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Bericht des

Schweiz. Konsuls in Mailand (Hrn. Oskar Vonwiller von St. Gallen).über das Jahr 1872.

(Vom 14. März 1873.)

An den hohen schweizerischen Bundesrath.

Tit. !

Die Lage unseres Handels im Allgemeinen ist dieses Jahr nicht so günstig, wie sie sich letztes Jahr um diese Zeit präsentirte. Während das ,,Agio" des Goldes jetzt etwa auf ca. 13 °/o steht, stand es vor 12 Monaten auf ca. 7 °/o. Unser Staatspapier steht ungefähr auf derselben Höhe und hat keine Fortschritte zum Bessern gemacht.

Die Industrie leidet an Ueberproduktion, der Absatz fast aller Artikel ist schwierig und schleppend.

Seide. Die Thatsachen erwähnend, welche direkt oder indirekt, günstig oder ungünstig, auf den Seidenhandel und die Seidenindustrie während dem laufenden Jahre 1872--73 einwirkten, scheint mir die Annahme eine begründete, daß die in der kurzen Rückschau vom 26. Februar 1872 auf den dann abgelaufenen Jahrgang ausgesprochene Meinung sich vollständig erwahrt hat, da nicht nur, wie vorausgesehen, kein Abschlag stattfand, sondern die Preise nach und nach bis zur Eröffnung der neuen ,,Campagna" bedeutend stiegen. Ich komme auf diese letztere in Kürze zurück.

897 Die Besorgnisse, welche während der Fütterungszeit und bis zum Einspinnen des Seidenwurmes bezüglich der Gefahren, die demselben durch den anhaltenden Regen drohten, beharrlich auftauchten, trugen dazu bei, die Zwirner abzuhalten, überaus hohe Preise für Cocons anzulegen, bevor sie Gewißheit über das1 Endresultat der Ernte erlangten, welches sich schließlich nicht unter dem der letztjährigen herausstellte. Umjiie Industriellen und Zwirner zur Anlegung höherer Coconspreise anzuspornen, trugen auch die auswärtigen Fabrikanten und Spekulanten bei, welche sich geneigt zeigten, sowohl Rohseide als verarbeitete Seide zu Tagespreisen zu kaufen, und auf diese Weise wurde die ,,Campagna"1 mit einem lebhaften Geschäfte eröffnet.

Dieser schwunghafte Zustand hielt nicht an über den August hinaus, in welchem Monat das Geschäft zu stocken anfing, um bald darauf ganz aufzuhören und einer Reaction in den Preisen Platz zu machen.

Um sich die Ursachen dieses unglücklichen Wechsels zu erklären, werfe man einen Blick auf die gegenseitig schwierige Lage, in welcher sich die Produktion einerseits, die Spekulation und der Consunti anderseits, gegenüberstanden. Entgegen der ungünstigen Voraussicht iiel die Coconserntc quantitativ befriedigend aus, aber ganz schlecht qualitativ, so daß die Beschädigten nicht die Erzeuger, wohl aber die armen Zwirner waren, welche, nachdem sie für die Cocons hohe Preise bezahlt hatten, nun fanden, daß das schlechte Ergebniß -- 12 °/o bis 15 °/o unter dem normalen -- den Kostenpreis der Rohseiden derart steigere, daß dadurch die kühnsten Spekulanten fern, und von Geschäften abgehalten werden würden. Wenn man ferner die ebenfalls sehr wichtige Ursache der geringern Nachfrage und Verbrauch der Stoffe in Betracht zieht, deren Anhäufung in den Fabriken für die Fabrikanten gewiß nicht eine Anregung war, die Fabrikation mit Schwung und in gewohntem Maßstabe fortzusetzen, so ist es leicht zu begreifen, daß der Impuls nicht andauern konnte, er gab allmählig nach bis zur gänzlichen Stockung.

In Bezug auf den verringerten Verbrauch der Seidenstoffe hat man wahrgenommen, daß die Abnahme in England ganz den Wollstoffen zu gut kam, welche sehr vervollkommnet wurden und in Folge dessen immer mehr gesucht werden. Es wäre gewiß der Mühe werth, den Ursachen dieses Aufgebens der Seidenstoffe nachzuforschen,
und vielleicht würde man eine derselben in der neuen Färbeart finden, wodurch das Gewicht des Stoffes, auf Unkosten der Qualität, bezüglich Stärke und Dauerhaftigkeit vermehrt wird.

898 Es gereicht nicht zu geringer Genugthuung, hier zu erwähnen, daß, während nur vor wenig Jahren eine solche Geschäftsstockung einen sehr bedeutenden Preisrückgang zur Folge gehobt hätte -- wäre es nur wegen des Bedürfnisses gewesen, zu auswärtigem Geld Zuflucht zu nehmen, sei es für Vorschüsse, oder urn Verkäufe zu forciren -- so ist dagegen heutzutage unser Markt von schützenden Instituten gut bedient, welche durch ilye Fonds in der Lage sind, weit bedenklicheren Krisen als die gegenwärtige zu trotzen, ohne deßhalb vom Auslande abhängen, noch sich! Gefahren irgend einer Art aussetzen zu müssen. Aus diesem Grunde war der Abschlag nur sehr langsam, ohne Erschütterung, fast unmerkbar, und obschon man den Unterschied der Preise, welche im Monat Juni und Juli herrschten und denjenigen, welche heute bezahlt werden, in Gold auf 12 °/o anschlagen kann. Für die italienischen Producenten, denen die gesetzliche Valuta des Papiergeldes zur Grundlage jeder Calculation dient, reduzirt sich der Abschlag auf wenig mehr als die Hälfte vermöge der seither eingetretenen Vertheuerung des Goldes, welches uns nun mehr Ertrag in Papier bringt.

Dies in Bezug auf die verarbeitete Seide. Glücklicher waren und sind noch zur Stunde die rohen Seiden, welche bei einer guten Nachfrage für die Bedürfnisse der Zwirnereien viel besser, als die verarbeiteten hielten, und den Abschlag der Erstem kann man bloß auf ca. 6 °/o in gesetzlicher Währung auf dem höchsten Preis der Eröffnung der Jahresproduktion anschlagen.

Das ist die gegenwärtige Lage des Artikels. Wie sie, sich gestalten wird, ist schwierig vorauszusetzen ; irgend eine Meinung wäre gewagt.

Einerseits, i sagt man.' häufen sich die Stoffe,i weil sie nicht o ihren gewohnten Absatz haben, und ohne deren Verbrauch wäre es nicht rationell, sich der Hoffnung eines nahen ernsten Auflebens des Seidengeschäftes hinzugeben.

Anderseits existirt ein constatirter Vorrathsmangel an Samen, und vom vorhandenen ist ein Theil ,,Bivoltini" -- eine Art japanesische Seidenwürmer, welche sich zweimal .im Jahre einpuppen, und nur ganz geringe Cocons liefern -- ohne die weitverbreiteten Besorgnisse eines verfrühten Auskriechens der Eier, befördert durch den ungewöhnlich milden Winter, und das Factum einiger gefehlten Auskriechungen in den Frühproben in Anschlag zu bringen.

Wenn wir
damit'die Geldabondanz und die immer wachsende Zahl der Filanden in Verbindung bringen, deren viele für Rechnung auswärtiger Häuser betrieben werden, so ist es nur natürlich, anzu-

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nehmen, unvorhergesehene Ereignisse vorbehalten, daß die Cocons nächster Ernte theuer genug bezahlt werden, und zwar derart, daß die neuen Rohseiden nicht unter den heutigen Preisen zu stehen kommen werden. Allen Umständen Rechnung getragen, läßt sich schließen, daß der Abschlag die minderste Stufe entweder schon erreicht hat, oder nahe daran ist, sie zu erreichen.

S t r u s a , Strazza, d. h. Seidenabfälle. Die ersten 6 Monate waren deren Preise in stetigem Steigen begriffen, so daß sich die Spekulation mit übertriebenem Eifer darauf warf, und die Preise dadurch zum Weichen, brachte; der höchste Preis für Primaqualität war L. 25 und steht jetzt auf L. 17.

S e i d e n s t o f f e werden hauptsächlich in Como erzeugt, wo diese Industrie große Fortschritte macht. Durch Eingangszölle geschützt, findet dieselbe einen weitern sehr wirksamen Schutz im gegenwärtigen Moment im hohen Agio von 131/2 a 14 °/o. Die Industrie der Baumwolleuzeuge aller Art hat prosperili, auch ihr kommt das hohe Agio zu gut, das die Concurrenz des Auslandes erschwert. Es hat sich im Anfange von 1872 eine große Gesellschaft unter dem Namen ,,Cotonificio Cantoni01 mit einem Capital von 7 Millionen L. constituirt, welche bereits auf 15 Millionen beantragt wurden, wovon 3'/2 dieses Jahr und S1/^ nächstes Jahr einbezahlt werden müssen,. Die Aktien dieser Gesellschaft vom Nominalwerth 250 stehen jetzt 330 ca., Dank der unisichtigen Leitung des Hauptgründers, Herrn Baron BJ. Cantoni. Auch die Leinenund Hanfmdustric prosperirt. Im Lande selbst wird das Rohprodukt erzeugt, was derselben sehr zu gute kommt.

Auch dafür hat sich eine Aktiengesellschaft gebildet mit bedeutendem Capital unter dem Titel ,,Linificio
S c h a f w o l l s t o f f e . In dieser Industrie macht das Land bedeutende Fortschritte und hat in sehr vielen Qualitäten das Ausland schon ganz verdrängt. In Bälde eröffnet sich hier das Depot des ,,Lanificio Rossi"1, einer bedeutenden Aktiengesellschaft in Schio bei Vicenza, von 30 Millionen Capital, welche sich zur Aufgabe gemacht hat, die ausländische Concurrenz in Bälde ganz zu verdrängen. Das Lanifìcio Rossi wird auch fremde Erzeugnisse in großem Maßstabe importiren, da auf diese Art der Gründer stets die Fortschritte des Auslandes vor Augen
haben und trachten wird, sich dieselben anzueignen. Die Leitung des Imports ist einem Schweizer anvertraut.

G e t r e i d e . Der Weizen ist geradezu mißrathen in Folge der häufigen und lange anhaltenden Regen. Das Erträgniß war '/5

900 geringer als in gewöhnlichen Jahren, und fanden die Müller im Korn mehr Spreu als Blehlstoff.

Die verbesserten Transportmittel brachten denn auch sehr bald Zufuhren von andern Ländern, und verhinderten auf diese Art eine empfindliche Theuerung des Artikels. Nach der Schweiz konnte an einen Export bei dieser Sachlage nicht gedacht werden.

Das türkische Korn (Mais) ist hingegen gut ausgefallen und erzielte gute Preise in Folge der theuren Preise des Kornes. Der Roggen wird hier zu Lande wenig gebaut; dessen Handel ist daher für unsere Provinz von geringer Wichtigkeit.

Der Reis fiel gut aus, auch die Preise waren hoch und wurde viel davon exportirt.

Der Hafer brachte reiche Ernten durch gute Qualität sowohl, als weil viel davon gebaut wurde. Etwas wurde auch davon nach dem Kanton Tessin exportirt.

Wein. Die Ernte im Veltlin wurde unter nicht zu günstigen Verhältnissen gemacht, indem der fortwährende Regen, welcher der Weinlese vorangegangen ist, keinen gleichgültigen Schaden sowohl der Qualität als der Quantität verursachte. Im Allgemeinen hatten jedoch die Mitteltrauben mehr als die guten Qualitäten von der schlechten Witterung zu leiden ; die Traube hatte im September eine passende Reife erreicht, und ohne die langen herbstlichen Regen wäre die Ernte von 1872 besser als diejenige von 1871 ausgefallen. Dessen .ungeachtet fielen .die Weine noch ordentlich aus, und bei deren Untersuchung durch das Glicometer zeigte der Most im Allgemeinen nur l--2 Grade weniger Zuckerstoff, als man beim Most von 1871 constatirte. Das Quantum des Produktes war weniger als dasjenige von 1871, indem man diesen Mangel um nicht weniger als l/* m den Bezirken von Sondrio und Tirano und vielleicht um 1/i in den Bezirken von Cleven, Morbegno und Ponte rechnen kann. Die schon gemachten Preise und diejenigen, die man noch heutzutage für den Wein 1872 macht, sind sehr hoch und fest wegen dem Mangel der Ernte in-Piémont und Lombardei.

In Sondrio variirte der Preis für a ssorti rte Vorräthe von L. 55 a 65 per Hektoliter, und im Bezirke von Tirano von 30 a 40 L. ; im Bezirke von Ponte, wo die Weine eher geringer Qualität sind, obschon die Quantität von etwelcher Wichtigkeit ist, sind die Preise stark unter den obigen und schwerlich übersteigen sie L. 20 a 25 per Hektoliter. Die Nachfragen von Seiten der schweizerischen
Käufer waren im November und Dezember 1872 sehr stark, mehr als in den ersten Monaten dieses Jahres, und die Preise gleich nach der Ernte.etwas höher als gegenwärtig. Man glaubt jedoch,

901 daß sich die Preise halten werden wegen der oben erwähnten Kargheit des Produktes in der Lombardei und Piémont. In Sondrio, Stadt, Montagna und Tresina wurde der Wein fast gänzlich an schweizerische Händler verkauft, und so auch in den beiden Gemeinden von Bianzone und Villa im Bezirke von Tirano.

In den Zolltarifen traten keine Veränderungen ein.

Banken entstanden mehrere in diesem verflossenen Jahre und prosperirten so ziemlich alle mehr oder weniger; jedenfalls waren sie dem Handel im Allgemeinen, gerade in den wichtigsten Epochen, von großem Nutzen, wie in meinem Berichte über Seide schon angedeutet. Deren bedeutende Anzahl erhielt das Geld Dank der Concurrenz auf niederem Zinsfuß. Unter diesen Banken zeichnete sich besonders die ,,Banca Lombarda di Depositi e Conti Correnti"1 aus, welche sich in lebhaftem Verkehr mit vielen der ersten Schweizerhäuser befindet, und deren strenge Statuten bei umsichtiger Leitung ihr das größte Vertrauen allgemein verschaffen und .

sichern.

V e r k e h r s m i t t e l im E n t s t e h e n .

Eisenbahn von Cremona nach Mantua, Länge Kil. 60. Die Arbeiten wurden im October 1872 angefangen und schreiten mit Schnelligkeit auf der ganzen Linie fort. Dieselben werden im August 1873 fertig sein, in welcher Epoche, wie man glaubt, die Linie «röffnet werden dürfte.

Eisenbahn von Modena nach Mantua, Länge Kil. 56. Die Strecke von Modena nach Gonzaga ist schon im Betrieb, ca. Kil. 34.

Der übrige Theil der Linie ist zum größten Theil schon armirt; es bleiben noch zu vollenden die Arbeiten der Strecke zwischen der neuen Station von Mantua und der alten Station von St. Antonio, in welcher nun das metallische Gerippe der Brücke zwischen dem Ober- und Untersee von Mantova aufgestellt wird. Diese Arbeiten werden innert drei Monate sicher fertig sein, daher die ganze Linie von Mantua bis zum linken Ufer des Po bei Borgoforte (Kil. 16) und von Modena bis zum rechten Ufer des Po (Kil. 39) den nächsten Sommer in Betrieb gesetzt werden wird.

Es bleibt dann noch zu construiren die Rohrbrücke über den Po, um die Verbindung zwischen Modena und Mantua ununterbrochen herzustellen; was aber dieses Werk anbelangt, scheint es, daß weder von der Regierung, noch von der Concessionsgesellschaft der Linie die nöthigen Maßregeln bis jetzt getroffen wurden.

Eisenbahn von Monza nach Cololzio, Länge Kil. 30. Die Arbeiten auf der ganzen Linie, Inbegriffen diejenigen der Brücke über Bundebblatt. Jahr -.XXY. Bd. ÎJJ.

60

902 die Adda bei Cololzio und der Gallerie (Tunnel, 300 Meter) bei Airuno, schreiten vorwärts; sie wurden im October 1872 angefangen und man hat Recht zu glauben, daß sie im Juli oder spätestens im August dieses Jahres vollendet sein werden.

In einigen Monaten werden in Como zwei große in Zürich gebaute neue Salon-Dampfschiffe der ,,Società Italiana di Navigazione a vapore dei laghi" vom Stapel laufen, deren Concurrenz direkt und indirekt von wohlthätigen Folgen für das reisende Publikum sein wird, welches selten Anlaß gehabt hatte, den Dienst der bisherigen, ohne Concurrenz dastehenden Gesellschaft zu loben.

# S T #

Bericht des

Schweiz. Konsuls in Barcelona (Hrn. Johannes Hohl von Trogen) über das Jahr 1872.

(Vom 14. März 1872.)

An den hohen Schweiz. Bundesrath.

Tit.!

Es.ist unmöglich, über die allgemeine Lage Spaniens und besonders der Provinzen von Catalonien zu berichten, ohne die Politik, resp. die politischen Vorfälle zu berühren, da diese sozusagen die einzige Ursache der Krisis sind, die seit langer Zeit alle Entwickelung von Handel und Industrie verhindert.

Die ersten Monate des Jahres 1872 waren vielversprechend ; seit vielen Jahren zum ersten Mal hatten fast alle Provinzen wäh-

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Bericht des Schweiz. Konsuls in Mailand (Hrn. Oskar Vonwiller von St. Gallen)über das Jahr 1872. (Vom 14. März 1873.)

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04.10.1873

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