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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde der Gemeinde Marly-le-Grand (Kanton Freiburg) betreffend Verweigerung eines Wirtschaftspatentes.

(Vom 24. Dezember 1908.)

Der schweizerische

Bundesrat

hat über die Beschwerde der Gemeinde M a r l y - l e - G r a n d (Kanton Freiburg) betreffend Verweigerung eines Wirtschaftspatentes, auf den Bericht seines Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluss

gefasst:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Die Gemeinde Marly-le-Grand hatte im Jahre 1901 beim Regierungsrat des Kantons Freiburg um ein Gasthofpatent nachgesucht mit der Begründung, die beiden vorhandenen Wirtshäuser genügen den Bedürfnissen der in steter Entwicklung begriffenen Ortschaft nicht, welche nach dem Bau der projektierten Brücke bei Pérolles und der Bahn von Freiburg über Marly-le-Grand nach Bulle einen neuen Aufschwung nehmen werde ; die Gewährung eines Wirtsehaftspatentes biete der Gemeinde eine kleine Entschädigung für die Opfer, die sie zu gunsten der genannten Bauten bringen müsse. Der Regierungsrat wies das Gesuch der Gemeinde im Jahre 1901 ab. Im Jahre 1908 gelangte die Gemeinde neuerdings mit dem gleichen Gesuche an den Regierungsrat. Mit Entscheid vom 21. Juli 1908 wies der Regierungsrat

495 das Gesuch neuerdings ab mit folgender Begründung: Die Gemeinde verlange ein Patent für ein nach vorgelegtem Plan zu erstellendes Gebäude, dessen Lage aber noch nicht bekannt sei.

Die Gemeinde habe daher darauf verzichten müssen, einen Situationsplan vorzulegen. Damit fehle aber ein im Art, 9 der Vollziehungsverordnung zum freiburgischen Wirtschaftsgesetz aufgestelltes Erfordernis der Patenterwcrbung, und schon aus diesem Grund müsse das Gesuch abgewiesen werden. Aber auch abgesehen hiervon, könne für Marly-le-Grand keine weitere Wirtschaftsbewilligurig erteilt werden. Seit 1901 habe sich die Gemeinde nicht entwickelt, ihre ökonomische Lage habe sich durch das Eingehen der bedeutenden Akkumulatorenfabrik eher verschlimmert. Die Brücke von Pérolles und die Bahn FreiburgBulle über Marly-le-Grand seien noch nicht gebaut. Für die gegenwärtigen Bedürfnisse der Gemeinde genügen daher das erst vor Jahresfrist umgebaute komfortable Gasthaus zum weissen Kreuz und die, entgegen den Behauptungen der Gemeinde, in Wirklichkeit jedermann zugängliche Wirtschaft des Cercle catholique vollkommen. Immerhin werde von dem Gesuch der Gemeinde Vormerk genommen in Voraussicht der Zeit, wo die Entwicklung der Gemeinde eine weitere Wirtschaft gerechtfertigt erscheinen lasse, jedoch unter dem Vorbehalt, dass dann die Gemeinde sämtliche für die Patentbewerbung nötigen Dokumente einreichen werde.

II.

Mit Eingabe vom 9. Oktober 1908 beschwert sich die Gemeinde Marly-le-Grand beim Bundesrat über diesen Entscheid und stellt das Begehren, der Regierungsrat sei einzuladen, der Rekurrentin das verlangte Gasthofpatent zu erteilen unter Vorbehalt der Genehmigung des für das Gasthaus zu wählenden Platzes.

Zur Begründung führt die Rekurrentin im wesentlichen folgendes aus : Als im März 1908 eine Privatperson sich um eine Bewilligung für ein neues Gasthaus in Marly-le-Grand beworben habe, habe der Gemeinderat der Gemeindeversammlung vorgeschlagen, die Gemeinde solle unter Bezugnahme auf das Gesuch vom Jahre 1901 beim Regierungsrat neuerdings für sich ein Patent und gleichzeitig die Bewilligung eines Anlehens von Fr. 30,000 bis 35,000 zur Erstellung des Gasthauses verlangen.

Die Gemeindeversammlung habe diese Anträge gutgeheissen und das Bedürfnis nach einem weitem Gast- und Wirtshaus anerkannt. Die Abweisung des Gesuchs durch den Staatsrat sei nicht

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gerechtfertigt. Die Gemeinde habe allerdings ihrem Gesuch keinen Situationsplan des künftigen Gasthauses beilegen können, weil das Tracé der Linie Freiburg-Bulle über Marly-le-Grand noch nicht endgültig festgestellt sei. Dieser Mangel der Bewerbung könne aber die gänzliche Abweisung des Gesuches nicht zur Folge haben ; die Gemeinde verlange das Patent ja nur unter dem Vorbehalt, dass der Regierungsrat den ihm seinerzeit vorzulegenden Situationsplan genehmige.

Das Bedürfnis nach einer neuen Wirtschaft in Marly-leGrand sei vom Staatsrat zu Unrecht geleugnet worden.

Das Dorf habe bei der letzten Volkszählung 508, die Kirchgemeinde Marly-le-Grand 939 Einwohner gezählt. Seither habe die Bevölkerung noch zugenommen. In seiner Novembersession des Jahres 1907 habe der Grosse Hat den Bau der neuen Bahn Freiburg-Bulle mit einer Station in Marly-le-Grand und gleichzeitig den Bau der Brücke von Pérolles beschlossen. Diese Bauten werden viele Arbeiter nach Marly-le-Grand bringen; die interessanten Arbeiten an der Perollesbrücke werden aber auch viele Schaulustige anziehen und noch mehr Ausflügler nach dem jetzt schon von Spaziergängern, namentlich aus Freiburg, vielbesuchten Dorf führen. Dazu komme noch, dass der ganze Verkehr aus den Ortschaften am rechten Saaneufer nach Freiburg die Gemeinde Marly-le-Grand passieren müsse. Unter diesen Umständen müsse das Bedürfnis nach einer weitern Wirtschaft unbedingt bejaht werden; es sei um so dringender, als die eine der beiden bestehenden Wirtschaften, die des Cercle catholique, wie sich schon aus seinem Namen ergebe, nicht von jedermann besucht werden könne.

Die Verweigerung des Patentes verstosse aber auch gegen das Prinzip der Rechtsgleichheit. Der Regierungsrat habe nämlich am 13. Juli 1907 in der Gemeinde Granges-Paccot mit 311 Einwohnern eine zweite, am 31. Dezember 1907 in Cottens mit 210 Einwohnern eine zweite und am 27. März 1908 in Vuisternens vor Romont mit 343 Einwohnern eine dritte Wirtschaft bewilligt, trotzdem weder die allgemeine noch speziell die ökonomische Lage dieser Ortschaften günstiger sei als diejenige von Marly-le-Grand.

III.

In seiner Vernehmlassung vom 3. November 1908 stellt der Regierungsrat den Antrag auf Abweisung der Beschwerde. Aus der Begründung ist in Ergänzung der Motive des angefochtenen Entscheids noch folgendes anzuführen :

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Gemäss Art. 5 des frei burgischen Wirtschaftsgesetzes könne eine "Wirtschaftsbewilligung nur einer bestimmten Person für ein bestimmtes Lokal erteilt werden und die Bewilligung erlösche mit jeder Handänderung der Liegenschaft. Die patenterteilende Behörde müsse auch prüfen, ob die geplante Wirtschaft den Anforderungen leichter Zugänglichkeit für das Publikum und leichter Überwachung durch die Polizei entspreche. Ohne Situationsplan sei dies nicht möglich und deshalb sei die Vorlage eines solchen Planes eine unumgängliche Voraussetzung der Patenterteilung. Im vorliegenden Falle habe das Gesuch schon wegen des Mangels eines Situationsplanes abgewiesen werden müssen.

Was die Bedürfnisfrage anbelange, so habe sich die Gemeindeversammlung von Marly-le-Grand darüber gar nicht ausgesprochen; gemäss dem Wirtschaftsgesetz habe auch nicht sie, sondern der Gemeinderat diese Frage zu begutachten, und im vorliegenden Fall könne das gemeinderätliche Gutachten nicht in Betracht fallen, weil eben die Gemeinde selbst sich um das Patent bewerbe. .Das Gutachten des Präfekten des Saanebezirks laute ungünstig. In einer Erklärung vom 31. Oktober 1908 stelle die gleiche Amtsstelle fest, dass die Wirtschaft Cercle catholique seit der im Jahre 1893 erfolgten Abschaffung der besondern Patentkategorie für Cercles jedermann zugänglich und somit in der Tat eine öffentliche Wirtschaft sei. Marly-le-Grand besitze also entgegen der Behauptung des Gemeinderates zwei öffentliche Wirtschaften und diese genügen aus den im Entscheid angegebenen Gründen dem Bedürfnis des Dorfes vollkommen, zumal da die Arbeiten an der Brücke von Pérolles und an der neuen Linie nach Bulle noch nicht begonnen haben.

Eine Verletzung der Rechtsgleichheit liege nicht vor. Im Gegensatz zu Marly-le-Grand habe sich die Ortschaft Cottens in den letzten Jahren entwickelt. Sie besitze eine Eisenbahnstation mit ganz beträchtlichem Verkehr. Die Eröffnung einer Wirtschaft in der Nähe des Bahnhofes habe daher einem Bedürfnis entsprochen, besonders auch, weil die ältere Wirtschaft ziemlich weit von der Station entfern liege.

Auf dem Gebiet der Gemeinde Granges-Paccot habe bisher nur das Café von Grandfey am äussersten Ende des Gemeindebezirks und ohne direkte Verbinduog mit dem Dorf bestanden.

Eine Wirtschaftsbewilligung für das Dorf selbst sei daher sehr wohl
gerechtfertigt gewesen.

Vuisternens-devant-Romont nehme von den Stationen der Bahn Romont-Bulle nach dem Reisendenverkehr die dritte, nach Bundesblatt. 61. Jahrg. Bd. I.

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dem Güterverkehr die zweite Stelle ein. Mit Rücksicht auf die hieraus resultierende Bedeutung der Ortschaft habe das Bedürfnis nach einer weitem Wirtschaft bejaht werden müssen.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: Die Gemeinde Marly-le-Grand beruft sich gegenüber dem Regierungsrat auf die durch die Bundesverfassung garantierte Handels- und Gewerbefreiheit und beansprucht gleiche Behandlung wie andere Gesuchsteller. Vor allem ist aber zu prüfen, ob eine Gemeinde gegenüber der vorgesetzten Verwaltungsbehörde ihres eigenen Kantons das in Art. 31 der Bundesverfassung garantierte Recht in Anspruch nehmen kann. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die kantonale Gesetzgebung den Gemeinden die Betreibung von Wirtschaften untersagen kann, wie sie überhaupt bestimmen kann, welches die Aufgaben der Gemeinde sind. Tut dies der kantonale Gesetzgeber, so kann ihm die Gemeinde nicht die von der Bundesverfassung gewährleistete Gewerbefreiheit entgegenhalten ; gestattet er aber den Gemeinden, eine Wirtschaft zu betreiben, so haben sie dieses Recht nicht kraft Bundesrecht, sondern kraft des kantonalen Gemeinderechts. Wenn daher in einem Kanton mit diesem zweiten Grundsatz einmal einer Gemeinde das Wirtschaftspatent verweigert wird, so kann sie sich nicht über Verletzung des Art. 31 der Bundesverfassung beklagen.

Da ihr Gewerbe nicht unter dem Schutz dieser Vcrfassungsbestimmung steht, kann sie sich auch nicht beim Bundesrat über Verletzung der Rechtsgleichheit beschweren.

Demgemäss wird erkannt: Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

B e r n , den 24. Dezember 1908.

Im Namen des Schweiz, ßnndesnites.

Der Bundespräsident.:

Brenner.

Der Kanzler der Eidgenossensdml'l.: Bingier.

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Bundesratsbeschluss über die Beschwerde der Gemeinde Marly-le-Grand (Kanton Freiburg) betreffend Verweigerung eines Wirtschaftspatentes. (Vom 24. Dezember 1908.)

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