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Schweizerisches Bundesblatt.

40. Jahrgang. EI.

Nr. 35.

4. August 1888.

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Bundesrathsbeschluß betreffend

Aufhebung von vier Urtheilen des Obergerichts des Kantons Appenzell A. Rh., welche mit Art. 11 des Bundesgesetzes über die Arbeit in den Fabriken im Widerspruch stehen.

(Vom 31. Juli 1888.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r ath, nach Kenntnißnahme von vier Urtheilen des Obergerichts des Kantons Appenzell A. Rh., vom 26. März a. c., und der Akten, aus welchen sich ergibt: Bei seinen im Herbst des Jahres 1887 in den Stickereien des Kantons Appenzell A. Rh. vorgenommenen Inspektionen konstatirte der eidgenössische Fabrikinspektor des III. Kreises wiederholt, daß die Arbeitszeit an Samstagen auf 11 Stunden ausgedehnt und die 11. Stunde zur Vornahme von Reinigungsarbeiten verwendet wurde.

Er machte hievon der Kantonsregierung Anzeige, worauf die betreffenden Fabrikanten wegen Zuwiderhandlung gegen Art. 11 des Bundesgesetzes betreffend die Arbeit in den Fabriken dem Richter überwiesen wurden.

Es erfolgte indeß von Seite des Bezirksgerichts des Vorderlandes Freisprechung der Beklagten, gegen welches Urtheil die Kantonsregierung an das Obergericht appellirte, nachdem ihr gegenüber auch das schweizerische Industrie- und Landwirthschaftsdepartement mit Schreiben vom 10. März a. c. sich dahin ausgesprochen, daß ihm diese Rechtsprechung die Vollziehung des Bundesblatt. 40. Jahrg. Bd. III.

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970 erwähnten Gesetzes in hohem Grade zu gefährden scheine. Die Regierung betont in einer Antwort an das Industrie- und Landwirthschaftsdepartement vom 21. März a. c., daß alle Gerichtsbehörden des Kantons, welche in den Fall kämen, derartige Klagen zu beurtheilen, speziell auf das Kreisschreiben des Bundesrathes vom 14. Januar 1881 aufmerksam gemacht worden seien, ,,unter Hinweisung auf die Unzuläßigkeit des in einigen Stickereietablissementen geübten Verfahrens, die Putzarbeiten an Samstagen auf die 11. Arbeitsstunde zu verlegen11.

Der Spruch des Obergerichts des Kantons Appenzell A. Rh.

ist niedergelegt in vier vom 26. März a. c. datirten Urtheilen und betrifft vier in Walzenhausen etablirte Stickerfirmen.

Aus diesen Urtheilen geht übereinstimmend hervor, daß die Beklagten zugeben, in ihren Stickfahrikon an Samstagen in der 11. Arbeitsstunde Arbeiten, welche jedoch nur in Reinigungsarbeiten bestanden, vorgenommen haben zu lassen. Das Obergericht zog jedoch in drei Fällen in Erwägung: ,,Laut Artikel 12 des zitirten Bundesgesetzes, betreffend die Arbeit in den Fabriken, dürfen aber in dieser Zeit Hülfsarbeiten, welche der eigentlichen Fabrikation vor- oder nachgehen, verrichtet werden, und da die in Frage stehenden Putzarbeiten zweifelsohne als Hülfsarbeiten angesehen werden dürfen vergleiche (Kreisschreiben des Bundesrathes vom 14. Januar 1881) so muß in concreto Freisprechung erfolgen."1 In einem vierten Falle berief sich der Beklagte auf Art. 4 seiner Fabrikordnung, welcher lautet (1. Säte): ,,Die tägliche Arbeitszeit beträgt 11 Stunden. An Vorabenden von Sonn- und Festtagen hört die gewöhnliche Fabrikarbeit eine Stunde früher auf."

Hier zog das Obergerieht in Erwägung: ^In Hinsicht auf den Wortlaut der bezüglichen Bestimmung von Art. 4 der vom Regierungsrathe genehmigten Fabrikordnung des Beklagten muß dieser als berechtigt angesehen werden, solche Arbeiten an den Samstagen in der 11. Stunde besorgen zu lassen.'1 In allen vier Fällen erkannte das Obergericht: I. der Beklagte sei von der Anklage auf Uehertretung von Art. 11 des Buiidesgesetzes betreffend die Arbeit in den Fabriken freigesprochen ; II. die auferlaufenen Rechtskosten seien vorn Staate zu tragen ; III. der Staat habe den Beklagten außerrechtlich zu entschädigen.

971 Das Dispositiv III fehlt in einem der vier Urtheile, da im betreffenden Fall ein Entschädigungsbegehren nicht gestellt worden war.

Der Regierungsrath des Kantons Appenzell A. Rh., vom schweizerischen Industrie- und Landwirthschaftsdepartement im Hinblick auf die genannten obergerichtlichen Urtheile mit Schreiben vom 23. April a. c. befragt, ob und was er behufs Sicherung der Vollziehung des Bundesgesetzes betreffend die Arbeit in den Fabriken zu thun gedenke, antwortete mit Schreiben vom 3. Mai : ,,Wenn nun gegen Erwarten das Obergericht jene Urtheile nicht abänderte, sondern bestätigte, so steht u n s durch Verfassung und Gesetze kein Weg offen, gegenüber den Urtheilen der durchaus selbstständig dastehenden Gerichtsbehörden weitere Schritte zu thun."

Die Fabrikinspektoren des III. und I. Kreises, welche letztere die gesammte schweizerische Pabrikstickerei einschließen, weisen in ihren Berichten vom 4. und 13. Juni a. c. darauf hin, daß die Folgen der Freisprechung der Appenzeller Sticker sich bereits in andern Kantonen und bei andern Industriezweigen geltend machen und zu allgemeiner Unsicherheit und großen Schwierigkeiten in der Vollziehung des erwähnten Gesetzes führen.

In E r w ä g u n g : 1) Das Bundesgesetz betreffend die Arbeit in den Fabrikeii, vom 23. März 1877, ist gestützt auf Art. 34 der Bundesverfassung erlassen worden.

Laut Art. 59, Ziff. 8 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, vom 27. Juni 1874, mit Rückbeziehung 1 auf Art. 102, Ziff.'2, und Art. 113, Abs. 2, der Bundesverfassung, hat der Bundesrath beziehungsweise, bei Weiterziehung, die Bundesversammlung Beschwerden über die Anwendung der im Art. 34 der Bundesverfassung vorgesehenen Bundesgesetze zu erledigen.

Gemäß Art. 102, Ziff. 2, der Bundesverfassung hat der Bundesrath von sich aus oder auf eingegangene Beschwerde zur Wahrung der Beobachtung der Bundesgesetze die erforderlichen Verfügungen zu treffen, sofern die daherige Kompetenz nicht nach Art. 113 der Bundesverfassung dem Buudesgerichte zufällt.

In Anwendung dieser Bestimmungen sind wiederholt vom Bundesrath auf Antrag eines seiner Departemente Rekursentscheid« betreffend Fabrikarbeit, Jagd, Fischerei, Vogelschutz etc. getroffen worden, und zwar auch gegenüber gerichtlichen Urtheilen.

972 Diese Kompetenz des Bundesrathes kann auch im vorliegenden Falle nicht in Zweifel gezogen werden. Dieselbe ist materiell ganz unentbehrlich ; ohne sie wäre, wenn Gerichte aus Gesetzesunkenntniß, Irrthum etc. Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften des Gesetzes ungeahndet lassen wollten, die Durchführung desselben in Frage gestellt. Insbesondere würden die Artikel 17 und 18 des Bundesgesetzes betreffend die Arbeit in den Fabriken geradezu illusorisch, zu todten Buchstaben werden.

2) Aus Art. 17, Abs. l, des Bundesgesetzes vom 23. März 1877 geht hervor, daß der Bundesrath in Gemäßheit dieses Gesetzes die nöthigen Verordnungen und Weisungen erläßt, welche von den Kantonsregierungen zu vollziehen sind. Die Botschaft des Bundesrathes vom 6. Dezember 1875 erläutert diese Stelle des Gesetzes in folgender Weise: ,,Der Bund gibt die für alle Kantone verbindlichen Vorschriften, die Vollziehung derselben ist Sache der kantonalen Behörden, jedoch unter Aufsicht des Bundes, in welcher Aufsicht auch die Berechtigung enthalten ist, wenn die gleichmäßige Vollziehung des Gesetzes in diesem oder jenem Punkte dies erheischt, solche durch Erlaß besonderer Verordnungen zu sichern. Wir heben diese Aufgabe besonders hervor, weil, wie die Erfahrung aller Staaten, welche Fabrikgesetzgebungen erlassen haben, beweist, die Gleichmäßigkeit der Gesetzesvollziehung gerade auf diesem Gebiete von ganz besonderer Wichtigkeit ist."

Es unterliegt demnach keinem Zweifel, daß es Sache des Bundesrathes ist, diejenigen allgemein gültigen Weisungen zu ertheilen, welche die Vollziehung des erwähnten Gesetzes erfordert. Was speziell die in seinem Art. 12 vorgesehenen Hülfsarbeiten betrifft, so kann nach obiger Ausführung nur der Bundesadministrative das Recht zustehen, diese letztern näher zu bezeichnen, wie sie es schon in mehreren Fällen wirklich gethan hat (Komm. pag. 80--82) ; würde ein solches Recht auch den kantonalen Gerichten eingeräumt, so wäre es mit der in der Botschaft vom 6. Dezember 1875 betonten Gleichmäßigkeit der Gesetzesvollziehung zu Ende, da das eine Gericht so, das andere anders entscheiden würde.

Weder der Bundesrath, noch sein zuständiges Departement hat nun aber je die Reinigungsarbeiten in den Fabrikstickereien der Kategorie der Hülfsarbeiten im Sinne von Art. 12 des Gesetzes beigezählt, im Gegentheil hat
das Handels- und Landwirthschaftsdepartement mit Kreisschreiben vom 14. April 1887 (Komm. pag. 72) ausdrücklich konstatirt, daß dort jene Reinigungsarbeiten in der Normalarbeitszeit einbegriffen werden müssen. Es behält somit die

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Vorschrift von Art. 11, Abs. l, des Gesetzes, wonach die Dauer der regelmäßigen Arbeit eines Tages nicht mehr als 11 Stunden, an den Vorabenden von Sonn- und Festtagen nicht mehr als zehn Stunden betragen darf, für die Fabrikstickereien ihre volle Kraft.

Was das vom Obergericht des Kantons Appenzell A. Rh. angerufene Kreisschreiben des Bundesratiies vom 14. Januar 1881 (Komm. pag. 80) betrifft, so ist zu betonen, daß dasselbe sich durchaus und gemäß seinem Wortlaut nur auf die hinsichtlich der Reinigungsarbeiten in Baumwollspinnereien bestehenden besondern Verhältnisse bezieht und auch nur an die Regierungen derjenigen Kantone gerichtet ist, in deren Gebiet solche Etablissemente bestehen; es findet demnach dieses Kreisschreiben weder auf die Fabrikstickerei, noch überhaupt auf andere Industrien Anwendung.

Die vom Art. 12 des Bundesgesetzes vom 23. März 1877 abgeleitete, oben angeführte Erwägung des genannten Obergerichts beruht somit auf irrthümlicher Auslegung des Gesetzes und einer vom Bundesrath in Vollziehung desselben erlassenen Verfügung.

3) Wenn eine Fabrikordnung eine Bestimmung enthält, welche gesetzwidrig ist, oder so aufgefaßt werden kann, als ob sie eine Gesetzeswidrigkeit zulasse, so ist der Richter auch dann nicht an sie gebunden, wenn sie die gesetzlich vorgeschriebene Genehmigung der Kantonsregierung erhalten hat. Es kann ja vorkommen, daß, was im vorliegenden Falle zutrifft, eine unzuläßige oder zweideutige Bestimmung der Aufmerksamkeit der prüfenden Behörde entgeht, aber es ist einleuchtend, daß in solchen Fällen nicht die Fabrikordnung Recht schafft, da das Gesetz über ihr steht und durch letztere nicht unwirksam gemacht werden kann.

Das Gesetz verlangt im Art. 19, daß Zuwiderhandlungen gegen seine Bestimmungen durch die Gerichte mit Strafe zu belegen seien, welche Vorschrift bedingungslos ihren Vollzug zu erhalten hat.

Stellen sich bei der Anwendung der Fabrikordnung Uebelstände heraus, so kann gemäß Art. 8, Abs. 4, des Gesetzes, die Kantonsregierung die Revision derselben anordnen. Es ist somit auch die von Art. 4., 1. 8%tz, der Fabrikordnung eines der Beklagten abgeleitete Erwägung des Obergerichts als auf irrthümlicher Auffassung des Bundesgesetzes vom 23. März 1877 beruhend zu bezeichnen.

Auf den Antrag seines Industrie- und Landwirthschaftsdepartements, nach Einsicht eines Berichtes seines Justiz- und Polizeidepartements,

974 beschließt: 1. Die Urtheile des Obergerichts des Kantons Appenzell A. Rh.

vom 26. März 1888, in Sachen Johannes Blatter, Johannes Keller, Sohn, Sebastian Sonderegger, Johann Jakob Sturzenegger, alle Stiokfabrikanten in Walzenhausen, sind im Sinne der vorstehenden Erwägungen aufgehoben.

2. Die Regierung des Kantons Appenzell A. Rh. wird eingeladen, in Gemäßheit des gegenwärtigen Beschlusses die Revision von Art. 4, 1. Satz, der Fabrikordnung des Johann Jakob Sturzenegger anzuordnen.

3. Gegenwärtiger Beschluß ist der Regierung des Kantons Appenzell A. Rh. zu eigenen und zu Händen des Obergerichts dieses Kantons und der Parteien mitzutheilen und im Bundesblatte zu veröffentlichen.

B e r n , den 31. Juli 1888.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Für den Bundespräsidenten:

Schenk.

Der Stellvertreter des eidg. Kanzlers: Schatzmann.

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Bundesrathsbeschluß betreffend Aufhebung von vier Urtheilen des Obergerichts des Kantons Appenzell A. Rh., welche mit Art. 11 des Bundesgesetzes über die Arbeit in den Fabriken im Widerspruch stehen. (Vom 31. Juli 1888.)

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04.08.1888

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