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Kreisschreiben des

Bundesrates an die Kantonsregierungen betreffend Erhöhung der Unterstützungsansätze für Arbeitslose und Überschreitung der Bundesvorschriften über die Arbeitslosenfürsorge.

(Vom 26. Juni 1922.)

Getreue, liebe Eidgenossen !

1.

Mit Rücksicht darauf, dass seit Erlass des Bundesratsbeschlusses vom 3. März 1922, wodurch die Höchstbeträge der Arbeitslosenunterstützung reduziert wurden, da und dort Bestrebungen einsetzten, die auf eine gänzliche oder teilweise Wiederherstellung der alten Maximalansätze hinzielten, hat das eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement den Bundesrat um seine Stellungnahme in dieser Angelegenheit ersucht.

Nach einlässlicher Prüfung der Frage ist der Bundesrat zu folgenden Schlüssen gekommen: Die Gründe, welche zur Herabsetzung der Höchstbeträge der Arbeitslosenunterstützungen führten, bestehen heute in vermehrtem Masse, da die Lebenskosten seit Passung jenes Beschlusses stetig gesunken sind. Wenn auch die Zahl der Arbeitslosen seit Ende Februar 1922 abgenommen hat, so ist damit noch keineswegs gesagt, dass ein nahes Ende der Krisis in Aussicht steht. Man muss sich vielmehr auf eine lange Dauer gefasst machen. Der Bund, die Kantone und Gemeinden haben für die Arbeitslosefürsorge grosse Opfer gebracht. Sollen sie bis ans Ende aushalten können, so müssen sie mit ihren Mitteln haushälterisch umgehen. Es würde in der grossen Mehrheit des Volkes nicht verstanden, wenn von den neuen Ansätzen wieder abgewichen würde, bevor die Erfahrungen die unbedingte Notwendigkeit er-

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geben hätte. Der Bundesrat kann sich daher nicht entschliessen, auf seineu Beschluss vom 3. März 1922 zurückzukommen.

Sollte sich zeigen, dass in gewissen Gegenden mit besonders ungünstigen Lebensverhältnissen oder in einzelnen besonders schweren Fällen, z. B. kinderreichen Familien, wie sie das vom Nationalrat angenommene Postulat Sträuli im Auge hat, ein unbedingtes Bedürfnis nach einer Zulage besteht, so kann ihm in anderer Form, durch Gewährung entsprechender Herbst- und Winterzulagen, Rechnung getragen werden. Der Bundesrat erklärt sich bereit, zu prüfen, ob auf diesem Weg eine Lösung gefunden werden kann.

II.

Der Bundesrat hat ferner auf Ansuchen des eidgenössischen Volkswirtachaftsdepartements zu der Frage Stellung genommen, ob einzelne Kantone oder Gemeinden in der Arbeitslosenfürsorge über die vom Bund festgesetzten Ansätze hinausgehen dürfen, selbst wenn sie die Mehrkosten zu ihren Lasten nehmen.

Der Bundesrat nimmt in dieser Frage folgende Haltung ein : Art. 14 des Bundesratsbeschlusses vom 29. Oktober 1919 betreffend Arbeitslosenfürsorge enthält nachstehende Vorschrift: ,,Gewährt ein Kanton oder eine Gemeinde Arbeitslosenunterstützungen in weiterem Umfang, als in diesem Beschluss vorgesehen ist, so kann das eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement dem Kanton oder der Gemeinde die Beiträge des Bundes entziehen und die übrigen Beteiligten von der Beitragspflicht entheben."1 Aus dieser Bestimmung geht hervor, dass die Bundesvorschriften absolute Geltung haben und dass es den Kantonen und Gemeinden nicht frei steht, über sie hinauszugehen, ohne die angedrohten Folgen gewärtigen zu müssen.

Die Gründe, die zu jener Vorschrift führten, sind einleuchtend. Es sollte verhindert werden, dass einzelne Kantone und Gemeinden durch einseitiges Vorgehen andere zum Nachfolgen veranlassen, unbekümmert darum, ob die allgemeinen Verhältnisse und insbesondere die Finanzlage es rechtfertigen. Es sollte ferner verhindert werden, dass insbesondere die Städte durch erhöhte Ansätze und sonstige Leistungen ein besonderer Sammelpunkt für Arbeitslose werden. Der Bund hat ein Interesse daran, das» die finanziellen Kräfte der Kantone und Gemeinden nicht mehr in Anspruch genommen werden, als es die Bundesvorschriften

760 erheischen; denn wenn sie die finanziellen Mittel zur Durchführung der Arbeitslosenfürsorge nicht mehr aufbringen, so wird -- wie dies bereits geschehen ist -- dem Bund zugemutet, die Lasten gänzlich oder wenigstens in vermehrtem Masse auf sich zu nehmen. Es ist aber ausgeschlossen, dass der Bund das kann. Da voraussichtlich noch mit einer längern Dauer der Krisis zu rechnen ist, so ist es Pflicht der verantwortlichen Behörden, darüber zu wachen, dass mit den Mitteln haushälterisch umgegangen wird.

Was dann insbesondere die Behandlung der Ausländer anbetrifft, so ist es dem Bund nicht gleichgültig, wie einzelne Kantone und Gemeinden vorgehen. Der Abschluss von Gegenseitigkeitsverträgen oder besonderer Abkommen mit dem Ausland ist Sache des Bundes. Setzen sich Kantone und Gemeinden über die Stellungnahme des Bundes hinweg, so wird dessen Aktionsfreiheit beeinträchtigt.

Alle diese Gründe, welche seinerzeit zur Aufnahme der erwähnten Vorschrift in Art. 14 des Bundesratsbeschlusses vom 29. Oktober 1919 geführt haben, bestehen noch heute. Der Bundesrat hat keine Veranlassung, von seiner in jener Vorschrift zum Ausdruck gebrachten Stellungnahme abzuweichen. Demnach ist den Kantonen und Gemeinden nicht gestattet, in der Arbeitslosenfürsorge Leistungen zu verabfolgen, die über die Vorschriften des Bundes hinausgehen.

Abweichungen von diesem Grundsatz sollen nur ausnahmsweise und in besonders dringenden Fällen zugelassen und hierfür die Genehmigung des eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements eingeholt werden. Wo dies nicht geschieht, soll das eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement von Art. 14, Abs. 5, des Bundesratsbeschlusses vom 29. Oktober 1919 Gebrauch machen und Kantonen oder Gemeinden, die Arbeitslosenunterstützungen in weiterm Umfange gewähren, als die Bundesvorschriften vorsehen, die Beiträge des Bundes entziehen und die übrigen Beteiligten von der Beitragspflicht entheben.

III.

Auf Grund dieser Erwägungen hat der Bundesrat in seiner Sitzung vom 26. Juni 1922 folgenden B e s c h l u s s gefasst: 1. Der Bundesrat lehnt es ab, auf seinen Beschluss vom 3. März 1922 über Abänderungen der Vorschriften betreffend Arbeitslosenunterstützung zurückzukommen und die Höchstansätze zu erhöhen.

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2. Dagegen wird das eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement eingeladen, die Frage zu prüfen und dem Bundesrat Bericht und Antrag zu unterbreiten, ob dem vom Nationalist angenommenen Postulat Sträuli in der Form von Herbst- und Winterzulagen an kinderreiche Familien Rechnung getragen werden kann.

3. Der Bundesrat hält an dem im Bundesratsbeschluss betreffend Arbeitslosenunterstützung vom 29. Oktober 1919 zum Ausdruck gelangten Grundsatz .fest, dass es Kantonen und Gemeinden nicht gestattet ist, Arbeitslosenunterstützungen in weiterem Umfang zu gewähren als die Bundesvorschriften vorsehen.

Ausnahmen sollen nur in dringenden Fällen zugelassen und hierfür die Genehmigung des eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements eingeholt werden.

In den Fällen, wo Kantone und Gemeinden Ausnahmen ohne Genehmigung des eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements gewähren, soll ihnen dieses nach Art. 14, Abs. 5, des Bundesratsbeschlusses vom 29. Oktober 1919 die Beiträge des Bundes entziehen und die übrigen Beteiligten von der Beitragspflicht entheben.

Wir beehren uns, Ihnen von diesem Beschluss Kenntnis zu geben, und benützen den Anlass, Sie, getreue, liebe Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 26. Juni 1922.

Im Namen deä Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t : Dr. Haab.

Der Bundeskanzler: Steiger.

Bundesblatt. 74. Jahrg. Bd. II.

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