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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend den Erlass eines Bundesgesetzes zum Zwecke der Einführung des Systems des bedingten Strafnachlasses in die eidgenössische Strafgesetzgebung (Motion Thélin und Mitunterzeichner).

(Vom 27. September 1910.)

Tit.

Am 24. September 1907 wurde vom Nationalrate eine von Herrn Thélin und Mitunterzeichneten eingereichte Motion betreffend Ergänzung des Bundesstrafrechtes in nachstehender Fassung erheblich erklärt: ,,Der Bundesrat wird eingeladen, zu prüfen, o,b schon vor Erlass des eidgenössischen Strafgesetzbuches ein Gesetzesentwurf zum Zwecke der Einführung des Systems des bedingten Strafnachlasses in die eidgenössischen Strafgesetzgebung auszuarbeiten sei und über das Resultat Bericht und Antrag einzubringen. a Wir beehren uns, Ihnen hiermit das Ergebnis unserer Untersuchungen über den Gegenstand der Motion zur Kenntnis zu bringen unter möglichster Beschränkung auf dieses Thema und mit Vermeidung unnötiger theoretischer Erörterungen. Wir glauben dabei ausgehen zu dürfen von der ebenso klaren als prägnanten Auseinandersetzung, mit welcher Herr Professor Mittermaier im Jahre 1903 seinen Bericht an die bernische Justizdirektion über

Einführung des bedingten Straferlasses einleitete (Stooss, Zeitschrift für schweizerisches Strafrecht 16, S. 31 ff.) lautend: ,,Der bedingte Straferlass ist eine Rechtseinrichtung, wonach ein strafbarer Täter eine bestimmte Strafe unter bestimmten, von ihm zu erfüllenden Bedingungen nicht abzubüssen braucht. Sie ist in verschiedenen Arten bekannt : Entweder wird eine Verurteilung nur unter der Bedingung ausgesprochen, dass der Schuldige sich innerhalb einer bestimmten Zeit nicht gut führe. Im nord amerikanischen sogenannten ,,Probations-Systema, das auch in Neuseeland und Neuenburg gilt, wird hierbei das Urteil überhaupt ausgesetzt und bei guter Führung gar nicht gesprochen ; im englischen System tritt wenigstens ein Schuldspruch ein, aber der Strafausspruch wird wie in Amerika ausgesetzt. Dies gilt auch in Kanada und Westaustralien.

In Belgien, Frankreich, Luxemburg, Portugal, Genf, Waadt, Wallis, Tessin wird aber ein volles Strafurteil gegeben und nur dessen Vollzug bedingungsweise ausgesetzt. Bei gutem Verhalten fällt das Urteil dahin ; es war also wirklich nur bedingt.

Queensland, N eu-Süd-Wales, Südaustralien und Viktoria stehen zwischen dem belgisch-französischen und dem englischamerikanischen System.

Oder es wird unbedingt verurteilt und nur der Strafvollzug unter der Bedingung des Wohlverhaltens erlassen ; dieser bedingte Straferlass, bei dem die Strafe als rechtlich verbüsst gilt, ist ein richterlicher in Norwegen, ein gnadeweiser in deutschen Staaten. Man sieht, der heute übliche Ausdruck ,,bedingter Strafaufschub"1 (sursis à l'exécution de la peine) ist nur ein sehr allgemeiner, der das Wesen der Einrichtung kaum trifft. Der Ausdruck ,,bedingte Verurteilung" (condamnation conditionelle) kann nur bei einigen Formen der Einrichtung mit Recht gebraucht werden und ist daher allgemein zu vermeiden. ,,Bedingter Straferlass" ist nur ein für die deutsche Einrichtung üblicher Ausdruck, aber meines Erachtens trifft er die Sache immer noch allgemein am besten.a Wir werden das Institut in den folgenden Ausführungen Stets als bedingten Strafnachlass bezeichnen, um mit dem Wortlaute der Motion im Einklänge zu bleiben und keine unnötigen Weiterungen und Komplikationen zu verursachen. Die Darlegung von Herrn Professor Mittermaier soll eine eigene Umschreibung der verschiedenen Systeme ersetzen, da wir sie in allen wesentlichen Punkten als zutreffend anerkennen.

Die Strafgesetzgebung des Bundes hat ihre Grundlage in dem Bundesgesetze über das Bundesstrafrecht vom 4. Februar 1853, bei dessen Erlass noch keine der modernen Arten von Milderung des Strafvollzuges bekannt waren, welche jetzt in Form der bedingten Entlassung und dem bedingten Strafnachlass gewährt zu werden pflegen. Dagegen kennt das Gesetz die Strafausschliessungsgründe der Geisteskrankheit, der Begehung auf Befehl einer kompetenten vorgesetzten Behörde und der Notwehr. Forner sind nach demselben Kinder, welche das zwölfte Altersjahr noch nicht zurückgelegt haben, straflos und ist die Zurechnung ebenfalls ausgeschlossen gegenüber Kindern, welche das sechszehnte Altersjahr noch nicht zurückgelegt haben, sofern es sich nicht im einzelnen Falle ergibt, dass die zur Unterscheidung der Strafbarkeit der Handlung erforderliche Urteilskraft vorhanden war. Im letztern Falle soll das jugendliche Alter als Strafmilderungsgrund gelten (Art. 27/30 des Bundesstrafrechtes von 1853).

Das Bundesgesetz über die Bundesstrafrechtspflege von 1851 enthält auf Grund eines Artikels der Bundesverfassung Bestimmungen über Begnadigung und Rehabilitation und in der Praxis behielt sich die Bundesversammlung die Entscheidung über die Gewährung dieser Rechtswohltaten auch für die Fälle vor, in denen die Judikatur betreffend die Übertretung von Bundesgesetzen und Bundespolizeigesetzen den Kantonen zugeteilt ist.

Ferner entschied das Bundesgericht in einem Spezialfalle, dass auf solche Übertretungen der allgemeine Teil des Bundesstrafrechtes von 1853 anzuwenden sei (-Urteil in Sachen Iff vom 20. Dezember 1901, Bd. 27, I, 537).

Danach steht fest, dass bei Übertretungen von Strafgesetzen und Strafpolizeigesetzen des Bundes bedingter Strafnachlass ohne Einführung desselben durch ein neues Bundesgesetz nicht ausgesprochen werden kann, auch wenn der Kanton, dem durch Delegation oder kraft Gesetzes die Beurteilung des Falles zusteht, für Ahndung der Übertretung eigener Gesetze dieses Institut kennt.

Mit einer Ausnahme allerdings, dann nämlich, wenn mit der Verletzung eidgenössischen Rechtes solche des kantonalen Rechtes kollidiert und diese letztere eine schwerere Strafe nach sich zieht.

Das Bundesgericht hat nämlich entschieden, dass in solchem Falle gemäss Art. 33 des Bundesstrafrechtes verfahren und die Strafe des schwersten
Verbrechens angewendet werden soll, die übrigen aber als besondere Schärfungsgründe zu berücksichtigen seien (Urteil in Sachen Matti vom 31. März 1908, Bd. 34, I, 119).

Die Konsequenz dieses Grundsatzes bewirkt die Zulassung des

bedingten Strafnachlasses auch für Übertretungen eidgenössischen Rechtes, wenn wegen derselben bloss Erhöhung der für ein schwereres kantonalreehtliches Delikt ausgesprochenen Strafe stattfindet und wenn ein kantonales Gesetz betreffend bedingten Strafnachlass besteht (vide Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantone vom 21. Mai 1909, Bundesblatt 1909, III, 707).

Zurzeit ist der bedingte Strafnachlass gesetzlich in folgenden Kantonen eingeführt: Bern, Luzern, Obwalden, Freiburg, Basel-Stadt, Schaffhausen, St. Gallen, Graubünden, Tessin, Waadt, Wallis, Neuenburg und Genf (11 Kantone und 2 Halbkantone).

Er fehlt noch in den Gesetzen von: Zürich, Uri, Schwyz, Nidwaiden, Basel-Landschaft, Glarus, Zug, Solothurn, Appenzell A.-Rh., Appenzell I.-Rh., Aargau und Thurgau (8 Kantone und 4 Halbkantone).

Über die Systeme der kantonalen Gesetze bis 1903 gibt Professor Mittermaier in dem Eingangs zitierten Resiime Auskunft.

Auch seither sind Variationen der mannigfachsten Art vorgekommen, nicht nur hinsichtlich der Frage der bedingten Verurteilung und des bedingten Strafnachlasses, sondern auch hinsichtlich der Faktoren, welche die Vollziehung der Strafe herbeiführen können, der Art der Feststellung des Wohl verhaltene usw. Eine bemerkenswerte Besonderheit zeigt das Gesetz vom 26. April 1908 über teilweise Abänderung des Strafgesetzes von Obwalden, indem es die Gewährung des Aufschubes des Strafvollzuges unter Spezialvorschriften für das Verhalten und Forderung von Schutzaufsicht im allgemeinen beschränkt auf Personen, die über 14 aber noch nicht 20 Jahre alt sind und sie bei älteren Personen nur dann zulässt, wenn neben gutem Vorleben usw. auch Art. 29 des Kriminalgesetzes zur Anwendung kommt, lautend: ,,Wenn wegen Menge oder Wichtigkeit mildernder Umstände selbst der geringste Grad der gesetzlichen Strafe, nach vernünftigem richterlichem Ermessen, mit dem Grade der Strafbarkeit des besondern Falles in keinem Verhältnisse steht, so kann das Gericht auf eine geringere als die niedrigste gesetzliche Strafe erkennen.

Dasselbe findet statt, wenn das Gesetz die Strafe ohne irgend eine Abstufung genau bestimmt hat.u Schaffhausen nahm Bestimmungen über bedingte Verurteilung als Art. 254 in seine Strafprozessordnung von 1909 auf in ungewöhnlich knapper Form, indem die Rechtswohltat lediglich

8 davon abhängig gemacht wurde, dass es sich um Freiheitsstrafe unter einem Jahr oder um Geldbusse handle und dass der Verurteilte weder wegen eines Verbrechens noch wegen eines von Amtes wegen verfolgten Vergehens vorbestraft sei. Auch das Erlöschen der bedingt ausgesprochenen Strafe wird nur davon abhängig gemacht, dass der Verurteilte während fünf Jahren seit der Rechtskraft des Urteils weder wegen Verbrechens noch Vergehens bestraft, beziehungsweise mit dem Erfolg der Verurteilung in Untersuchung gezogen worden sei. Von Stellung unter Polizeiaufsicht wird absichtlich Umgang genommen, ,,um beim ursprünglichen, nicht verklausulierten Gedanken zu bleiben und nicht wie andernortes mit der einen Hand wieder zu nehmen, was mit der ändern gegeben wurde tt (pag. 28 des beleuchtenden Berichtes).

Im Kanton Zürich wurde dem Volke im Dezember 1909 ein vom Kantonsrat nach langen Debatten entworfenes Gesetz über bedingte Verurteilung zur Abstimmung vorgelegt, indessen mit Mehrheit verworfen. Neben prinzipieller Gegnerschaft gegen das Institut wirkte dabei besonders der Umstand mit, dass, was in Schaffhausen ohne Widerstand geschehen, auch der bedingte Vollzug von Geldstrafen in den Entwurf aufgenommen worden war.

Die Vorentwürfe für ein schweizerisches Strafgesetz enthalten, zuerst unter dem Titel : ,,Einstellung des Strafvollzuges"1, nachher mit der Bezeichnung ,,Bedingter Straferlassa Vorschläge zur Einführung des Institutes, im Vorentwurf von 1908 mit folgendem Wortlaut sub Art. 61 : ,,1. Wird jemand, der bisher weder in der Schweiz noch im Auslande eine Freiheitsstrafe wegen eines Verbrechens erlitten hat, zu Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahre verurteilt, so kann das Gericht den Strafvollzug aufschieben und dem Verurteilten unter folgenden Voraussetzungen eine Probezeit von zwei bis fünf Jahren auferlegen: wenn das Vorleben und der Charakter des Verurteilten erwarten lassen, er werde dadurch von weiteren Verbrechen abgehalten, und weder die Beweggründe des Täters, noch die Umstände des Verbrechens dieser Annahme entgegenstehen, wenn der Verurteilte überdies den gerichtlich festgestellten Schaden, soweit es ihm möglich war, ersetzt hat.

2. Das Gericht stellt den Verurteilten unter Schutzaufsicht, wenn nicht besondere Umstände eine Ausnahme begründen. Es kann ihm für sein Verhalten in der Probezeit bestimmte Weisungen erteilen, z. B. einen Beruf zu erlernen, an einem be-

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stimmten Orte sich aufzuhalten, sich von geistigen Getränken zu enthalten, den Schaden innerhalb bestimmter Frist zu ersetzen.

Die Umstände, die einen Aufschub des Strafvollzuges rechtfertigen, die Gründe, die das Gericht bestimmen, den Verurteilten ausnahmsweise nicht unter Schutzaufsicht zu stellen, und die Weisungen des Gerichtes sind im Urteile festzustellen.

3. Begeht der Verurteilte während der Probezeit ein vorsätzliches Verbrechen oder handelt er einer Weisung des Gerichtes, ungeachtet förmlicher Mahnung der Schutzaufsichtsbehörde, fortgesetzt zuwider, so lässt das Gericht die erkannte Strafe vollziehen.

4. Hat der Verurteilte die Probezeit bestanden, so fällt die Strafe weg."

In den Expertenkommissionen wurden gegen die Aufnahme dieses Prinzipes besonders von Professor Gretener gewichtige Bedenken vorgebracht, indessen mit Mehrheit dem Antrage.des Redaktors des Entwurfes auch in den Modifikationen und insbesondere darin beigestimmt, dass der Verurteilte unter Schutzaufsicht zu stellen sei und dass die Strafe nur dann erlösche, wenn er während der Probezeit die speziellen Bedingungen guten Verhaltens erfülle (Expertenkommission 1896, Protokoll Bd. I, 272, Bd. II, 466 fif.).

Über die Frage, ob die Einführung des bedingten Strafnachlasses in den ausländischen Staaten und den schweizerischen Kantonen zur Verminderung der Verbrechen geführt habe, sind umfangreiche Abhandlungen geschrieben und Statistiken aufgestellt worden, die aber zu sehr verschiedenen Resultaten führen.

Keine von ihnen ist abschliessend und überzeugend, besonders auch deswegen, weil die Grundlagen der Statistik nur unvollkommene sind. Denn es existiert keine Gewissheit, dass bedingt Verurteilte während der anscheinend wohl bestandenen Probezeit nicht neue Verbrechen begingen, die nicht entdeckt wurden, oder dass sie nicht sonst unbemerkt die ihnen auferlegten Bedingungen übertraten. Das ganze Institut setzt eine psychologische Erforschung des Charakters des Verbrechers durch den Richter voraus, die nach der Einrichtung der Justizpflege unmöglich für alle Fälle voll und gleichmässig durchgeführt werden kann.

Wenn wir nun auf dieser Grundlage prüfen, ob der Anregung der Motionssteller entsprechend das Institut des bedingten Strafnachlasses überhaupt konstitutionell von Bundes wegen in seine Gesetzgebung eingeführt werden könne, so ist dies wohl

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zu bejahen, trotzdem Art. 64bis der Bundesverfassung den Strafvollzug den Kantonen vorbehält mit blosser Befugnis für den Bund, ihnen für die Errichtung von Anstalten und Verbesserungen im Strafvollzuge Beiträge zu gewähren. Denn der bedingte Strafnachlass ist ein Teil des materiellen Strafrechtes, durch ihn wird nicht der Strafvollzug als solcher geregelt, sondern nur bestimmt, dass unter gewissen Verhältnissen eine ausgesprochene oder angedrohte Strafe nicht vollzogen werden solle.

Schwere Bedenken aber sprechen gegen den Versuch, diese humane Einrichtung schon vor Inkrafttreten des einheitlichen Strafgesetzes im Bunde einzuführen. Vor allem liegen dieselben in der Existenz der in allen möglichen Beziehungen differierenden kantonalen Gesetze, welche dio gleiche Materie betreffen.

Sie können, wie Eingangs gezeigt, nicht angewendet werden auf rein bundesrechtliche Übertretungen ; solange aber die Vereinheitlichung des Strafrechtes noch nicht durchgeführt ist, kann den Kantonen für die Verfolgung kantonalrechtlicher Delikte ein eidgenössisches Gesetz über bedingten Straferlass nicht aufoktroiert werden. Die Einführung des von den Motionären angeregten Bundesgesetzes betreffend die Bestrafung von Delikten bundesrechtlicher Natur hätte den unerträglichen Zustand zur Folge, dass, wo bereits ein kantonales Gesetz existiert, in der gleichen Rechtssphäre von einem und demselben Richter zweierlei Gesetze angewendet werden müssten, rfiit schwierigen detaillierten Distinktionen, und dass ändern Ortes ein Zwang entstünde, bei Beurteilung eidgenössischer Delikte ein Verfahren anzuwenden, das für kantonale nicht gilt.

Im fernem wäre es zurzeit unmöglich, diejenigen Kantone, welche das Institut überhaupt noch nicht kennen oder die, wie z. B.

Schaff hausen, für ihre bedingt Verurteilten noch keine Schutzaufsicht eingeführt haben, bei Erlass eines Bundesgesetzes dazu zu verhalten, solches für die nach eidgenössischem Recht bedingt Bestraften nachzuholen. Die Überwachung bildet aber eine unerliissliche Voraussetzung der Gewährung der Rechtswohltat; ohne sie würde der bedingte Strafnachlass in den meisten Fällen im Resultate Straffreiheit zur Folge haben, da ohne offizielle Kontrolle dem Richter die Tatsachen nicht zur Kenntnis kämen, welche die Einberufung des Verurteilten gemäss Gesetz zur Folge hätten.
Diese Argumentation steht zwar im Gegensatze zu dem Fundamente des oben zitierten Gesetzes des Kantons Schaffhausen ; wir glauben indessen doch, nachdrücklich auf derselben beharren zu dürfen, da nicht nur die schweizerischen Vorentwürfe in ihren

11 verschiedenen Stadien, sondern sozusagen alle ändern Gesetze des In- und Auslandes in Übereinstimmung mit der Theorie die Schutzaufsicht verlangen.

Ob unter solchen Umständen ein Bundesgesetz über bedingte Entlassung im jetzigen Momente befriedigend gestaltet werden könnte und ob es Aussicht auf Annahme durch das Volk hätte, ist dem Bundesrate mehr als zweifelhaft, er glaubt dies von vorneherein verneinen zu müssen, unter Hinweis auf die Abstimmung vom Dezember 1909 im Kanton Zürich. Schon die Frage der Einbeziehung der Geldbussen würde gewiss auch in der Eidgenossenschaft zu schweren und für das Gesetz verderblichen Kämpfen führen, noch mehr der Widerstand der Bevölkerung derjenigen Kantone, die das Institut überhaupt noch nicht kennen, gegen dessen Einführung durch Spezialgesetz des Bundes.

Rechnet man überdies mit den Rechtsgelehrten und Praktikern, die prinzipiell und mit teilweise sehr beachtenswerten Argumenten das Institut des bedingten Strafnachlasses als solches bekämpfen, so erscheint dessen Einführung zurzeit nicht opportun.

Sein Fehlen bedeutet auch keine sehr grosse Lücke für die Judikatur. Schon jetzt besteht die Möglichkeit der Begnadigung in allen, auch den kleinsten Fällen von Übertretung der Bundesstrafgesetze, wenn deren Anwendung im einzelnen Falle zu besonderer Härte führte. Bei Konkurrenz von eidgenössischem Strafrecht mit kantonalem ist die Rechtswohltat wenigstens da zulässig, wo das kantonale Delikt sich als das schwerere darstellt und das Institut am Tatort kantonalrechtlich besteht. Für den Schutz der Jugend aber, der bei der Einführung des bedingten Strafnachlasses an den meisten Orten bestimmend war, sorgt in anerkennenswerter Weise bereits das Bundesgesetz von 1853.

Und endlich handelt es sich bei den Übertretungen des Bundesrechtes zumeist um geringfügige Fälle polizeilicher Natur, die mit blossen Geldbussen geahndet werden; da bestünde also die Gefahr, dass diese nicht in das Gesetz einbezogen oder wegen derselben heftiger Widerstand gegen dessen Annahme entstehen würde.

Die Frage der Einführung des bedingten Strafnachlasses in die Strafgesetzgebung des Bundes soll und wird gelöst werden zugleich mit der Vereinheitlichung des Strafrechtes. Dann kann sie mit Umsicht und Erwägung aller massgebenden Umstände in der passenden Form eingereiht werden in das unifizierte Gesetzeswerk, geprüft durch die Instanzen, denen auch die Redaktion der übrigen Teile zufällt. Mit jenem Momente, in welchem an

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Stelle der kantonalen Strafrechte das einheitliche Bundesgesetz tritt, verschwinden ohne weiteres die so verschiedenartigen Regelungen des Institutes durch einzelne Kantone. Wenn das System dann für das eidgenössische Recht Annahme findet, woran übrigens kaum zu zweifeln, dann erstrecken sich seine Wohltaten in einheitlicher, sorgfältig erwogener Weise über alle Teile der Schweiz und werden auch die Kautelen der Bestellung des Schutzpatronates so geordnet werden können, dass wirksame Überwachung stattfindet, ohne Hindernisse durch die engen Grenzen des Kantons, in welchem der Verbrecher zur Verantwortung gezogen wurde.

Der Bundesrat ist daher der Ansicht, dass mit Einführung des bedingten Strafnachlasses in die Bundesgesetzgebung zugewartet werden solle bis zur Vereinheitlichung des Strafrechtes.

Die Vorarbeiten für dieses Werk sind soweit gediehen, dass schon nach verhältnismässig kurzer Zeit die Anhandnahme der parlamentarischen Beratung erwartet werden darf. Das moderne, humanitäre Institut des bedingten Strafnachlasses verdient es nicht, im jetzigen Zeitpunkt noch einer besondern Diskussion und Abstimmung unterstellt zu werden. Nur gleichzeitige Behandlung mit den übrigen Teilen des zu vereinheitlichenden Strafrechtes entspricht seinem Wesen und seiner Bedeutung.

Wir beantragen daher: Es sei der Motion Thélin und Mitunterzeichner keine Folge zu geben.

B e r n , den 27. September

1910.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Comtesse.

Der I. Vizekanzler: David.

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