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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über die Beschwerde von Dr. Boinay und Konsorten gegen den Beschluß des Bundesrates betreffend den Religionsunterricht im Seminar von Pruntrut.

(Vom 4. Dezember 1902.)

A.

Der Bundesrat hat am 15. August 1902 über die Beschwerde von Dr. B o i n a y und K o n s o r t e n gegen den Beschluß des Regierungsrates dea Kantons Bern d. d. 22. Januar 1902 betreffend den Religionsunterricht im Seminar von Pruntrut folgenden Beschluß gefaßt: I.

Mit Eingabe vom 25. März 1902 haben Dr. Boinay und Konaorten eine Beschwerde beim Bundesrat eingereicht, in welcher sie das Rechtsbegehren stellen, es möge der Bundesrat unter Aulhebung eines Beschlusses des bernischen Regierungsrates vom 22. Januar 1902 erkennen, daß der Religionsunterricht, wie er in der Ecole normale zu Pruntrut erteilt werde, eine Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger, insbesondere der römisch-katholischen Bürger des bernischen Jura bedeute, und den Regierungsrat des Kantons Bern einladen, den Religionsunterricht der römisch-katholischen Schüler an der Ecole normale in Pruntrut in einer den Grundsätzen der Rechtsgleichheit und der Gewissensfreiheit entsprechenden Weise einzurichten.

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Der Rekurs stützt sich darauf, daß die Art und Weise, in der zur Zeit die Stelle eines Religionslehrers an der Ecole normale in Pruntrut besetzt sei, eine Verletzung der Art. 4, 5 und 49 der Bundesverfassung bilde. Die Rekurrenten geben zu, daß für ihren Rekurs, soweit er sich hierauf gründe, das Bundesgericht zuständig sei, und zeigen zugleich an, daß sie eine staatsrechtliche Beschwerde auch beim Bundesgericht eingereicht haben. Die Kompetenz des Bundesrates sei aber insofern gegeben, als er darüber zu wachen habe, daß die Vorschriften der Bundesverfassung und der gewährleisteten Verfassung des Kantons Bern beobachtet werden. Wenn auch das Bundesgericht den Rekurs gutheiße und den Beschluß der Berner Regierung aufhebe, so dauere der, eine Verfassungsverletzung iuvolvierende tatsächliche Zustand in der Ecole normale in Pruntrut doch fort, und nur durch das Eingreifen des Bundesrates, d. h. der vollziehenden Behörde der Eidgenossenschaft, könne die bernische Regierung zu einer Änderung dieses Zustandes veranlaßt werden.

II.

Durch Urteil vom 1. Mai 1902 hat das schweizerische Bundesgericht, nachdem zuvor ein Meinungsaustausch über die Priorität der Entscheidung zwischen ihm und dem Bundesrate stattgefunden hatte, die bei ihm eingereichte Beschwerde des Dr. Boinay und Konsorten wegen Mangels der Aktivlegitimation der Rekurrenten abgewiesen.

In Er w ä g u n g :

daß die Intervention des Bundesrates nur als ausführender Behörde angerufen wird für den Fall des Zuspruches des Rechtsbegehrens der Rekurrenten durch das Bundesgericht; daß das Bundesgericht das Begehren der Beschwerdeführer durch Urteil vom 1. Mai 1902 abgewiesen hat; daß somit die Erfordernisse für das Einschreiten des Bundesrates im Sinne der Rekurrenten nicht gegeben sind ; daß daher die Beschwerde als gegenstandslos zu betrachten ist ; daß auch die Voraussetzungen für ein Einschreiten des Bundesrates von sich aus im Sinne von Art. 102, Ziffer 2, Bundesverfassung nicht vorliegen, wird erkannt: Die Beschwerde wird am Protokoll des Bundesrates als erledigt abgeschrieben.

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B.

I.

Die Rekurrenten Dr. Boinay und Konsorten haben gegen diesen Beschluß mit einer Eingabe vom 11./15. Oktober 1902 die Weiterziehung ihrer Beschwerde an Ihre Behörde erklärt und die Aufhebung des Beschlusses verlangt, sowie den Erlaß eines materiellen Entscheides durch Ihre Behörde.

Die Rekurrenten erklären, der Bundesrat habe ihre Beschwerde materiell abgewiesen; die Annahme des Bundesrates aber, sie (die Rekurrenten) hätten seinerzeit ihre Beschwerde nur unter der Bedingung beim Bundesrat anhängig gemacht, daß die von ihnen beim Bundesgericht eingereichte Beschwerde zugesprochen würde, sei unrichtig. ,,Tatsächlich11, so führen sie aus, ,,haben vielmehr die Rekurrenten in ihrer Beschwerde an den Bundesrat behauptet, und behaupten sie jetzt noch, daß gemäß Art. 178, Ziffer 2, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893 in Verbindung mit Art. 190 leg.

cit. der von den Rekurrenten angefochtene Beschluß der bernischen Regierung vom 22. Januar 1902 als eine ,,allgemein verbindliche" Verfügung betrachtet werden muß, und daß aus diesem Grunde das Einschreiten des Bundesrates gerechtfertigt ist, unabhängig von einem Urteil des Bundesgerichtes."

n.

Die Beschwerde beruht auf einer gänzlichen Verkennung der Kompetenzausscheidung, welche gemäß der Bundesverfassung und in Ausführung derselben durch das Organisationsgesetz zwischen den politischen und richterlichen Behörden der Eidgenossenschaft besteht.

1. Die Rekurrenten verlangen ein Einschreiten der politischen Bundesbehörden, ,,unabhängig von einem Urteil des Bundesgerichtes''. Der von ihnen angerufene Art. 190 des Organisationsgesetzes lautet: ,,Die Bestimmungen der Art. 178 und 182 sind auf die vom Bundesrate zu beurteilenden staatsrechtlichen Streitigkeiten anwendbar, sofern nicht ein Beschwerdefall vorliegt, wo der Bundesrat als Vollziehungsbehörde auch von Amtes wegen einzuschreiten hat.

,,Die Bestimmungen der Art. 183, Abs. l, 184, 186 und 187, Abs. l, finden auf das Verfahren vor dem Bundesrate und der Bundesversammlung entsprechende Anwendung."

Es stellt sich die Frage: Gibt dieser Artikel dem Bundesrat resp. der Bundesversammlung die Kompetenz zum Einschreiten

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und zum Erlaß einer Verfügung, sobald die Verletzung einer Bundesverfassungsbestimmung durch eine ,,allgemein verbindliche"1 kantonale Verfügung behauptet wird? Keineswegs. Art. 190 nimmt überhaupt keine Kompetenzausscheidung oder -zuscheidung vor. Er hat bloß prozessuale Bedeutung, indem er die für das Verfahren in staatsrechtlichen Beschwerden vor dem Bundesgericht aufgestellten Form Vorschriften auch für das vor dem Bundesrat zu beobachtende Verfahren verbindlich erklärt. Von diesen Prozeßvorschriften ist der Natur der Sache nach ausgenommen die Behandlung derjenigen Fälle, in denen der Bundesrat überhaupt nicht auf Antrag einer Partei, sondern ,,von Amtes wegen einschreitet", diese Ausnahme erwähnt der Nachsatz in Absatz l des Art. 190 ausdrücklich. Welches nun aber diese Ausnahmefälle sind, in denen der Bundesrat vom Amtes wegen einzuschreiten hat, sagt Art. 190 des Organisationsgesetzes nicht. Die Berufung der Rekurrenten auf diesen Artikel zum Beweise dafür, daß der Bundesrat in der vorliegenden Beschwerde von sich aus hätte einschreiten · sollen, oder daß die Bundesversammlung einschreiten müsse, ist daher von vorneherein verfehlt.

2. Die Kompetenzen, welche der Bundesrat als vollziehende Behörde besitzt, die von Amtes wegen einsehreitet, auf welche Art. 190 Bezug nimmt, sind in Art. 102, Ziffer 2. der Bundesverfassung umschrieben. Ziffer 2 lautet: Der Bundesrat ,,hat für die Beobachtung der Verfassung, der Gesetze und Beschlüsse des Bundes, sowie der Vorschriften eidgenössischer Konkordate zu wachen; er trifft zur Handhabung derselben von sich aus oder auf eingegangene Beschwerde, soweit die Beurteilung, solcher Rekurse nicht nach Art. 113 dem Bundesgerichte übertragen ist, die erforderlichen Verfügungen".

Und Art. 113 der Bundesverfassung bestimmt: ,,Das Bundesgericht urteilt ferner: 1. über Kompetenzkonflikte zwischen Bundesbehörden einerseits und Kantonalbehörden andererseits; 2. über Streitigkeiten staatsrechtlicher Natur zwischen Kantonen; 3. über Beschwerden betreffend Verletzung verfassungsmäßiger Rechte der Bürger, sowie über solche von Privaten wegen Verletzung von Konkordaten und Staatsverträgen.

\rorbehalten sind die durch die Bundesgesetzgebung näher festzustellenden Administrativstreitigkeiten. tt .

Das Organisationsgesetz vom 22. März 1893 hat in Art. 175 zunächst die Bestimmung des Art. 113 der Bundesverfassung in fast wörtlicher Wiedergabe wiederholt, wonach die Kompetenz des

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Bundesgerichtes sich auf alle Fälle erstreckt, in denen die Verletzung eines Bundesverfassungsartikels behauptet wird, es sei denn, daß die betreffende Beschwerde als eine staatsrechtliche Administrativstreitigkeit in die Hände der politischen Bundesbehörden gelegt sei.

Die Rekurrenten haben sich, wie wir in unserm Beschluß vom 15. August 1902 erwähnten, über eine Verletzung der Art. 4, 5 und 49 der Bundesverfassung beschwert. Da nun der Vorbehalt, Verletzungen der genannten Artikel zu beurteilen, im Organisationsgesetz zu gunsten des Bundesrates nicht gemacht ist, so fällt die materielle Entscheidung der Beschwerde in die ausschließliche Kompetenz des Bundesgerichtes. (Vergleiche das bei den Akten liegende Schreiben des Bundesrates an das Bundesgeiicht vom 15. April 1902, das Urteil des Bundesgerichtes vom 1. Mai 1902 und das Zustimmungsschreiben des Bundesgerichtes an den Bundesrat vom 20. Mai 1902.) Das Bundesgericht hat seine Kompetenz zur Beurteilung der Beschwerde, weil dieselbe sich auf die angeführten Verfassungsartikel stütze, ausdrücklich anerkannt. Durch die Kompetenz des Bundesgerichtes aber ist diejenige des Buodesrates, der politischen Behörden überhaupt, in der vorliegenden Sache ausgeschlossen.

3. Das Urteil des Bundesgerichtes läßt es offen, ob dem angefochtenen Regierungsratsbeschluß vom 22. Januar 1902 der Charakter einer ,,allgemein verbindlichen" Verfügung zukommt oder nicht; darauf kommt nichts an: im einen wie im andern Falle, erklärt das Gericht, steht auf Grund der Prozeßvorschriften des Organisationsgesetzes nur demjenigen Bürger ein Beschwerderecht zu, welcher persönlich eine Rechtsverletzung erlitten hat.

Diese Beschwerdevoraussetzung hat das Gericht in der Person der Rekurrenten als nicht erfüllt betrachtet, und dieselben wegen mangelnder Aktivlegitimation abgewiesen.

Wenn nun die Rekurrenten darauf beharren, daß dem Regierungsratsbeschluß vom 22. Januar 1902 ,,allgemein verbindliche01 Bedeutung beizulegen sei, in dem Sinne, daß auch sie in den ihnen durch die Bundesverfassung gewährleisteten subjektiven Rechten verletzt seien, so treten sie in W i d e r s p r u c h mit dem U r t e i l d.es B u n d e s g e r i c h t e s . Sie verneinen die Erwägung des Bundesgerichtes, in welcher dasselbe ausspricht: ,,Im vorliegenden Falle beklagen die Rekurrenten sich vorerst über
eine Verletzung der verfassungsmäßigen Gewährleistung der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. Um diesen Verfassungsgrundsatz in ihrer Person zu verletzen, müßte die angefochtene Maßregel den Rekurrenten persönlich eine verschiedene und den übrigen Bürgern gegenüber schlechtere Behandlung angedeihen

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lassen. Dies ist aber nicht der Fall. Die Rekurrenten sind selbst nicht Zöglinge des Seminars in Pruntrut, und behaupten nicht einmal, die gesetzlichen Vertreter von Zöglingen zu sein, über die sie väterliche oder vormundschaftliche Gewalt hätten."

,,Ebenso verhält es sich mit dem zweiten Beschwerdepunkt der behaupteten Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit . . . Um zur Beschwerdeführung legitimiert zu sein, muß.

man ein gegenwärtiges, konkretes und persönliches Interesse haben, das einer Verletzung durch die angefochtene Maßregel fähig ist.

a Die Rekurrenten haben ein solches Interesse nicht nachgewiesen ,,Der staatsrechtliche Rekurs hat die Bestimmung, Private und Korporationen gegen Verletzungen subjektiver Rechte za schlitzen; er ist nicht ein Mittel politischer Agitation, noch ist er eine Popularklage."

4. Würde der Bundesrat respektive die Bundesversammlung, im Sinne der vorliegenden Beschwerde eine materielle Entscheidung treffen, so käme man zu einer Kompetenzenzuteilung, wonach das ßundesgericht zwar als Rekursinstanz für die ihm in Art. 113' der Bundesverfassung und Art. 175 ff. zugeschiedenen Verfassungsmaterien zuständig wäre, unter der prozessualen Voraussetzung,, daß bei ihm eine Beschwerde von einem durch die Verfassungsverletzung betroffenen Bürger eingereicht werde; in denjenigenFällen jedoch, wo die als verfassungswidrig angefochtene kantonale Verfügung allgemein verbindlichen Charakter hätte, hätteder Bundesrat g l e i c h z e i t i g ,,von sich aus oder auf eingegangeneBeschwerde" von Amtes wegen einzuschreiten. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine solche Kompetenzverwirrung nicht in der Absicht des Gesetzgebers hat liegen können.

Wir legen unserm Bericht das Antwortschreiben des Regierungsrates des Kantons Bern vom 8. Mai 1902 auf die Rekursschrift bei.

Auf Grund des Vorstehenden beantragen wir, Tit., Siemöchten die Beschwerde abweisen.

B e r n , den 4. Dezember

1902.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates,, Der Bundespräsident:

Zemp.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bericht des

Bundesrates an die Kommission des Ständerates für Prüfung des Geschäftsberichtes und der Rechnungen der Bundesbahnen pro 1901.

(Vom 8. Dezember 1902.)

Hochgeehrter Herr Präsident !

Hochgeehrte Herren !

In unserer Botschaft vom 4. Oktober 1902 betreffend Genehmigung des Berichtes des Verwaltungsrates der schweizerischen Bundesbahnen über die Geschäftsführung und die Rechnungen des Jahres 1901 bemerkten wir u. a., daß die Rechnungen, nachdem sie vom Eisenbahndepartement auf ihre Übereinstimmung mit dem Rechnungsgesetz geprüft worden seien, unterm 15. September unsere Genehmigung erhalten haben, und daß ein Gesuch der Generaldirektion um Wiedererwägung zweier Vorbehalte durch unseren Beschluß vom 29. September erledigt worden sei. Da der Bahnverwaltung gemäß Art. 16, Lemma 2, des Rechnungsgesetzes das Recht des Rekurses an das B u n d e s g e r i c h t zustehe, so unterliege keinem Zweifel, daß sich die B u n d e s v e r s a m m l u n g mit diesen Beschlüssen des Bundesrates nicht zu befassen habe.

Laut einer Zuschrift Ihres Herrn Präsidenten an den Vorsteher unseres Eisenbahndepartements wünschen Sie eine einläßliche Be-

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1902

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10.12.1902

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759-765

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