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Schweizerisches Bundesblatt.

62. Jahrgang. IV.

No 30

27. Juli 1910.

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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerden 1. des Joseph Gambirazzio-Rickenbacher, für sich, seine Ehefrau und seine minderjährigen Kinder Benjamin Angelo, Alfred Dominik, Dominik Silvester, Rosa Alfreda, Josephine und Katharina Angelina; 2. des Joseph Gambirazzio-Föhn; 3. des Johann Gambirazzio ; 4. des Bernardin Gambirazzio, alle von San Pietro, Provinz Bergamo, betreffend Entzug der Niederlassung und Rechtsverweigerung.

(Vom

13. Juni 1910.)

Der schweizerische Bundesrat hat

über die Beschwerden 1. des Joseph Gambirazzio-Rickenbacher, für sich, seine Ehefrau und seine minderjährigen Kinder Benjamin Angelo, Alfred Dominik, Dominik Silvester, Rosa Alfreda, Josephine und Katharina Angelina ; 2. des Joseph GambirazzioFöhn; 3. des Johann Gambirazzio; 4. des Bernardin Gambirazzio, alle von San Pietro, Provinz Bergamo, betreffend Entzug der Niederlassung und Rechtsverweigerung; auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartementes, f o l g e n d e n Beschluss gefasst: Bundesblatt. 62. Jahrg. Bd. IV.

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A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Die Rekurrenten waren früher in Zug, die letzten zwei Jahre in Baar niedergelassen. In der Nacht vom 2S./29. Juli 1909 brannte das Haus, in dem sie wohnten, nieder. Da die Familie Gambirazzio ihr Mobiliar für Fr. 6000 versichert hatte, wurden einige Mitglieder als der Brandstiftung verdächtig verhaftet und bis zum 31. August 1909 in Untersuchungshaft gehalten. Am 5. August 1909 stellte die Frau des Joseph Gambirazzio-Föhn einen sogenannten Bettelbrief aus, der vom Polizeiamt Baar am 6. August 1909 mit folgender amtlicher Bescheinigung versehen wurde : ,,Das Polizeiamt Baar bescheinigt, dass das Haus, in welchem Familie Gambirazzio-Rickenbacher wohnte, in der Nacht vom 2S./29. Juli 1909 abgebrannt ist und dass Familie Gambirazzio nur weniges vom Hausniobiliar gerettet hat."

Am 16. September 1909 beschloss der Einwohnerrat von Baar, die Familie Gambirazzio ^gestützt auf die gegen sie wegen Bettel etc. beständig eingehenden Reklamationen und Klagen" aus der Gemeinde Baar auszuweisen. Dieser Beschluss wurde den Rekurrenten schriftlich mitgeteilt und mit der Aufforderung verbunden, die Gemeinde innert acht Tagen zu verlassen, ansonst polizeilicher Heimtransport erfolgen werde. Die Rekurrenten leisteten dieser Aufforderung Folge und wohnen seither zerstreut an verschiedenen Orten der Schweiz.

Am 7. Dezember 1909 beschloss der Regierungsrat des Kantons Zug, bei dem sich die Rekurrenten gegen den Beschluss des Gemeinderates von Baar beschwert hatten, ,,es sei mit Rücksicht auf den Umstand, dass die Familie Gambirazzio inzwischen die Gemeinde Baar verlassen hat, die Beschwerde als gegenstandslos ad acta zu legen".

II.

Mit Eingabe vom 6. Februar 1910 beschwert sich Advekat Schiffmann-Hotz in Baar namens der Rekurrenten beim Bundesrat.

Er behauptet, der Beschluss des Regierungsrates bedeute eine Weigerung der zuständigen Behörde, Recht zu halten. Statt die Beschwerde zu entscheiden, habe der Regierungsrat beschlossen, dieselbe ,,ad acta" zu legen. Die sachlich zuständige Behörde weigere sich, einen materiellen Entscheid zu fällen. Die Be-

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schwerdeführer bestreiten die rechtliche Zulässigkeit eines derartigen Vorgehens und verlangen, dass unter diesen Umständen der Bundesrat den Beschluss des Einwohnergemeinderates von Baar, den sie als materiell unhaltbar bezeichnen, aufhebe.

III.

Der Regierungsrat des Kantons Zug beantragt in seiner Vernehmlassung vom 14. März 1910 Abweisung der Beschwerde und stellt seinerseits das Begehren, ,,der Bundesrat wolle erkennen, dass die zuständigen zugerischen Behörden berechtigt seien, der Familie Gambirazzio-Rickenbacher und deren Angehörigen (nämlich den sämtlichen Rekurrenten) die Niederlassung im Kanton Zug zu entziehen ".

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: I.

Nach konstanter Praxis tritt der Bundesrat auf Beschwerden gegen Verfügungen von Gemeindebehörden erst ein, nachdem der Regierungsrat des betreffenden Kantons zu der Angelegenheit Stellung genommen hat. Im vorliegenden Fall haben sich zwar die Rekurrenten beim Regierungsrat beschwert, bevor sie sich an den Bundesrat wandten, allein der Regierungsrat hat in der Sache noch nicht Stellung genommen. Er entschied die Beschwerde nicht, sondern beschloss, dieselbe ,,ad actatt zu legen. Der Bundesrat kann daher auf die Beschwerde gegen den Beschluss des Einwohnergemeinderates von Baar zurzeit nicht eintreten.

11.

Die Rekurrenten haben sich im fernem darüber beschwert, dass der Regierungsrat des Kantons Zug, ,,statt eine richtige Schlussnahme, so oder anders, zu treffentt, am 7. Dezember 1909 beschlossen habe, die Beschwerde ad acta zu legen. Sie beschweren sich also darüber, dass die zur Entscheidung der Beschwerde zuständige Behörde sich weigere, einen Entscheid zu treffen. Die vorliegenden Beschwerden sind, soweit sie gegen den Beschluss des Regierungsrates vom 7. Dezember 1909 gerichtet sind, ausschliesslich Beschwerden wegen Rechtsverweigerung. Zur

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Entscheidung solcher Beschwerden ist aber nicht der Bundesrat, sondern das Bundesgericht zuständig (vgl. die Entscheide des Bundesgerichtes vom 31. August 1877 in Sachen Robatel und vom 12. Juli 1905 in Sachen des Konsortiums für die Erstellung des Hotels Bubenberg in Murten: Bd. 3, S. 429 ff., und Bd. 31, I, S. 383 ff.). Der Bundesrat ist zur Prüfung von Beschwerden wegen angeblicher Verletzung des Art. 4 der Bundesverfassung nur zuständig, wenn der Rekurrent sich beschwert wegen Verletzung eines der Kognition des Bundesrates unterstehenden Rechtssatzes und des Art. 4 der Bundesverfassung. Um es grundsätzlich zu vermeiden, dass die politischen Bundesbehörden und das Bundesgericht über die gleichen verfassungsrechtlichen Ansprüche urteilen, ist in diesen Fällen materieller Konnexität nach konstanter Praxis die Entscheidung der Beschwerde, auch soweit diese sich auf Art. 4 der Bundesverfassung stützt, dem Bundesrate überlassen worden. Ein solcher Fall materieller Konnexität liegt aber heute nicht vor. Der Regierungsrat des Kantons Zug hat, wie bereits bemerkt, über die materiellen Ansprüche der Rekurrenten noch gar nicht entschieden.

Endlich mag noch bemerkt werden, dass sich die Rekurrenten für die Kompetenz des Bundesrates nicht etwa auf Art. 194, Abs. 2, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege berufen können. Es ist im vorliegenden Fall nicht über eine Vor- oder Zwischenfrage zur Hauptsache zu entscheiden, sondern über die selbständige Beschwerde wegen Rechtsverweigerung.

III.

Auf das von der Regierung des Kantons Zug gestellte Begehren, der Bundesrat wolle die zugerischen Behörden berechtigt erklären, den Rekurrenten die Niederlassung für das Gebiet des ganzen Kantons zu entziehen, kann ebenfalls nicht eingetreten werden. Wenn eine kantonale Behörde einem Ausländer die Niederlassung entziehen will, so ist es in erster Linie Sache der kantonalen Regierung, die Frage zu entscheiden, ob die Voraussetzungen für den Entzug der Niederlassung nach Massgabe des betreffenden Staatsvertrages vorliegen. Der Bundesrat ist in diesem Falle ausschliesslich Beschwerdeinstanz für Beschwerden wegen angeblich unzulässiger Entziehung der Niederlassung.

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Demgemäss wird erkannt: Auf die Beschwerden wird nicht eingetreten.

B e r n , den 13. Juni 1910.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Comtesse.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

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27.07.1910

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