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Schweizerische Bundesversammlung.

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 24. Oktober 1910, nachmittags 41/2 Uhr, zur Fortsetzung der ordentlichen Sommersession zusammengetreten.

Als neue Mitglieder sind im N a t i o n a l r a t e erschienen: Herr H a u s er, Joh. Jakob, Landwirt und Redaktor, von und in Rifferswil.

,, G u y e r , Julius, Fabrikant, von und in Uster.

Im N a t i o n a l rat eröffnete Herr Präsident V. R ö s s e l die Session mit folgenden Worten: Meine Herren !

Der Tod hat eine neue Lücke in unsere Reihen gerissen.

Wir beklagen den Verlust des Herrn Ständerats Rinaldo Simen.

Wenige Namen waren in der Schweiz allgemeiner bekannt als der des Mannes, der im September 1890 das Haupt der revolutionären Bewegung im Kanton Tessin und während langer Jahre die Seele und die rechte Hand der Eidgenossen italienischer Zunge war.

Geboren, den 5. März 1849 als Abkömmling einer Urnerfamilie, die sich anfänglich in Bellinzona, später in Locarno angesiedelt hatte, trat Simen frühzeitig als Commis in das Telegraph enbureau der letztern Stadt. Er hatte nur einen unvollständigen und wenig einlässlichen Unterricht genossen ; dank aber seiner Arbeitskraft und Intelligenz füllte er die Lücken seiner ersten Bildung aus, und nicht lange dauerte es, bis er im öffentlichen Leben des Kantons Tessin eine Rolle spielte. Er besass jene Kunst der Beredsamkeit, deren Zauber man sich in romanischen Landen nicht leicht entzieht. Er fand Geschmack am Studium der Literatur und wandte sich der Journalistik zu.

Vom Jahre 1877 an ist er der Wortführer der Opposition, die sich gegen die konservative Leitung auflehnt. Im Kampfe ent-

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faltet er eine aufreibende Tätigkeit, ein Talent, das allen Anstrengungen trotzt, und eine unbezwingbare Leidenschaft.

Der Sieg krönte schliesslich seine Ausdauer, führte ihn aber auch zu jener Mässigung, die die Weisheit der Starken ist.

Allerdings regierte er nach seinen eigenen Ideen, allein im Interesse seines Vaterlandes weit eher als in dein der Majorität, die ihm die Macht anvertraut hatte. Wenn er im Jahre 1905 aus dem Staatsrat austrat, so bestimmte ihn dazu vielleicht weniger die Politik seiner Gegner als die einzelner seiner ehemaligen Freunde. Das Gefühl seiner Verantwortlichkeit war ihm ein zuverlässigerer Wegweiser als irgend ein im Feuer der Schlacht eilfertig ausgearbeitetes Programm.

In den Ständerat wurde er im Jahre 1893 gewählt und er verblieb Mitglied dieser Behörde bis zu seinem Hinschied. Seine angenehmen Umgangsformen, seine vollendete Höflichkeit, sein ausserordentliches Wohlwollen, seinen Arbeitsfleiss und die Festigkeit seiner Überzeugungen haben wir alle schätzen gelernt. In den letzten Jahren wurde er von Krankheiten heimgesucht. Seine starken Schultern wurden gebeugt, das Leiden hatte die Züge seines Gesichtes entstellt, aber sein Blick hatte das Feuer von ehedem bewahrt. Er hielt sich vor wenigen Monaten noch für kräftig genug, um eine Stelle in der Direktion des V. Kreises der schweizerischen Bundesbahnen anzunehmen ; aber es verblieb ihm kaum die Zeit, sich in seiner neuen Amtstätigkeit einzurichten.

Sein Hinschied erfolgte beinahe auf den Tag zwanzig Jahre nach dem Ereignisse, das seinen Namen von der Geschichte seines Heimatkantons unzertrennlich machen sollte.

Die langsame Gerechtigkeit der Parteien war für Rinaldo Simen der späten Gerechtigkeit des Todes vorausgeeilt. Umgeben von der Achtung und Wertschätzung aller ist er von uns geschieden. Sein Charakter und seine Taten machten ihn zu dem beim ganzen Volke beliebten Magistraten.

Ich ersuche Sie, meine Herre.n, sich von Ihren Sitzen zu erheben, um dem Andenken an diesen treuen Eidgenossen die letzte Ehre zu erweisen.

Meine Herren !

Im Juni abhin sind wir unter dem peinlichen Eindruck einer Katastrophe auseinander gegangen, deren Tragweite wir damals noch nicht ermessen konnten. Die Überschwemmungen, die damals für mehrere Gegenden der Ost- und Mittelschweiz;

187 ein wahres Landesunglück bedeuteten, haben bald nachher noch andere Teile unseres Vaterlandes verwüstet. Unverzüglich haben die Behörden sich der Sache angenommen, und unser Volk hat abermals ein glänzendes Zeugnis von seiner hochherzigen Solidarität abgelegt. Ganz besonders denke ich hier an jene Truppen, die nach den am meisten bedrohten Gegenden entsendet wurden und dort ihre Aufgabe in hervorragender Weise und mit grossen Opfern erfüllt haben.

Durch die sehr ungünstigen Temperatur Verhältnisse des heurigen Jahres, das im Anfang zu schönen Hoffnungen berechtigte, ist auch unsere Landwirtschaft und insbesondere unser Weinbau hart mitgenommen worden. Unsere Behörden werden sowohl die erforderlichen Massnahmen zu treffen wissen als auch auf die nötige Hülfe bedacht sein. Wie die Industriebevölkerung, die in neuester Zeit schwere Krisen durchzumachen hatte, niemals die Hoffnung auf bessere Zeiten aufgegeben, so werden auch unsere Landwirte und Weinhauern den Mut nicht sinken lassen, und wir hoffen, dass die nächsten Ernten ihr Vertrauen auf die Zukunft rechtfertigen werden. Der Erfolg der gelungenen Ausstellung in Lausanne hat bewiesen, dass auch unter den schwierigsten Umständen die schweizerische Landwirtschaft noch unerschöpfliche Hülfsquellen besitzt.

Die ruhige Tüchtigkeit und ausdauernde Willenskraft, die dem schweizerischen Charakter eigen sind, haben sich nicht allein angesichts des Unglücks bewährt. Das eidgenössische Schützenfest zu Bern hat gezeigt, dass wir immer mehr der Pflichten gegen das Vaterland uns bewusst werden. Unsere kleine Republik erblickt ihr Ideal nicht allein darin, ihren Wohlstand zu erhöhen und ihren Nationalreichtum zu vermehren, sie will auch alleiniger Herr ihres Geschickes sein und bleiben. In beredter Weise hat der Herr Bundespräsident in seiner Ansprache vom 23. Juli die Pflichten umschrieben, die uns die Sorge um die Erhaltung unserer Neutralität und unserer Unabhängigkeit auflegen. Begeisterte Anhänger des Friedensgedankens, sind wir nichtsdestoweniger entschlossen, jene männlichen Tugenden in uns zu vervollkommnen, die der beste Schutzwall eines Staates sind. Das so vortrefflich organisierte, von der Liebe und Sympathie aller getragene nationale Fest hat uns überdies einander näher gebracht und gezeigt, dass das, was uns trennt, von geringem Belang ist gegenüber dem, was uns einigt.

Eine nicht minder gerechtfertigte Genugtuung ist uns durch andere Ereignisse zu Teil geworden. Mit Freude und Stolz hat

188 es uns erfüllt, dass wir im Jahre 1910 in Bern drei Staatsoberhäupter zu empfangen Gelegenheit hatten, deren Besuch die Schweiz als ein wertvolles Zeichen der Freundschaft betrachten darf. Wir stehen stetsfort in den besten Beziehungen mit der argentinischen Republik und mit Brasilien, wo Tausende unserer Mitbürger gedeihende Kolonien bilden und wo unser Handel und unsere Industrie ein unermessliches Tätigkeitsfeld finden. Nichts trennt uns von diesen beiden Staaten als die Entfernung, und die Entfernung bedeutet wenig mehr in unserem Zeitalter. Wenn der dem Präsidenten der französischen Republik bereitete Empfang besonders warmherzig gewesen ist, so rührt es wohl daher> dass frühere Verstimmungen zwischen unsern westlichen Nachbarn und uns beseitigt worden, dass die Übereinstimmung der staatlichen Einrichtungen eine Verständigung zwischen den beiden Völkern erleichtert und dass man nicht umhin kann, der lebhaften und klaren Eigenart des französischen Geistes zugetan zu sein.

Insbesondere aber war es die wohltuende Einfachheit und dio Liebenswürdigkeit unseres Gastes, die ihm alle Herzen gewonnen haben.

Bald sind wir wieder auf das politische Schlachtfeld zurückgekehrt. Der gestrigen Volksabstimmung sind ein lebhafter Pressfeldzug und öffentliche Versammlungen vorangegangen. Ich will mich kurz fassen. Schon einmal hat unser Volk sich über die Frage, über die es sich zu entscheiden hatte, ausgesprochen. Es hat sein Urteil nicht geändert und ist offenbar der Ansicht, dass sein gesunder Sinn und sein Billigkeitsgefühl genügend Gewähr für gerechte Wahlen bieten. Es hält dafür, dass es für einen Freistaat, in dem eine weitgehende Dezentralisation wünschenswert ist, wo die Verschiedenheit der Sprache, ' der Rasse, der Religion einer Zusammenfassung der allgemeinen Interessen ohnehin nicht günstig ist, bedenklich sein würde, das Experiment der proportionellen Vertretung den übrigen Hindernissen beizugesellen > die sich dem Ausdruck des Volkswillens entgegenstellen.

Wenn aber auch der Tag vom 23. Oktober den einen Enttäuschung gebracht und die ändern mit Freude erfüllt hat, so gibt es doch weder Sieger noch Besiegte. Der Souverän hat gesprochen, und die vor kurzem noch Gegner waren, werden sich die Hand reichen zu fruchtbarer Arbeit. Indem ich Sie einlade, damit zu beginnen, erkläre ich die Herbstsitzung der eidgenössischen Räte für eröffnet.

189 Im S t ä n d e r a t hielt Herr Präsident U s t e r i folgende An.spräche : In der gestrigen Abstimmung über die Initiative betreffend die Proportionalwahl des Nationalrates haben sich 12 Stände für und 10 Stände g e g e n dieselbe, dagegen von ungefähr 810,000 Stimmberechtigten bei einer Beteiligung von zirka 63 °/o 238,412 für und 263,307 g e g e n dieselbe ausgesprochen. Sie ist somit abgelehnt. Gleichwohl ist der 24. Oktober 1910 ein wichtiger Tag im politischen Leben der Eidgenossenschaft. Denn wir dürfen uns angesichts der Ständemehrheit und des kleinen Übergewichtes der verwerfenden Stimmen der Einsicht nicht verschliessen, dass eine grosse Zahl unserer Mitbürger im Wahlrecht für den Nationalrat in erster Linie den Anspruch auf ihre unmittelbare Vertretung durch die ihnen auch persönlich nahestehenden politischen Vertrauensmänner erblickt und diesem Recht den Vortritt vor der ändern Forderung auf Sicherung einer zielbewussten Politik des Bundes vindiziert. Darum werden die eidgenössischen Räte gemeinsam mit dem Bundesrate an die Aufgabe herantreten, zu prüfen, auf welchem Wege jener Auffassung entgegengekommen werden kann, jedoch ohne Gefährde für eine wahrhaft eidgenössische Politik und einen lebenskräftigen Bund, der in guten und bösen Tagen uns Hoffnung und Hort, Schutz und Schirm sein und bleiben soll. Möge die Einsicht und Tatkraft der Berufenen und die eidgenössische Gesinnung aller Parteien auch dieses Mal uns finden lassen, was der Wohlfahrt des Volkes frommt und dem Bunde nach innen und aussen Entwicklung und Kraft verbürgt.

Der Eidgenossenschaft wurde diesen Sommer die ungewöhnliche Ehre des Besuches der Präsidenten der drei Republiken Frankreich, Brasilien und Argentinien der Herren Fallières, Fonseca und Pena zuteil. Wir wissen diese Ehre zu schätzen.

Der Besuch des Herrn Fallières war der letzte, den die Staatsoberhäupter unserer Nachbarmächte im Laufe der Jahre bei uns abgestattet haben. Er durfte als der Ausdruck der Befriedigung unseres westlichen Nachbars über die Regelung der pendenten Fragen wegen der Zufahrtslinien zum Simplon gelten. Wir beglückwünschen den Bundesrat dazu, dass er den Herrn Präsidenten der Schwesterrepublik in der Bundeshauptstadt empfangen und dass er in den getroffenen Anordnungen die Achtung unseres Landes gegenüber Herrn Fallières in einer unsern Sitten wohlanstehenden Bescheidenheit zum würdigen Ausdruck gebracht

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hat. Die Präsidenten der eidgenössischen Räte haben auf Einladung des Bundesrates die beiden parlamentarischen KörperSchäften bei diesem Empfange vertreten. Wir hoffen, Herr Fallières habe von seinem Besuche das Bewusstsein mit nach Hause genommen, wie sehr die Schweiz Wert legt auf die guten Beziehungen mit Frankreich, die auf der gleichmässigen Respektierung der beiderseitigen Rechts- und Interessensphären aufgebaut sind.

Am 20. September starb nach schwerem Krankenlager unser Kollege Rinaldo S i m e n von Bellinzona, in Minusio, seit 1893 Vertreter seines Heimatkantons in unserm Rate und 1899 dessen Präsident, 1893--1905 Mitglied, drei Male auch Präsident des Staatsrates des Kantons Tessin. Aus bescheidenen Verhältnissen hervorgegangen, führte ihn seine Begabung und sein Interesse für die öffentlichen Angelegenheiten zur Journalistik. Mit den Ideen und Hoffnungen, die seine politischen Gesinnungsgenossen bewegten, durch und durch vertraut und verwachsen, arbeitete er mit unverdrossener Ausdauer daran, für seinen Teil an der politischen Schulung und Bildung des Tessinervolkes gut zu machen, was ihren ennetbirgischen Vogteien die regierenden Orte zu ihrer Zeit an landesväterlicher Fürsorge und an Übung der Gerechtigkeit nur allzuoft schuldig geblieben waren. Diese Arbeit lohnte das Volk von Tessin nach der Umwälzung von 1890 damit, dass es den schlichten Mann in jener schweren Zeit an die Spitze der Staatsgeschäfte berief, um den Kanton auf den von ihm und seinen Freunden geforderten und erreichten politischen Prinzipien gewissermassen neu aufzubauen. Und dass er in leidenschaftsloser Weise mit den rechten Mitteln die rechten Ziele verfolgte, lehren uns die zwei Jahrzehute friedlicher Entwicklung, die aus dem Schmerzenskiride der Eidgenossenschaft ein immer angeseheneres und nützlicheres Glied des Bundes haben werden lassen; die beneidenswerte Lebensarbeit des Dahingeschiedenen, zugleich auch der schönste Dank der Mitbürger für seine unwandelbare Treue zu Volk und Heimat.

Wir unserseits behalten dem aufrichtigen Eidgenossen, dem lieben Kollegen ein dauerndes Gedenken, und wollen uns von unsern Sitzen erheben, um dem Verstorbenen unsere Achtung und Ehre zu bezeugen.

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02.11.1910

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