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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend das Gesuch des Zentralvorstandes der deutschschweizerischen Tierschutzvereine um Interpretation oder eventuell Ergänzung des Art. 65 des Bundesgesetzes über den Transport auf Eisenbahnen und Dampfschiffen.

(Vom 21. November 1902.)

Tit.

Der Zentralvorstand der deutschschweizerischen Tierschutzvereine hat mit Eingabe, datiert vom 20. März 1902, der Bundesversammlung folgendes Gesuch unterbreitet: ,,1. Die Bundesversammlung möchte den Art. 65 des Bundes.,gesetzes betreffend den Transport auf Eisenbahnen und Dampf,,schiffen vom 29. März 1893 dahin interpretieren, daß grobe ,,und gröbere Vergehen gegen die Bundesvorschriften über den ,,Viehtransport unter die Strafbestimmungen dieses Artikels 65 ,,fallen.

,,Eventuell, d. h. für den Fall, daß die Interpretation nicht ,,in diesem Sinne stattfände: Die Bundesversammlung möchte die bezüglichen Straf2.

bestimmungen dahin ergänzen, daß die vorstehend genannten

523 ,,Vergehen einheitlich durch ein eidgenössisches Gesetz bestraft ,,werden können.a Diese Eingabe haben Sie uns zur Berichterstattung überwiesen. Die Bestimmung des Art. 65 des Transportgese.tzes (A. S. n. F. XIII, 681), deren Interpretation resp. deren Ergänzung der Zentralvorstand der deutschschweizerischen Tierschutzvereine; anregt, hat folgenden Wortlaut: ,,Grobe Vernachlässigung der Pflichten, welche den Eisen,,bahn- oder Dampfschiffunternehmungen als Transportiibernehmern, ,,obliegen, kann gerichtlich mit einer Buße bis auf 1000 Franken, ,,bestraft werden. Bei Riickfall kann die Buße bis auf 5000 Franken, ,,erhöht werden.

,,Die Beurteilung unterliegt der Bundesgerichtsbarkeit.a Die vorliegende Fassung des Art. 65 des Transportgesetzes, weicht von dem Entwurf des Bundesrates zum Transportgesctz insofern ab, als in diesem die Anwendung der Strafkompetenz, für ,,Fortgesetzte Widerhandlungen gegen die Pflichten, welche den Eisenbahn- und Dampfschiffunternehmungen als Transportübernehmern obliegen" in Aussicht genommen war, von der Bundesversammlung eine solche aber nur bei ,,grober A^emachlässigunga dieser Pflichten zugestanden wurde. Wir machen, mit Rücksicht auf die Ausführung in der Begründung der Eingabe, welche sich an die Botschaft zum Entwurfe zum Transportgesetz vom 25. Oktober 1892 (Bundesbl. 1892, IV, 639) anlehnt, hier auf diesen Unterschied speziell noch aufmerksam, da er von den Petitionären übersehen worden ist.

Neben den Bestimmungen des Art. 65 des Transportgesetzes., bezieht sich die Eingabe noch auf die folgenden Vorschriften, deren Nichtbefolgung durch die Organe der Transportanstalten die Eingabe nach Maßgabe des erwähnten Art. 65 geahndet wissen mochte : 1. Die Polizeivorschriften für den Vichtransport auf den schweizerischen Eisenbahnen. Bundesratsbeschluß vorn 12. März 1888. (A. S. n. F. X 557.)

2. Die Bestimmungen des Abschnittes IX des vom Bundesrat am 11. Dezember 1893 genehmigten Transportregle m en tes der schweizerischen Eisenbahn- und Dampfsohiffunternehinungen, enthaltend die Vorschriften über die Beförderung lebender Tiere. (A. S. n. F. XIII, 797.)

Wir haben unser Justiz- und Polizeidepartement veranlaßt, sich über die gemachten Anregungen auszusprechen. Dasselbe-

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läßt sich gestützt auf ein Gutachten der schweizerischen Bundesamvaltschaft wie folgt über dieselben vernehmen: Die petitionierenden Vereine verlangen in erster Linie eine Interpretation des Art. 65 des Bundesgesetzes vom 29. März 1893 durch die Bundesversammlung in dem Sinne, daß als die dort ·erwähnte grobe Vernachlässigung der Pflichten, welche den Eisenbahn- und Dampfschiffunternehmungen obliegen, auch be·straft werde: das vorschriftswidrige Verladen von Vieh in einzelnen Fällen, und zwar bestraft werde durch Bußverfügung gegen die Unternehmung. Der Bundesrat hat bereits durch Schlußnahtne vom 7. Januar 1902 sich dahin ausgesprochen, daß eine derartige Anwendung des erwähnten Gesetzes unstatthaft sei, indem das Transportgesetz keine Bestimmungen über strafrechtliche Verantwortlichkeit einzelner Beamter oder Angestellter der Verkehrsanstalten für den Fall des Zuwiderhandelns gegen Vor·schriften über den Transport von Personen oder Waren enthalte, auch fehlen derartige Bestimmungen im Transportreglement vom 1. Januar 1894. Art. 65 des Gesetzes droht lediglich Bußen .an gegenüber grober Vernachlässigung von Pflichten, welche den Eisenbahn- und Dampfschifiunternehmungen obliegen, und es ist durch den Wortlaut dieser Gesetzesstelle selbst und im Zusammenhalt mit Art. 14 der Vollziehungsverordnung zum Transport.gesetz vom 11. Dezember 1893 (A. S. n. F. XIII, 756) durchaus klar, daß sie nur angewendet werden soll und darf auf pflichtwidrige allgemeine Maßnahmen der leitenden Organe der Bahngesellschaft oder Ungehorsam solcher gegen Verfügungen der ihr übergeordneten Aufsichtsbehörden des Bundes.

Dem Wunsche nach Gesetzesinterpretation durch die Bundesversammlung kann schon deswegen keine Folge gegeben werdenweil die angerufene Behörde zu einer solchen nicht durch aus, ·drücklichen Verfassungsgrundsate autorisiert worden ist, namentlich aber deswegen, weil nicht sie allein, sondern nur sie in Verbindung mit dem Schweizervolke zum Erlaß von Gesetzen berechtigt ist (vergleiche bundesgerichtliche Entscheidungen in Sachen Hasler vom 8. November 1890, Band XVI, pag. 674, Erwägung 2). Kein Gericht, weder das Bundesstrafgericht, noch ·eia solches der Kantone wäre verpflichtet, eine von der Bundes-versammlung ausgehende Gesetzesauslegung zu respektieren.

Die Eisenbahnunternehmungen könnten sich darauf berufen, -daß durch das Transportgesetz und die zugehörige Verordnung ·dasjenige vorgosorgt worden sei, was zur Vermeidung von Tier-

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·quälereien beim Viehtransport durch allgemeine Vorschriften vorgesorgt werden könne, und daß sie als Unternehmung dadurch ·entlastet seien.

Allgemeine polizeiliche Strafandrohungen wegen Übertretung Ton Transportvorschriften enthält nur Art. 6 des ßundesgesetzes über die Bahnpolizei, aber auch sie sind nicht gegen die Angestellten der Unternehmungen, sondern nur gegen Drittpersonen gerichtet, welche trotz Abmahnung des Bahnpersonals oder in ·sonstiger Kenntnis der Unzulässigkeit ihrer Handlungsweise den Vorschriften zuwiderhandeln. Erst bei Erlaß der Vollziehungsverordnung zum Bundesgesetz betreffend Organisation der schweizerischen Bundesbahnen ist für das Personal dieser speziellen ·Unternehmung ein Disziplinarstrafrecht eingeführt worden für den Fall, als Beamte, Angestellte und Arbeiter der Bundesbahnen ·absichtlich oder aus Fahrlässigkeit die ihnen obliegenden Pflichten mcht gehörig erfüllen (Art. 66 der Vollziehungs Verordnung zum ßundesgesetz betreffend die Erwerbung und den Betrieb von Eisenbahnen für Rechnung des Bundes und die Organisation der Verwaltung der schweizerischen Bundesbahnen vom 7. November 1899, A. S. n. F. XVII, 437). Der Bund ist daher auf Grund ·bestehender Gesetze nur berechtigt, das Personal der Bundesbahnen in einzelnen Fällen von Nichterfüllung der Pflichten bei ·Überwachung des Viehtransportes unter Strafe zu stellen. Um ·eine derartige Kompetenz auch gegen Angestellte der Privatbahnen ·.zu begründen, müßte die Bundesgesetzgebung über die Bahnpolizei erweitert werden, wozu aber kein Bedürfnis vorhanden ist. Das Justiz- und Polizeidepartement schließt sein Gutachten mit dem Antrag, das Gesuch um Interpretation oder Ergänzung des Art. 65
Der Generaldirektion der schweizerischen Bundesbahnen ist diese Anregung zur Kenntnis gebracht worden, und hat dieselbe in ihrer Vernehmlassung vom 11. Oktober 1902 den Nachweis .geleistet, daß die erforderlichen Anordnungen im Sinne derselben ·bei Erlaß des Reglements Nr. 3
der Bundesbahnen betreffend die ·allgemeinen Dienstvorschriften für die Beamten und die ständigen Angestellten vom 17. Oktober 1901 getroffen worden sind und Bundesbiatt. 54. Jahrg. Bd. V.

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daß spezielle Erlasse betreffend den Transport lebender Tiere' überflüssig erscheinen.

Die vorstehend wiedergegebenen Ausführungen unseres Justizund Polizeidepartements müssen wir als zutreffend anerkennen, und können uns denselben vollständig anschließen. Auch haltenwir den Erlaß weitergehender Disziplinarmaßnahmen für die schweizerischen Bundesbahnen, als sie im erwähnten Reglement Nr. 3 niedergelegt sind, für einmal nicht als erforderlich. Es darf abgewartet werden, welche Wirkung diese neuen Vorschriften rücksichtlich der beim Tiertransport zu Tage getretenen Unzukömmlichkeiten haben werden, ehe darüber entschieden wird,, ob weitere spezielle Anordnungen erforderlieh sind, zu deren Durchführung bei nachgewiesenem Bedürfnis bei der Verwaltung der Bundesbahnen zweifellos die erforderliche Bereitwilligkeit jederzeit vorhanden sein wird.

Wir beehren uns, Ihnen, Tit., zu beantragen, gestützt auf diese Darlegungen, der Eingabe des Zentralvorstaudes der deutschschweizerischen Tierschutzvereine keine weitere Folge zu geben.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 21. November 1902.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates,, Der Bundespräsident: Zemp.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Eingier.

-^*o*s:-

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26.11.1902

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