477

# S T #

Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend das Initiativbegehren um Einführung des Verhältniswahlsystems für den schweizerischen Nationalrat.

(Vom 25. Februar 1910.)

Tit.

Mit Beschluss vom 28./29. Oktober abbin haben Sie uns das von 142,263 gültigen Unterschriften unterstützte Initiativbegehren um Einfuhrung des Verhältniswahlsystems für den schweizerischen Nationalrat zur Begutachtung überwiesen.

Das Begehren lautet: ,,Art. 73 der Bundesverfassung ist aufgehoben und wird durch folgenden Artikel ersetzt : ,,Die Wahlen in den Nationalrat sind direkte. Sie finden nach dem Grundsatze der Proportionalität statt, wobei jeder Kanton und jeder Halbkanton einen Wahlkreis bildet.

,,Die Bundesgesetzgebung trifft über die Ausführung dieses Grundsatzes die nähern Bestimmungen.

,,Bis zum Erlass eines Bundesgesetzes wird die Ausführung durch eine Verordnung des Bundesrates geregelt.

,,Das proportionale Wahlverfahren findet zum ersten Male für die Gesamterneuerung des Nationalrates im Jahre 1911 Anwendung."

Wir beehren uns, Ihrem Auftrage nachzukommen.

478

I.

Die Frage, ob nicht für die Bestellung des schweizerischen Nationalrates das Verhältniswahlsystem einzuführen sei, hat die eidgenössischen Räte wiederholt beschäftigt. Anlässlich der Beratung über die Revision der Bundesverfassung stellte der Luzerner Abgeordnete Herzog-Weber in der Sitzung des Nationalrates vom 18. Januar 1872 den Antrag, zu bestimmen, dass in denjenigen Wahlkreisen, welche zwei oder mehrere Mitglieder in den Nationalrat zu wählen haben, der erste Wahlgang nach dem proportionalen Wahlverfahren vorgenommen werde und die Wählerquote an die Stelle des absoluten Mehrs trete. Dieser Antrag wurde mit grosser Mehrheit (63 von 87 Anwesenden) abgelehnt (Revisionsprotokoll des Nationalrates 1871/1872, S. 390 ff.). Eine im März 1877 an die Bundesversammlung gerichtete Eingabe des schweizerischen Wahlreformvereins, welche die proportionale Wahl des Nationalrates nach dem System der Listenkonkurreuz befürwortete, hatte keinen bessern Erfolg. In einer Eingabe an den Bundesrat vom 1. November 1880 schlug der ,,Eidgenössische Vereina die Aufnahme grundsätzlicher Bestimmungen, betreffend die Einteilung der Nationalratswahlkreise, in das Wahl- und Abstimmungsgesetz vor und sprach den Wunsch aus, dass eine Maximalgrösse der Kreise festgesetzt und noch anderweitige sichernde Bestimmungen im Sinne der Minderheitsvertretung getroffen werden möchten. Der ,,Schweizerische Wahlreformverein01 empfahl in einer Eingabe vom 6. Februar 1881 die Einführung des Systems der beschränkten Stimmgebung, und ein von den Herren Nationalräten Spreeher (Graubünden), Thoma (St. Gallen) und Sonderegger (Appenzell I.-Rh.) am 25. April 1881 beantragtes Postulat verlangte ,,eine allgemeine und grundsätzliche Revision der die Wahlen zum Nationalrat regelnden Bundesgesetzgebung auf das Jahr 1884 im Sinne einer möglichst weitgehenden und gleichmässigen Berücksichtigung der Minderheiten". Das eidgenössische Departement des Innern sah sieh veranlasst, der Frage der Minderheitsvertretung seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, und holte hierüber zwei Gutachten ein, das eine von dem Präsidenten des ,,schweizerischen Wahlreformvereins", Herrn Dr. F. Wille in Meilen, das andere von Herrn Prof. Dr. Hilty in Bern. Während Herr Wille in seinem Gutachten vom Februar 1882 die Einführung der Minoritätenvertretung für die eidgenössischen Wahlen
warm befürwortete, riet Herr Hilty in seiner ausführlicheren Denkschrift vom März 1882 entschieden davon ab. Der Bundesrat erörterte kurz die Frage in seiner Botschaft vom 30. Oktober 1883 über den Entwurf zu einem Bundesgesetze betreffend eidgenössische Wahlen und Abstimmungen und schloss mit der Er-

479 klärung: ,,Im Hinblick auf unsere bundesstaatsrechtlichen Einrichtungen, die durchweg auf der Herrschaft der Majorität basieren, haben wir mit Einmut beschlossen, das Prinzip der absoluten Mehrheit als das fllr die Nationalratswahlen entscheidende beizubehalten. Die fortschreitend demokratische Gestaltung unseres Verfassungsrechtes wird stets eine mächtige Schutzwehr gegen jede einseitige Richtung der Abgeordneten, der verständige und gerechte Sinn unseres Volkes aber auch fernerhin das beste Korrektiv gegen etwaige zügellose Parteibestrebungen bilden"1 ·(Bundesbl. 18H3, IV, 217). Im Juni 1884 reichten die Nationalräte Zemp, Keel und Pedrazzini folgende Motion ein: ,,Art. 73 der Bundesverfassung, handelnd über die Wahlen in den Nationalrat, ist zum Zweck einer gerechten Einteilung der Wahlkreise dahin zu ergänzen, dass in denselben ein bis höchstens drei Vertreter .zu wählen sind, eventuell, dass die Wahlen soweit möglich nach dem Grundsatz der proportionalen Vertretung stattfinden". Gleichzeitig stellte Nationalrat Prof. Vögelin folgenden Antrag: ,,Die Wahl der Mitglieder des Nationalrates erfolgt in Wahlkreisen, welchen im Verhältnis eines Vertreters auf 30,000 Seelen je drei oder fünf Vertreter zufallen. Bei drei Vertretern dürfen die Stimmberechtigten zwei, bei fünf Vertretern drei Stimmen abgeben."

Die nationalrätliche Kommission für die Vorbereitung eines Gesetzesentwurfes Über die Wahlen in den Nationalrat befasste sich im Oktober 1889 auch mit der Frage der Einführung des proportionalen Wahlsysems, beschloss aber rnit 6 gegen 3 Stimmen, an dem bisherigen Wahlmodus nichts zu ändern. Es wurde von ·der Mehrheit namentlich geltend gemacht, dass eine gerechte Proportionalität bei einer Wahlkreiseinteilung, die sich innerhalb der Kantonsgrenzen halte, nicht erreicht werden könne, und dass die Klagen der Minderheiten über unzulängliche Vertretung grundlos seien, so lange der Ständerat auf den jetzigen Grundlagen beruhe (vergi. Bericht der Mehrheit der national rätlichen Kommission vom 12. November 1889, Bundesbl. 1889, Bd. IV, S. 754--755).

Am 27. Juni 1890 reichte Nationalrat Ador eine Motion ein, welche den Bundesrat einlud, die verschiedenen Systeme der Proportionnlvertretung zu prüfen und binnen Jahresfrist über die Möglichkeit ihrer Anwendung auf die Wahlen in den Nationalrat Bericht
zu erstatten. Von anderer Seite wurde gleichzeitig der Zusatzantrag gestellt, der Bundesrat möge ferner prüfen, ob es nicht für den Fall, dass diese Möglichkeit dargetan würde, nötig sei, zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen den beiden Kammern die Wahl und Zusammensetzung des Ständerates im Sinne einer noch näher zu bestimmenden Proportionalität so zu modifizieren, Bandesblatt. 62. Jahrg. Bd. I.

35

480

dass Art. 80 der Bundesverfassung einer Revision unterstellt würde.

Der Nationalrat lehnte io der Sitzung vom 25. September 1890 diese Motion nebst dem Zusatzantrag mit 78 gegen 16 Stimmen ab.

Ani 22. April 1898 brachte Nationalrat Wullschleger folgende Motion ein: ,,Der Buudesrat wird eingeladen, zu prüfen?

und bis zur nächsten Dezembersession darüber Bericht und Antrag einzubringen, ob nicht durch Revision der in Betracht fallenden Bestimmungen der Bundesverfassung oder nur des Bundesgesetzes, betreffend die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen vom 19. Juli 1872 der Grundsatz der Proportionalität für die Wahlea in den Nationalrat anzuwenden sei." Nach einer dreitägigen Beratung (vgl. amtliches stenographisches Bulletin, Sitzungen vom 21., 22. und 23. Juni 1898, S. 245--320) wurde die Motion in allen den vorgeschlagenen verschiedenen Fassungen abgelehnt.

Im Juli 1899 wurden zwei Initiativbegehren für die Verhältniswahl des Nationalrates und die Wahl des Bundesrates durch das Volk eingereicht. Das erstere lautete : ,,Artikel 73 der Bundesverfassung ist aufgehoben und wird durch folgenden Artikel ersetzt: ,,Die Wahlen für den Nationalrat sind direkte. Sie finde» nach dem Grundsatze der Proportionalität statt, wobei jeder Kanton und jeder Halbkanton einen Wahlkreis bildet.

,,Die Bundesgesetzgebung trifft über die Ausführung dieses Grundsatzes die nähern Bestimmungen.11 Über beide Initiativbegehren beriet der Nationalrat in dett Sitzungen vom 5., 6. und 7. Juni, der Ständerat in den Sitzungen vom 20. und 21. Juni 1900 (vgl. amtliches stenographisches Bulletin, 1900, S. 217--245, 259-286, 443-465, 483--490).

Es wurde beschlossen, dem Volke die Verwerfung beider Begehren zu empfehlen. In der Volksabstimmung vom 4. November 1900 sprachen sich 244,666 Bürger und ll J /2 Stände-gegen die Verhältniswahl, 169,008 Bürger und 10Va Stände dafür aus.

Wenden wir uns nun den Kantonen zu, so ergibt sich folgendes: Das Verhältniswahlsystem wurde zuerst im Kanton T e s s i » auf Anraten der Bundesbehörden selbst eingeführt, um den unhaltbaren Zuständen ein Ende zu machen, aus denen die Revolution vom 11. September 1890 entstanden war. Ein Gesetz vom 5. Dezember 1890 bestimmte, duss eine konstituierende Versammlung nach dem Verhältniswahlsystem gewählt werden sollte.

Dies geschah am 11. Januar 1891, und schon am 9. Februar erging ein Verfassungsdekret, demzufolge der Grosse Rat, die konstituierende Versammlung und die Gemeinderäte nach dem

481 proportionalen Wahlverfahren gewählt werden sollten. ' Am 22. Mai 1891 erliess der Grosse Rat ein Gesetz über die Wahl der Mitglieder der Gemeiuderäte nach proportionalem Wahlverfahren und am 24. November 1891 ein weiteres Gesetz über die Wahlen in den Grossen Rat und den Verfas8ungsra.t nach dem gleichen Verfahren. Auf Grund dieses Gesetzes wurde am 6. März 1892 die zweite konstituierende Versammlung gewählt, Das Ergebnis der Wahlen fiel indessen nicht proportional aus, indem die Konservativen mit 11,348 Stimmen 50 Sitze, die Freisinnigen mit 11,480 Stimmen nur 45 Sitze erhielten. Am 2. Dezember 1892 schuf der Verfassungsrat ein Gesetz über politische Wahlen, welches für die Bestellung des Grossen Rates und des Staatsrates das Verhältniswahlsystem vorschrieb. Ein Dekret vom 18. Juli 1904, betreffend teilweise Revision der Verfassung, ersetzte für die Wahl des Staatsrates das Verhältniswahlsystem durch das System der beschränkten Stimmgebung (voto limitato) und bestimmte ferner, dass die Wahlen zum Grossen Rate und zum Verfassungsrate nach dem proportionalen Wahlverfahren zu erfolgen haben, wobei der Wähler befugt sein soll, für Kandidaten verschiedener Gruppen zu stimmen. Auch wurde eine neue Methode für die Verteilung der Mandate unter die verschiedenen Gruppen vorgeschrieben (Hagenbach-Bischoffsches System). Dies rief einem neuen Gesetze über die politischen Wahlen, das am 19. Januar 1905 in Kraft trat. Vor kurzem lehnte das Volk ein Initiativ begehren um Wiedereinführung der Verhältniswahl für den Staatsrat ab.

Im Kanton N e u e n b u r g hatte bei den Erneuerungswahlen zum Grossen Rat vom 4. und 5. Mai 1889 keine der drei sich im Wahlkreis La Chaux-de-Fonds bekämpfenden Parteien in zwei Wahlgängen für sich allein die absolute Mehrheit zu erlangen vermocht; man musste daher za einem proportionalen Wahlvorschlag seine Zuflucht nehmen. Dieses Vorkommnis leistete der Bewegung zugunsten der Einführung des Verhältniswahlsystems Vorschub, und am 28. Oktober 1891 wurde ein Gesetz über die Wahl des Grossen Rates nach diesem System erlassen, das zunächst provisorisch auf drei Jahre galt, sodann am 22. November 1894 definitiv in Kraft trat.

Im Kauton G e n f wurde am 6. Juli 1892 eine Verfassungsänderung ins Werk gesetzt, wonach die Wahl der Mitglieder des Grossen Rates gemäss dem Grundsatze der
Proportionalvertretung stattfinden sollte. Das Verfahren ist gegenwärtig durch ein Gesetz vom 3. März 1906 geregelt, das am 26. Dezember 1908 und am 12. Juni 1909 verschiedene Änderungen erfuhr.

482 Im Kanton F r e i b u r g ist die Verhältniswahl nach dem Gesetze vom 19. Mai 1894 Über die Gemeinden und Pfarreien auf die Bestellung der Gemeindevertretungen fakultativ anwendbar.

Im Kanton Z u g kommt bei sämtlichen kantonalen Wahlen, wo mehr als zwei Mitglieder in die gleiche Behörde zu wählen sind, das proportionale Verfahren zur Anwendung (§ 78 der revidierten Verfassung vom 31. Januar 1894). Bei Gemeindebehörden greift dieses Verfahren nur dann Platz, wenn es von einem Zehntel der Stimmberechtigten unterschriftlich verlangt wird.

Das Nähere bestimmt gegenwärtig das Gesetz vom 17. April 1902.

Im Kanton S o l o t h u r n wurde die Verfassung vorn 23. Oktober 1887 am 17. März 1895 abgeändert und für die Wahlen des Kantonsrates und derjenigen Gemeinderäte, die aus wenigstens sieben Mitgliedern bestehen, das Proportionalsystem eingeführt.

PUr Gemeinderäte, die aus weniger als sieben Mitgliedern bestehen, und für Kommissionen ist dieses Wahlvejfahren gestattet. Ein Gesetz vom 17. März 1895 enthält die nähern Ausführungsbestimmungen.

Die Verfassung des Kantons Seh w y z vom 23. Oktober 1898 sehrieb das Verhältniswahlsystem für die Wahlen zum Kantonsrat in allen Gemeinden vor, welche gemäss der Wohnbevölkerung drei oder mehr Kantonsräte zu wählen hatten (§ 26). Im Jahre . 1897 beschloss der Kantonsrat, die Anwendung der Verhältniswahl auch auf die Wahlkreise (Gemeinden) mit nur zwei Vertretern auszudehnen. Die Regierung des Kantons Schwyz schreibt uns hierüber folgendes : ,,Bei allen Wahlkreisen, also Einer- wie Mehrerkreisen, wird der gleiche Grundsatz zur Anwendung gebracht, nämlich : Jede Partei hat Anspruch auf so viele Vertreter, als die Wahlzahl in der Zahl der von dieser Partei erhaltenen Kandidatenstimmen enthalten ist. Die Wahlzahl wird bestimmt, indem man die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen durch die um eins vermehrte Zahl der zu wählenden Vertreter teilt und das Ergebnis auf die nächsthöhere ganze Zahl ergänzt." Das gegenwärtig in Kraft bestehende ,,Gesetz betreffend das Verfahren bei den Kantonsratswahlen nach Verhältniswahl* vom 28. November 1906 schliesst sich ganz genau und vielfach wörtlich an das Basler Gesetz an.

In B a s e l s t a d t wird seit 1905 der Grosse Rat nach dem Grundsatze der Verhältniswahl gewählt (Gesetz vom 26. Januar 1905).

Im Kanton Wal lis gestattet
die Verfassung vom 8. März 1907, die Gemeinde- und Burgerwahlen nach dem Grundsatze der Minderheitsvertretung durch Anwendung des Systems der beschränkten Stimmgebung oder des proportionalen Wahlverfahrens vorzunehmen,

483

wenn */6 der Wähler es verlangt. Die Frage, welchem von diesen beiden Systemen der Vorzug zu geben sei, wurde durch Gesetz vom 23. Mai 1908, betreffend die Wahlen und Abstimmungen, zugunsten des Verhältniswahlsystems entschieden.

Im Kanton L u z er n wurde durch das am 3. Juni 1909 in Kraft getretene Gesetz vom 3. März 1909, betreffend Ergänzung und Abänderung der Staatsverfassung vom Jahre 1875, das noch der eidgenössischen Gewährleistung harrt, die Verhältniswahl für den Verfassungsrat und den Grossen Rat eingeführt.

Am 17. November 1909 hat der Regierungsrat des Kantons St. G a l l e n dem Grossen Rat einen Antrag betreffend Einfuhrung der Wahl des Grossen Rates nach dem proportionalen Wahlverfahren unterbreitet.

Es sind also im ganzen nur sieben Kantone und ein Halbkanton (Tessin, Neuenburg, Genf, Zug, Solothurn, Schwyz, Baselstadt und Luzern), welche das Verhältniswahlsystem für die Bestellung der gesetzgebenden Behörden kennen.

Von den schweizerischen Städten haben Bern und Biel die Verhältniswahl für die Gemeindevertretung eingeführt.

Praktisch geht die Verhältniswahl in den Kantonen folgendermassen vor sich : Die verschiedenen Parteien und Gruppen reichen vor dem Wahltage (die Fristen hierfür sind verschieden normiert) bei der zuständigen Behörde ihre Wahlvorschläge oder Kandidatenlisten ein. Es findet dann ein Prüfungsverfahren statt, um etwaige Mängel zu beseitigen. Steht z. B. ein Kandidat auf mehr als einem Wahlvorschlag, so wird. er aufgefordert, sich binnen kurzer Frist zu erklären, welchem Vorsehlage er zugeteilt sein will. Die berichtigten Wahlvorschlagslisten werden meistens im Amtsblatt veröffentlicht.

Der Wähler kann für so viele Kandidaten stimmen, als Vertreter zu wählen sind (mehrnamige Stimmgebung, scrutin de liste), darf aber nach den meisten Gesetzen keinen Namen auf seinen Stimmzettel setzen, der sich auf keiner der eingereichten Listen findet. Nur in Baselstadt und in Schwyz ist es gestattet, für sog.

,,Wilde" zu stimmen.

Der Wähler kann an der von ihm gewählten Liste Streichungen vornehmen oder auch Namen aus verschiedenen Listen einsetzen (,,panachieren"). Nur im Kanton Luzern ist das ,,Panachierena verboten, indem § 5 des Luzerner Gesetzes bestimmt, dass nur die Stimmen gültig sind, welche auf Namen der gleichen Wahlliste lauten. Dagegen ist im Kanton Luzern dem Wähler gestattet.

484

Namen, die auf der von ihm gewählten Liste stehen, bis auf einen zu streichen. Das Kumulieren, d. h. einem oder einigen Kandidaten mehrere Stimmen geben, ist dem Wähler in allen Kantonen, Basel und Schwyz ausgenommen, untersagt. Nach Basler Gesetz, darf der gleiche Name höchstens dreimal, nach schwyzeriscbem Gesetz höchstens zweimal auf einem Stimmzettel stehen. Bei sog. ,,wilden14 Kandidaten ist das Kumulieren in Schwyz ausgeschlossen.

Nach Schluss der Wahl wird in den meisten Kantonen die Stimmenzahl für jede Liste in der Weise festgestellt, dass die auf die Kandidaten gefallenen Stimmen und die auf den Stimmzetteln etwa leer gelassenen Stimmen zusammengezählt werden.

Auch die fehlenden Stimmen kommen also der vom Wähler gewählten Liste als Listenstimmen zugute. Dabei wird jeder Name eines ,,Wilden" in Baselstadt und in Schwyz als besondere Liste behandelt.

Es wird hierauf die Wahlzahl ermittelt. Dies geschieht in den Kantonen Tessin, Genf, Sehwyz und Baselstadt nach der sogenannten Hagenbach-Bischoffschen Methode in der Weise, dass die Gesamtzahl der gültigen Stimmen durch die um eins vermehrte Zahl der zu vergebenden Mandate geteilt wird. Die nächsthöhere ganze Zahl, die auf den so erhaltenen Quotienten folgt, heisst .Wahlzahl. Jede Liste erhält bei der Verteilung so viel mal einen Abgeordneten zugeteilt, als die Wahlzahl in ihrer Stimmenzahl enthalten ist.

Im Kanton Neuenburg finden die Wahlen in den Grossen Rat nach dem Listenskrutinium statt, unter Verteilung der Deputierten auf die einzelnen Listen im Verhältnis zu der Zahl der für sie abgegebenen Stimmen.

In den Kantonen Zug, Solothurn und Luzern werden die auf die Kandidaten gefallenen Stimmen nur den Kandidaten und nicht den Listen zugezählt. Die Wahlzahl wird in der Weise ermittelt, dass die Gesamtzahl der auf die einzelnen Listen gefallenen gültigen Stimmzettel durch die Zahl der zu treffenden Wahlen (im Kanton Luzern) oder durch die Zahl der zu treffenden Wahlen -j- l (in den Kantonen Zug und Solothurn) geteilt wird ; das Ergebnis dieser Division ist die Wahlzahl. Werden dann die Zahlen der auf die einzelnen Listen gefallenen Stimmzettel durch die Wahlzahl dividiert, so zeigt der Quotient an, wie viele Vertreter jeder einzelnen Liste zukommen.

Wenn durch die erste Verteilung nicht so viele Vertreter herauskommen, als zu wählen sind, so wird die Stimmenzahl jeder Liste durch die um eins vermehrte Zahl der ihr schon zugewiesenen

485

Mandate geteilt und der erste noch zu vergebende Sitz der Liste ·gegeben, die den grössten Quotienten aufweist. Das gleiche Verfahren wird wiederholt, so lange noch weitere freigebliebene Sitze zu vergeben sind. So in Sehwyz, Baselstadt und Genf. Im Kanton Tessin wird die Zahl der überschüssigen Reststimmen (Bruchteile) a l l e r Gruppen in a l l e n Wahlkreisen durch die Zahl der noch zu verteilenden Sitze -j- i dividiert und jeder Gruppe so viele Sitze zugeteilt, als der so gefundene Quotient in der Gesamtzahl der Reststimmen jeder einzelnen Gruppe enthalten ·ist. Bleibt nach dieser zweiten Verteilung noch ein Sitz frei, so wird er der Gruppe zugeteilt, die den grössten Bruchteil aufweist, in demjenigen Wahlkreise, dessen Vertretung noch unvollständig ist. Im Kanton Solothurn werden die nach der ersten Verteilung frei bleibenden Sitze derjenigen Liste zugewiesen, welche die .grössere Zahl von Listenstimmen auf sich vereinigt, im Kanton Zug der Reihenfolge nach denjenigen Listen, welche die meisten Listenstimmen auf sich vereinigen. Im Kanton Luzern wird ein noch zu vergebendes Mandat derjenigen Wahlliste zugeteilt, welche .die absolute Mehrheit ger abgegebenen gültigen Stimmen (Stimmzettel) erreicht hat. Listen, denen schon ein Mandat zugeteilt worden ist, weil sie die absolute Mehrheit erreicht, fallen ausser Betracht. Sind noch weitere Mandate zu vergeben oder ist auf keine Wahlliste die absolute Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen (Stimmzettel) gefallen, so teilt das Luzerner Gesetz der Reihe nach -- im ersten Falle mit Ausschluss der Wahlliste, die das absolute Mehr erreicht hat -- denjenigen Wahllisten, bei 'denen die Teilung der Wahlzahl in die Zahl der für die Listen abgegebenen Stimmen den grössten Bruch ergibt, je ein Mandat y,u, bis sämtliche Mandate vergeben sind. Im Kanton Neuenburg werden die Restmandate denjenigen Listen zugewiesen, welche ·die grössten Wahlziffern erhalten haben, und zwar in der Reihenfolge ihrer numerischen Stärke. Von jeder Liste sind entsprechend ·der vorgenommenen Verteilung die Kandidaten gewählt, welche die meisten Stimmen erhalten haben. In diesem Kanton besteht ·ein Quorum, d. h. kein Kandidat ist gewählt, der nicht 15 °/o der für gültig erklärten Stimmzettel erreicht, und eine Liste, von der kein Kandidat das Quorum erreicht hat, ist von der Verteilung
ausgeschlossen.

Abgeordnete, welche während der Amtsdauer aus der Behörde scheiden, werden durch die nicht gewählten Kandidaten der gleichen Liste, die am meisten Stimmen erhalten haben, ersetzt.

Sind keine vorhanden, so finden Ergänzungswahlen statt.

Mit Kreisschreiben vom 1. November abbin hatten wir die ·Regierungen der in Betracht kommenden Kantone angefragt, welche

486

Erfahrungen sie mit der Verhältniswahl gemacht hätten. S o l o t h u r n und G e n f äusserten sich darüber nii-ht; ebensowenig die Regierung des Kantons Z u g , weil ihre Mitglieder geteilter Meinung seien. Der Staatsrat des Kantons T e s s i n liess sich dahin vernehmen, dass das Verhältniswahlsystem sich bei den Gemeindewahlen bewährt habe; was hingegen die kantonalen Wahlen betreffe, so könne darüber ein sicheres Urteil noch nicht gefällt werden. Das Proportional verfahren habe zwar zur Milderung der Parteikämpfe, gleichzeitig aber zur Zerbröckelung der alten historischen Parteien, überhaupt aller grösseren politischen Gruppen, beigetragen. Die Regierung des Kantons N e u e n b u r g verweist auf einen Bericht, den sie am 21. Oktober 1894 dem Grossen Rate erstattet hatte und aus dem hervorgeht, dass das Wahlgeschäft bei dem Proportionalverfahren sieh ohne Schwierigkeiten abgewickelt hatte, dass aber die Parteikämpfe noch heftiger als früher geworden waren. Was die seit 1894 gemachten Erfahrungen betrifft, so kommt die Regierung nach längeren Ausführungen zum Schlüsse, dass die Wahlkämpfe in gewissen Fällen ruhiger, in andern aber noch schärfer als früher geworden sind.

Es wird ferner hervorgehoben, ,,que le système de la représentation proportionnelle constitue un instrument électoral délicat et relativement compliqué. Pour donner de bons résultats, il nécessite de la part de tous les groupements et partis politiques une loyauté et une correction absolues, ce qui a toujours été le cas dans le canton de Neuchâtel"-. Der Regierungsrat des KantonsB a s e l s t a d t bemerkt: ,,Die Erfahrungen, die mit dem hier gewählten System gemacht wurden, sind keine schlechten gewesen, so dass bei der Revision der Wahlgesetzgebung, die gegenwärtig von den Behörden unternommen wird, das seinerzeit festgestellte Verfahren bis auf wenige unbedeutende Änderungen beibehalten werden könnte." In S c h w y z hat der Proporz zu keinen Anständen Anlass gegeben; die Parteien haben nach den Mitteilungen der Regierung eine ihrer Stärke entsprechende Vertretung erhalten.

Das Verhältniswahlsystem für p o l i t i s c h e W a h l e n hat ausserhalb der Schweiz nur in folgenden Ländern Eingang gefunden : In D ä n e m a r k werden von den 66 Mitgliedern des Oberhauses (Landsthing) 12 vom Könige ernannt, die übrigen für acht
Jahre in indirektem Wahlverfahren gewählt. Die Wahl erfolgt durch Wahlkörperschaften, die sich zusammensetzen zum Teil aus den Höchstbesteuerten in den ländlichen Bezirken, zum Teil aus Wahlmännern, die aus den Höchstbesteuerten in den Städten gewählt werden, und zum Teil aus von allen Wahlberechtigten ernannten Wahlmännern. Teilweise, d. h. für

487

die Wahlmänaer, findet ein Verhältniswahlverfahren nach der ziemlich gleichzeitig von dem dänischen Mathematiker und Ministerpräsidenten Andrese (1855) und dem englischen Staatsgelehrten Thomas Hare (1859) erdachten Methode statt. Die Wahl des aus 114 Mitgliedern bestehenden Unterhauses (Folkething) vollzieht sich dagegen in Dänemark nach Mehrheitswahlsystem. In B e l g i e n werden beide Kammern nach dem System der einnamigen Stimmgebung mit Listenkonkurrenz (Gesetz vom 29. Dezember 1899) gewählt. In W u r t e m b e r g besteht die zweite Kammer aus 92 Abgeordneten, die seit dem 16. Juli 1906 aus allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen hervorgehen.

69 Abgeordnete werden nach absoluter Mehrheit im ersten, nach relativer Mehrheit im zweiten Wahlgang, die übrigen 23 nach dem Grundsatz der Listen- und Verhältniswahl gewählt. In H a m b u r g besteht die Bürgerschaft aus 160 Mitgliedern, von denen 80 durch allgemeine Wahlen, 40 durch diejenigen Bürger, die Eigentümer von Grundbesitz in der Stadt sind, und 40 von den sogenannten Notabein gewählt werdeu. Von den 80 aus allgemeinen Wahlen hervorgehenden Mitgliedern werden 8 im Landgebiet nach dem Mehrheitsprinzip und die übrigen 72 in zwei Wahlbezirken des Stadtgebietes nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt, doch werden dabei die Bürger nach dei Steuerleistung in zwei Klassen eingeteilt. Fügen wir das Grossfürstentum F i n n l a n d , wo für die Wahlen zum Landtag durch ein Gesetz von 1906 ein sehr kompliziertes Verhältniswahlsystem eingeführt wurde, S e r b i e n und S c h w e d e n * ) hinzu, so haben wir alle Länder in Emopa aufgezählt, wo der ,,Proporz* für politische Wahlen gilt. Die französische Kammer hat vor kurzem über die Einführung der Verhältniswahl lange verhandelt, die dahin zielenden Anträge wurden aber schliesslich abgelehnt.

Ausserhalb Europas findet das Proportional ver fahren seit 1894 in Costa Rica bei dei- Wahl der Deputierten und seit 1896 in Tasmanien Anwendung.

II.

Neun Jahre sind verstrichen, seitdem ein Initiativbegehren um Einführung der Verhältniswahl für den Nationalrat abgelehnt wurde, und schon wieder ertönt der Ruf nach dem ,,Proporz11.

*) In Schweden sollen die Wahlen in den Reichstag, wenn zwei oder mehrere Vertreter zu wählen sind, nach einer im Jahre 1909 vorgenommenen Yerfassungsrevision proportional sein.

48«

An diejenigen, die heute diese Initiative wieder aufleben lassen, darf man fuglich die Frage stellen : Bestehen zurzeit irgendwelche zwingenden Gründe politischer Natur für Einfuhrung des neuen Abstimmungsmodus? Sind in unserem parlamentarischen Organismus, in unserer Demokratie so schwere Mängel zutage getreten, dass es geboten erscheint, unverzüglich eine andere Wahlmethode einzuführen? Sind wir in einen Zustand der parlamentarischen Unfähigkeit oder Anarchie geraten, der eine solche Änderung gebieterisch erfordert? Hat nicht der gegenwärtige Modus dazu beigetragen, den regel massigen Gang unserer Institutionen sicherzustellen, und hat er nicht dem Volke gestattet, seinen Willen klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen und der nationalen Vertretung die wünschbare Macht und Einheit zu verleihen ?

Der gegenwärtige Wahlmodus ist zweifellos nicht vollkommen ; er weist aber 'immerhin weniger Mängel und Unvollkommenheiten auf, als die verschiedenen bekannten Systeme des proportioneilen Wahlverfahrens, welche man an seine Stelle setzen möchte. Es kann jedenfalls nicht bestritten werden, dass unter seiner Herrschaft die nachstehenden grösseren Ergebnisse erzielt worden sind.

Er hat es den grossen Strömungen der öffentlichen Meinung, den gereiften Bestrebungen unserer Demokratie ermöglicht, sich bei den Wahlen in den Nationalrat klar und unzweideutig zu offenbaren.

Er hat gleichzeitig dem Willen des Volkes in fast allen Fällen gestattet, sich anlässlich einer wichtigen Abstimmung der lokalen Erwägungen und Beeinflussungen, der Einflüsterungen des Egoismus zu erwehren, um vor allem aus auf die höheren Interessen des Landes und die Bedürfnisse des nationalen Lebens Bedacht zu nehmen.

Er hat auch dazu beigetragen, aus den Wahlen jeweilen eine Mehrheit hervorgehen zu lassen, welche ein unentbehrliches Erfordernis des parlamentarischen Lebens und jeder Regierung ist: denn, wenn im Parlament nicht eine Mehrheit, welche die Regierung zu stützen bereit ist, und nicht eine auf eine Mehrheit sich stützende Regierung besteht, so ist es auch mit dem Parlamentarismus aus; es herrscht dann nur noch Verwirrung und Anarchie.

Und aus den Wahlen ist jeweilen eine Mehrheit hervorgegangen, ohne dass deshalb die Minderheiten ohne Vertretung geblieben wären.

Die bedeutendsten Minderheiten waren tatsächlich immer im Nationalrate vertreten; sie waren immer in der Lage, sich Gehör zu verschaffen und die ihnen in eidgenössischen Angelegenheiten zu-

489

stehende Kontrolle auszuüben. Die Ergebnisse der Wahlen nach dem Mehrheitsprinzip mögen wohl, jedes einzelne Resultat für sich betrachtet, hie und da als ungerecht erscheinen; in ihrer Gesamtheit aber haben sie zu einer Vertretung geführt, die sich dem wirklichen Bilde der Wählerschaft sehr nähert und in ebenso hohem Masse dem Grundsatze der Proportionalität entspricht, als diejenigen, welche man durch die vorgeschlagene, höchst unvollkommene Methode zu erzielen hofft, mit so ungleichen Wahlkreisen, dass die Verhältniswahl für eine ganze Reihe von ihnen gar nicht in Betracht kommt. Mit den heutigen Wahlen nach dem Majoritätsprinzip wird die in einem Kreise erlittene Niederlage durch den in einem anderen erfochtenen Sieg ausgeglichen; eine in einem gegebenen Wahlkreise in Minderheit stehende Partei verfügt in dem anderen über die Mehrheit; es ergeben sich so auf beiden Seiten Ausgleiche, welche geeignet sind, die Konsequenzen des Mehrheitssystems zu berichtigen und zu mildern. Falls diese Konsequenzen ÄU unnatürlichen Situationen führen, so kann durch die Bildung neuer Wahlkreise abgeholfen werden.

Man darf auch nicht vergessen, dass mit der zunehmenden Verfeinerung der Sitten und den in der politischen Erziehung des Volkes gemachten Fortschritten der starre Parteigeist jeden Tag an Boden verliert und einer Mässigung und einem besseren Einsehen Platz macht, die dazu fuhren, dass in der Mehrzahl der Kreise den Minderheiten eine angemessene Vertretung eingeräumt wird.

Die Existenz eines Landes, sein Fortschritt, der gute Gang ·der parlamentarischen Institutionen hangen übrigens weniger von der Anwendung dieses oder jenes Wahlverfahrens, von der Wahl dieser oder jener Wahlformel ab, als von der Auffassung, welcher eine immer grössere Verbreitung gegeben werden sollte, dass man sich im Kampfe der Ideen und der Interessen gegenseitig Schonung und Achtung schulde, und dass in den Kundgebungen des Volkslebens, soviel als möglich, jedem ein Platz zu gönnen sei. Wenn ·es uns gelingt, dieser Auffassung in unseren Institutionen und in unserem politischen Leben zum Durchbruch zu'verhelfen, so werden wir zweifellos unserer Demokratie einen grösseren Dienst erweisen und zur Hebung ihres Gleichgewichtes, ihrer Kraft und ihrer Gesundheit mehr beitragen, als durch die Behandlung, welche ihr die Ärzte der
Proportionalität angedeihen lassen möchten und deren Erfolg mehr als zweifelhaft ist.

Sind übrigens die mit der Verhältniswahl gemachten Erfahrungen so glänzend, dass wir uns nun beeilen müssen, sie auch

490

auf eidgenössischem Boden einzuführen? Haben sich die von ihren.

Anhängern an sie geknüpften Hoffnungen erfüllt?

Hut sie eine Milderung der Leidenschaften und der Parteikämpfe zur Folge gehabt? Hat sie uns von den Mängeln, welche wie zu Unrecht behauptet wird, dem Majoritätssystem anhaften, vun den Intrigen, den Kompromissen, dem Feilschen, den unlautem Manövern, der Wahlbeeinflussung, der Tyrannei der Komitees befreit? Wer wagt es wohl, diese Fragen zu bejahen?

Hat sie den Allianzen zwischen Parteien mit ganz entgegengesetzten Programmen und Meinungen ein Ende gemacht, die man als eine der unmoralischen Konsequenzen des Mehrheitssystems bezeichnete ? Haben die Parteien seither derartige Allianzen von der Hand gewiesen, und sind sie jede für sich, unter ihrem eigenen Banner, nur auf ihre eigene Kraft vertrauend, in den Kampf gezogen, ohne irgend einen Kompromiss mit einer andern Partei einzugehen? Die gleichen Allianzen sind auch nachher zwischen Parteien von ganz entgegengesetzten Richtungen abgeschlossen worden.

Hat wenigstens der Eintritt der Minderheiten in die gesetzgebenden Versammlungen die Wirkung gehabt, die Geister zu besänftigen, die Diskussion auf ein höheres Niveau zu heben und die parlamentarischen Sitten zu verbessern ? Mit nichten ! Nur zu oft haben die Minderheiten im Gegenteil eine unversöhnliche oder Obstruktions-Politik getrieben, sich herausfordernd und heftig benommen, und, statt durch ihre Haltung zur Hebung des Wertesund der Würde des parlamentarischen Lebens beizutragen, haben verschiedene Minderheiten das Niveau desselben im Gegenteil herabgedrückt und es gänzlich in Misskredit gebracht.

Hat die Verhältniswahl etwa zur Folge gehabt, die Unabhängigkeit des Wählers besser zu gewährleisten, oder hat sie dazu beigetragen, den Einfluss der Politiker, die Macht der Komitees, den Zwang zur Einreihung in eine Partei zu vermindern? Auch dies nicht; das Gegenteil ist eher der Fall.

Und unter diesen Umständen will man dem Volke zumuten, die Verhältniswahl bei uns einzufahren, ohne dass man es in irgend einem Lande zu einem einfachen, leichten, sichern und allen Wählern versländlichen System gebracht hätte, das vor den soeben geschilderten Überraschungen, Irrtümern und Mängeln Schutz bieten würde?

Ist es nicht auffallend, dass in den Kantonen, welche das proportionale Wahlverfahren besitzen, die Parteien noch nie dazu gelangt sind, im gemeinsamen Einverständnis, auf Grund der ge-

491

machten Erfahrungen, die Überlegenheit der durch dieses Verfahren erzielten Resultate zu proklamieren und die Vortrefflichkeit des Systems Überhaupt ins richtige Licht zu setzen.

Wir würden uns also einer grossen Unvorsichtigkeit schuldig machen, wenn wir auf eidgenössischem Boden die Verhältniswahl einführten, bevor man bei uns oder anderswo zu einem absohliessenden Resultate gelangt ist.

Es gibt aber noch andere gewichtige und ausschlaggebende Gründe, die gegen die Einführung der Verhältniswahl sprechen.

In einer gut geordneten Demokratie ist das Bestehen einer Mehrheit ein notwendiges Erfordernis für ihre Dauer, ihre Lebensfähigkeit, für die Einheit und den Zusammenhang, die im politischen Leben eines Volkes, in seinen Tendenzen und Bestrebungen immer vorherrschen müssen, sowie für den guten Gang des Ropräsentativsystems und die ordentliche Entwicklung der Demokratie. In einem monarchischen Staatswesen wird dieser Grundsatz der Dauer, der Stabilität, der Einheit, wenigstens durch die Person des Monarchen gewährleistet, der selbst einen Teil der ·nationalen Souveränität vertritt, der Wiederwahl nicht unterworfen und dessen Würde erblich ist, der seine Minister bezeichnet, oft mit ausgedehnten Machtbefugnissen ausgerüstet ist und innerhalb «einer Machtsphäre frei verfügt.

In der Demokratie können die vitalen Interessen des Landes namentlich durch das konsequent durchgeführte Mehrheitsprinzip sichergestellt werden. Es besteht doch eine Mehrheit, ob sie nun ·der einen oder der andern Partei angehöre, deren Mitglieder vom gleichen Willen beseelt sind, die gleichen Tendenzen und ein bestimmtes Ziel verfolgen, eine Mehrheit, die der öffentlichen Meinung gegenüber die Verantwortlichkeit für die von ihr ausgeübte Macht und die von ihr verfolgte Politik übernimmt.

Es liegt also im höheren Interesse der Demokratie, dass nichts unternommen werde, was zu einer Schwächung des Majoritätsprinzips oder zu einer Gefährdung des Bestehens und des Einflusses der grossen politischen Parteien oder sogar zu ihrer Zerstörung führen könnte, der Parteien, welche berufen sind, die grossen Strömungen im Volke, die grossen Gedanken, die Politik ·der allgemeinen Interessen zu vertreten, um sie durch eine grosse .Zahl kleiner Parteien, kleine Wählergruppen zu ersetzen, die nie ·und nimmer darauf Anspruch erheben dürften, die Vertreter der

492 öffentlichen Meinung zu sein, und denen es nur zu nahe liegen würde, sich mit Partikularinteressen abzugeben und Kirchturms» politik zu treiben.

Lasst uns also nicht durch Einführung des Proportionalwahlsystems zur Vervielfältigung der Parteien, zur Zersplitterung der Kräfte beitragen; denn, wenn wir uns einmal auf diese schiefe Ebene begeben, werden wir gerade in unserem Lande zur Zerstückelung des Wahlkörpers, zur Aufhebung jeder Einheit, jeden Zusammenhanges gelangen und die Bildung einer Regierungsmehrheit, die zum ordentlichen Gang unserer Demokratie unentbehrlich ist, verunmöglichen. Mit einer derart zersplitterten Vertretung werden wir es vielleicht zu einem Kongress, einem Konzil, einer Akademie bringen; wir werden eine Versammlung von Minderheiten haben, aber keine Repräsentantenkammer, welche einer demokratischen Regierung den nötigen Ruckhalt zu verleihen geeignet wäre.

In seinem Werke über ,,die Demokratie in Amerika11 schreibt Tocqueville, dass ein Volk, das seine Souveränität und seine Einheit zu stark fraktioniert, notwendigerweise einer Schwächung und einem Verzicht auf seine Macht und seinen Einfluss entgegengeht.

Dubs ist in seiner staatsmännischen Weisheit, in seinen Reden und Schriften oft gegen den ,,Irrtum" -- es ist dies der von ihm gebrauchte Ausdruck -- der proportionellen Vertretung, bezw. der Gruppen Vertretung aufgetreten; er war der Ansicht, dass, wenn man in einer gesetzgebenden Versammlung der Vertretung der verschiedenen Interessengruppen eine zu grosse Wichtigkeit beimesse, man Gefahr laufe, das notwendige Schwergewicht einer an ihren Grundsätzen festhaltenden Majorität zu verlieren. Ein Land ohne Majorität gleicht aber einem Schiff ohne Ballast und ohne Kompass.

Aber die Beibehaltung der grossen Parteien und einer grosseu und geschlossenen Majorität ist hauptsächlich in einem Lande, das, wie die Schweiz, unter der Herrschaft des Förderativsystems lebt, unerlässlich.

Das Förderativsystem gewährt den Völkern grosse Vorteile mit Bezug auf die Unabhängigkeit des einzelnen Bürgers und dasGedeihen der verbündeten Staaten ; es bildet, aber auch einen Grund ihrer Schwäche, wenn dem Volk nicht die Kraft inuewohnt, durch den Gebrauch seiner Institutionen die diesem System

493 anhaftenden Mängel zu heben. Die Ursache dieser Schwäche ist in der Teilung der Souveränität zwischen Volk und Staat, in einer weitgehenden Dezentralisation, in der politischen und verwaltungsrechtlichen Kompliziertheit jeder Föderativorganisation, der Verschiedenheit des Ursprungs, der Konfession und der Sprache der verbündeten Stände und in der bisweilen ungenügenden Macht zu suchen, über welche die Organe der Zentralbehörde verfügen, hauptsächlich wenn man sie mit den Machtbefugnissen der Regierungen von Einheitsstaaten vergleicht.

Wie manchmal in der Vergangenheit haben wir nicht schon die Schwäche des föderativen Bandes empfunden; wie manchmal hat sich dasselbe nicht gelockert, und haben wir uns nicht den grössten Gefahren ausgesetzt gesehen, weil keine Majorität vorhanden war, die im Augenblicke der Gefahr den Volkswillen hätte zur Geltung bringen und in ihm die nötige Widerstandskraft hatte schöpfen können, die nur eine verantwortliche Mehrheit zu bieten vermag ?

In einem demokratischen Bundesstaate muss es also immer eine geschlossene, verantwortliche Majorität geben, bei der die Regierung, hauptsächlich in den schwierigen Momenten, eine feste Stütze findet. Wenn dieses Element nicht besteht, wenn die Regierung nicht weiss, wo eine Stütze finden, wenn keine Majorität mehr vorhanden ist und nur noch ganz verschiedenartige · Minderheiten sich vorfinden, nur noch zersplitterte und verworrene Meinungen sich kundgeben, dann fehlt eben jeder feste Grund; man steht auf schwankendem Boden, und nichts schwächt eine Regierung so sehr, wie derartige Verhältnisse.

Für die Verwerfung des Initiativbegehrens sprechen aber noch weitere, nicht minder wichtige Argumente.

Das Initiativbegehren um Einführung der Proportionalvertretung steht in offenbarem Widerspruch mit dem Grundsatze der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetze und der Gleichheit der Rechte der Volkssouveränität.

Es sieht nämlich die Anwendung des Proportionalverfahrens nur für eine Anzahl von Wahlkreisen vor, verstümmelt und fälscht also von vornherein in der praktischen Anwendung da» Verhältniswahlsystem, das für alle ausnahmslos gelten sollte.

Ein solcher Vorschlag richtet sich selbst.

494 Die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze bedeutet, dass das Gesetz für alle das gleiche sein soll, dass es allen Bürgern die gleichen Rechte und Garantien gewähren muss, dass keine Unterschiede zwischen den einen und den anderen gemacht werden dürfen und dass die Art und Weise, wie die Wähler ihre Rechte auszuüben haben, nicht davon abhängig gemacht werden darf, ob sie einem Kanton oder einem Hülbkanton, einem Kanton mit grosser oder einem Kanton mit schwacher Bevölkerung angehören.

Diese Gleichheit ist insbesondere dann zu wahren, wenn es sich u m d e n E r l a s s n e u e r g e s e t z l i c h e r V o r s c h r i f t e n über die Ausübung der Volksrechte und namentlich des wichtigsten dieser Rechte, des W a h l r e c h t e s der Bürger, handelt.

Dieses R e c h t s o l l t e von a l l e n und Oberali in gleichar Weise, u n t e r d e n gleichen B e d i n g u n g e n , m i t d e n gleichen G a r a n t i e n und nach dem gleichen Wahlverfahren ausgeübt werden.

Es ist dies eine unabweisbare Forderung in einem demokratischen Staatswesen.

Wie wahrt nun das Initiativbegehreu diesen Grundsatz der Gleichheit aller bei der Ausübung des Wahlrechtes?

Statt ein Wahlverfahren vorzuschlagen, das in allen Wahl·kreisen gilt und auf das ganze Volk Anwendung findet, geht das Initiativbegehren darauf hinaus, einen grossen Teil des Volkes ausserhalb des Gesetzes zu stellen und eine Reihe von Kantonen und Halbkantonen von der Verhältniswahl auszuschliessen.

Während die Urheber der Initiative behaupten, dass bei -den Wahlen nach dem Mehrheitsprinzip das Volk nicht in allen seinen Elementen und im richtigen Verhältnis zur Stärke der Parteien vertreten sei und dass der Proporz allein eine richtige und vollständige Vertretung des Volkes sichern könne, schlagen sie, um zu diesem Resultate zu gelangen, jeder Gerechtigkeit und Billigkeit zum Hohne vor, einen Teil der Wähler bei dem Mehrheitswahlverfahren zu belassen und die Verhältniswahl nur teilweise zur Anwendung zu bringen, so dass der Grundsatz der Vertretung des Volkes in allen seinen Elementen nur für gewisse Wahlkreise gälte, für andere nicht.

Sie geben vor, das Recht der Minderheiten auf eine Vertretung sicherstellen zu wollen und befürworten ein System, welches von vornherein eine Anzahl Minderheiten jeden Rechtes auf eine Vertretung beraubt, indem es für sie d»s Mehrheitswahlverfahren weiter gelten lässt. Mit einer so mangelhaften Einrichtung werden wir nie eine genaue P h o t o g r a p h i e des

495

Wahlkörpers, sondern nur eia unvollkommenes und verstümmeltes Bild desselben erhalten; es wird uns gehen, wie jenem Photographen, dem es nie gelang, mehr als die eine Hälfte des Gesichtes seines Kunden zu photographieren.

Wäre eine auf diese Weise zustande gekommene Vertretung eine verhältnismässige Vertretung aller Meinungen und Interessen und könnte darin eine ernsthafte Reform des Wahlrechtes, eine rationelle Lösung des Wahlproblems erblickt werden? Hiesse es -einen Fortschritt unserer Republik verwirklichen, wenn für die Ausübung der souveränen Rechte des Volkes und die Wahl der Volksvertretung verschiedenes Recht und verschiedene Verfahren .zur Anwendung kämen? Wenn wir ein auf so ungleiche Weise zusammengesetztes Parlament erhielten, in welches ein Teil der Vertreter nach dem Mehrheitsprinzip und ein Teil nach dem Verhältniswahl verfahren gewählt würde?

Will man das Majoritätssystem durch das Proportionalwahl·verfahren ersetzen, weil es eine Verbesserung des jetzigen Zu.standes bedeute, weil es mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Wahrheit bei den Wahlen verspreche, was bestritten werden kann, so sollte die Reform in gleicher Weise für alle Bürger durchgeführt werden, ohne diese oder jene Wähler, davon auszunehmen. Man sollte dabei nicht auf halbem Wege stehen bleiben, und schreiende Ungleichheiten unter den Bürgern schaffen. Es geht nicht an, einem Bruchteile des Volkes Vorteile vorzuenthalten, die einem andern gewährt werden, und gewissen Minderheiten ein Recht auf Vertretung einzuräumen, was andern, nicht weniger bedeutenden und unser Interesse in gleichem Masse beanspruchenden Minoritäten verweigert wird. Eine solche Reform rnuss als mit den Grundsätzen der Gleichberechtigung aller Bürger und der Demokratie unvereinbar abgelehnt werden.

Das ist aber die Neuerung, die von den Urhebern des Initiativbegehrens angeregt wird.

Wenn ihnen daran gelegen war, den Gedanken der Verhältniswahl durch eine ernsthafte und vollständige Reform zu verwirklichen, so hätten sie die Aufhebung der kleinen Wahlkreise, welche die Möglichkeit einer Wahl nach dem Proportional verfahren nicht gewähren, und gleichzeitig eine Revision der Wahlkreiseinteilung vorschlagen sollen, die auf die Kantonsgrenzen keine Rücksicht nimmt. Daraus hätte sich aber die Notwendigkeit einer Revision des Artikels 73 der Bundesverfassung
ergeben, was man vermeiden wollte. Die Initianten sind vor dieser Konsequenz zurückgeschreckt, zweifellos aus politischen Erwägungen, und haben sich darauf beschränkt, eine Einrichtung vorzuschlagen, die Bundesblatt.

62. Jahrg. Bd. I.

36

496 so mangelhaft ist, dass sie eine normale und unverfälschte Durchführung der Verhältniswahl nicht gestattet.

Die Verhältniswahl ist in der Tat nur bei Wahlkreisen durchführbar, die annähernd die gleiche Bevölkerungs- und Wählerzahl aufweisen und. je fünf oder doch mindestens je drei Vertreter wählen. Nur in solchen Kreisen können genügend grosso Minderheiten eine ihrer Stärke entsprechende Vertretung erlangen. Eine Reform, welche nicht zu diesem Ergebnisse führt und nicht Wahlkreise schafft, in denen das Proportionalwablverfahren angewendet werden kann, steht mit dem Grundsatze der verhältnismässigen> Vertretung in Widerspruch und verfehlt ihren Zweck. Dies ist bei der Reform der Fall, die uns vorgeschlagen wird.

Weit davon entfernt, Mittel und Wege zu suchen, diesem Übelstand der ungleichen Wahlkreise abzuhelfen, schlagen uns die Urheber der Initiative vor, das Übel noch durch die Bestimmung zu verschlimmern, dass jeder Kanton oder Halbkanton einen Wahlkreis bilden soll. So hätten wir neben den kleinen Wahlkreisen, die nur einen oder zwei Vertreter wählen und wo der Grundsatz der Verhältnismässigkeit nicht verwirklicht werden kann, sehr grosse Wahlkreise, wie den Wahlkreis von Bern mit einer Bevölkerung von 624,641 Seelen und 29 Vertretern und den Wahlkreis von Zürich mit 484,456 Seelen und 22 Vertretern.

Ihnen gegenüber ständen Einerwahlkreise, wie die von Appenzell I.-Rh. mit 13,886 Seelen und von ünterwalden mit 15,397 und 13,404 Seelen. Man wirft also die bisherige Einteilung der Wahlkreise über den Haufen, ohne den historischen und politischen Überlieferungen, wie sie z. B. im Kanton Bern bestehen,, irgendwie Rechnung zu tragen und ohne auf die Schwierigkeiten Rücksicht zu nehmen, die sich in der Praxis bei so ausgedehnten Kreisen zweilellos ergeben werden. Statt eine praktische Lösung des Problems durch eine neue Wahlkreiseinteilung su suchen, gelangt man dazu, eine sehr unzweckmässige, ungleiches Recht schaffende Einrichtung vorzuschlagen.

Die soeben vorgebrachten Einwände dürften für sich allein genügen, die Verwerfung des schlecht vorbereiteten und die Ungleichheit fördernden Entwurfes der Initianten zu rechtfertigen.

Denn dieser Entwurf verstösst gegen ein wesentliches Prinzip, das alle Wahlsysteme beherrschen und woran bei der Einführung eines neuen Wahl Verfahrens auf keinen Fall gerüttelt werden sollte: das Prinzip der Gleichheit aller Bürger bei der Ausübung der Volksrechte.

497

Bei der Eile, mit der die Urheber der Initiative das Proportionalwahlverfahren unter dea von uns soeben geschilderten misslichen Verhältnissen angewendet sehen möchten, schlagen sie vor, zu einem Hülfsmittel zu greifen, welches beweist, wie wenig sie sich um die Grundlagen der gegenwärtigen Verfassung kümmern.

Sie beantragen nämlich, vom Volke beschlieasen zu lassen, ,,dass bis zum Erlasse eines Bundesgesetzes die Anwendung des Grundsatzes der Proportionalität durch eine Verordnung des Bundesrates zu regeln sei".

Sie wollen also dem Bundesrate eine Befugnis übertragen, die laut Art. 85 der Bundesverfassung ausschliesslich der Bundesversammlung zusteht und vorübergehend die gesetzgebende Behörde durch die Exekutivbehörde ersetzen.

,,Art. 85. Die Gegenstände, welche in den Geschäftskreis beider Räte fallen, sind insbesondere folgende : 1. Gesetze über die Organisation und die Wahlart der Bundesbehörden.a Sie verlangen vom Volke, dass es diese Kompetenzübertragung und diesen Übergriff in die Befugnisse der Bundesversammlung durch sein Votum gutheisse.

Lässt sich ein inkorrekteres und mit den Grundsätzen einer gesunden Demokratie in grellerem Widerspruch stehendes Verfahren denken ? Wenn dieses Verfahren sanktioniert werden sollte, könnte man jeden Augenblick, unter irgend einem Vorwande, unter Berufung auf politische Notwendigkeiten, weil eine gute oder auch eine schlechte Reform mit Ungeduld erwartet wird, zu diesem Ausnahmeverfahren greifen und vom Volke beschliessen lassen, es sei vorübergehend von diesem oder jenem Grundsatze der Verfassung abzuweichen und die gesetzgebende Gewalt der vollziehenden Behörde zu übertragen, welche somit ermächtigt wäre, Beschlüsse mit Gesetzeskraft zu erlassen, ohne sie dem Referendum zu unterstellen.

Es ist also angezeigt, mit aller Energie den Versuch zu bekämpfen, den man mit dem Initiativbegehren um Einführung des Proportionalwahlverfahrens machen will 5 denn es würde für die Anwendung unseres Verfassungsrechts ein Präzedenzfall schlimmster Art bedeuten. Geben wir nicht zu, dass man dem Bundesrate Befugnisse übertrage, welche die Bundesverfassung ihm nicht einräumt, und dass man ihm, wenn auch nur vorübergehend und ausnahmsweise, eine Aufgabe zuweise, die ausschliesslich in den Geschäftskreis der Bundesversammlung gehört ; gestatten wir nicht, dass in unseren politischen Einrichtungen eine Verwirrung der öffentlichen Gewalten angerichtet werde ! Eine Hauptbediugung

498 des harmonischen Zusammenarbeitens der öffentlichen Gewalten und einer freien Regierung besteht darin, dass jede Gewalt sich strenge in den Grenzen ihres Gebietes und in den ihr von der Verfassung und den Gesetzen hinsichtlich der Ausübung ihrer Befugnisse gezogenen Schranken hält.

MUSS es nicht auch wie ein seltsamer Widerspruch anmuten, wenn man heute die Urheber der Initiative, die man wohl zu den eifrigsten Anhängern der Erweiterung der Volksrechte zählen darf, ein Verfahren vorschlagen sieht, das für das Volk nicht nur eine Einschränkung, sondern eine Preisgebung seiner Rechte in sich schliesst? Es wird an das Volk das Ansinnen gestellt, zu beschlossen, dass der Bundesversammlung das Recht, über die Wahlart des Nationalrates zu legiferieren, entzogen werde, und dass der Bundesrat bis auf weiteres, d. h. bis zum Erlasse eines Bundesgesetzes, befugt sei, auf dem Wege einer Verordnung diese Wahlen nach dem Grundsatze der Proportionalität vor sich gehen zu lassen ; das Volk wird gleichzeitig eingeladen, zu beschliessen, dass der Beschluss betreffend Regelung des Wahlmodus für den Nationalrat dem Referendum nicht zu unterstellen sei.

Man ersieht hieraus, wie undemokratisch, mangelhaft und unannehmbar das von den Urhebern des Initiativ bogehrens vorgeschlagene Verfahren ist. Wir fügen noch bei, dass es zu den unvernünftigsten Konsequenzen führen kann. Gesetzt der Fall, der Bundesrat wäre berufen, die Verhältniswahl für den Nationalrat durch eine Verordnung nach dem von ihm als den besten oder dem als weniger schlecht erachteten Modus auf den Zeitpunkt der GesHmterneuerung des Nationalrates im Jahre 1911 endgültig zu regeln. Diesem Beschluss käme Gesetzeskraft zu, solange er nicht durch ein eigentliches Bundesgesetz ersetzt wäre. Nun erscheint es bei einer so komplizierten und umstrittenen Materie, wie die vorliegende, als nicht ausgeschlossen, dass das Volk, vom Referendum Gebrauch machend, die von den Räten fertiggestellten organischen Gesetze eines nach dem andern ablehne, was zur Folge hätte, dass die ganze Gesetzgebung über diesen so wichtigen Gegenstand aus einem Reglement bestünde, das vom Bundesrai erlassen worden ist, ohne dass die eidgenössischen Räte in der Lage gewesen wären, an seiner Ausarbeitung teilzunehmen, und ohne dass das Volk Gelegenheit gehabt hätte, von seinem
verfassungsmässigen Recht des Referendums Gebrauch zu machen.

Das sind die stossenden Anomalien, bei denen wir anzulangen Gefahr laufen, sobald wir zu einem Ausnahmeverfahren unsere Zuflucht nehmen.

Die Urheber der vom Volke verworfenen Doppelinitiative von 1899 waren korrekter und gewissenhafter vorgegangen; sio

499

hielten sich strenge auf dem Boden der Verfassung, als sie den Antrag stellten : .,,Die B u n d e s g e s e t z g e b u n g t r i f f t ü b e r die A u s f ü h r u n g dieses G r u n d s a t z e s die näheret» Bestini mungen.tt Die heutigen Initianten hätten diesem Beispiele folgen und zum mindesten, statt einen allgemein gehaltenen und unbestimmten Antrag auf Einführung der Verhältniswahl einzureichen, sich die Mühe nehmen sollen, das System anzugeben, das ihres Erachtens geeignet wäre, den Grundsatz der Proportionalität ohne grosse Unzukömmlichkeiten auf eine praktische Art und Weise zu verwirklichen ; sie hätten einen ausgearbeiteten Entwurf vorlegen können. Sie haben es nicht getan, offenbar deshalb, weil das Problem der Proportionalvertretung, wenn es auch in der Theorie verlockend erseheint, in der Praxis noch keine rationelle und befriedigende Lösung gefunden hat, weil noch kein System erdacht worden ist, das eine gerechte und richtige Vertretung verbürgt und dessen Anwendung leicht und allgemein verständlich ist. Sie haben bei den vielen und komplizierten Methoden, die nicht allein von den Gegnern, sondern auch von den Freunden des Proporzes bemängelt werden, und angesichts der Ungewissen und oft enttäuschenden Resultate der mit dem Proportionalverfahren angestellten Versuche nicht gewagt, ein System auszuwählen und vorzuschlagen. Es wird also dem Bundesrate zugemutet, von sich aus eine Wahl zu treffen, was nach der Bundesverfassung nicht seine Aufgabe wäre, und zu bestimmen, nach welchem System die nächsten Wahlen in den Nationalrat vorgenommen werden sollen und dies ohne dass man ihm in dieser Hinsicht irgendwelche Wegleitung gegeben hätte. Wie wird er sich aus der Verlegenheit ziehen, die ihm durch die vielen in Betracht fallenden Systeme bereitet wird, von denen noch keines in der Praxis sich bewährt hat, und welchem von ihnen soll er den Vorzug geben? Soll er das belgische System, mit der wissenschaftlichen und komplizierten Formel des Herrn Hondt, einführen, das weit, davon entfernt ist, proportioneile Ergebnisse zu zeitigen, und keineswegs frei ist von Irrtümern? Soll das dänische System des Herrn Hare vorgezogen werden, mit dem Wahlquotienten und den Eventualkandidaten, welches übrigens nur für die Wahl der Mitglieder des Oberhauses (Landsting) zur Anwendung gelangt, die von
Wahlmännern zweiten Grades gewählt werden, welch letztere ihrerseits zum Teil aus den Höchstbesteuerten hervorgehen? Soll das System der freien Liste oder der freien Konkurrenz der Listen, mit proportioneller Verteilung und der einen oder andern der vielen eingeführten Abänderungen, den Vorzug erhalten? Soll es eines oder das andere dieser Systeme sein, mit der Möglichkeit

500

der Kumulierung, wie in Basel oder Bern? Wird man sich an das in Genf praktizierte Wahlsystem halten, dessen Fehler man gegenwärtig zu verbessern sucht, oder an das in Neuenburg angewendete, das nur eine empirische und beschränkte Spielart der Proportionalvertretung ist.

Oder soll schliesslich der Bundesrat auf die Suche gehen nach einem neuen, praktischeren und weniger mangelhaften System, als die {bisher erprobten, das die Freiheit des Wählers weniger einzuschränken geeignet wäre?

In diese anormale Lage würde der Bundesrat versetzt, wenn der im Initiât! vbegehren formulierte Entwurf einer Proportionalvertretung nicht verworfen würde.

Die Einführung der Minderheitsvertretung im Nationalrate wird zweifellos eine Änderung der Organisation unseres Bundesstaates und des gegenwärtigen Systems der beiden Räte zur Folge haben.

Das System der beiden Räte beruht auf einem Kompromiss zwischen den zwei Elementen unseres Bundesstaates, der nationalen Souveränität und der Souveränität der Kantone. Da die Stände ihre Souveränität und Selbständigkeit nicht in der nationalen Souveränität aufgehen lassen wollten, so musste ein System gefunden werden, das diesen beiden in der Theorie sich widersprechenden Interessen gerecht würde und das geeignet wäre, zu verhüten, dass eines dieser Interessen dem anderen zum Opfer falle, dass die grossen Kantone, mit ihrem numerischen Übergewicht, einen zu grossen Einfluss auf das politische und parlamentarische Leben und die Leitung der Geschäfte gewinnen und schliesslich auf eidgenössischem Boden die Oberherrschaft an sich reissen könnten. Um das Föderativprinzip zu wahren, mussten die zwei Elemente unseres Bundesstaates ins Gleichgewicht gebracht und zu diesem Zwecke die nationale Vertretung, wie in Amerika, in zwei Kammern ausgeschieden werden, wovon die eine, der Nationalrat, aus dem ganzen Volke hervorgehen sollte, deren Mitglieder die Vertreter der allgemeinen Interessen des Volkes, das Organ der Mehrheit des Volkes wären, und die andere, der Ständerat, als Vertreter der kantonalen Souveränität in ihrem organischen Verhältnis zur nationalen Souveränität und der Gleichheit der Rechte der Stände gedacht war. Jeder Kanton, gross oder klein, ist also im Ständerate mit den ganz gleichen Rechten und der gleichen Mitgliederzahl vertreten. Die Kantone Uri und

501

Xug stehen im Ständerate im gleichen Range, wie die Kantone Bern und Zürich. Man darf also wohl sagen, dass, wenn die Mehrheit des Volkes im Nationalrat seine Vertretung hat, die Interessen der Minderheiten durch die gegenwärtige Organisation des Ständerates gewahrt werden; denn eine Mehrheit im Ständerate, der nur eine Minderheit im Volke entspricht, ist imstande, ein von der Mehrheit des Nationalrates, der Vertretung der Mehrheit des Volkes angenommenes Gesetz zu verwerfen. Die Minderheit des Volkes, welche im Ständerat zur Vorherrschaft gelangen kann, besitzt also die Macht, in einem gegebenen Momente den Willen der im Nationalrat vertretenen Mehrheit lahmzulegen.

Dieser Fall ist nicht oft eingetreten, dank der Macht der Verhältnisse, dank auch dem versöhnlichen Geist, der in den gesetzgebenden Räten herrscht; er kann aber jeden Augenblick vorkommen.

Der Stäuderat ist auch geschaffen worden in der Meinung, dass er mit seiner gegenwärtigen Organisation als Gegengewicht gegen die Überstürzungen und die Allmacht der Majorität, gegen au zentralistische und auf den Einheitsstaat hinzielende Bestrebungen, die vielleicht im Nationalrat zutage treten könnten, dienen würde und dass er so berufen wäre, auf die legislatorischen Arbeiten der Räte und die Leitung der Geschäfte einen mässigenden und beruhigenden Einfluss auszuüben.

Dies sind die Gründe, warum der Ständerat geschaffen wurde, und dies die Rolle, die ihm in unserm Föderativsystem und in «nserm konstitutionellen Mechanismus angewiesen wurde.

Nun wird aber offenbar dadurch, dass man die Lage des Nationalrates als Organ der nationalen Souveränität und der Mehrheit des Volkes ändert und dass man den Minderheiten darin eine Vertretung gewährleistet und so die Macht der Mehrheit dieses Rates vermindert, das zwischen den beiden Räten bestehende Gleichgewicht gestört. Bei der gegenwärtigen Organisation verfügt die Minderheit in unserm Bundesstaate über eine genügend grosse Macht, ohne dass es notwendig wäre, sie noch durch die Minoritätenvertretung im Nationalrate zu verstärken. Wenn man aber ihre Macht im Nationalrate auch noch vermehren will, was unzweifelhaft zu einer Schwächung der Mehrheit dieses Rates führen müsste, so ist es ein Gebot der Klugheit, das Gleichgewicht in unsern Institutionen dadurch wieder herzustellen, dass man der Mehrheit
im Ständerate mehr Macht gewährt. Es muss also das System der Wahlen in den Ständerat abgeändert und auch für diese Wahlen innerhalb gewisser, noch festzusetzender Grenzen der Grundsatz der Proportionalität eingeführt werden. Diese Lösung erscheint um so gerechtfertigter und logischer, als heutzutage die Mitglieder

502

des Ständerates sozusagen in allen Kantonen direkt vom Volke ernannt werden, und somit der Ursprung der Mandate der Ständeräte der gleiche ist wie derjenige der Mandate der Vertreter desVolkes im Nationalrate.

Man wird sich also dieser Konsequenz nicht entziehen können, denn das zwischen den organischen Institutionen eines Landes bestehende Gleichgewicht kann nicht ungestraft gestört werden, hauptsächlich nicht, wenn mit demselben gute Erfahrungen gemacht worden sind ; es wird auf anderem Wege wieder hergestellt werden müssen. Es steht für uns ausser Zweifel, dass wir mit der Annahme des proportionellen Wahlverfahrens einer kritischen Zeit, einer Kampfperiode entgegen gehen würden, der nur durch eine Änderung der Grundlagen unseres Föderaüvsystems ein Ende gemacht werden könnte. Man darf sich nicht verhehlen, dass die Verhältniswahl einen in den gesunden und starken Stamm unseres Bundesstaates getriebenen Keil darstellt, der nicht verfehlen wird, ihn zu spähen. Und es wird für unsere Nachkommen nicht zu den geringsten Überraschungen gehören, zu konstatieren, dass gerade diejenigen, welche sich bis dahin als die eifrigsten Verfechter der politischen und gesellschaftlichen Ordnung hervortaten und die am zähesten am Föderalismus und an unseren föderativen Einrichtungen hingen, mit einer unverständlichen Inkonsequenz und wie mit Blindheit geschlagen, zu ihrer Schwächung und Aufhebung das meiste getan haben.

III.

Wir halten es für angezeigt, eine kurze Erörterung der verschiedenen Systeme des Proportional wähl verfahreng folgen zu lassen, die bis dahin zur Anwendung gelangt sind. Wir werden uns nicht bei den sogenannten empirischen Verfahren aufhalten, die nur eine unvollkommene Lösung des Problems darstellen. Es sind dies die Systeme der beschränkten Stimmgebung (vote limité), der Stimmenhäufung (Kumulierung), der graduierten Stimmgebung(auch System Burnitz-Varrentrapp genannt) und der einnamigen Stimmgebung ohne Stimmübertragung in den Wahlkreisen mit mehreren Vertretern. Wir beschränken uns auf eine kurze Darlegung der Systeme, welche man unrichtigerweise als rationelle» bezeichnet. Es sind dies : I. Das Haresche System, auch Quotientensystem mit Einzelwahl genannt (système du quotient, procédé du bulletin uninominal avec substituts).

Der Erfinder Hare geht davon aus, dass das ganze Land einen Wahlkreis bildet. Jeder Wähler verfügt nur über eine

503 Stimme; gewählt ist der Kandidat, der den Quotienten erreicht hat, d. h. die Zahl, die sich aus der Teilung der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen durch die Zahl der zu wählenden Vertreter ergibt. Damit aber die Stimmen, die ein Kandidat über den Quotienten hinaus erhalten hat, nicht verloren gehen, kann der Wähler einen oder mehrere Eventualkandidalen bezeichnen, dem oder denen er seine Stimme für den Fall gibt, dass der von ihm an erster Stelle bezeichnete Kandidat bereits den Quotienten erreicht hat. Nach Schluss der Wahl öffnet der Wahlvorstand die Zettel, wie sie ihm in die Hand kommen. Von jedem Zettel wird nur ein Name gezählt, und zwar zunächst der Name, der an erster Stelle steht. Sobald dieser Kandidat den Quotienten erreicht hat, ist er gewählt. Darauf wird mit dem Verlesen der übrigen Stimmzettel fortgefahren. So der Name des schon Gewählten auf einem Stimmzettel obenan steht, wird er ausgestrichen und der zunächst folgende Name als der zu oberst geschriebene angesehen. Erreicht dann auch dieser Kandidat den Quotienten, so ist er gewählt, und es wird vorhin weiter verfahren.

Bei diesem System spielt der Zufall eine Rolle, indem es für die Wahl eines an zweiter und dritter Stelle vorgeschlagenen Kandidaten darauf ankommt, in welcher Reihenfolge die Stimmzettel eröffnet, werden. Man bedenke ferner, welche Zeit, wenn Hunderte von Abgeordneten in e i n e m Wahlkreise nu wählen sind, das Verfahren in Anspruch nehmen muss. Professor üagenbachBischoff hat ausgerechnet, dass selbst bei dem von ihm verbesserten Hareschen Verfahren, wenn 147 Nationalräte in einem einzigen Wahlkreise zu wählen wären, die Ermittlung des Wahlergebnisses drei Wochen lang bei zehnstündiger täglicher Arbeitszeit die Zentralstelle beschäftigen würde.

II. Das System der einnamigen Stimmgebung mit Listenkonkurrenz (scrutin uninominal avec concurrence des listes).

Dieses System funktioniert in Belgien nach dein Gesetz vom 29. Dezember 1899 folgendermassen : Belgien ist in Wahlkreise eingeteilt, welche mehrere Deputierte oder Senatoren wählen, der Wähler kann aber nur seine einfache, doppelte oder dreifache Stimme abgeben, die er von Gesetzes wegen besitzt, welches auch die Zahl der zu wählenden Abgeordneten sei.*} Vor der Wahl müssen die verschiedenen Parteien ihre Wahlvorschlagslisten bei den Wahlbehörden einreichen.
Es werden amtliche Stimmzettel ausgeteilt, auf denen sämtliche *) In Belgien gilt das Pluralstimmrecht ; jeder Bürger hat je nach seinem Stande eine, zwei oder drei Stimmen.

504

Listen mit den Kandidaten in der ihnen von den betreffenden Parteien gegebenen Reihenfolge, getrennt nach Haupt- und Ersatzkandidaten, gedruckt nebeneinander stehen. Über jeder Vorschlagsliste ist ein schwarzes Quadrat mit einem weissen Kreis in der Mitte angebracht; neben jedem Haupt- und jedem Ersatzkandidaten der Wahlvorschlagsliste findet sich ebenfalls ein schwarzes Quadrat mit einem weissen Kreis in der Mitte.

Abstrahieren wir von den Ersatzkandidaten^um unsere Darstellung abzukürzen, so geht die Wahl wie folgt vor sich : Die Abstimmung kann sich immer nur innerhalb ein und derselben Wahlvorschlagsliste vollziehen ; das Panachieren ist also verboten. Schwärzt der Wähler den weissen Punkt in dem Quadrat über einer Wahlvorschlagsliste, so bedeutet dies, dass er seine Stimme für die betreffende Liste abgeben will und mit der Reihenfolge, in der die Kandidaten vorgeschlagen sind, einverstanden ist. Seine Stimme wird in diesem Falle lediglich zugunsten der Liste als solcher gezählt. Schwärzt der Wähler den weissen Punkt im Quadrat rechts vom Namen eines Kandidaten, so bedeutet dies, dass er mit der vorgeschlagenen Reihenfolge nicht einverstanden ist und seine Stimme in erster Linie dem betreffenden Kandidaten zuwenden will. Seine Stimme wird dann in erster Linie dem bezeichneten Kandidaten, in zweiter Linie der Liste zugerechnet.

Dieses Verfahren erklärt sich daraus, dass jede Stimme einerseits dazu .beiträgt, der betreffenden Liste die ihr zukommende Anzahl von Sitzen zuzuweisen, und anderseits dazu dient, in der Liste die Kandidaten zu bezeichnen, denen diese Sitze zukommen sollen.

Die Verteilung der Sitze geschieht in folgender Weise: Man ermittelt die Wahlziffer einer jeden Partei, indem alle Listenstimmen, die am Kopfe des Stimmzettels vermerkt sind, und alle neben dem Namen des einen oder des andern Kandidaten der gleichen Liste vermerkten Vorzugsstimmen zusammengezählt werden (Art. 262). Um den Wahldivisor zu finden, wird die Wahlziffer jeder Liste nacheinander durch l, 2, 3, 4, 5 usw. geteilt; die gewonnenen Quotienten werden nach ihrer Grosse geordnet, bis ihre Zahl die Zahl der zu wählenden Abgeordneten erreicht. Der letzte Quotient dient als Wahldivisor (Art. 263).

Es werden dann jeder Liste so viele Sitze zugeteilt, als der Wahldivisor in ihrer Wahlziffer enthalten ist.

Ein Beispiel: In einem Wahlkreise, der 7 Abgeordnete zu wählen hat, sind 5 Listen aufgestellt:

505

Wahlziffern:

I.Liste

2. Liste

S.Liste

4. Liste

840

360

433

212

328

360 180 120 90

433 216 144 108

212 106 70 53

328 164 109 82

geteilt durch l : 840 , ,, 2: 420 ,, ,, 3: 280 ,, ,, 4 : 210

S.Liste

Da die Zuteilung der 7 Sitze durch die höchsten Quotienten (840, 433, 420, 360, 328, 280, 216) bestimmt ist, so dient uns der letzte dieser Quotienten, also 216, als Wahldivisor. Vergleichen ·wir ihn mit den Wahlziffera der einzelnen Listen, so sehen wir, dass die erste Liste den Wahldivisor dreimal, die zweite einmal, die dritte zweimal und die fünfte einmal enthält. Die erste Liste «rhält also den ersten, dritten und sechsten Sitz, die zweite den vierten, die dritte den zweiten und siebenten, die vierte keinen und die fünfte den fünften Sitz.

Die Verteilung der Mandate unter die Kandidaten der einzelnen Listen erfolgt in der Weise, dass zunächst als gewählt erklärt werden alle Kandidaten, die mindestens so viel Vorzugsstimmen erhalten haben, als der Wahldivisor beträgt. Die übrigbleibenden Sitze werden so verteilt, dass die Listenstimmen bis zum Betrage des Wahldivisors dem ersten, dann dem zweiten usw.

Kandidaten angerechnet werden, bis keine den Wahldivisor erreichende Summe von der Gesamtzahl der Listenstimmen mehr zu verteilen bleibt. Etwa noch vorhandene Reste werden dem noch nicht gewählten Kandidaten angerechnet, der die grösste Anzahl Vorzugsstimmen erhalten hat.

Dieses System setzt eine starke Parteidisziplin, eine Wählermasse voraus, die der von den Führern gegebenen Parole blindlings gehorcht. Es bedeutet die unbeschränkte Herrschaft der Parteikomitees, welche nicht nur die Wahl Vorschlagslisten aufstellen, sondern auch die Reihenfolge der Kandidaten auf denselben bestimmen. Dabei entstehen oft in den Vereinen heftige Rangstreitigkeiten, weil in den grossen Wahlkreisen die ersten Kandidaten ihrer Wahl sicher sind, während die der übrigen Kandidaten ungewiss bleibt. Die Wahlen fallen in Belgien auch nicht immer proportional aus, wie folgende Ziffern beweisen: Im Jahre 1900 erhielten die Katholiken bei 994,245 Stimmen $6 Sitze, die Oppositionsparteien bei 1,019,626 Stimmen 66 Sitze; im Jahre 1908 betrug die auf die Katholiken entfallende Stimmenzahl 1,170,400, die ihnen zugewiesene Mandatenzahl 87, während die Oppositionsparteien bei 1,181,715 Stimmen nur 79 Sitze erlaugten.

506

III. Das System der mehrnamigen Stimmgebung (scrutin de liste) mit Listenkonkurrenz (avec concurrence des listes~).

Dieses System, bei welchem der Wähler das Recht hat, für mehrere Kandidaten, in der Regel für so viele Kandidaten zu stimmen, als in dem betreffenden Wahlkreise zu wählen sind, weist folgende Hauptformen auf: 1. Der Wähler ist an eine der eingereichten Wahlvorschlagslisten streng gebunden, ohne daran irgend etwas ändern oder streichen zu dürfen.

Dieses Verfahren mag den Vorzug haben, zu verhindern, dass die Grossen einer Partei dadurch zu Falle gebracht werden^ dass die Wähler auf ihre Liste minderbedeutende Kandidaten des Gegners nehmen, was man das ,,Dekapitieren tt einer gegnerischen Liste nennt. Ein solches System beschränkt aber die Freiheit des Wählers in unzulässiger Weise, ist übrigens nirgends in der Schweiz vertreten.

2. Der Wähler darf nur für Kandidaten ein und derselben Wahlvorschlagsliste stimmen, kann jedoch Namen, die auf dieser Liste stehen, streichen.

Von den Kantonen hat nur Luzern dieses System angenommen (§§ 4 und 5 des Gesetzes vom 3. März 1909), welches ebenso wie das der streng gebundenen Liste die Freiheit des Bürgers stark beeinträchtigt. Nicht ganz ohne Grund hat man dagegen eingewendet, dass die Bindung der Wähler an eine Vorschlagsliste mit dem Grundsatz der direkten Wahl kaum vereinbar sei.

Jeder Wähler müsse sich für eine Partei entscheiden, ohne auf die Auswahl der Kandidaten irgendwelchen Eiofluss mehr zu haben; die wirkliehen Wähler seien diejenigen, welche die Listen aufstellten.

3. Der Wähler darf auf seinen Stimmzettel Namen von Kandidaten verschiedener Wahlvorschlagslisten setzen (,,panachieren"). Das · ,,Panachieren" hat aber den grossen Nachteil, dass es einer geringen Anzahl von Wählern gestattet, in eine andere Partei hineinzuregieren. Die hervorragendsten Vertreter der Gegeupiirtei können in der unter Ziffer l angegebenen Weise b e s e i t i g t werden. Wenn die Gesamtzahl der Stimmzettel der Verteilungsberechnung zugrunde liegt, wie dies in den Kantonen Zug und Solothuru der Fall ist, so kann jemand sogar g r a t i s ,,panachieren" und ,,dekapitierena, d. h. ohne seiner Gruppe auch nur einen Teil seiner Stimmkraft zu entziehen.

4. Der Wähler darf auch Personen wählen, die auf keiner der eingereichten Listen stehen (WildeJ.

Diese Methode, die wir nur in Schwyz und in Baselstadt finden, wahrt theoretisch die Freiheit des Wählers, aber bloss.

507 theoretisch, denn dieser weiss a p r i o r i , dass seine Stimme, wenn er sie einem flWildentt gibt, verloren geht. Da der ,,Wilde" notwendig eine besondere Liste bildet, so muss er, um gewählt zu werden, den ganzen Quotienten auf sich vereinigen, während der Parteigänger von den für andere Kandidaten seiner Partei abgegebenen Stimmen profitieren kann. Wie sehr die keinem Parteiverbande angehörenden Kandidaten Parteimännern gegenüber ·benachteiligt werden, ergibt sich aus folgendem Beispiel.

Bei dem am 17. November 1890 in der Burgvogteihalle zu Basel nach Hagenbach-Bischofischem System vorgenommenen WahlVersuche hatten 14,037 Wähler 12 Abgeordnete zu wählen. Es wurden vier Parleilisten aufgestellt, und die abgegebenen Stimmen verteilten sich wie folgt: IV. Liste 1. Liste II. Liste III. Liste Wilde P 471 Bn 489 V 1022 A 684 G 591 Cn 406 Q 416 H 570 W 410 B 469 I 498 Dn 217 C 337 X 196 R 527 Y 214 VerD 431 K 572 S 543 T 349 E 446 Z 228 einzelte L 810 F 285 M 478 An 236 572 U 527 ,N 475 0 568 2652 4562 2833 23U6 Der Quotient ist 14,037 : 12 -f- l = 107910/i3 oder 1080.

Der nach dem d'Hondtschen Verfahren berechnete Divisor beträgt aber nur 912, und die erste Liste erhielt demnach 2, die .zweite 5, die dritte 3 und die vierte 2 Sitze, Gewählt waren : von der 1. Liste A mit 684 und B mit 469 Stimmen, von der II. Liste G mit 591, H mit 570, K mit 572, L mit 810, O mit 568 Stimmen, von der lü. Liste R mit 527, S mit 543 und ü mit 527 Stimmen, von der IV. Liste V mit 1022 und W mit 410 Stimmen.

Es ergibt sich hieraus, dass kein einziger Wilder gewählt ist, weil keiner derselben den Divisor 912 erreicht hnt, während von den Parteikandiduten 11 gewählt sind, ohne 912 Stimmen auf sich vereinigt zu haben. Der Wilde Bn ist mit 489 Stimmen unterlegen, B dagegen mit 469 und W mit 410 Stimmen gewählt. Die Ungerechtigkeit dieses Verfahrens liegt auf der Hand.

Alle diese Systeme sind also in ihrer Anwendung mit grossen Unzukömmlichkeiten verbunden, und wir könnten deshalb keines derselben empfehlen. Ihre bedenklichste Seite ist entschieden die, dass sie dem Parteiwesen und dem Parteigeist Vorschub leisten

508 und die Wahlfreiheit des Bürgers beeinträchtigen, indem sie iha zwingen, sich einer Partei anzuschliessen, wenn er nicht seine Stimme nutzlos abgeben will. Treffend bemerkt ein Schriftsteller (Prof. Bernatzik, im Schmoller'schen Jahrbuch 1903, II. Heft, S. 68), dass ber einem solchen System die Parteikomitees Herren der Wahlen und damit des politischen Lebens werden, die Abgeordneten zu ihren Kreaturen, die Parlamente zu Kongressen ihrer Gesandten herabsinken müssen. Ähnliche Betrachtungen stellt der belgische Abgeordnete Jules Destrée auf Grund der in Belgien gemachten Erfahrungen an : ,,II y a dans toute circonscription cinq ou six personnages influents,, exerçant sans contrôle et sans responsabilité une autorité considérable et souvent intéressée: ils servent le député à condition que celui-ci les serve: échange de bons procédés. C'est d'eux que dépendent les décisions des comités; ils sont les grands Electeur» occultes" (Wissen und Leben, Heft vom 15. November 1909r S. 217--218).

Sind die Wahlkreise klein, so ist die verhältnismässige Vertretung in Frage gestellt, sind sie gross, so stellen sich andere Übelstände ein : die Beziehungen zwischen Wählern und Gewählten gehen verloren, die Ermittlung des Wahlergebnisses wird ' erö schwert etc. Welchen Einfluss die Wahlkreiseinteilung auf das Wahlergebnis haben kann, zeigt sich in Belgien, wo die Katholiken zweimal die parlamentarische Mehrheit erlangt haben, obwohl sie nicht die Hälfte aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt hatten.

Endlich sind alle Systeme, wie wir gesehen haben, mehr oder weniger kompliziert und der Masse des Volkes unverständlich, was ein grosses Übel ist, weil das Volk kein Vertrauen haben kann zu einem System, das es nicht versteht.

Schlussfolgerung.

Auf Grund dieser Ausführungen gelangen wir zum Schlüsse, dass die Einführung der Verhältniswahl für den Nationalrat abzulehnen sei : weil ein Bedürfnis, die von der Mehrheit des Volkes im Jahre 1900 verworfene proportionelle Vertretung einzuführen, nicht vorhanden ist; weil der gegenwärtige Abstimmungsrnodus stets das Bestehen einer Mehrheit als nötige Grundlage des parlamentarischen und des Regierungssystems sichergestellt hat, ohne daes dadurch die grösseren Minderheiten ausgeschlossen worden wären, die immer eine Vertretung im Nationalrat gehabt haben;

509 weil die Verhältniswahl notwendigerweise zur Zersplitterung der grossen Parteien und der Mehrheiten und zur Zerstückelung und Schwächung der Volksvertretung führen wird ; weil die verschiedenen, bis dahin zur Anwendung gelangten Systeme des proportionellen Wahlverfahrens sich alle als ungenügend, künstlich und mangelhaft erwiesen haben, und weil es noch nicht gelungen ist, ein System zu finden, das leicht und sicher anwendbar wäre und eine genaue und vollständige Vertretung der Wählerschaft ermöglichte; weil das in der Initiative vorgeschlagene System noch schwerere Mängel aufweist, da es nicht in allen Teilen des Landes, in allen Wahlkreisen durchgeführt werden könnte und deshalb zu stossenden Ungleichheiten in der Ausübung ihres Wahlrechtes durch die Bürger führen würde; weil es zweifellos eine Abänderung der Grundlagen unserer gegenwärtigen Bundesstaatsorganisation und der Organisation des Ständerates zur Folge haben würde.

Aus diesen Gründen beantragen wir, Sie möchten in Anwendung von Art. 8 und ff. des Bundesgesetzes vom 27. Januar 1892 über das Verfahren bei Volksbegehren und Abstimmungen betreffend Revision der Bundesverfassung beschliessen, das Initiativbegehren um Abänderung des Art. 73 der Bundesverfassung (proportionale Wahl des Nationalrates) sei abzulehnen und der Abstimmung des Volkes und der Stände, ohne einen Gegenentwuvf der Bundesversammlung, zu unterbreiten.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 25. Februar

1910.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Comtesse.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Schatzmann.

---35~-

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend das Initiativbegehren um Einführung des Verhältniswahlsystems für den schweizerischen Nationalrat. (Vom 25.

Februar 1910.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1910

Année Anno Band

1

Volume Volume Heft

10

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

09.03.1910

Date Data Seite

477-509

Page Pagina Ref. No

10 023 669

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.