06.107 Botschaft zur Volksinitiative «für ein flexibles AHV-Alter» vom 21. Dezember 2006

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Wir unterbreiten Ihnen hiermit die Botschaft zur Volksinitiative «für ein flexibles AHV-Alter». Wir beantragen Ihnen, die Initiative Volk und Ständen mit der Empfehlung auf Ablehnung zur Abstimmung zu unterbreiten.

Der Entwurf zum entsprechenden Bundesbeschluss liegt bei.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

21. Dezember 2006

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Moritz Leuenberger Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2006-2832

413

Übersicht Die Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes will Personen mit Erwerbseinkommen bis 119 340 Franken eine ungekürzte AHV-Rente ab dem 62. Altersjahr gewähren. Der Bundesrat beantragt, die Initiative ohne Gegenvorschlag abzulehnen. Er erachtet die Neufassung der 11. AHV-Revision mit ihrer breiteren Flexibilisierungsmöglichkeit und der Vorruhestandsleistung für den unteren Mittelstand als indirekten Gegenvorschlag.

Mit der Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes «für ein flexibles AHVAlter» soll einem grossen Teil der erwerbstätigen Bevölkerung ermöglicht werden, zwischen 62 und 65 Jahren die ungekürzte AHV-Rente zu beziehen: ­

Personen mit einem Erwerbseinkommen unter dem Anderthalbfachen des maximalen rentenbildenden AHV-Einkommens (2007: 119 340 Fr.) sollen ab dem 62. Altersjahr die ungekürzte Altersrente beziehen können, wenn sie ihre Erwerbstätigkeit ganz aufgeben oder nur noch ein Kleinsteinkommen haben.

­

Eine Teilrente soll bezogen werden können, wenn die Erwerbstätigkeit nur teilweise aufgegeben wird.

­

Spätestens mit 65 Jahren soll die Altersrente auch ohne diese zusätzlichen Voraussetzungen bezogen werden können.

Die Forderung der Initiative läuft auf eine generelle Senkung des Rentenalters für die erwerbstätige Bevölkerung hinaus. Nach Ansicht des Bundesrates ist dies nicht angezeigt. Die demografische Entwicklung spricht eher für eine Erhöhung des Rentenalters, was auch der Tendenz in Europa und den Empfehlungen der OECD entspricht. Die Menschen erreichen heute das AHV-Alter bei guter Gesundheit, haben eine höhere Lebenserwartung und beziehen deswegen länger Leistungen. Die Schwierigkeiten der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Arbeitsmarkt über eine grosszügige Frühpensionierungsregelung in der ersten Säule angehen zu wollen, ist nach Auffassung des Bundesrates nicht der richtige Ansatz. Vielmehr muss der Verbleib älterer Menschen in der Arbeitswelt gefördert werden, indem durch entsprechende Massnahmen die Rahmenbedingungen verbessert werden.

Die alternde Gesellschaft bringt die AHV in finanzielle Schwierigkeiten, sofern keine Massnahmen dagegen getroffen werden. Deshalb hat für den Bundesrat die langfristige finanzielle Sicherung der AHV oberste Priorität. Ein so grosszügiges Rentenaltermodell wie es die Initiative fordert, bringt allein für die AHV Mehrkosten von 779 Millionen Franken im Jahr unter der Voraussetzung, dass für Frauen das Rentenalter auf 65 Jahre erhöht wird. Bleibt das Rentenalter der Frauen bei 64 Jahren, beträgt die Mehrbelastung für die AHV 1259 Millionen Franken.

Es wird immer Personen geben, welchen ein Verbleib im Arbeitsmarkt bis zum ordentlichen Rentenalter nicht zumutbar ist. Deswegen ist eine ausgewogene Lösung angezeigt, welche beiden Seiten, den pensionswilligen Personen und der AHV, gerecht wird. Der Bundesrat schlägt ein Erweiterung des flexiblen Rentenalters in zwei Schritten vor: In der Neufassung der 11. AHV-Revision wird in einem ersten

414

Schritt eine Lockerung der Regeln für den Rentenvorbezug und -aufschub nachversicherungstechnischen Kriterien vorgeschlagen sowie eine Vorruhestandsleistung, welche Personen des unteren Mittelstandes einen vorzeitigen Ruhestand ermöglichen soll. Mit der 12. AHV-Revision soll in einem zweiten Schritt ein neues Rentensystem mit einem abgestuften Rentenalter geschaffen werden. Die laufende 11. AHV-Revision (Neufassung) erachtet der Bundesrat als indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «für ein flexibles AHV-Alter». Er beantragt den eidgenössischen Räten, die Initiative Volk und Ständen ohne Gegenentwurf zur Ablehnung zu empfehlen.

415

Botschaft 1

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative

1.1

Wortlaut der Initiative

Die Volksinitiative «für ein flexibles AHV-Alter» hat folgenden Wortlaut: I Die Bundesverfassung vom 18. April 19991 wird wie folgt geändert: Art. 112 Abs. 2 Bst. e (neu) e.

Wer die Erwerbstätigkeit aufgegeben hat, hat ab dem vollendeten 62. Altersjahr Anspruch auf eine Altersrente. Das Gesetz regelt den Anspruch bei teilweiser Erwerbsaufgabe. Es setzt einen Freibetrag für geringe Erwerbseinkommen fest. Bei einem Rentenbezug vor dem bedingungslosen Rentenalter wird die Rente von Versicherten, die ein Erwerbseinkommen unter dem Anderthalbfachen des maximalen rentenbildenden AHV-Einkommens erzielt haben, nicht gekürzt. Der bedingungslose Anspruch auf die Altersrente entsteht spätestens mit dem vollendeten 65. Altersjahr.

II Die Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung werden wie folgt geändert: Art. 197 Ziff. 6 (neu) 6. Übergangsbestimmung zu Art. 112 Abs. 2 Bst. e Hat die Bundesversammlung nicht innert drei Jahren nach Annahme des Artikels 112 Absatz 2 Buchstabe e die entsprechende Gesetzgebung erlassen, erlässt der Bundesrat die nötigen Ausführungsbestimmungen.

1.2

Zustandekommen und Behandlungsfristen

Die Eidgenössische Volksinitiative «für ein flexibles AHV-Alter» wurde vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) lanciert, am 7. Juni 20052 von der Schweizerischen Bundeskanzlei vorgeprüft und am 28. März 2006 fristgerecht eingereicht. Die Bundeskanzlei hat mit Verfügung vom 12. April 20063 festgestellt, dass die Volksinitiative mit 106 507 gültigen Unterschriften zu Stande gekommen ist.

1 2 3

416

SR 101 BBl 2005 3951 BBl 2006 3987

Die Initiative hat die von Artikel 139 (neu) Absatz 1 der Bundesverfassung (BV) vorgesehene Form des ausgearbeiteten Entwurfes, so dass der Bundesrat nach Artikel 97 Absatz 1 Buchstabe a des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20024 (ParlG) der Bundesversammlung spätestens ein Jahr nach Einreichen der zu Stande gekommenen Initiative eine Botschaft und einen Entwurf eines Bundesbeschlusses unterbreiten muss, sofern er nicht einen Gegenentwurf vorlegt. Der Bundesrat unterbreitet keinen Gegenentwurf, weshalb die Frist am 27. März 2007 abläuft. Die Bundesversammlung hat nach Artikel 100 ParlG innert 30 Monaten nach Einreichen der Volksinitiative, das heisst bis zum 28. September 2008, über die Initiative zu entscheiden. Sie kann die Frist verlängern, wenn mindestens ein Rat über einen Gegenentwurf oder einen mit der Volksinitiative eng zusammenhängenden Erlassentwurf Beschluss gefasst hat (Art. 105 Abs. 1 ParlG).

1.3

Gültigkeit

Der Bundesrat kommt aus den folgenden Gründen zum Schluss, dass die Initiative gültig ist.

Die Initiative ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf gemäss Artikel 139 (neu) Absatz 1 BV formuliert und erfüllt damit die Anforderungen an die Einheit der Form nach den Artikeln 139 (neu) Absatz 2 und 194 Absatz 3 BV. In den Artikeln 139 (neu) Absatz 2 und 194 Absatz 2 BV ist das Gebot der Einheit der Materie verankert. Initiativen müssen sich auf ein klar umschriebenes Thema beziehen, damit sich die Stimmberechtigten eine unverfälschte und eigene Meinung bilden können. Nach Artikel 75 Absatz 2 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 19765 über die politischen Rechte (BPR) muss daher zwischen den einzelnen Teilen einer Volksinitiative ein sachlicher Zusammenhang bestehen.

Die Volksinitiative des SGB fordert eine ungekürzte AHV-Rente ab dem 62. Altersjahr für Personen mit einem Erwerbseinkommen unter dem Anderthalbfachen des maximalen rentenbildenden AHV-Einkommen (119 340 Fr. ab 2007), wenn sie die Erwerbsarbeit aufgeben oder nur noch ein Kleinsteinkommen erzielen. Der bedingungslose Anspruch auf die AHV-Rente entsteht spätestens mit dem 65. Altersjahr.

Das Gesetz soll den Bezug einer Rente bei teilweiser Erwerbsaufgabe regeln. Die einzelnen Teile der Initiative gestalten die Flexibilisierung des Rentenalters und stehen folglich in sachlichem Zusammenhang zueinander. Eine freie Willensbildung und eine unverfälschte Stimmabgabe des Souveräns ist möglich. Die Einheit der Materie ist gewahrt.

Die Artikel 139 (neu) Absatz 2 und 194 Absatz 2 BV verlangen, dass die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts beachtet werden. Die Volksinitiative «für ein flexibles AHV-Alter» tangiert keine dieser Bestimmungen.

Nach der Praxis dürfen faktisch undurchführbare Volksinitiativen dem Volk nicht zur Abstimmung unterbreitet werden. Bei der Undurchführbarkeit muss es sich um eine offenkundige und faktische handeln. Die Volksinitiative «für ein flexibles AHV-Alter» macht einzelne Vorgaben, deren Prüfung insbesondere im Ausland aufwändig und mit Schwierigkeiten verbunden ist. Schwierigkeiten bei der Durch4 5

SR 171.10 SR 161.1

417

führung einer Volksinitiative reichen nicht aus, um die Durchführbarkeit zu verneinen. Die Volksinitiative «für ein flexibles AHV-Alter» ist faktisch durchführbar.

2

Ausgangslage für die Entstehung der Initiative

2.1

Gesetzesrevisionen bis zur Neufassung der 11. AHV-Revision

Das ordentliche Rentenalter Für Männer liegt das Rentenalter seit der Einführung der AHV im Jahre 1948 unverändert bei 65 Jahren. Das Rentenalter der Frauen wurde dagegen mehrmals angepasst. 1948 galt grundsätzlich auch für Frauen Rentenalter 65. Eine Ehepaarrente wurde jedoch bereits ausgerichtet, wenn der Mann 65, die Frau aber erst 60 Jahre alt war. 1957 wurde das Rentenalter der Frauen auf 63 Jahre und 1964 auf 62 Jahre gesenkt. Im Rahmen der Konsolidierungsmassnahmen der 9. AHV-Revision wurde 1979 das Mindestalter der Frauen für den Bezug einer Ehepaarrente auf 62 Jahre angehoben.

In der 10. AHV-Revision sah der Bundesrat von der Angleichung des Rentenalters der Frauen an jenes der Männer ab, da die Diskriminierungen der Frauen in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt immer noch bestanden. Das Parlament beschloss dennoch, das Rentenalter der Frauen in einem ersten Schritt auf 63 Jahre (im Jahr 2001) und in einem zweiten Schritt auf 64 Jahre (im Jahr 2005) anzuheben.

Gleichzeitig verpflichtete das Parlament den Bundesrat durch Annahme einer Motion der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerats6, in seiner Botschaft zur 11. AHV-Revision7 die Vereinheitlichung des Rentenalters für Männer und Frauen vorzuschlagen. Der Bundesrat unterbreitete darauf dem Parlament den Vorschlag das Frauenrentenalter ab Januar 2009 auf 65 Jahre anzuheben.

Diese Massnahme fand im Parlament weitgehend Zustimmung, konnte jedoch nicht umgesetzt werden, da die Revision am 16. Mai 2004 vom Volk abgelehnt wurde.

Das flexible Rentenalter Das geltende Recht kennt bereits eine gewisse Flexibilität des Rentenalters (Art. 39 und 40 AHVG8), welche mit der 10. AHV-Revision eingeführt wurde. Die Altersrente kann um ein oder zwei ganze Jahre vorbezogen werden: Männer können frühestens mit 63 und Frauen mit 62 Jahren ihre Rente abrufen. Die vorbezogene Rente wird nach versicherungstechnischen Kriterien gekürzt, damit sichergestellt wird, dass diejenigen, die ihre Rente vorbeziehen, betragsmässig denjenigen gleich gestellt sind, welche die Rente erst beim Erreichen des ordentlichen Rentenalters beanspruchen. Derzeit beträgt die versicherungstechnische Kürzung 6,8 Prozent pro Vorbezugsjahr (Art. 56 Abs. 2 AHVV9). Frauen, die 1947 oder früher geboren wurden, können vom halben Kürzungssatz von 3,4 Prozent pro Vorbezugsjahr profi-

6 7 8 9

418

M. 94.3175 «11. AHV-Revision. Gleiches Rentenalter», vom 24. Mai 1994.

Botschaft vom 2. Februar 2000, Ziff. 3.1.3.2, BBl 2000 1865.

Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung SR 831.10.

Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung SR 831.101.

tieren. Dieses Zugeständnis wurde ihnen mit der 10. AHV-Revision wegen der Erhöhung des Frauenrentenalters gemacht10.

Im Gegenzug kann die Rente aber auch um ein bis fünf Jahre aufgeschoben werden.

Auf die aufgeschobenen Renten wird ein Zuschlag von 5,2 bis 31,5 Prozent gewährt, mit welchem die nicht bezogenen Renten abgegolten werden (Art. 55ter AHVV).

In der Botschaft des Bundesrates zur abgelehnten 11. AHV-Revision wurde die Kürzung der vorbezogenen AHV-Rente mit einer finanziellen Abfederung, also nach sozialen Kriterien, ausgestaltet. Bei tiefen Einkommen hätte die Kürzung geringer ausfallen sollen als bei hohen. Daneben wurde der Vorbezug der ganzen sowie der halben Rente und die Kombination beider Bezugsmöglichkeiten vorgeschlagen. Auch eine Verbesserung der Aufschubsmöglichkeiten der Rente (Aufschub von weniger als einem Jahr und Aufschub der halben Rente) war in der Vorlage enthalten.

2.2

Volksinitiativen

Zu einer flexibleren Ausgestaltung des Rentenalters wurden schon verschiedene Initiativen ergriffen. Ein Initiativkomitee bestehend aus dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund und dem Christlich-Nationalen Gewerkschaftsbund hat am 21. Juni 1995 die Volksinitiative «für die 10. AHV-Revision ohne Erhöhung des Rentenalters» (Auffanginitiative) eingereicht. Der Bundesrat empfahl die Initiative abzulehnen11. Sie wurde am 27. September 1998 von Volk und Ständen verworfen.

Die Grüne Partei der Schweiz (GPS) hat am 22. Mai 1996 die Initiative «für ein flexibles Rentenalter ab 62 für Mann und Frau» eingereicht. Nahezu gleichzeitig am 13. Mai 1996 hat ein Initiativkomitee bestehend aus dem Schweizerischen Kaufmännischen Verband und der Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände die Volksinitiative «für eine Flexibilisierung der AHV ­ gegen die Erhöhung des Rentenalters für Frauen» eingereicht12. Beide Begehren wollten das Rentenalter ab 62, gekoppelt an die Erwerbsaufgabe, flexibilisieren. Der Bundesrat empfahl, die beiden Initiativen abzulehnen13 und Volk und Stände sprachen sich am 26. November 2000 gegen die beiden Initiativen aus.

Die vierte in diesem Sachzusammenhang stehende Volksinitiative «für eine gesicherte AHV ­ Energie statt Arbeit besteuern!» (Tandeminitiative) wurde am 22. Mai 1996 auch von der GPS lanciert. Sie forderte die Einführung einer Steuer auf nicht erneuerbaren Energien und dem Strom von Wasserkraftwerken. Mit dieser Steuer sollte die Herabsetzung des Rentenalters auf 62 Jahre sowie die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden. Der Bundesrat empfahl die Initiative, abzulehnen.14 Sie wurde am 2. Dezember 2001 von Volk und Ständen verworfen.

10 11 12 13 14

Schlussbestimmungen der Änderung des AHVG vom 7. Oktober 1994 (10. AHVRevision) Bst. d Abs. 3.

BBl 1997 II 653 BBl 1996 III 309 BBl 1998 1175 BBl 1998 4185

419

2.3

Parlamentarische Vorstösse

Zum Rentenalter und insbesondere zu dessen Flexibilisierung wurden zahlreiche parlamentarische Vorstösse eingereicht. Mehrheitlich wurde eine Vorbezugsmöglichkeit für Personen mit tiefen Einkommen und körperlich oder psychisch anstrengender Arbeit gefordert. Dabei handelt es sich insbesondere um folgende Vorstösse (berücksichtigt ab 2000): 00.3291 Po. Fraktion SVP «Rentenalter für Schwerstarbeiterinnen und Schwerstarbeiter»; 03.3470 Mo. Studer «Flexibilisierung der AHVRenten»; 04.3234 Po. Meyer Thérèse «Flexibles Rentenalter»; 00.3499 Mo. Wandfluh «Flexible Pensionierung für den Mittelstand»; 03.467 Pa.Iv. Rossini «AHV.

Flexibles Rentenalter»; 04.3623 Mo. Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit NR «Flexibilisierung des Rentenalters».

Soweit die Vorstösse noch hängig waren, wurden sie im Rahmen der Vorbereitungsarbeiten für die Neufassung der 11. AHV-Revision geprüft. Vertieft geprüft wurden insbesondere das Lebensarbeitszeitmodell, ein Modell mit einem einkommensabhängigen Rentenalter, die Branchenlösungen und die Vorruhestandsleistung. Vergleichbare Vorschläge wurden auch in der eidgenössischen AHV/IV-Kommission diskutiert, und die Ergebnisse flossen zum Teil in den Vernehmlassungsbericht zur Neufassung der 11. AHV-Revision ein. Aufgrund dieser Arbeiten schlägt der Bundesrat in seiner zweiten Botschaft zur Neufassung der 11. AHV-Revision die Einführung einer Vorruhestandsleistung vor.

2.4

Neufassung der 11. AHV-Revision

Die Erwartungen hinsichtlich einer Flexibilisierung des Altersrücktrittes wurden, wie die oben aufgeführten Vorstösse zeigen, mit den Änderungen der 10. AHVRevision nicht erfüllt. Die Voraussetzungen für den Vorbezug der Renten haben sich als wenig attraktiv erwiesen. Die Neufassung der 11. AHV-Revision15 sieht deshalb beim flexiblen Rentenalter nicht nur verschiedene Verbesserungen sondern auch Anreize zum längeren Verbleib im Erwerbsleben vor (vgl. dazu Ziff. 2.5).

Rentenalter und Rentenvorbezug sowie -aufschub Die Neufassung der 11. AHV-Revision übernimmt im Wesentlichen die Vorschläge zum Rentenvorbezug und den Rentenaufschub mit versicherungstechnischen Kürzungen oder Zuschlägen der abgelehnten Revision. Des Weiteren wird auch die Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 Jahre wieder aufgenommen.

Die Vorruhestandsleistung Die Vorruhestandsleistung16 ist die Antwort des Bundesrates auf die berechtigte Forderung nach einem sozial abgefederten vorzeitigen Ruhestand. Mit der Vorruhestandsleistung soll das bestehende System der Altersvorsorge dort ergänzt werden, wo der soziale und wirtschaftliche Bedarf heute ungenügend gedeckt ist. Die Anspruchsvoraussetzungen sind so ausgestaltet, dass die Personen erfasst werden, welche heute faktisch von der Frühpensionierung ausgeschlossen sind, weil sie die mit dem Vorbezug von Altersleistungen der ersten und zweiten Säule einhergehen15 16

420

BBl 2006 1957, 11. AHV-Revision (Neufassung). Erste Botschaft.

BBl 2006 2061, 11. AHV-Revision (Neufassung). Zweite Botschaft.

den lebenslangen Leistungskürzungen finanziell nicht oder nur schwer verkraften können. Zu dieser Personengruppe gehören insbesondere Personen des unteren Mittelstandes. Sie erfüllen die strengen wirtschaftlichen Voraussetzungen für Ergänzungsleistungen zur vorbezogenen Altersrente gerade nicht mehr, können die hohen Kürzungen aber auch nicht mit eigenen Mitteln kompensieren. Auch stehen ihnen weder andere finanzielle Möglichkeiten zur Finanzierung eines vorzeitigen Ruhestandes (z.B. Vermögen, Einkommen aus Vermögen, Überbrückungsrenten des Arbeitgebers oder der Pensionskasse) zur Verfügung, noch können sie die Leistungen der zweiten Säule zu günstigen Bedingungen vorbeziehen.

Die Vorruhestandsleistung ist bedarfsorientiert ausgestaltet und soll ins Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG)17 integriert werden.

Eine Vorruhestandsleistung soll erhalten, wer ­

mindestens 62 und weniger als 65 Jahre alt ist;

­

in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen lebt;

­

seinen Wohnsitz in der Schweiz hat und in den letzten 20 Jahren unmittelbar vor der Geltendmachung des Anspruches ununterbrochen in der AHV obligatorisch versichert gewesen ist;

­

die Altersrente der AHV nicht vorbezieht; und

­

keine Ergänzungsleistungen (EL) bezieht.

Diese Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein.

Wie bei den EL zur AHV/IV definieren sich die bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnisse aufgrund eines Vergleichs von Einnahmen und Ausgaben. Übersteigen die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen, ist das Kriterium der bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnisse erfüllt. In Abweichung zu den EL wird bei der Vorruhestandsleistung eine zusätzliche Ausgabe anerkannt, womit die Eintrittsschwelle ins System im Vergleich zu den EL spürbar gesenkt wird. Die die Einnahmen übersteigenden Ausgaben bestimmen dann die Höhe der Leistung, die auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen abgestimmt ist. Sie darf aber bei Alleinstehenden 44 100 Franken und bei Verheirateten 66 150 Franken pro Jahr nicht übersteigen18. Mit dieser Leistung kann für etwa 9 Prozent aller 62- bis 64-jährigen Versicherten der Lebensunterhalt bis zum Erreichen des ordentlichen Rentenalters hinreichend gesichert werden, ohne dass sie Altersleistungen aus der ersten und zweiten Säule vorbeziehen müssen.

Die Finanzierung der Vorruhestandsleistung soll mit den Einsparungen aus der Erhöhung des Frauenrentenalters erfolgen. Die Kosten belaufen sich inklusive Durchführungskosten von 5 Prozent der Ausgaben auf 353 Millionen Franken pro Jahr.

17 18

SR 831.30 Beträge ab 2007: 45 350 Fr. für Alleinstehende, 68 025 Fr. für Ehepaare.

421

2.5

Anreize für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer länger im Erwerbsleben zu bleiben

Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wie es auch von den Initiantinnen und Initianten erwähnt wird, nicht einfach. Die sozialversicherungsrechtlichen Rahmenbedingungen sind im Falle einer Weiterführung der Erwerbstätigkeit bei Erreichen des ordentlichen Rentenalters oder einer Reduktion des Beschäftigungsgrades mit Nachteilen verbunden. Einerseits sind dies fehlende Möglichkeiten der Rentenaufbesserung oder Renteneinbussen. Andererseits sind die Arbeitsbedingungen noch sehr wenig auf den alterungsbedingten Leistungswandel der Erwerbstätigen ausgerichtet. Fehlmeinungen und Diskriminierungen sind heute verbreitet. Damit die Altersvorsorge auf lange Sicht finanzierbar bleibt und um künftig über genügend Arbeitskräfte verfügen zu können, muss mit der Erweiterung der Flexibilisierung auch die Verbesserung der Stellung der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Erwerbsleben einhergehen. Der Bundesrat arbeitet daher in den jeweiligen Sozialversicherungszweigen Vorschläge aus oder unterbreitet solche bereits im Rahmen von Gesetzesrevisionen. Dies sind insbesondere: ­

Der Leistungsvorbezug und -aufschub in der zweiten Säule wird mit demjenigen in der AHV koordiniert.

­

In der AHV sollen Beiträge, die nach dem Rentenalter einbezahlt werden, zur Rentenaufbesserung dienen.

­

In der beruflichen Vorsorge sollen Personen, die mit Erreichen des ordentlichen Rentenalters noch keinen Anspruch auf die Gesamtheit der Leistungen erworben haben, die der Leistungsplan ihrer Vorsorgeeinrichtung vorsieht, durch Weiterarbeit ihre Leistungen bis zum Maximum des Leistungsplanes vervollständigen können.

­

Die Pensionskassenreglemente sollen überdies vorsehen können, dass das frühere Vorsorgeniveau über einen gewissen Zeitraum beibehalten werden kann, wenn bei einer Person das Erwerbseinkommen aus Altersgründen etwas sinkt (Reduktion des Beschäftigungsgrades, Funktionswechsel)19.

2.6

Tendenzen und Bestrebungen in Europa

Im gemeinsamen Bericht der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates20 betreffend die Rentenreform wurden die Mitgliedstaaten aufgefordert, stärkere Anreize zur Verlängerung des Arbeitslebens zu schaffen, Beiträge und Leistungen stärker aneinander zu koppeln und in Anbetracht der steigenden Lebenserwartung dafür zu sorgen, dass mehr private und öffentliche Mittel in die Altersvorsorge fliessen.

19 20

422

Weitere Massnahmen zu Gunsten älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der beruflichen Vorsorge sind im Rahmen der Strukturreform vorgesehen.

Angemessene und nachhaltige Renten, Gemeinsamer Bericht der Kommission und des Rates September 2003, http//ec.europa.eu/employment_social/social_protection/docs/2006/sec_2006_304_de.pdf

Das Rentenalter steigt tendenziell in ganz Europa. Insbesondere wird dort, wo noch ein ungleiches Rentenalter zwischen Mann und Frau besteht, das Rentenalter der Frauen an jenes der Männer angeglichen, also heraufgesetzt (Belgien, Österreich, Grossbritannien). In Dänemark und Deutschland sind Reformen geplant, welche das Rentenalter langfristig (Übergangszeit 20 Jahre) für alle von 65 auf 67 Jahre heraufsetzen sollen. Andere Länder wie Schweden, Finnland oder Italien sind vom fixen zu einem flexiblen Rentenalter übergegangen (Bandbreitenmodell). So kann die Rente in Italien zwischen dem 57. und 65., in Schweden zwischen dem 61. und 67.

und in Finnland zwischen dem 63. und 68. Altersjahr bezogen werden. Bei diesen Modellen bestimmt das Alter beim erstmaligen Bezug die Höhe der Rente. Wer die Rente früher bezieht, erhält eine tiefere Rente als jemand, der sie später beansprucht.21 Österreich, Spanien und Italien bieten zudem Personen mit schwerer oder gesundheitsschädigender Arbeit die Möglichkeit zum vorzeitigen Rentenbezug an.22 Frankreich, Deutschland, Spanien und Zypern versichern gewisse Kategorien Erwerbstätiger in für diese eigens vorgesehenen Versicherungssystemen. Diese sehen einen früheren Altersrücktritt und/oder Vergünstigungen bei der Rentenberechnung vor.

3

Ziele und Inhalt der Initiative

3.1

Ziele der Initiative

Die Initiantinnen und Initianten wollen die vorzeitige Pensionierung ab 62 Jahren ohne Rentenkürzungen in der AHV auch Personen mit tieferen Einkommen zugänglich machen und begründen dies namentlich mit folgenden Argumenten23:

21 22 23 24

­

Ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind stärker von Entlassungen und damit verbundener Arbeitslosigkeit und zwangsweiser Frühpensionierung betroffen als jüngere. Für über 50-Jährige ist es schwierig wieder Arbeit zu finden.

­

Der gesundheitliche Zustand der Menschen ist sehr unterschiedlich, so dass es möglich sein muss, dem individuellen Bedürfnis entsprechend früher oder später in den Ruhestand zu treten. Zudem sind ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Vorurteilen wie geringerer Leistungsfähigkeit konfrontiert und werden häufiger entlassen als junge. Ein starres Rentenalter wird demnach der sozialen und der wirtschaftlichen Realität nicht mehr gerecht.

­

Personen mit einer höheren beruflichen Stellung haben eine höhere Lebenserwartung als weniger gut Ausgebildete mit meist niedrigen Löhnen. Das Risiko, zwischen dem 45. und dem 65. Altersjahr zu sterben, ist insbesondere bei Bau-, Strassen- und Hilfsarbeitern dreimal so gross wie bei Akademikern24. Deshalb sollen Personen, die weniger verdienen auch früher ohne Rentenkürzung in Pension gehen können.

http://ec.europa.eu/employment_social/social_protection/missoc_tables_de.htm In Österreich muss der Begriff «Schwerarbeit» jedoch erst noch durch eine Verordnung festgelegt werden.

www.ahv-62.ch Etienne Guberan et Massimo Usel, Mortalité prématurée et invalidité selon la profession et la classe sociale à Genève, Office cantonal de l'inspection et des relations du travail (OCIRT), Genève, mars 2000.

423

­

Frauen, die mehrheitlich über kleine Einkommen verfügen und häufiger mit Haushalt und Beruf doppelt belastet sind, werden durch die heutigen Pensionierungsregelungen benachteiligt. Der geforderte Rentenvorbezug ohne Rentenkürzung ab 62 Jahren soll diese Benachteiligung ausgleichen.

­

Obschon sich der Bundesrat bei der Abstimmung über die 10. AHVRevision zur Notwendigkeit eines flexiblen Rentenalters bekannt hat, macht er nun im Rahmen der Neufassung der 11. AHV-Revision mit der Vorruhestandsleistung nur einen ungenügenden Lösungsvorschlag, da damit weniger als 10 Prozent der über 62­64-jährigen Bevölkerung erreicht werden.

3.2

Inhalt der vorgeschlagenen Regelung

Die Initiative beinhaltet ein Rentenaltermodell, das für erwerbstätige Personen mit bestimmten Erwerbseinkommen eine Frühpensionierung in der AHV ohne Rentenkürzung erlaubt. Auch ist die Möglichkeit eines Teilruhestandes vorgesehen und das allgemeine Höchstrentenalter für Mann und Frau soll bei 65 Jahren angesetzt werden.

Die Grundzüge dieses Modells sollen direkt in der Verfassung verankert werden. So soll der spätest mögliche Zeitpunkt für die Entstehung eines bedingungslosen Anspruches auf die ungekürzte AHV-Rente ­ das 65. Altersjahr ­ auf Verfassungsstufe gehoben werden. Gegenwärtig ist das Rentenalter nur im Gesetz geregelt (64/65 Jahre).

In der Verfassung selbst soll auch der Kreis der Personen verankert werden, die schon ab dem 62. Altersjahr eine ungekürzte AHV-Rente beziehen können. Dieses Privileg soll denjenigen vorbehalten sein, die ein Erwerbseinkommen unter dem Anderthalbfachen des maximalen rentenbildenden durchschnittlichen Jahreseinkommens (2007: 119 340 Fr.) haben und die Erwerbstätigkeit vollständig aufgeben oder mit einem kleinen Nebenverdienst nur noch ein ganz kleines Erwerbseinkommen erzielen.

Zudem verpflichtet der Verfassungstext den Gesetzgeber dazu, für Personen, die ihre Erwerbstätigkeit nur teilweise reduzieren, die Möglichkeit eines Teilvorbezuges der ungekürzten Altersrente vorzusehen.

Gemäss dem Initiativtext sind folgende Punkte im Gesetz zu regeln: ­

allfällige Unterschreitungen des in der Verfassung vorgesehenen Höchstalters (65) für den bedingungslosen Bezug der AHV-Altersrente;

­

die Ausgestaltung des Vorbezuges einer ungekürzten Teilrente bei nur teilweiser Aufgabe der Erwerbstätigkeit;

­

die Höhe des Kleinsteinkommens, das neben dem Vorbezug einer ungekürzten ganzen Altersrente noch erzielt werden darf.

Wie ihrem Argumentarium zu entnehmen ist, sehen die Initiantinnen und Initianten ausdrücklich noch andere Punkte vor, die ebenfalls im Gesetz zu regeln sind: ­

424

die Ausgestaltung der Rentenkürzung im Falle des Vorbezuges von Personen mit Erwerbseinkommen über 119 340 Franken;

­

die Bedingungen, unter welchen Personen, die ihre Erwerbstätigkeit unfreiwillig (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Invalidität) aufgegeben haben, den Erwerbstätigen gleichgestellt werden sollen, damit sie in den Genuss einer ungekürzten AHV-Rente ab 62 kommen.

­

die Koordination mit anderen Sozialversicherungen (insbesondere Arbeitslosen- und Invalidenversicherung, berufliche Vorsorge).

Ausserdem müsste das Gesetz das Erwerbseinkommen definieren, das für die Festsetzung der Einkommensgrenze massgebend ist, die zu einer ungekürzten Rente berechtigt: Soll das letzte Einkommen unmittelbar vor dem Rentenbezug, ein Durchschnittseinkommen der noch zu bestimmenden Anzahl Jahre vor dem Rentenbezug oder der Durchschnitt des gesamten Erwerbseinkommens massgebend sein? Ebenso bräuchte es Bestimmungen über die Berücksichtigung von Erwerbseinkommen, die im Ausland erzielt worden sind.

4

Würdigung der Initiative

4.1

Senkung des Rentenalters für einen grossen Teil der Erwerbstätigen

Die von den Initiantinnen und Initianten gewählten Kriterien zur Ausrichtung einer ungekürzten Rente ab dem 62. Altersjahr sind so grosszügig, dass sie von einem grossen Teil der erwerbstätigen Bevölkerung zwischen dem 62. und 65. Altersjahr erfüllt werden. Im Alter von 62 Jahren liegt die Erwerbstätigkeit der Männer bei 72 Prozent, jene der Frauen bei 38 Prozent. Mit 63 Jahren sind noch 64 Prozent der Männer und 32 Prozent der Frauen erwerbstätig25 und mit 64 Jahren 57 Prozent der Männer und 26 Prozent der Frauen. Davon haben zwei Prozent der Frauen ein Erwerbseinkommen über 119 340 Franken, während bei den erwerbstätigen Männern rund 15 Prozent über ein Erwerbseinkommen verfügen, das über diesen Betrag hinaus geht26. Von den erwerbstätigen Frauen wären also 98 Prozent zum Bezug einer vorzeitigen ungekürzten Rente berechtigt und bei den Männern immerhin 85 Prozent. Die Erwerbsquote der Frauen in diesem Alter ist heute zwar noch vergleichsweise tief, wobei jedoch in absehbarer Zeit mit einer markanten Zunahme zu rechnen ist und damit auch mit mehr Anspruchsberechtigten.

Erfahrungen mit ähnlichen Modellen im Ausland haben gezeigt, dass die überwiegende Mehrheit gleich zu Beginn der Bezugsmöglichkeit die Rente beansprucht27.

Diese Erfahrung kann jedoch nicht direkt auf die schweizerischen Verhältnisse übertragen werden, da die Altersrente der AHV bei einer Mehrheit der potentiell anspruchsberechtigten Personen nicht zur Deckung des Lebensunterhaltes ausreichen wird. Ausschlaggebend wird für den Zeitpunkt des effektiven Bezugs der AHV-Rente die Höhe der Leistungen aus der zweiten Säule sein. Auf Grund des Leistungsniveaus der zweiten Säule kann davon ausgegangen werden, dass 30 Prozent der potentiell Anspruchsberechtigten die ungekürzte AHV-Rente mit 62 Jahren beziehen werden. Im Alter von 63 Jahren könnten es sich bereits 50 Prozent und im Alter von 64 Jahren 70 Prozent erlauben die Altersrente vorzubeziehen.

25 26 27

Statistisches Jahrbuch der Schweiz 2006, Bundesamt für Statistik, Verlag Neue Zürcher Zeitung, S. 96.

Quelle: IK-Register 1999 ZAS Internationale Revue für Soziale Sicherheit 1989, Genf, S. 498.

425

Diese Annahmen liegen auch den Kostenberechnungen unter Ziffer 5.3 zu Grunde.

Die Initiative würde also das Rentenalter für eine Mehrheit der erwerbstätigen Bevölkerung faktisch um zwei Jahre herabsetzen.

Die demografische Entwicklung in der Schweiz (und in Europa) zeichnet sich durch eine zunehmende Lebenserwartung und durch einen Rückgang der Geburten aus.

Dies hat zur Folge, dass sich das Verhältnis zwischen Beitragszahlenden und Rentnern und Rentnerinnen immer mehr verschlechtert und in der Altersvorsorge zu einer Finanzierungslücke führt, wenn nicht entsprechende Massnahmen getroffen werden.

Ausserdem führen die tiefe Geburtenrate und der Austritt der Babyboomjahrgänge aus dem Erwerbsleben in absehbarer Zeit zu einem Mangel an Arbeitskräften. Ältere Menschen werden daher in der Arbeitswelt und als Beitragszahlende benötigt werden. Die gegenwärtige Tendenz, ältere Menschen aus dem Erwerbsleben zu drängen, darf nicht noch dadurch verschärft werden, dass das Rentenalter für einen Grossteil der Erwerbstätigen erheblich herabgesetzt wird. Der Bundesrat ist deshalb, wie dies auch die OECD28 fordert, bestrebt, mit Anreizen den älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die verlängerte Teilnahme am Erwerbsleben zu erleichtern (vgl.

Ziff. 2.5). Gleichzeitig wird damit auch dem Umstand Rechnung getragen, dass das Rentenalter nie an die steigende Lebenserwartung und den insgesamt besseren Gesundheitszustand der Bevölkerung angepasst wurde.

Dass ein längerer Verbleib im Erwerbsleben nicht für alle möglich oder wünschenswert ist, ist dem Bundesrat bewusst. Die Forderungen nach einem flexiblen Altersrücktritt, der nach sozialpolitischen Kriterien ausgestaltet ist, nimmt er auch ernst.

Dafür muss aber eine Lösung gefunden werden, die nicht eine Senkung des Rentenalters für einen grossen Teil der erwerbstätigen Bevölkerung zur Folge hat, sondern auf die sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnitten ist (vgl. Ziff. 2.5).

4.2

In der Verfassung verankertes Höchstrentenalter

Heute ist das Rentenalter im Gesetz geregelt (Art. 21 AHVG). Bei Annahme der Initiative würde das Höchstrentenalter in der Verfassung verankert, was insofern problematisch wäre, als dass auf die demografischen und gesellschaftlichen Umstände sowie die finanzielle Situation der AHV nicht mehr flexibel genug reagiert werden könnte und die Gefahr bestünde, dass das ganze System der AHV erstarrte. Die Erhöhung des Höchstrentenalters müsste nämlich zwingend Volk und Ständen vorgelegt und von diesen genehmigt werden (Art. 140 BV). Gesetzesänderungen hingegen unterliegen nur dem fakultativen Referendum (Art. 141 BV) und können daher relativ rasch realisiert werden. Gerade beim Rentenalter in der AHV ist dies wichtig, weil es ein zentrales Element der AHV ist, an dem sich im Übrigen auch andere Sozialversicherungen orientieren und das auch schon verschiedentlich an die veränderten gesellschaftlichen, finanziellen und demografischen Gegebenheiten angepasst werden musste (vgl. Ziff. 2).

28

426

Etudes économiques de l'OCDE Suisse, volume 2006/1 S. 81 ff.

4.3

Korrektur von Ungleichheiten vor dem Rentenalter

Mit der Initiative sollen weniger gut Verdienende, deren Lebenserwartung in der Regel tiefer ist als diejenige von gut Verdienenden, ihren Ruhestand länger geniessen können. Dies kann allein durch die Möglichkeit, eine ungekürzte AHV-Rente schon ab dem 62. Altersjahr zu beziehen nicht erreicht werden. Nur mit der AHVRente kann in den meisten Fällen der Lebensunterhalt nicht bestritten werden. Will eine Person mit 62 Jahren in den Ruhestand treten, muss sie in der Regel noch auf eigene Ersparnisse oder auf die Leistungen der zweiten Säule zurückgreifen können.

Diese werden aber im Falle eines Bezuges vor dem 65. Altersjahr massiv gekürzt: Je nach Reglement kann bei einem Rentenbeginn ab Alter 62 statt 65 die Kürzung bis zu 24 Prozent betragen29. Ob damit eine Person mit einem kleinen Einkommen genug zum Leben hat, ist fraglich. Personen in sehr bescheidenen Verhältnissen würde die Initiative im Vergleich zu heute kaum Verbesserungen bringen, da die versicherungstechnische Kürzung der vorbezogenen Altersrente durch die EL bereits ausgeglichen werden kann (Art. 2a Bst. a ELG).

5

Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme

5.1

Überprüfen der Anspruchsvoraussetzungen

Abklärung, ob eine Person als erwerbstätig gilt Die privilegierte Frühpensionierung ist Erwerbstätigen vorbehalten und Personen, die den Erwerbstätigen gleichgestellt sind, weil sie unfreiwillig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind (vgl. Ziff. 3.2). Die Erfüllung solcher Voraussetzungen kann bei Personen in der Schweiz ohne grösseren Aufwand festgestellt werden.

Aufgabe der Erwerbstätigkeit Komplizierter wird es, wenn geprüft werden muss, ob die Erwerbstätigkeit aufgegeben wurde. Zwar kann mit der Anmeldung für die Rente ein Nachweis der Erwerbsaufgabe in Form einer Kündigung, einer Bestätigung des Arbeitgebers oder eines Austrittszeugnisses erbracht werden. Ein vollständiger Beweis, der auch garantieren könnte, dass die Erwerbstätigkeit nicht wieder aufgenommen wird, kann jedoch nicht erbracht werden. Eine Glaubhaftmachung müsste hier genügen. Sofern überhaupt Beiträge bezahlt werden, kann zwar eine allfällige Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit in der Schweiz über die Einträge im individuellen Konto festgestellt werden. Solche Überprüfungen können jedoch nur im Nachhinein erfolgen und würden deshalb nur zur Rückforderung der schon erbrachten Leistung führen. Erfahrungsgemäss ist dies ziemlich aufwändig und führt je nach finanzieller Lage der betroffenen Person nicht oder nur zum Teil zum Ziel. Die Umgehung dieser Anspruchsvoraussetzung über die Ausübung von Schwarzarbeit kann jedoch nicht verhindert werden und ein gewisses Missbrauchspotential bliebe bestehen. Die gleichen Probleme stellten sich, wenn für den Bezug einer Teilrente die Reduktion der Erwerbstätigkeit und deren Ausmass überprüft werden müsste. Unter dem 29

Diesem Beispiel liegt die Annahme einer Reduktion des Umwandlungssatzes von 7,1 Prozent im Alter 65 auf 6,8 Prozent im Alter 62 zugrunde. Der überwiegende Teil der Reduktion der Altersrente ist jedoch darauf zurückzuführen, dass weniger Altersguthaben angespart wird.

427

Aspekt der länderübergreifenden Koordination ist die Feststellung und Kontrolle der Aufgabe der Erwerbstätigkeit im Ausland sehr problematisch. Ob und in welchem Umfang zu diesem Zweck die Amtshilfe in Anspruch genommen werden könnte, ist fraglich.

Festsetzung des Grenzeinkommens Das Rentenaltermodell der Initiative sieht zwei Grenzeinkommen vor. Das eine dient zur Eingrenzung des Personenkreises, der in den Genuss einer ungekürzten vorbezogenen Rente kommt; es beträgt gemäss Initiativtext (2007) 119 340 Franken.

Das Gesetz muss bestimmen, in welcher Zeitspanne dieses Erwerbseinkommen erwirtschaftet worden sein muss. Wenn nur das Erwerbseinkommen unmittelbar vor dem Rentenvorbezug berücksichtigt würde, bestünde ein gewisses Missbrauchspotential. So könnte eine Person im Hinblick auf eine ungekürzte AHV-Rente ab 62 Jahren ihr Erwerbseinkommen noch unter die erwähnte Grenze senken. Würde jedoch ein durchschnittliches Erwerbseinkommen über eine bestimmte Anzahl Jahre oder sogar über das ganze Erwerbsleben berücksichtigt, würde die Durchführung erschwert. Auf internationaler Ebene bestünden sogar im EU/EFTA-Raum erhebliche Schwierigkeiten. Selbst wenn zur Ermittlung des Grenzeinkommens auf die Amtshilfe zurückgegriffen werden könnte, ist die Beschaffung der entsprechenden Informationen nur schwer möglich. Ob und welche ausländische Stelle (Sozialversicherungsbehörde, Steuerbehörde etc.) in der Lage ist, Angaben über Erwerbseinkommen zu liefern, ist nicht klar. Strenge nationale Datenschutzvorschriften könnten hier ein zusätzliches Hindernis darstellen. Die Verordnung (EWG) 1408/7130 sieht lediglich vor, dass sich die Behörden und Träger der Mitgliedstaaten bei der Anwendung dieser Verordnung unterstützen, als handelte es sich um die Anwendung ihrer eigenen Rechtsvorschriften (Art. 84 Abs. 2). In jedem Fall ist mit einem erhöhten Verwaltungsaufwand zu rechnen. Was die Ermittlung von massgebenden Erwerbseinkommen von Personen im Ausland betrifft, müsste ausserdem bestimmt werden, ob diese Einkommen in der Schweiz zum Nominalbetrag berücksichtigt werden oder ob die Kaufkraft beachtet werden soll.

Das zweite in der Initiative erwähnte Grenzeinkommen betrifft das Einkommen aus kleinen Nebenverdiensten, das noch zum Vorbezug einer ganzen ungekürzten Altersrente berechtigt. Die Überprüfung dieses Grenzeinkommens ist mit den gleichen Schwierigkeiten verbunden.

5.2

Koordination mit anderen Sozialversicherungen

Invalidenversicherung In seinem Argumentarium zur Initiative fordert der Schweizerische Gewerkschaftsbund, dass Personen mit einer ganzen Rente der Invalidenversicherung nicht zum Vorbezug der ungekürzten Altersrente gezwungen werden dürften, auch wenn sie die Voraussetzungen dafür erfüllten, da seiner Ansicht nach in diesen Fällen die Invalidenrente meist höher ist.

30

428

SR 0.831.109.268.1

Löst eine Altersrente eine Invalidenrente ab, ist nach geltender Rechtslage auf die für die Berechnung der IV-Rente massgebende Grundlage abzustellen, falls diese vorteilhafter ist (Art. 33bis Abs. 1 AHVG). Wenn Bezüger und Bezügerinnen von IV-Renten ins AHV-Alter kommen, wird ihre AHV-Rente also mindestens so hoch sein wie die zuvor bezogene IV-Rente. Bei Personen, die die Anspruchsvoraussetzungen für eine ungekürzte AHV-Rente ab 62 Jahren erfüllen, braucht es also keine neuen Koordinationsregeln, damit die Invalidenrentner und -rentnerinnen durch das in der Initiative vorgesehene Rentenvorbezugsmodell nicht benachteiligt werden.

Koordinationsbedarf gäbe es hingegen beim Vorbezug einer Teilrente der AHV einer Person, die daneben eine Teilrente der IV bezieht, sowie beim Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen der IV (inbesondere Hilfsmittel) für Personen, die neben dem Bezug einer Teilrente der AHV noch eine Teilerwerbstätigkeit ausüben.

Ergänzungsleistungen Bereits heute werden zur vorbezogenen gekürzten Altersrente der AHV EL ausgerichtet. Damit dies, wie es die Initianten und Initiantinnen verlangen, auch beim Vorbezug der ungekürzten Rente ab 62 Jahren möglich bleibt, ist im ELG keine zusätzliche Regelung notwendig (Art. 2a ELG).

Berufliche Vorsorge Das gesetzliche Rentenalter in der beruflichen Vorsorge entspricht dem ordentlichen AHV-Rentenalter (65 Jahre für Männer und 64 Jahre für Frauen31). Die Vorsorgeeinrichtungen können zwar in ihren Reglementen vorsehen, dass die Altersleistung vor diesem Zeitpunkt bezogen werden kann (Art. 13 Abs. 2 BVG), sie sind jedoch nicht dazu verpflichtet. Heute können daher nicht alle Versicherten die Altersleistungen der zweiten Säule ab Alter 62 beziehen. Damit dies möglich würde, müssten ins Gesetz neue Koordinationsregeln aufgenommen werden, ähnlich jenen, die in der ersten Auflage der 11. AHV-Revision vorgesehen waren und auch wieder in die Neufassung dieser Revision aufgenommen wurden.

Arbeitslosenversicherung Personen, die im 62. Altersjahr bereits eine Arbeitslosenentschädigung beziehen, sollen nicht vom Vorbezug der AHV-Rente Gebrauch machen müssen. Jedoch ist vom Grundsatz auszugehen, dass die Aufgabe der Erwerbstätigkeit verbunden mit dem Vorbezug einer ganzen AHV-Rente den Bezug von Leistungen der Arbeitslosenversicherung ausschliesst. Wie im
Argumentarium zur Initiative ausdrücklich erwähnt wird, soll der Bezug von Arbeitslosenentschädigung den Vorbezug einer ungekürzten ganzen AHV-Rente ausschliessen. Diese Lösung ergibt sich schon aus dem System. Die Erwerbsaufgabe ist ja eine Voraussetzung für den Vorbezug der ungekürzten AHV-Rente, und die Arbeitslosenentschädigung ist der Erwerbstätigkeit gleichzustellen. Somit ist der Bezug der AHV-Rente nicht möglich, solange eine Arbeitslosenentschädigung bezogen wird. Bezieht jemand neben der reduzierten Erwerbstätigkeit eine Teilrente, besteht Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, falls diese Person die Teilerwerbstätigkeit verlieren sollte. Dann sollte entsprechend der Erwerbstätigkeit ein reduziertes Arbeitslosentaggeld bezogen werden können.

31

Art. 13 des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1982 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge, SR 831.40 und Art. 62a der Verordnung vom 18. April 1984 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge, SR 831.441.1.

429

Dieser Anspruch sollte erst mit dem Vorbezug einer ganzen ungekürzten Altersrente erlöschen. Eine solche Koordinationsregelung ist übrigens schon in der Neufassung der 11. AHV-Revision vorgesehen.

Obligatorische Unfallversicherung und Militärversicherung Im Falle von Teilerwerbsfähigkeit müsste die Koordination auch mit diesen Versicherungszweigen geregelt werden, ähnlich jenen, die in der ersten Auflage der 11. AHV-Revision vorgesehen waren und auch wieder in die Neufassung dieser Revision aufgenommen werden sollen.

5.3

Finanzielle Auswirkungen

Auswirkungen auf die AHV/IV/EL Laut den Initiantinnen und Initianten belaufen sich die Kosten der Initiative für die AHV auf 720 Millionen Franken, wenn das Frauenrentenalter auf 65 Jahre erhöht wird, und auf 1150 Millionen Franken, wenn das Frauenrentenalter bei 64 Jahren bleibt. Diese vom Bundesamt für Sozialversicherungen im Zeitpunkt der Lancierung der Initiative berechneten Werte beruhen auf einer Momentaufnahme für die Kosten im Jahr 2009. Sie wurden seither anhand neueren Datenmaterials überarbeitet. Dadurch und weil neu (wie bei der Neufassung der 11. AHV-Revision) mit Durchschnittskosten für die Zeitspanne von 2009 bis 2020 gerechnet wurde, ergeben sich bei Rentenalter 65/65 für die AHV Kosten von 779 Millionen Franken.

Bleibt das Rentenalter der Frauen bei 64 Jahren, beträgt die Mehrbelastung für die AHV 1259 Millionen Franken. Werden die Auswirkungen auf die AHV, die IV, die EL insgesamt berücksichtigt, muss beim Rentenalter 65/65 von Kosten in der Höhe von 919 Millionen Franken ausgegangen werden und beim Rentenalter 64/65 von 1316 Millionen Franken. Die Tabelle im Anhang weist diese Kosten im Einzelnen aus.

Zusätzliche Ausgaben solcher Grössenordnung belasten die AHV schwer, besonders da die Versicherung ja in naher Zukunft ohnehin demografisch bedingte finanzielle Schwierigkeiten haben wird, wenn keine Gegenmassnahmen ergriffen werden: Die positiven Abschlüsse der AHV in den vergangenen Jahren sind auf die guten Anlageerträge des Fonds zurückzuführen. Tatsächlich steigen aber die Ausgaben der AHV stärker an, als die Wirtschaft wächst. Die Ausgaben der AHV sind von 6,1 Prozent des BIP im Jahre 1975 auf 7 Prozent im Jahr 2005 angestiegen. Geht man von einem jährlichen Wirtschaftswachstum von 0,9 Prozent und einem Reallohnwachstum von 1 Prozent aus, steigt der finanzielle Bedarf der AHV weiter um 2,5 Prozent des BIP bis im Jahr 2030 an. Selbst ein stärkeres Wirtschaftswachstum würde die zunehmenden Ausgaben der AHV nicht zu decken vermögen. Ohne Gegenmassnahmen wird der AHV-Fonds nach dem Jahr 2013 unter 70 Prozent der jährlichen Ausgaben fallen. Werden auch noch die Schulden der IV berücksichtigt, wird der Fonds Ende 2012 noch 15 bis 20 Prozent einer Jahresausgabe decken32. Mit den zusätzlichen Kosten der geforderten flexiblen Pensionierung würde der Fondsstand ohne zusätzliche Finanzierung negative Zahlen aufweisen.

32

430

Botschaft zur IV-Zusatzfinanzierung, BBl 2005 4623.

Zur Deckung der zusätzlichen Kosten zogen die Initiantinnen und Initianten die Nationalbankgewinne in Betracht, welche die KOSA-Initiative33 mit Ausnahme einer Milliarde Franken, die den Kantonen vorbehalten war, der AHV zukommen lassen wollte. Da die Initiative am 24. September 2006 von Volk und Ständen abgelehnt worden ist, fällt diese Finanzierungsquelle ausser Betracht.

Als weitere Finanzierungsquelle erwägen die Initiantinnen und Initianten auch eine Erhöhung der AHV-Beiträge um 3 Promille, d.h. von 8,4 auf 8,7 Prozent. Diese Erhöhung würde zu der in der Botschaft über die 5. IV-Revision34 vorgesehenen Erhöhung von 1,4 auf 1,5 Prozent und zur Erhöhung, die in der Arbeitslosenversicherung demnächst nötig sein wird, hinzukommen. Ausserdem ist die Anhebung des EO-Beitragssatzes von 0,3 auf 0,4 Prozent zu berücksichtigen, mit welcher die langfristige Sicherung der Mutterschaftsentschädigung gewährleistet werden soll.35 Auch das vom Volk gut geheissene Bundesgesetz über Familienzulagen zieht eine Beitragserhöhung auf Seiten der Arbeitgeber von 1,52 auf 1,7 Prozent nach sich.36 Jede Zunahme der Lohnnebenkosten wirkt sich auf die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz aus. Deshalb sollten Erhöhungen von Sozialversicherungsbeiträgen nur in Betracht gezogen werden, wenn es um die Sicherstellung von bestehenden Leistungen oder um die Schliessung von Lücken im Sozialversicherungsnetz, nicht aber, wenn es um einen grosszügigen, sozialpolitisch nicht zwingenden Leistungsausbau geht.

Die Initianten und Initiantinnen schlagen keine Erschliessung neuer Finanzierungsquellen vor. Das in der Initiative geforderte Rentenaltermodell müsste also über Einsparungen bei den Leistungen, und soweit noch möglich über die Ausweitung der Beitragspflicht finanziert werden, was nicht im Sinne der Initianten und Initiantinnen wäre.

Auswirkungen auf die berufliche Vorsorge In der beruflichen Vorsorge wird bei einem Vorbezug die Altersrente in aller Regel nach versicherungstechnischen Kriterien gekürzt, so dass die kürzere Beitragsdauer die längere Bezugsdauer der Rente ausgleicht. Für die zweite Säule hat also die Initiative keine finanziellen Auswirkungen, da die Verminderung der Beiträge37 wegen der vermehrten Frühpensionierungen durch entsprechende Kürzungen der vorbezogenen Leistungen wieder ausgeglichen wird.

Auswirkungen auf
die Arbeitslosenversicherung Bei Anwendung der in Ziffer 5.2 vorgesehenen Koordinationsregeln hätte die Initiative kaum finanzielle Auswirkungen auf die Arbeitslosenversicherung.

33 34 35

36 37

Botschaft zur Verwendung von 1300 Tonnen Nationalbankgold und zur Volksinitiative «Nationalbankgewinne für die AHV», BBl 2003 6133.

BBl 2005 4459 Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates, Parlamentarische Intiative. Revision Erwerbsersatzgesetz. Ausweitung der Erwerbsansprüche auf erwerbstätige Mütter, BBl 2002 7522.

BBl 2006 3515 Beim Vorbezug ab 62 Jahren und Rentenalter 64/65 handelt es sich 135 Mio. Fr., bei Rentenalter 65/65 um 145 Mio. Fr. (Die Schätzungen basieren auf den Zahlen für 2005, wobei die BVG-Beiträge für die Altersgutschriften und für die Risiken Tod und Invalidität einbezogen wurden.)

431

Auswirkungen auf den Bund und die Kantone Der Anteil des Bundes an den Ausgaben beträgt heute in der AHV 16,36 Prozent, in der IV 37,5 Prozent und bei den EL rund 22 Prozent. Die Kantone beteiligen sich mit 3,64 Prozent an der AHV, mit 12,5 Prozent an der IV und mit 78 Prozent an den EL.

Mehrkosten in Millionen Franken (jährlicher Durchschnitt 2009­2020, ohne NFA) AHV

Bund Kantone Total

IV

EL

Total

97 21

33 11

4 16

134 48

118

44

20

182

Bei Rentenalter 64/65 würde die zusätzliche Belastung der öffentlichen Hand 239 Millionen Franken betragen (Bund 180 Mio. Fr., Kantone 59 Mio. Fr.).

6

Verhältnis zum europäischen Recht

Vorschriften der europäischen Gemeinschaft Die Koordination der Sozialversicherungssysteme ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Ausübung der Freizügigkeit. Gemäss Anhang II zum Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit38 wendet die Schweiz zu diesem Zweck die Verordnungen (EWG) Nr. 1408/7139 und Nr. 574/7240 an. Diese beiden Verordnungen bezwecken einzig die Koordination der einzelstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit und stützen sich auf die entsprechenden internationalen Grundsätze (insbesondere Gleichbehandlung der Staatsangehörigen anderer Vertragsparteien mit den eigenen Staatsangehörigen, Erhalt der erworbenen Ansprüche und Auszahlung von Leistungen im ganzen europäischen Raum). Da keine Harmonisierung der einzelstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit vorgesehen ist, bleiben die beteiligten Staaten in der Konzeption ihrer Systeme der sozialen Sicherheit grundsätzlich frei.

Die Bestimmungen über die Koordination der Systeme der sozialen Sicherheit enthalten das Gebot der Gleichbehandlung und ein Diskriminierungsverbot.

Eine Person im EU-/EFTA-Raum, die rentenrelevante Beitragszeiten in der Schweiz aufweist und die Erwerbstätigkeit im Ausland vor dem 65. Lebensjahr aufgibt, hat demnach unter den gleichen Voraussetzungen Anspruch auf eine ungekürzte Rente wie eine Person mit Wohnsitz und letzter Erwerbstätigkeit in der Schweiz.

Dieser Rechtsanspruch wird durch Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung (EWG)

38 39 40

432

SR 0.142.112.681 SR 0.831.109.268.1 SR 0.831.109.268.11

Nr. 1408/71, der den Export von vorbezogenen Altersleistungen festschreibt, zusätzlich gestützt.

Die Festsetzung des bedingungslosen Rentenalters auf 65 Jahre und die Möglichkeit der Erwerbsaufgabe mit 62 Jahren ist mit dem europäischen Koordinationsrecht kompatibel, da es in der Kompetenz der Einzelstaaten liegt, das Rentenalter im Rahmen der jeweiligen nationalen Gesetzgebung festzusetzen.

Die Instrumente des Europarates Die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit vom 16. April 1964 wurde am 16. September 1977 von der Schweiz ratifiziert41. Unser Land hat Teil V über die Leistungen bei Alter angenommen. Die Ordnung schreibt kein bestimmtes Rentenalter vor und fordert auch kein gleiches Rentenalter für Mann und Frau. Artikel 26 der Ordnung sieht einzig vor, dass das Rentenalter in der Regel nicht höher als 65 Jahre sein soll. Ausserdem können die nationalen Gesetze die Altersleistungen aussetzen, wenn die anspruchsberechtigte Person noch eine bestimmte Erwerbstätigkeit ausübt oder die Leistungen kürzen, wenn das Erwerbseinkommen der betreffenden Person eine bestimmte Summe überschreitet (Art. 26 Abs. 3). Die Forderungen der Initiantinnen und Initianten würden im Fall einer Annahme der Initiative diesen Bestimmungen nicht zuwiderlaufen.

Die (revidierte) Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit vom 6. November 1990 ist ein von der Europäischen Ordnung von 1964 zu unterscheidendes Abkommen; es ersetzt sie nicht. Durch die (revidierte) Ordnung werden die Normen der Europäischen Ordnung erweitert; zudem wird eine grössere Flexibilität eingeführt.

Da die revidierte Ordnung bisher von keinem Staat ratifiziert wurde, ist sie noch nicht in Kraft getreten.

7

Schlussfolgerungen

Der Bundesrat sieht in dem von den Initiantinnen und Initianten geforderten Rentenaltermodell, das zu einer generellen Senkung des Rentenalters der erwerbstätigen Bevölkerung führen würde, keine adäquate Lösung.

41

­

Die finanzielle Belastung, welche die demografische Entwicklung für sich allein bereits mit sich bringt, verlangt Massnahmen zur Sicherung der AHV.

Die mit der Einführung einer ungekürzten AHV-Rente ab 62 Jahren für eine Mehrheit der Erwerbstätigen verbundenen zusätzlichen Kosten von 779 Millionen Franken pro Jahr unter der Voraussetzung, dass für Frauen das Rentenalter auf 65 Jahre erhöht wird, wären für die AHV untragbar. Bleibt das Rentenalter der Frauen bei 64 Jahren, beträgt die Mehrbelastung für die AHV 1259 Millionen Franken.

­

Die Tatsache, dass immer mehr Menschen das AHV-Alter bei guter Gesundheit erreichen und wegen der höheren Lebenserwartung auch wesentlich länger Leistungen beziehen, spricht nicht für eine Herabsetzung des Rentenalters für eine breite Schicht der Erwerbstätigen, sondern für eine Erhöhung.

SR 0.831.104, AS 1978 1491

433

­

Obwohl zur Zeit die Lage auf dem Arbeitsmarkt noch nicht ganz entspannt ist, wird in absehbarer Zeit mit einem Mangel an Arbeitskräften zu rechnen sein. Deshalb ist ein Ausbau der Frühpensionierung nicht angezeigt. Vielmehr müssen die Rahmenbedingungen für ältere Personen verbessert werden, damit sie dem Arbeitsmarkt bis zum ordentlichen Rentenalter erhalten bleiben. Aus diesem Grund hat der Bundesrat Massnahmen beschlossen, um älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern den längeren Verbleib im Erwerbsleben zu erleichtern.

­

Es wird immer Personen geben, welchen eine Erwerbstätigkeit bis zum ordentlichen Rentenalter nicht zugemutet werden kann und für die eine sozial abgefederte Frühpensionierungsregelung notwendig ist. Eine solche Regelung sieht der Bundesrat in der Vorruhestandsleistung, die er in der Neufassung der 11. AHV-Revision vorschlägt und deren Kosten durch die Erhöhung des Frauenrentenalters gedeckt sind. Die Vorruhestandsleistung ist gezielt auf die individuellen Bedürfnisse der Leistungsberechtigten ausgerichtet und sichert ihnen einen angemessenen Lebensunterhalt bis zum ordentlichen Rentenalter, so dass sie die Leistungen der AHV und der zweiten Säule nicht vorbeziehen müssen.

Aufgrund dieser Überlegungen beantragt der Bundesrat den eidgenössischen Räten, die Volksinitiative «für ein flexibles AHV-Alter» Volk und Ständen ohne Gegenentwurf mit Empfehlung auf Ablehnung zur Abstimmung zu unterbreiten. Anders als die Initianten und Initiantinnen will der Bundesrat die Erweiterung des flexiblen Rentenalters in zwei Schritten realisieren und dies mit für die AHV vertretbaren Kosten. Der erste Schritt soll mit der Vorruhestandsleistung und der Erweiterung der Möglichkeiten des Rentenvorbezugs und Aufschubs nach versicherungstechnischen Kriterien im Rahmen der Neufassung der 11. AHV-Revision umgesetzt werden. Der zweite Schritt soll im Rahmen der 12. AHV-Revision erfolgen, welche ein neues Rentensystem mit einem abgestuften Rentenalter vorschlagen wird. Der Bundesrat erachtet die laufende 11. AHV-Revision (Neufassung) daher als indirekten Gegenvorschlag zur Initiative «für ein flexibles AHV-Alter».

434

1070

Total Veränderung der Ausgaben (Mehrausgaben)

­189 1259

Total Veränderung der Einnahmen

Gesamtkosten der Initiative

32

­32

­32

IV

25

0

25

25

EL

1316

­221

­221

1095

1095

Total

Gesamtkosten der Initiative

Total Veränderung der Einnahmen

Veränderung der Einnahmen Mehrbeiträge Rentenaltererhöhung Wegfall Beiträge Ruhestandsrente

Total Veränderung der Ausgaben (Mehrausgaben)

Veränderung der Ausgaben Vereinheitlichung des Rentenalters auf 65 Jahre (ab 2009) Ruhestandsrente

779

­189

33 ­222

590

­590 1180

AHV

Rentenalter 65/65 (jährlicher Durchschnitt 2009­2020) Beträge in Millionen Franken, zu Preisen von 2006

120

­31

6 ­37

89

89

IV

20

0

20

­10 30

EL

919

­220

39 ­259

699

­511 1210

Total

435

Wer eine Rente vorbezieht, muss Beiträge entrichten, meistens als nichterwerbstätige Person (Art. 3 Abs. 1 und 10 AHVG). Diese sind in der Regel tiefer als Lohnbeiträge, was zu einem Beitragsausfall in der AHV und IV führt. Bei den EL ist mit einer Zunahme an Leistungsbeziehenden zu rechnen. Die Auswirkungen auf die IV würden sehr gering ausfallen, da eine Entlastung einzig dadurch erfolgen könnte, dass Personen, die zwischen 62 und 65 noch einen IV-Rentenanspruch erwerben könnten, auf diesen zu Gunsten der vorbezogenen Altersrente verzichten würden.

­189

Wegfall Beiträge Ruhestandsrente

Veränderung der Einnahmen

1070

Ruhestandsrente

Veränderung der Ausgaben

AHV

Beibehaltung Rentenalter 64/65, (jährlicher Durchschnitt 2009­2020) Beträge in Millionen Franken, zu Preisen von 2006

(Für die Berechnungsgrundlagen s. Ziff. 4.1)

Vergleich der finanziellen Auswirkungen nach Ausgestaltung des ordentlichen Rentenalters

Anhang

436