rechts für Alle gefordert, was eben seine unübersteiglichen Schwierigkeiten hat, wenn die Lösung auf administrativem Wege gesucht werden muß. Man sträubte sich gegen die Proskription einzelner Industriezweige, welche das Ehrgefühl der betroffenen Industriellen verletze und das Ansehen ihrer Geschäfte schmälere; die wirklich giftigen Prozeduren beschränken sich auf eine sehr geringe Zahl, und es sollte nicht an deren Stelle die ganze Industrie an den Pranger gestellt werden. Hinwiederum sei die Anwendung eines schädlichen Verfahrens oder eine spezifische Erkrankung in den mannigfaltigsten Geschäftezweigen möglich, aber solchen Zufälligkeiten und Unregelmäßigkeiten unterworfen, daß eine allgemeine Unterstellung jener unter die Haftpflicht nicht gerechtfertigt werden könne und so eine ungleiche Behandlung der Industrien entstehe, etc. Im Uebrigen braucht man nur einen Blick in die umfangreiche Literatur auf dem Gebiete der gewerblichen Hygieine zu werfen, um darüber belehrt zu sein, daß die größten Autoritäten desselben über die physiologischen Wirkungen vieler in Industrie und Gewerbe vorkommenden gesundheitsschädlichen Stoffe uneinig gehen oder nur schwankende und unsichere Angaben machen.

Es ist aber möglich, einen andern Modus zu finden, um das bestehende Prinzip der Haftbarkeit für spezifische Berufskrankheiten zur Ausführung zu bringen, und sobald dies festgestellt ist, auch dringlich, den gegenwärtigen Zustand zu ändern.

Wir wenigstens müssen jede Verantwortlichkeit für die Folgen, welche aus einer fernem Belassung desselben entstehen, ablehnen, und beantragen Ihnen, in Rücksicht auf diese Dringlichkeit eine befriedigende Lösung dadurch herbeizuführen, daß in den
Gesetzesentwurf betreffend die Ausdehnung der Haftpflicht und die Ergänzung des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1881 nach dem Art. i folgender neue Artikel eingeschaltet würde : Art. 2. Artikel 3 des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1881 wird abgeändert wie folgt : ,.,In denjenigen Industrien, welche gefährliche Krank,,heiten erzeugen, haftet der Betriebsunternehmer auch für

848 ,,den durch Krankheit eines Angestellten oder eines Arbeiters ,,entstandenen Schaden, wenn die Erkrankung erwiesener,,maßen und ausschließlich durch den Betrieb der Fabrik ,,erfolgt ist.

,,Art. 5, litt, d, des Bundesgesetzes vom 23. März 1877 ,,ist aufgehoben. Immerhin bleibt dem Bundesrathe die ^Befugniß vorbehalten, gefährliche Krankheiten erzeugende ^Industrien von sich aus dem gegenwärtigen Artikel 3 zu ,,unterstellen."

Dieser Artikel eignet sich sehr gut zur Aufnahme in, den erwähnten Gesetzesentwurf, welcher bekanntlich noch andere Bestimmungen des Haftpflicht- und Fabrikgesetzes berührt. Nach demselben bleibt das Prinzip bestehen, nur die dem Bundesrath auferlegte Verpflichtung fällt als solche weg. An seine Stelle tritt in der Regel, nach Maßgabe von Art. 11 des Haftpflichtgesetzes von 1881, der Richter, welcher in jedem einzelneu Streitfalle, gestützt auf medizinische und chemische Expertisen, zu entscheiden hat, ob eine ,,Erkrankung erwiesenermaßen und ausschließlich durch den Betrieb einer Fabrik erfolgt istu. Was in allgemeiner Weise bezüglich der Verursachung der Berufskrankheiten nicht festgesetzt werden kann, ist für den einzelnen Fall zu eruiren möglich.

Den Vorbehalt betreffend die bundesräthliche Kompetenz haben wir beigefügt, um unsere beiden bisher auf Grund von Art. 5, litt, d, des Fabrikgesetzes gefaßten Beschlüsse, nämlich Art. l des Reglements über die Fabrikation und den Verkauf von Zündhölzchen, vom 17. Oktober 1882, und Ziffer 3 des Beschlusses betreffend die Jacquard Webereien, vom 29. November 1884, fortbestehen zu lassen und für ähnliche Fälle die gleiche Vollmacht zu besitzen.

Wir halten es deßhalb für zweckmäßig, unsere angeführten Beschlüsse aufrecht zu erhalten, weil sie sich auf allgemein anerkannte typische Berufskrankheiten (Phosphornekrose und Bleivergiftung) beziehen, und deren Aufhebung den Glauben erwecken könnte, als bestände die Haftpflicht für diese nicht mehr.

Wir empfehlen Ihnen unsern Antrag dringend zur Berücksichtigung und benutzen diesen Anlaß, Sie, Tit., unserer vollkommensten Hochachtung zu versichern.

B e r n , den 28. September 1886.

Namens des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Deucher.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

849 Beilage.

.A. u. s z u. gaus

dem Schreiben des Schweiz. Handels- und Landwirthschaftsdepartements an Herrn Bundesgerichtspräsident Roguin.

(Vom 11. Oktober 1884.)

-AAls unser Departement die ersten Untersuchungen anstellte, um die Anhaltspunkte für seine Anträge an den Bundesrath zur Ausführung der zitirten Vorschrift (Art. 5, litt, d, des Bundesgesetzes betreffend die Arbeit in den Fabriken) zu gewinnen, schien es auf den ersten Blick, daß der einfachste Weg der sei, die Namen der Industrien, welche die definirten Krankheiten erzeugen, in eine Liste zu vereinigen, z. B.: Zündholzfabrikation, Bleiweißfabrikation, Tapetenfabrikation, Spiegelbelegerei etc. Bei eingehendem Studium stellten sich aber folgende Hindernisse entgegen: 1. Es ist schlechterdings unmöglich, eine solche Liste aufzustellen, welche auch nur einigermaßen Anspruch auf Vollständigkeit haben könnte. Letzteres in doppelter Hinsicht : a. Einmal sind die Zweige unserer Industrie so mannigfaltig und verwickelt, daß man nicht einmal von allen weiß, ob sie gesimdheitsgefährliche Stoffe verwenden oder hervorbringen. Bei dem Mangel des Patentschutzes würde auch durch eine umfassende Enquête Vieles nicht aufgeklärt werden können, sondern vom Mantel des Fabrikgeheimnisses verhüllt bleiben.

Der Uebelstand, den wir hier im Auge haben, tritt noch deutlicher hervor, wenn wir beifügen, daß man gewisse Industrien nicht unter der herkömmlichen allgemeinen Bezeichnung dein zitirten Art. 5 d subsumiren könnte, da nur einzelne Branchen derselben die Gesundheit des Arbeiters im Sinne desselben beeinflussen, andere aber nicht, so daß man , um seinem Wortlaut gerecht zu werden, nur die erstem auf die Liste nehmen dürfte, wenn man sie genau kennte; so bei der großen ,,ehemischen Industrie".

850 b. Wenn es sodann auch gelänge, diese Schwierigkeit zu überwinden, so würde die gewonnene Liste nur eine vorübergehende Existenz haben und oft revidirt werden müssen, da bei den steten Wandlungen der Technik schädliche und unschädliche Verfahren einander von heute auf morgen ablösen. Mit welchen Unzukömmlichkeiten es verbunden wäre, unsere Liste mit erstem Schritt halten zu lassen, liegt auf der Hand ; es wäre wohl nicht zu vermeiden, daß die Abänderungen derselben meistens zu spät kämen, d. h. erst durch eingetretenen Schaden hervorgerufen würden.

2. Könnte man trotzdem dazu kommen, die nacli Art. 5 d haftpflichtigen Industriezweige in ein Verzeichniß zu bringen, so läßt sich schon jetzt überblicken, daß dasselbe einen so geringfügigen Prozentsatz der schweizerischen Industrie umfassen würde, daß man sich fragt, ob die große prinzipielle Wichtigkeit eines bezüglichen Dekrets im Verhältniß stände zur Bedeutung seines Gegenstandes. Dasselbe würde zudem nur die größern Etablissemente, deren Zahl in der Schweiz gering ist, betreffen, nicht aber diejenigen, welche wegen ihrer Kleinheit nicht unter das Fabrikgesetz fallen, in denen jedoch durch die Mangelhaftigkeit des Betriebes die Gesundheit der Arbeiter gewöhnlich arn meisten gefährdet ist, 3. Trotzdem würde aber die Liste andererseits wieder zu umfassend sein, da sie keinen Unterschied zwischen den ihr unterstellten Etablissementen machen kann, während doch bekannt ist, daß in genau ein und derselben Industrie je nach dem Gutfinden des Fabrikanten, der hergebrachten Sitte etc., für die Darstellung des nämlichen Produktes gefährliche und ungefährliche Verfahren angewendet werden. Die nach letztern arbeitenden Geschäfte würden durch die Maßregel ungerecht betroffen, d. h. sie hätten nicht die Haftpflicht als solche, wohl aber Unannehmlichkeiten und Streitigkeiten wegen angeblicher Haftpflichtfälle, sowie das an der gebrandmarkten Industrie haftende Odium zu befürchten.

B.

Als sich nach der angedeuteten Richtung kein Ausweg zeigte, verfiel man auf den Gedanken, nicht die Namen der haftpflichtig zu erklärenden Industrien auf eine Liste zu setzen, sondern die Stoffe, welche die in litt, d des Art. 5 genannten Krankheiten erzeugen, resp. die Industrien, welche die und die Stoffe verwenden.

Aber auch gegenüber einer solchen Ausführung des Gesetzes machen sich wichtige Bedenken geltend.

851 1. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß sie dem Sinne sowohl als dem Wortlaute, der Gesetzesbestimmung nicht entpricht.

Letztere verlangt geradewegs die Bezeichnung, d. h. die Benennung ·der Industrie, welchem Postulate aber keine Folge gegeben wird, wenn man es bloß zu umsehreiben sucht, in der Weise, daß man sagt: ,,Die Industrien, welche Phosphor (betr. die Zündholzfabriken s. d. Reglement vom 17. Oktober 1882, Art. 1. Amtl. Samml. VI, 501), Blei, Arsen, Quecksilber etc. verwenden, sind haftpflichtig" ; aus diesem Satz müßten dann erst sekundär die Namen der betreffenden Industrien gefolgert werden, während sie direkt gegeben sein sollten. Wir sind daher zur Ansicht geneigt, daß ein Bundesrathsbeschluß dieser Art nicht als gültig betrachtet würde.

2. Aber auch technische Gründe stehen der Ausführung der aweiten Auffassung entgegen, und zwar theilweise die nämlichen, ·wie gegenüber derjenigen der ersten : Die Aufzählung der schädlich wirkenden Stoffe könnte nicht erschöpfend sein, indem es unmöglich zu vermeiden wäre, daß der ·eine oder andere, bei der unendlichen Mannigfaltigkeit der vorhandenen (nmn denke nur an die organische Chemie), übersehen würde, ·da ferner solche zur Verwendung gelangen, von denen es früher nicht geschah, oder welche überhaupt neu entdeckt werden.

Die Aufzählung würde unbedingt --· und es wäre dies als ·durchaus unstatthaft zu betrachten -- auch Industrien treffen, in welchen der bezügliche Stoff zwar vorkommt, aber in ganz ungefährlicher Weise. * Ebenfalls gilt hier, was oben unter A. 2 bemerkt wurde.| Im Allgemeinen ist sodann noch hervorzuheben, daß wir uns mit der besprochenen Materie auf einem sehr unsichern Gebiet der Gewerbehygieine befinden. Die physiologischen Wirkungen vieler Stoffe sind noch nicht genau erforscht oder überhaupt nicht bekannt; eine Menge von Widersprüchen ist noch ungelöst geblieben.

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Schreiben des Bundesrathes an die Haftpflichtgesetz - Kommission des Nationalrathes, betreffend die Haftpflicht für innere Krankheiten (Art. 5, litt, d, des Fabrikgesetzes, Art.

1bis des Haftpflichtgesetzentwurfes). (Vom 28. September 1886.)

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