15.030 Botschaft zur Genehmigung des Protokolls Nr. 15 über die Änderung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 6. März 2015

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf eines Bundesbeschlusses über die Genehmigung des Protokolls Nr. 15 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

6. März 2015

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Simonetta Sommaruga Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2014-0894

2347

Übersicht Das Protokoll Nr. 15 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sieht eine Reihe von Änderungen in der EMRK vor, mit denen die Funktionsfähigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sichergestellt und verbessert werden soll.

Die Schweiz hatte mit der Ausrichtung der Ministerkonferenz von Interlaken vom 18. und 19. Februar 2010 den Bemühungen zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des EGMR neue Dynamik verliehen. Der in Interlaken verabschiedete Handlungsplan wurde daraufhin an zwei Folgekonferenzen in Izmir 2011 und in Brighton 2012 weiter konkretisiert. Die vorgeschlagenen Massnahmen betreffen sowohl den EGMR als auch die Vertragsstaaten, denen eine entscheidende Rolle bei der wirksamen innerstaatlichen Umsetzung der EMRK zukommt.

Die Erklärung der Konferenz von Brighton sieht mit Bezug auf den EGMR die Erarbeitung zweier Protokolle zur EMRK vor. Das Protokoll Nr. 15 zur EMRK enthält punktuelle Anpassungen der EMRK, die einerseits das gegenseitige Verhältnis zwischen den Vertragsstaaten und dem EGMR, anderseits das Verfahren vor Letzterem betreffen. Das Protokoll Nr. 16 erweitert als Zusatzprotokoll die bestehende Gutachtenkompetenz des EGMR neu auf Fragen der Auslegung der materiellen Bestimmungen der Konvention und der Protokolle dazu.

Die in Protokoll Nr. 15 zur EMRK vorgesehenen Änderungen sind punktueller Natur. Gleichwohl versprechen sie gewisse Verbesserungen des heutigen Kontrollsystems. Der Bundesrat hat deshalb beschlossen, dieses Protokoll zu unterzeichnen, und er beantragt seine Genehmigung. Das Protokoll Nr. 15 zur EMRK bedarf im Übrigen der Ratifikation durch sämtliche Vertragsstaaten der EMRK.

Das Protokoll Nr. 16 zur EMRK ist von komplexerer Natur, und seine Auswirkungen auf die Arbeitslast des EGMR sind offen. Auch angesichts der Tatsache, dass die Schweizer Gerichte, allen voran das Bundesgericht, die Rechtsprechung des EGMR bei ihrer Tätigkeit berücksichtigen, möchte der Bundesrat mit der Ratifikation des Protokolls Nr. 16 einstweilen zuwarten und die weitere Entwicklung abwarten.

Mit Beschluss vom 13. August 2014 hat der Bundesrat das Eidgenössische Justizund Polizeidepartement (EJPD) ermächtigt, ein Vernehmlassungsverfahren über die Genehmigung des Protokolls Nr. 15 zur EMRK durchzuführen. 22 Kantone, die
politischen Parteien ­ von einer Ausnahme abgesehen ­ sowie die überwiegende Mehrheit der weiteren Vernehmlasser haben die Genehmigung des Protokoll Nr. 15 zur EMRK ausdrücklich befürwortet.

2348

Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

Die Überlastung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und die Sicherstellung seiner Funktionsfähigkeit werden seit vielen Jahren diskutiert.

Das Protokoll Nr. 11 vom 11. Mai 19941 zur Konvention vom 4. November 19502 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) fusionierte die frühere Kommission für Menschenrechte und den früheren Gerichtshof zum heutigen vollamtlich tätigen EGMR. Trotz dieser Reform stieg die Belastung des EGMR weiter an. Das Protokoll Nr. 14 vom 12. Mai 20043 zur EMRK war Teil eines Bündels von Massnahmen auf nationaler und internationaler Ebene und zielte auf die Vereinfachung und die Beschleunigung des Verfahrens vor dem EGMR. Da sich sein Inkrafttreten bis zum 1. Juni 2010 verzögerte, verschärfte sich die Lage am EGMR zusehends. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte die Zahl der unerledigten Beschwerden die Marke von 100 000 weit überschritten.

Die Schweiz nutzte ihren Vorsitz des Ministerkomitees 2009/2010 und organisierte am 18. und 19. Februar 2010 in Interlaken eine Ministerkonferenz über die Zukunft des EGMR. An der Konferenz wurde ein Aktionsplan4 verabschiedet. Demzufolge sollte das Ministerkomitee des Europarats die zuständigen Organe beauftragen, bis zum Juni 2012 spezifische Vorschläge für Massnahmen vorzubereiten, die eine Anpassung der EMRK erfordern. Eine weitere Ministerkonferenz über die Zukunft des EGMR, organisiert vom türkischen Vorsitz des Ministerkomitees, verabschiedete am 27. April 2011 in Izmir eine weitere Erklärung,5 die bezweckte, den Reformprozess weiterzuverfolgen. Daraufhin erhielt der Lenkungsausschuss für Menschenrechte (CDDH) den Auftrag, dem Ministerkomitee binnen zweier Jahre einen Bericht vorzulegen über spezifische Vorschläge, deren Umsetzung Anpassungen der EMRK erfordern würde. Die vom britischen Vorsitz in Brighton ausgerichtete Ministerkonferenz vom 19. und 20. April 2012 verabschiedete eine dritte Erklärung6, die der Konkretisierung der Beschlüsse der beiden Konferenzen diente (Erklärung von Brighton).

1.2

Verhandlungsverlauf und -ergebnis

Das Ministerkomitee erteilte im Anschluss an die Ministerkonferenz von Brighton dem CDDH unter anderem den Auftrag, einen Entwurf zu zwei Protokollen zur Ergänzung und zur Änderung der EMRK zu erarbeiten.

1 2 3 4 5 6

SR 0.101.09 SR 0.101 SR 0.101.094 Einsehbar unter www.coe.int/brighton > Français > Documents de base > Déclaration d'Interlaken (2010).

Einsehbar unter www.coe.int/brighton > Français > Documents de base > Déclaration d'Izmir (2011).

Einsehbar unter www.coe.int/brighton > Français > Documents de base > Déclaration de Brighton (2012).

2349

Nach Vorarbeiten seiner Unterausschüsse nahm der CDDH an seiner 74. Sitzung (27.­30. Nov. 2012) zuhanden des Ministerkomitees den Entwurf zu einem Protokoll Nr. 15 zur EMRK an, in dem auftragsgemäss die Ziffern 12 Buchstabe b, 15 Buchstaben a und b sowie 25 Buchstaben d und f der Erklärung von Brighton umgesetzt werden sollten. Dabei geht es im Einzelnen um folgende Anpassungen: ­

Verankerung des Subsidiaritätsprinzips (Ziff. 12 Bst. b),

­

Verkürzung der Beschwerdefrist (Ziff. 15 Bst. a),

­

Bereinigung des Zulässigkeitskriteriums des nicht erheblichen Nachteils (Ziff. 15 Bst. c),

­

Abschaffung des Widerspruchsrechts der Partei gegen die Abgabe einer Rechtssache an die Grosse Kammer (Ziff. 25 Bst. d),

­

Ersatz der Altersgrenze für das Ausscheiden von Richterinnen und Richtern am EGMR aus dem Amt durch ein Höchstalter bei Amtsantritt (Ziff. 25 Bst. f).

Das Ministerkomitee konsultierte am 17. Januar 2013 den EGMR und die Parlamentarische Versammlung des Europarats zum Protokollentwurf. Der EGMR begrüsste in seiner Antwort vom 6. Februar 20137 die fünf vorgeschlagenen Anpassungen der EMRK, von denen im Übrigen drei von ihm angeregt worden seien (vgl. die Ziff. 6 ff. und 12 der Antwort). Hinsichtlich der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in der Präambel der EMRK begrüsste er, dass im erläuternden Bericht nunmehr festgehalten werde, dass dieses Prinzip im Lichte seiner bisherigen Rechtsprechung zu verstehen sei. Desgleichen äusserte sich die Parlamentarische Versammlung in ihrer Stellungnahme vom 26. April 20138 zustimmend zum Protokollentwurf und betonte dessen technische Natur. An seiner 123. Tagung verabschiedete das Ministerkomitee schliesslich das Protokoll Nr. 15 zur EMRK; es wurde am 24. Juni 2013 zur Unterzeichnung durch die Mitgliedstaaten aufgelegt. Als Änderungsprotokoll tritt es in Kraft, wenn es von sämtlichen Vertragsstaaten ratifiziert sein wird. Am 1. Januar 2015 hatten zehn Staaten das Protokoll Nr. 15 ratifiziert; dazu kommen 29 Staaten, die es unterzeichnet hatten.

An seiner 77. Sitzung nahm der CDDH zuhanden des Ministerkomitees zusätzlich ein Protokoll Nr. 16 zur EMRK an, das die Kompetenz des EGMR zur Erstattung von Rechtsgutachten auch auf Fragen betreffend die durch die EMRK gewährleisteten Rechte und Freiheiten ausweitet. Nach dem Protokoll Nr. 16 sollen die obersten Justizorgane der Vertragsstaaten den EGMR ersuchen können, in einem bei ihnen hängigen Verfahren ein nicht verbindliches Rechtsgutachten zu erstatten. Nach Konsultation der Parlamentarischen Versammlung9 nahm das Ministerkomitee das Protokoll Nr. 16 am 28. Juni 2013 an; dieses wurde am 2. Oktober 2013 zur Unterzeichnung aufgelegt. Sein Inkrafttreten setzt die Ratifikation durch zehn Vertragsstaaten der EMRK voraus. Am 1. Januar 2015 hatten es 16 Vertragsstaaten der EMRK unterzeichnet; noch kein Vertragsstaat hatte es ratifiziert.

7 8

9

Einsehbar unter www.echr.coe.int > Français > Textes officiels > Protocole No 15 > Avis de la Cour (Février 2013).

Avis 283 (2013), einsehbar unter www.assembly.coe.int > Français > Documents > Avis > Projet de Protocole no 15 portant amendement à la Convention de sauvegarde des droits de l'homme et des libertés fondamentales.

Avis 285 (2013), einsehbar unter www.assembly.coe.int > Français > Documents > Avis > Projet de protocole no 16 à la Convention de sauvegarde des droits de l'homme et des libertés fondamentales.

2350

Verglichen mit dem Protokoll Nr. 15 ist das Protokoll Nr. 16 zur EMRK von komplexerer Natur, und seine Auswirkungen auf die Arbeitslast des EGMR sind offen.

Auch angesichts der Tatsache, dass die Schweizer Gerichte, allen voran das Bundesgericht, die Rechtsprechung des EGMR bei ihrer Tätigkeit berücksichtigen, möchte der Bundesrat mit der Ratifikation des Protokolls Nr. 16 einstweilen zuwarten und die weitere Entwicklung abwarten. Er beantragt deshalb vorderhand einzig die Genehmigung des Protokolls Nr. 15 zur EMRK.

1.3

Überblick über den Inhalt des Protokolls Nr. 15

Das Protokoll Nr. 15 sieht fünf Änderungen der EMRK vor: (1) Am Ende der Präambel wird ein ausdrückliches Bekenntnis zum Subsidiaritätsprinzip eingefügt.

(2) Künftig müssen die für das Amt als Richter und Richterinnen am EGMR kandidierenden Personen jünger als 65 Jahre sein (neuer Art. 21 Abs. 2 EMRK); dagegen entfällt die Beendigung der Amtszeit mit Vollendung des 70. Lebensjahrs (Art. 23 Abs. 2 EMRK).

(3) Abgeschafft wird das Widerspruchsrecht der Parteien gegen die Absicht einer Kammer, eine Rechtssache an die Grosse Kammer abzugeben (Art. 30 EMRK).

(4) Die Frist für die Einreichung einer Beschwerde an den EGMR wird auf vier Monate verkürzt (Art. 35 Abs. 1 EMRK).

(5) Schliesslich kann der EGMR künftig eine Beschwerde auch dann wegen Nichterheblichkeit des erlittenen Nachteils für unzulässig erklären, wenn die Rechtssache innerstaatlich noch von keinem Gericht geprüft worden ist (Art. 35 Abs. 3 Bst. b EMRK).

1.4

Vernehmlassungsverfahren

Mit Beschluss vom 13. August 2014 hat der Bundesrat das Eidgenössische Justizund Polizeidepartement (EJPD) ermächtigt, ein Vernehmlassungsverfahren über die Genehmigung des Protokolls Nr. 15 zur EMRK durchzuführen. Das EJPD hat daraufhin die Kantone, die Konferenz der Kantonsregierungen, die in der Bundesversammlung vertretenen Parteien sowie die interessierten Verbände und Organisationen zur Stellungnahme bis zum 13. November 2014 eingeladen.

Zur Stellungnahme eingeladen wurden 58 Adressaten. 41 Antworten sind eingegangen. Stellung genommen haben 25 Kantone, 4 Parteien und 12 Organisationen. Die Genehmigung des Protokolls Nr. 15 wurde überwiegend begrüsst (22 Kantone, 3 Parteien, 7 Organisationen),10 vereinzelt abgelehnt (1 Partei, 2 Organisationen).11 10

11

ZH, LU, UR, SZ, OW, GL, ZG, SO, BS, BL, SH, AR, AI, SG, AG, TG, TI, VD, VS, NE, GE, JU; CVP, FDP Die Liberalen, SPS; Schweizerischer Gewerkschaftsbund, amnesty international, Schweizerische Vereinigung der Richterinnen und Richter, Schweizerische Sektion der Internationalen Juristenkommission, Universität Genf ­ Rechtsfakultät, Fédération des Entreprises Romandes ­ Genève, Centre Patronal.

SVP; Schweizerischer Gewerbeverband, syna

2351

Für 3 Kantone (BE, FR, GR) gibt die Vorlage zu keinen Bemerkungen Anlass. Zu spezifischen Bemerkungen Anlass gab in erster Linie die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in der Präambel der EMRK. Die Einzelheiten der Vernehmlassungsergebnisse können dem Ergebnisbericht12 entnommen werden.

1.5

Würdigung

Die Schweiz hat sich mit der Ratifikation der EMRK zu einem System kollektiver Verantwortlichkeit verpflichtet. Sie trägt gemeinsam mit den 46 anderen Vertragsstaaten der EMRK eine Verantwortung dafür, dass die Wirksamkeit des Kontrollsystems der EMRK sichergestellt wird. Die Änderungen, die das Protokoll Nr. 15 vorsieht, sind punktuell und technischer Natur. Sie zielen darauf ab, gewisse Schwächen des Kontrollmechanismus zu beheben, die sich seit Inkrafttreten der Protokolle Nrn. 11 und 14 zur EMRK gezeigt haben, und sollen dem EGMR ermöglichen, gezielte Massnahmen zu seiner eigenen Entlastung zu treffen, ohne dass der Schutz der Menschenrechte beeinträchtigt würde. Zugleich rufen die Vertragsstaaten mit der Anpassung der Präambel in Erinnerung, dass die Subsidiarität ihnen zwar abfordert, die EMRK innerstaatlich wirksam umzusetzen, dass ihnen dabei umgekehrt aber auch ein gewisser Ermessenspielraum zustehen muss. Des Weiteren präjudiziert das Protokoll Nr. 15 nicht weitere, längerfristige Reformschritte, wie sie in den Erklärungen von Interlaken, Izmir und Brighton gefordert und zurzeit in verschiedenen Gremien des Europarats diskutiert werden. Nach ihrem intensiven Engagement bei den grossen Reformschritten, die mit den Protokollen Nrn. 11 und 14 zur EMRK realisiert worden sind, unterstreicht die Schweiz mit der Ratifikation des Protokolls Nr. 15 ein weiteres Mal, dass ihr die Unterstützung des EGMR ein prioritäres Anliegen ist.

2

Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln des Protokolls Nr. 15

Art. 1 des Protokolls Die Präambel der EMRK wird um einen Absatz ergänzt. Darin wird einerseits die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips unterstrichen. Anderseits wird der Ermessenspielraum (sog. marge d'appréciation) erwähnt, über den die Vertragsstaaten bei der Gewährleistung der Rechte und Freiheiten der EMRK und der dazugehörigen Protokolle verfügen und dessen Beachtung zu kontrollieren Aufgabe des EGMR ist. Die Ergänzung der Präambel kodifiziert damit Bestehendes. Erstmals werden aber das Subsidiaritätsprinzip und der den Staaten gewährte Ermessensspielraum in der Konvention explizit erwähnt, was zu einer Stärkung der beiden Grundsätze führt.

Nach dem Subsidiaritätsprinzip sind in erster Linie die Vertragsstaaten aufgefordert, allen ihren Rechtsunterworfenen die Rechte und Freiheiten der EMRK und der dazugehörigen Protokolle zuzusichern (Art. 1 EMRK) und jeder Person für die Rüge behaupteter Konventionsverletzungen ein wirksames Rechtsmittel vor einer innerstaatlichen Instanz zur Verfügung zu stellen (Art. 13 EMRK). Der EGMR seinerseits 12

www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2014 > EJPD

2352

legt die EMRK in letzter Instanz aus und bietet Personen Rechtsschutz, deren Rechte und Freiheiten innerstaatlich nicht beachtet werden.

Der materielle Bereich des Subsidiaritätsprinzips äussert sich im Ermessensspielraum der Vertragsstaaten, der aus der Rechtsprechung des EGMR folgt. So geht der Gerichtshof bei der Anwendung der Konvention davon aus, dass die Vertragsstaaten über einen Ermessenspielraum darüber verfügen, wie sie die EMRK anwenden und umsetzen. Dabei gibt es indes Unterschiede, die abhängig sind von den Umständen des jeweiligen Falles und von den betroffenen Rechten und Freiheiten.

Namentlich dort, wo die Anwendung der EMRK Wertungs- oder Abwägungsentscheidungen bedingt (insbesondere im Rahmen der Ausnahmeregelungen der jeweiligen Absätze 2 der Artikel 8­11 EMRK), sind nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR die nationalen Instanzen in aller Regel besser in der Lage, solche Entscheidungen zu treffen, und ist es nicht seine Aufgabe, sich bei seiner Überwachung an die Stelle der staatlichen Gerichte und Behörden zu setzen. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass das Verfahren vor den Konventionsorganen subsidiär ist zum (wirksamen) Schutz der Menschenrechte auf innerstaatlicher Ebene, sind doch die innerstaatlichen Behörden und Gerichte oft besser in der Lage, die lokalen Gegebenheiten und Bedürfnisse abzuschätzen. Korrelat zum Ermessensspielraum ist die Überwachung durch die Konventionsorgane. Dem EGMR obliegt insoweit die Aufgabe zu überprüfen, ob die Entscheidungen der innerstaatlichen Behörden und Gerichte sich im Rahmen dessen bewegen, was nach der EMRK vertretbar ist.

Art. 2 des Protokolls Artikel 21 EMRK über die Voraussetzungen für das Amt der Richterin oder des Richters am EGMR erhält einen neuen Absatz 2. Danach müssen die Kandidatinnen und Kandidaten jünger als 65 Jahre alt sein. Stichtag ist das Datum, an dem die Parlamentarische Versammlung als Wahlorgan vom jeweiligen Vertragsstaat die Kandidatenliste gemäss Artikel 22 EMRK erwartet. Die bisherigen Absätze 2 und 3 von Artikel 21 EMRK werden neu zu dessen Absätzen 3 und 4.

Bei der Bestimmung des Stichtags für die Altersbegrenzung nach dem neuen Artikel 21 Absatz 2 ist die lange Dauer des Auswahlverfahrens von der Ausschreibung durch den jeweiligen Vertragsstaat bis hin zur Wahl durch die Parlamentarische Versammlung
des Europarats zu berücksichtigen. Es gilt zu vermeiden, dass Kandidierende die Funktion nicht antreten können, weil sie im Verlaufe des Selektionsverfahrens das Alter gemäss dem neuen Absatz 2 erreichen. Mit dem Zeitpunkt, in dem die Parlamentarische Versammlung die Kandidatenliste erwartet, bestimmt Artikel 21 Absatz 2 EMRK einen Stichtag, der zu Beginn des innerstaatlichen Selektionsverfahrens bereits feststeht. Es versteht sich von selbst, dass in der Ausschreibung auf diesen Stichtag hinzuweisen ist.

Artikel 23 Absatz 2 EMRK wird aufgehoben, und die Absätze 3 und 4 der Bestimmung werden zu deren Absätzen 2 und 3. Hintergrund der Änderung ist, dass die Richterinnen und Richter am EGMR ihre Funktion für die volle Amtsdauer von neun Jahren ausüben und nicht mehr mit Vollendung des 70. Lebensjahrs automatisch aus dem Amt scheiden sollen. Das Wissen und die Schaffenskraft der erfahrenen Richterinnen und Richtern soll mithin dem EGMR länger erhalten bleiben.

Gegen die Beibehaltung der Alterslimite für das Ausscheiden spricht auch die Tatsache, dass die neunjährige Amtszeit der Richterinnen und Richter am EGMR nicht erneuerbar ist.

2353

Art. 3 des Protokolls Behandelt eine Kammer des EGMR eine Beschwerde, die eine schwer wiegende Frage der Auslegung oder Anwendung der Konvention oder der Protokolle dazu aufwirft, oder kann ihre Entscheidung von einem früheren Urteil des EGMR abweichen, so kann die Kammer die Beschwerde jederzeit an die Grosse Kammer abgeben (Art. 30 EMRK). Nach geltendem Recht hat jede Partei des Verfahrens das Recht, sich der Abgabe des Falles an die Grosse Kammer zu widersetzen. Das Protokoll Nr. 15 schafft dieses Widerspruchsrecht ab.

Die Änderung von Artikel 30 EMRK verfolgt mehrere Ziele. Sie dient der Verbesserung der Kohärenz der Rechtsprechung des EGMR. Der EGMR hat in seiner vorläufigen Stellungnahme vom 16. Februar 201213 im Hinblick auf die Konferenz von Brighton in Aussicht gestellt, dass er seine Verfahrensordnung dahingehend anpassen würde, dass inskünftig die Kammern verpflichtet sein würden, Rechtssachen an die Grosse Kammer abzugeben, wenn sie von der gefestigten Rechtsprechung des EGMR abweichen möchten. Die Abschaffung des Widerspruchsrechts steht im Einklang mit dieser Entwicklung. Darüber hinaus kann sie das Verfahren vor dem EGMR dadurch beschleunigen, dass Rechtssachen, welche die materiellen Voraussetzungen für eine Abgabe an die Grosse Kammer erfüllen, nur von einer Instanz beurteilt werden.

Art. 4 des Protokolls Derzeit beträgt die Frist für die Einreichung einer Beschwerde an den EGMR sechs Monate ab dem Zeitpunkt der letztinstanzlichen innerstaatlichen Entscheidung. Die Verkürzung der Frist auf künftig vier Monate geht auf einen Vorschlag des Gerichtshofs zurück und berücksichtigt die Entwicklung der Kommunikationstechnologien und nähert sich den Beschwerdefristen an, wie sie in verschiedenen Vertragsstaaten gelten.

Art. 5 des Protokolls Nach Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe b EMRK erklärt der EGMR eine Beschwerde für unzulässig, wenn «dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist, es sei denn, die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, erfordert eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde, und vorausgesetzt, es wird aus diesem Grund nicht eine Rechtssache zurückgewiesen, die noch von keinem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist.» Dieses Zulässigkeitskriterium war mit Protokoll Nr. 14 eingeführt
worden.14 Artikel 5 des Protokolls hebt nun die zweite der beiden Einschränkungen auf. Dies beeinträchtigt das Recht auf Individualbeschwerde insofern nicht, als der EGMR auch künftig keine Beschwerde wegen Nichterheblichkeit des erlittenen Nachteils für unzulässig erklären darf, wenn die Achtung der Menschenrechte eine materielle Prüfung erheischt. Die Streichung des Passus erweitert die Möglichkeiten 13

14

Avis préliminaire de la Cour établi en vue de la Conférence de Brighton, § 16, einsehbar unter www.coe.int/brighton > Français > Documents de base > Avis préliminaire de la Cour établi en vue de la Conférence de Brighton.

Vgl. Botschaft vom 4. März 2005 über die Genehmigung des Protokolls Nr. 14 vom 13. Mai 2004 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention, BBl 2005 2119, hier 2128.

2354

des EGMR, dem Grundsatz de minimis non curat praetor Nachachtung zu verschaffen. Die Änderung gilt auch für Beschwerden, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens von Protokoll Nr. 15 hängig sind (vgl. Art. 8 Abs. 4 des Protokolls).

Art. 6, 7 und 9 des Protokolls Diese Bestimmungen gehören zu den üblichen Schlussbestimmungen in Verträgen des Europarats.

Art. 8 des Protokolls Artikel 8 enthält verschiedene Übergangsbestimmungen zu den einzelnen Konventionsänderungen.

Die neue Altersregelung für Richterinnen und Richter am EGMR ist gemäss Absatz 1 erst anwendbar auf Kandidatenlisten, die nach Inkrafttreten des Protokolls Nr. 15 der Parlamentarischen Versammlung übermittelt werden. Zuvor eingereichte Listen werden nach der bisherigen Rechtslage behandelt; auch die Amtszeit der so gewählten Person endet unverändert mit der Vollendung des 70. Lebensjahres.

Absatz 2 betrifft die Abschaffung des Widerspruchsrechts der Parteien gegen die Abgabe einer Rechtssache an die Grosse Kammer. Die Änderung ist nicht anwendbar auf Fälle, in denen eine Partei im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Protokolls Nr. 15 ihr Widerspruchsrecht bereits ausgeübt hat. Die Übergangsbestimmung schafft Rechtssicherheit und stärkt die Vorhersehbarkeit des Verfahrens.

Die Verkürzung der Beschwerdefrist tritt gemäss Absatz 3 sechs Monate nach dem Inkrafttreten von Protokoll Nr. 15 in Kraft. Die Änderung betrifft somit keine Beschwerde, bei der die letztinstanzliche innerstaatliche Entscheidung vor dem Inkrafttreten des Protokolls Nr. 15 ergangen ist.

Gemäss Absatz 4 sind alle weiteren Bestimmungen des Protokolls Nr. 15 mit dessen Inkrafttreten sofort anwendbar.

3

Auswirkungen

Das Protokoll Nr. 15 hat keine finanziellen oder personellen Auswirkungen auf den Bund noch irgendwelche Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden, urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung und zu nationalen Strategien des Bundesrates

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 25. Januar 201215 zur Legislaturplanung 2011­2015 noch im Bundesbeschluss vom 15. Juni 201216 über die Legislaturplanung 2011­2015 angekündigt. Die Ratifikation des Protokolls Nr. 15 trägt bei zur global guten Vernetzung der Schweiz und zur Festigung ihrer Position in den multi-

15 16

BBl 2012 481 BBl 2012 7155

2355

lateralen Institutionen bei. Der Bundesrat hat seine Ratifikation deshalb als Ziel Nr. 8 in seine Ziele für das Jahr 2015 aufgenommen.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Der Abschluss völkerrechtlicher Verträge fällt nach Artikel 54 Absatz 1 der Bundesverfassung17 (BV) in die Zuständigkeit des Bundes. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dez. 200218, ParlG; Art. 7a Abs. 1 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 199719).

5.2

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder wenn deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Artikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten.

Das Protokoll Nr. 15 betrifft die Organisation und das Verfahren des EGMR. Es enthält mithin rechtsetzende Bestimmungen im Sinne von Artikel 22 Absatz 4 ParlG, die wichtig sind, weil sie Zuständigkeiten festlegen, Rechte von Personen betreffen sowie institutionelle und verfahrensrechtliche Fragen des Gerichtshofs regeln. Innerstaatlich müssten derartige Bestimmungen in der Form des Bundesgesetzes erlassen werden (Art. 164 Abs. 1 Bst. g BV).

5.3

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Die Vorlage untersteht nicht der Ausgabenbremse nach Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV, da sie weder Subventionsbestimmungen noch die Grundlage für die Schaffung eines Verpflichtungskredites oder Zahlungsrahmens enthält.

17 18 19

SR 101 SR 171.10 SR 172.010

2356