Zusatzbericht des Bundesrats zu seinem Bericht vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht vom 30. März 2011

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Wir unterbreiten Ihnen zu unserem Bericht vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht den vorliegenden Zusatzbericht zur Kenntnisnahme.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

30. März 2011

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Micheline Calmy-Rey Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2010-2901

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Übersicht In Ergänzung zum Bericht vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht untersucht der vorliegende Zusatzbericht Massnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Verfassungsvorlagen mit dem Völkerrecht. Vorgeschlagen werden eine Erweiterung des Vorprüfungsverfahrens vor der Unterschriftensammlung für Volksinitiativen und eine Ausdehnung der Ungültigkeitsgründe auf grundrechtliche Kerngehalte.

Nach geltendem Verfassungsrecht muss die Bundesversammlung eine Volksinitiative für ungültig erklären, die den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts widerspricht. Zum Prüfmassstab der Bundesversammlung gehören das zwingende Völkerrecht (ius cogens), die Grundzüge des humanitären Völkerrechts und notstandsfeste Garantien des Völkerrechts. Volksinitiativen, die übriges Völkerrecht verletzen, sind hingegen von der Bundesversammlung für gültig zu erklären und Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten. Mit Annahme solcher Initiativen entsteht ein Widerspruch zwischen dem Landesrecht und völkerrechtlichen Verpflichtungen.

Wenn die Möglichkeit einer völkerrechtskonformen Umsetzung der Volksinitiative ausscheidet, steht die Schweiz in der schwierigen Situation, entweder geltendes Verfassungsrecht nicht anzuwenden oder völkerrechtliche Verpflichtungen zu verletzen. Zeitliche und sachliche Gründe sprechen in der Regel dagegen, die Lösung in der Kündigung des entgegenstehenden völkerrechtlichen Vertragsrechts zu suchen.

Die erste ergänzend zum Bericht vom 5. März 2010 untersuchte und zur Umsetzung vorgeschlagene Massnahme zur Entschärfung dieser Probleme besteht in der Stärkung des Vorprüfungsverfahrens. Das heutige von der Bundeskanzlei durchgeführte Vorprüfungsverfahren ist im Wesentlichen auf formelle Aspekte beschränkt. Es könnte durch eine vom Bundesamt für Justiz und der Direktion für Völkerrecht gemeinsam vorgenommene materielle Prüfung erweitert werden. Initiantinnen und Initianten erhielten vor Beginn der Unterschriftensammlung eine nicht bindende behördliche Stellungnahme über die Vereinbarkeit der Verfassungsvorlage mit dem Völkerrecht und damit die Gelegenheit, den Initiativtext gegebenenfalls anzupassen, um Konkordanz mit dem Völkerrecht herzustellen. Auf dem Unterschriftenbogen wären obligatorisch ein Kurzvermerk über das (positive oder negative) Ergebnis der Vorprüfung
und ein Verweis auf die Fundstelle der behördlichen Stellungnahme im Bundesblatt anzubringen. Damit würden Stimmberechtigte, welche die Volksinitiative unterzeichnen wollen, auf die allfällige Problematik der Völkerrechtswidrigkeit aufmerksam gemacht. Umzusetzen wäre diese Massnahme durch eine Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte; im vorliegenden Zusatzbericht finden sich entsprechende Redaktionsvorschläge.

Trotz Erweiterung des Vorprüfungsverfahrens können Volksinitiativen zustande kommen, die mit Völkerrecht nicht im Einklang stehen. Deshalb untersucht der Zusatzbericht als zweite Massnahme Möglichkeiten, die Gültigkeit von Verfassungsvorlagen weiteren Schranken als den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts zu unterstellen. Nach dem hier unterbreiteten Vorschlag müsste die Bundesversammlung Volksinitiativen für ungültig erklären, die grundrechtliche Kerngehalte verlet-

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zen. Der Verfassungsgeber wäre demnach bei der Schaffung neuen Verfassungsrechts auch an landesrechtliche Grundwerte gebunden, wie sie heute bereits in der Bundesverfassung verankert sind. Diese Grundwerte decken sich jedenfalls in Teilen mit wichtigen völkerrechtlichen Garantien. Im Ergebnis könnte der erweiterte Ungültigkeitstatbestand einen Beitrag leisten zur Verbesserung der Vereinbarkeit zwischen dem Initiativrecht und den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz.

Als zusätzliche Option legt der Zusatzbericht dar, welche Vor- und Nachteile sich ergeben, wenn darüber hinaus Verfassungsrevisionen für ungültig erklärt würden, die das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot verletzen. Die Ausdehnung der Ungültigkeitsgründe lässt sich nicht durch Praxisänderung einführen; notwendig ist eine Verfassungsänderung. Von einer allfälligen Zustimmung, sich einer solchen Selbstbindung zu unterziehen, können Volk und Stände jederzeit wieder abrücken. Wie bereits unter heutigem Recht würden die erweiterten materiellen Schranken der Verfassungsrevision unabhängig davon gelten, ob das Volk oder die Behörde die Vorlage initiiert. Umzusetzen wäre diese Massnahme durch eine Änderung der Bundesverfassung; im vorliegenden Zusatzbericht finden sich entsprechende Redaktionsvorschläge.

Schliesslich untersucht der Zusatzbericht als dritte Massnahme die Verankerung einer Konfliktregel, welche bei Widersprüchen zwischen Verfassungsrecht und Völkerrecht den Vorrang festlegt. Konkret wird die Möglichkeit analysiert, die vom Bundesgericht entwickelte sogenannte «Schubert-Praxis» in der Bundesverfassung zu verankern. Die Untersuchung zeigt indessen die überwiegenden Nachteile einer solchen Massnahme; deshalb wird empfohlen, von einer Umsetzung dieser dritten Massnahme abzusehen.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1 Einleitung

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2 Ausgangslage und Untersuchungsgegenstand 2.1 Problematik von Regelungsdefiziten im Verhältnis zwischen Initiativund Völkerrecht 2.2 Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip 2.2.1 Inhalt und Bezugspunkte 2.2.2 Demokratische Legitimation des Völkerrechts 2.3 Eckpunkte des Völkerrechts 2.4 Eckpunkte des Verfassungs- und des Initiativrechts 2.4.1 Inhalt und Tragweite der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts 2.4.2 Notwendigkeit einer Verfassungsrevision 2.4.3 Änderbarkeit der Ungültigkeitsgründe 2.4.4 Geltung für Volks- und Behördenvorlagen 2.4.5 Das Schweizer Initiativrecht 2.4.5.1 Verfassungsvorgaben zum Behandlungsweg der Volksinitiativen 2.4.5.2 Quantitative Bedeutung 2.5 Fazit

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3 Materielle Vorprüfung vor der Unterschriftensammlung 3.1 Prüfungsgegenstand und -massstab 3.2 Keine Bindungswirkung 3.3 Prüfungsorgane 3.4 Bekanntmachung der verwaltungsinternen Stellungnahme 3.5 Rechtsschutz 3.6 Fazit 3.7 Redaktionsvorschläge

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4 Erweiterung der Ungültigkeitsgründe 4.1 Problematik unbestimmter und formeller Kriterien 4.2 Erweiterung der Ungültigkeitsgründe aufgrund materieller Kriterien 4.2.1 Landesrechtliche Grundwerte und Volksinitiativen 4.2.2 Grundrechtliche Kerngehalte als materielle Schranke der Verfassungsrevision 4.2.2.1 Begriff und Funktion der Kerngehalte 4.2.2.2 Impulse zur Ermittlung des Kerngehalts aus dem Verfassungsrecht 4.2.2.3 Begriff des «Kerngehalts» im Völkerrecht 4.2.3 Das Diskriminierungsverbot als mögliche Quelle materieller Schranken der Verfassungsrevision 4.2.3.1 Begriff und Tragweite des Diskriminierungsverbots 4.2.3.2 Das Diskriminierungsverbot als materielle Schranke?

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4.2.4 Verfahrensgarantien als Minimalgarantien 4.2.5 Einschätzung der Vor- und Nachteile der Erweiterung der Ungültigkeitsgründe auf die grundrechtlichen Kerngehalte der Bundesverfassung 4.2.6 Fazit 4.3 Redaktionsvorschläge 5 Anwendung der (relativierten) Schubert-Praxis auf späteres Verfassungsrecht 5.1 Fehlen einer gefestigten Konfliktregel 5.2 Geltungsbereich und Funktion der Schubert-Praxis 5.3 Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Rang des Völkerrechts 5.3.1 Vorläufer und Etablierung der Schubert-Praxis 5.3.2 Vorrang internationaler Menschenrechtsgarantien («PKKRechtsprechung») 5.4 Praxis von Bundesrat und Bundesverwaltung zum Rang des Völkerrechts 5.5 Festlegungen der Bundesversammlung zur Vereinbarkeit von Erlassen mit dem Völkerrecht 5.6 Vor- und Nachteile 6 Gesamtwürdigung und Schlussfolgerung

3650 3651 3652 3653 3653 3653 3654 3655 3655 3656 3657 3658 3660 3661

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Zusatzbericht 1

Einleitung

Mit Beschluss vom 5. März 2010 hat der Bundesrat seinen Bericht über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht (im Folgenden: «Bericht»)1 gutgeheissen.

Gleichzeitig hat er das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und die Bundeskanzlei (BK) beauftragt, ihm einen Zusatzbericht zu unterbreiten und Möglichkeiten aufzuzeigen, um Widersprüche zwischen dem verfassungsmässigen Initiativrecht und den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz zu verhindern. Der vorliegende Zusatzbericht soll diesen Auftrag erfüllen.

Die Staatspolitischen Kommissionen (SPK) des Ständerats und des Nationalrats haben den Bericht vom 5. März 2010 in den Sitzungen vom 20. April 2010 beziehungsweise 20. August 2010 diskutiert. Die überwiegende Mehrheit der Mitglieder der SPK-S kann sich ein Vorprüfungsverfahren vorstellen, bei dem eine noch zu bezeichnende Stelle vor der Unterschriftensammlung die Gültigkeit provisorisch überprüft. Skepsis äusserte die Mehrheit der Kommissionsmitglieder gegenüber einer Ausdehnung der materiellen Ungültigkeitsgründe in der Verfassung. Diskussionsbereitschaft besteht jedoch auch in diesem Punkt. Schliesslich hat die SPK-S deutlich gemacht, einen Entscheid zur parlamentarischen Initiative 07.477 (Vischer Daniel) zur Gültigkeit von Volksinitiativen2 erst nach Vorliegen des Zusatzberichts zu fällen.3 In den vorliegenden Themenbereich fällt zudem die parlamentarische Initiative 09.521 (Moret Isabelle). Sie verlangt einen richterlichen Entscheid über die Gültigkeit von Volksinitiativen vor Beginn der Unterschriftensammlung. Die SPK-N hat der Initiative am 21. Oktober 2010 keine Folge gegeben und im Zusammenhang mit diesem Geschäft das Postulat 10.3885 eingereicht.4 Mit dem Postulat wird der Bundesrat beauftragt, zu seinem Bericht vom 5. März 2010 betreffend das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht ergänzende Ausführungen zu machen, wie der Entscheid betreffend die Gültigkeitserklärung einer Volksinitiative vor der Unterschriftensammlung gefällt werden kann. Dabei ist die geeignete Behördenzuständigkeit zu prüfen und insbesondere die Möglichkeit einer Zuständigkeit der Bundesversammlung zu erwägen (vgl. dazu Ziff. 3). Mit dem vorliegenden Zusatzbericht wird dem Anliegen dieses Postulates entsprochen;
der Bundesrat beantragt daher die Abschreibung dieses Postulats.

Der Bundesrat hat in Ziffer 9.6 seines Berichts festgestellt, dass sich die drängendsten Fragen an der Schnittstelle zwischen Völkerrecht und Landesrecht beim Verhältnis von Volksinitiative und Völkerrecht ergeben. Er hat in der Folge diesen Problemkreis eingehend behandelt und die sich stellenden Fragen sowie mögliche 1 2

3 4

BBl 2010 2263 Die Initiative zielt auf eine Änderung der Bundesverfassung, sodass eine Volksinitiative als ungültig erklärt werden muss, wenn sie «materiell gegen den Grundrechtsschutz und gegen Verfahrensgarantien des Völkerrechts verstösst». Der Nationalrat hat der Initiative am 11.3.2009 Folge gegeben (AB 2009 N 294).

Medienmitteilung der SPK-S vom 20.4.2010. Die SPK-N hat keine Medienmitteilung veröffentlicht.

Vgl. auch die Medienmitteilung der SPK-N vom 22.10.2010.

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Lösungsansätze dargelegt und geprüft. Nachstehend soll ausgehend von diesen Lösungsansätzen vertieft untersucht werden, welche konkreten Massnahmen geeignet erscheinen, Kollisionen zwischen dem Initiativrecht und völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz zu vermeiden.

Die Suche nach Lösungen bewegt sich in einem rechtlichen Umfeld, das einleitend ­ durch die Darlegung von ausgewählten Eckpunkten des Völkerrechts und des Verfassungsrechts ­ kurz erörtert wird. Ferner zeigt die Einleitung die Bezugspunkte zwischen dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip auf und benennt Leitlinien, die bei der Abwägung der Vor- und Nachteile der vorgeschlagenen Lösungen Orientierung bieten (Ziff. 2). Anschliessend stellt der Zusatzbericht drei konkrete, aufeinander abgestimmte Massnahmen vor. Die erste Massnahme besteht in der Einführung einer unverbindlichen Vorprüfung der Volksinitiative hinsichtlich der Völkerrechtskonformität sowie gegebenenfalls der Vereinbarkeit mit grundrechtlichen Kerngehalten vor der Unterschriftensammlung (Ziff. 3). Sie wird ergänzt durch den Vorschlag einer massvollen Erweiterung der materiellen Ungültigkeitsgründe (Ziff. 4). Die Umsetzung dieser beiden Massnahmen schliesst nicht alle Situationen aus, in denen Widersprüche zwischen Völkerrecht und Verfassungsrecht auftreten können. Zu diesem Zweck untersucht und bewertet Ziffer 5 die Möglichkeit, in der Verfassung eine Vorrangregel im Sinne der vom Bundesgericht entwickelten «Schubert-Praxis» zu verankern. Am Ende der Ziffern 3 und 4 sind Redaktionsvorschläge zur Änderung des betreffenden Verfassungs- und Gesetzesrechts angeführt.

Der Zusatzbericht schliesst mit einer Gesamtwürdigung und den Schlussfolgerungen (Ziff. 6).

2

Ausgangslage und Untersuchungsgegenstand

2.1

Problematik von Regelungsdefiziten im Verhältnis zwischen Initiativ- und Völkerrecht

Artikel 139 Absatz 3 der Bundesverfassung (BV)5 regelt die Rechtsfolgen eines Konflikts zwischen dem Inhalt einer Volksinitiative und zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts. Eine Volksinitiative auf Teilrevision der BV wird von der Bundesversammlung für ganz oder teilweise ungültig erklärt, wenn sie zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verletzt. Der Begriff «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts», wie er in der BV verwendet wird, ist ein landesrechtlicher Begriff, dessen Auslegung und Tragweite vom Bundesrat wiederholt präzisiert wurde, allerdings unter Hinweis darauf, dass es schliesslich Sache der Praxis sei, unter Einbezug der Lehre letzte Klarheit über die Tragweite des Begriffes zu schaffen6. Der Entscheid darüber, ob eine Volksinitiative zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verletzt, obliegt nach geltendem Verfassungsrecht der Bundesversammlung. Diese ist in ihrer Praxis zurückhaltend, eine Initiative auf Verfassungsrevision tatsächlich für ungültig zu erklären. Im Zweifelsfall spricht sich die Bundesversammlung eher für die Gültigkeit aus (in dubio pro populo).

Während die Bundesverfassung eine Bestimmung enthält, welche die durch eine Volksinitiative initiierte Schaffung von Verfassungsrecht verhindert, das zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts widerspricht, besteht keine solche Schranke mit 5 6

SR 101 Bericht, Ziff. 8.7.1.1.

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Bezug auf das übrige Völkerrecht, das die weitaus überwiegende Mehrheit der völkerrechtlichen Normen ausmacht. Volksinitiativen, die zwar gegen Völkerrecht verstossen, aber keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts verletzen, sind somit für gültig zu erklären und Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten.

Wird eine solche Initiative in der Volksabstimmung angenommen, so tritt eine neue Verfassungsbestimmung in Kraft, welche im Widerspruch zu völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz steht. Für solche Fälle kennt das Verfassungsrecht keine Konfliktregel, die ­ wie Artikel 49 Absatz 1 BV für das Verhältnis zwischen Bundesrecht und kantonalem Recht ­ eine klare Rangordnung vorschreibt. Artikel 5 Absatz 4 BV, der die «Beachtung des Völkerrechts» verlangt, hat nicht den Gehalt einer allgemeingültigen Vorrangregel zur Lösung von Konflikten zwischen dem Völkerrecht und dem Landesrecht.7 In der bisherigen Praxis hat der Gesetzgeber jeweils versucht, Verfassungsbestimmungen, deren Völkerrechtskonformität zweifelhaft war, in völkerrechtskonformer Weise umzusetzen.8 Dies setzt eine Auslegung der Inititativbegehren voraus, welche sowohl den Anliegen der Initiantinnen und Initianten gerecht wird als auch im Rahmen derjenigen Verpflichtungen bleibt, welche die Schweiz auf internationaler Ebene eingegangen ist. Ist eine solche Auslegung möglich, so kann ein Konflikt mit widersprechendem Völkerrecht vermieden werden, allerdings mit dem Nachteil, dass möglicherweise Lösungen gefunden werden müssen, die weder aus verfassungs- noch aus völkerrechtlicher Sicht ganz zu befriedigen vermögen.

Es ist indessen möglich, dass eine Verfassungsbestimmung einer völkerrechtskonformen Auslegung überhaupt nicht zugänglich ist. Dies führt dazu, dass neu geschaffenes, von Volk und Ständen angenommenes Verfassungsrecht auf bestehendes, den neuen Verfassungsnormen widersprechendes Völkerrecht trifft. Solche Konflikte müssen vermieden werden, um zu verhindern, dass die Schweiz entweder ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen verletzt oder aber geltendes Verfassungsrecht nicht anwenden kann. Eine Möglichkeit hierzu wäre die Kündigung der entsprechenden völkerrechtlichen Bindung. Dies ist jedoch nicht in jedem Fall möglich oder opportun.9 Die bestehenden rechtlichen Regeln für Konflikte zwischen gleichrangigem Recht
(lex posterior, lex specialis) oder für eine allfällige Rangordnung zwischen Verfassungsrecht und Völkerrecht10 bieten ebenfalls keine Hilfe, da ihr Resultat naturgemäss darin besteht, dass eine der beiden Normen nicht angewendet wird. Um zu vermeiden, dass entweder Verfassungsrecht nicht angewendet wird oder völkerrechtliche Verpflichtungen verletzt werden, müssen Wege gefunden werden, die schon die Entstehung eines Konflikts zwischen Verfassungs- und Völkerrecht verhindern.

7 8 9 10

Bericht, Ziff. 8.4.

Für weitere Hinweise s. Bericht, Ziff. 8.7.2.

Bericht, Ziff. 8.7.2 a.E. mit weiterführenden Hinweisen.

Bericht, Ziff. 8.6.

3620

2.2

Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip

2.2.1

Inhalt und Bezugspunkte

Die Bundesverfassung kennt gewisse Strukturprinzipien (auch: Strukturelemente, Grundprinzipien, Wesensmerkmale), welche die Eidgenossenschaft als Gemeinwesen identitätsstiftend kennzeichnen.11 Diese Strukturprinzipien sind nicht unbedingt Rechtsnormen. Sie werden aber durch ausdrückliche Normen in der Bundesverfassung zumindest teilweise sichtbar gemacht und widerspiegeln das Selbstverständnis der Schweiz als demokratisch, rechtsstaatlich und sozialstaatlich organisierter Bundesstaat. Der Bundesrat hat bereits bei früherer Gelegenheit festgehalten, das schweizerische Verfassungsrecht kenne keinen allgemeinen Vorrang des einen Prinzips vor dem anderen; der Ausgleich zwischen den Prinzipien, die im Verfassungsalltag in einem Spannungsverhältnis stehen können, obliege vorab dem Verfassungs- und Gesetzgeber.12 Typischerweise treten Spannungen auf zwischen dem Bundesstaats- und dem Demokratieprinzip oder zwischen dem Rechtsstaatsund dem Bundesstaatsprinzip.13 Das Demokratieprinzip bringt zum Ausdruck, dass sich die staatliche Macht auf den Willen des Volks zurückführen lässt. Schweizer Bürgerinnen und Bürger haben weit gehende Wahl- und Sachentscheidungsbefugnisse. Die Bedeutung des Demokratieprinzips zeigt sich auch in der starken Stellung der Bundesversammlung, die ­ unter Vorbehalt der Rechte von Volk und Ständen ­ die oberste Gewalt im Bund ausübt (Art. 148 Abs. 1 BV). Das Rechtsstaatsprinzip fordert, dass die gesamte staatliche Tätigkeit an das Recht gebunden ist und auf dem Recht beruht («Herrschaft des Rechts»). Im Rechtsstaat fliessen die Rechte und Pflichten im Verhältnis zwischen Staat und Bürgerinnen und Bürgern aus der Verfassung und den Gesetzen. Das Rechtsstaatsprinzip hat eine die Staatsgewalt begrenzende und damit auch eine die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger sichernde Funktion. Konkrete Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips sind namentlich das Legalitätsprinzip, die Grundsätze, wonach staatliches Handeln im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein muss, die Garantien der Grundrechte, die Gewährleistung von Rechtsschutz und die Gewaltenteilung.

Gewisse Abhängigkeiten und Verschränkungen bestehen auch zwischen dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip:14 Einerseits vermögen die rechtsstaatlichen Errungenschaften nur zu bestehen, solange ein demokratischer Konsens
über die Gültigkeit solcher Garantien besteht. Andererseits benötigt die Demokratie die rechtsstaatlichen Freiheits- und Verfahrensgarantien als Antrieb des politischen Prozesses und als Beurteilungsmassstab politischer Entscheide. Die Stichworte Meinungsfreiheit, Willkürverbot und Gleichheitsgebot illustrieren dies. Unbestritten ist zudem, dass demokratische Entscheidungsprozesse stets den rechtlich geordneten Verfahrensregeln entsprechen müssen.

11

12 13 14

Vgl. zu den Strukturprinzipien statt vieler Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Bern 2007, § 6; Ulrich Häfelin/Walter Haller/Helen Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl., Zürich 2008, Rz. 168 ff. Vgl. ferner die Botschaft vom 20.11.1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 14 ff.

BBl 1997 I 16 f.

Diese und weitere Spannungslagen beschreibt Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Bern 2007, § 6 Rz. 49 ff.

René Rhinow/Markus Schefer, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., Basel 2009, Rz. 203 ff.

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An der hier interessierenden Schnittstelle zwischen dem Initiativrecht und den völkerrechtlichen Verpflichtungen und insbesondere bei der Umschreibung der Ungültigkeitsgründe von Volksinitiativen treten das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip erneut hervor. Weit gefasste Ungültigkeitsgründe drängen die Befugnisse von Volk und Ständen und damit das Demokratieprinzip zurück. Umgekehrt geben eine sehr enge Umschreibung oder gar der Verzicht auf Ungültigkeitsgründe dem Rechtsstaatsprinzip nicht ausreichend Gewicht. Dazu kommt, dass das Verfahren der Verfassungsgebung und das Verfahren zum Abschluss von Staatsverträgen unterschiedlich ausgestaltet sind (vgl. Ziff. 2.2.2). Dieser Umstand muss bei der Suche nach einem optimalen Ausgleich mitberücksichtigt werden.

2.2.2

Demokratische Legitimation des Völkerrechts

Jede völkerrechtliche Norm, die für die Schweiz in Kraft steht, hat unabhängig vom innerstaatlichen Verfahren, in welchem sie angenommen wurde, gleichermassen Geltung und nimmt grundsätzlich den gleichen Rang ein. Im Unterschied zum dualistischen System, in welchem der Transformationsakt den Rang des Völkerrechts in Bezug auf die innerstaatliche Normenhierarchie bestimmt, hat in der Schweiz, welche der monistischen Tradition folgt, die Art des nationalen Genehmigungsverfahrens keinen Einfluss auf den Rang der entsprechenden völkerrechtlichen Norm.15 Im Grundsatz ist das gesamte für die Schweiz geltende Staatsvertragsrecht insoweit demokratisch legitimiert, als es in dem vom Verfassungsgeber vorgegebenen Verfahren für den Abschluss von Staatsverträgen abgeschlossen wurde. Soll gewissen völkerrechtlichen Normen nun aber innerstaatlich die Funktion einer Schranke des Initiativrechts, und damit der formellen Verfassungsrevision, beigemessen werden, so ist der innerstaatlichen Genehmigungsinstanz Rechnung zu tragen. Während Verfassungsrecht zwingend der Zustimmung von Volk und Ständen bedarf, ist die Genehmigung von völkerrechtlichen Verträgen differenziert ausgestaltet. Nach geltender Regelung bedarf lediglich der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften zwingend der Zustimmung von Volk und Ständen.

Mit zunehmender Bedeutung der zwischenstaatlichen und internationalen Verflechtungen und damit der internationalen Bindungen ist die direktdemokratische Beteiligung im Staatsvertragsabschlussverfahren schrittweise gestärkt worden: Eine erste Unterstellung von Staatsverträgen unter das Referendum erfolgte im Jahre 1921, im Jahre 1977 wurde das Staatsvertragsreferendum grundlegend revidiert, und mit dem im Jahre 2003 in Kraft getretenen Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV wurde die Beteiligung des Volkes beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge durch eine Erweiterung des fakultativen Staatsvertragsreferendums nochmals gestärkt. Seit diesem Zeitpunkt besteht ein weitgehender Parallelismus zwischen Gesetzesreferendum und Staatsvertragsreferendum. Im Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Völkerrecht besteht ein solcher Parallelismus im geltenden Recht nicht. Der vom Bundesrat in der Botschaft zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk» unterbreitete
direkte Gegenentwurf sieht nun allerdings auch für völkerrechtliche Verträge, die eine Änderung der Bundesverfassung erfordern oder einer solchen gleichkom15

Bericht, Ziff. 8.4.

3622

men, die Zustimmung von Volk und Ständen vor. Damit wird der Gedanke des Parallelismus auch auf die materielle Verfassungsstufe ausgedehnt.16 Einzelne völkerrechtliche Verträge etablieren ein gerichtliches Kontrollorgan, zusammengesetzt in der Regel aus von den Mitgliedsstaaten vorgeschlagenen, aber unabhängig agierenden Richterinnen und Richtern, welches die Einhaltung der eingegangenen Vertragspflichten überprüft.17 Wie jedes Gericht muss auch ein internationales Gericht bei der Beurteilung, ob eine Vertragsverletzung vorliegt, unbestimmte Rechtsbegriffe konkretisieren. Werden Grundsatzentscheide getroffen, so können diese die Vertragsstaaten, zumindest indirekt, auch über den Einzelfall hinaus binden. Solche dynamischen Rechtsentwicklungen lassen sich im Zeitpunkt der Genehmigung des Staatsvertrags anhand des Vertragstextes nicht immer präzis voraussehen.18 Die Funktionsweise beispielsweise des Bundesgerichts ist vergleichbar: Es konkretisiert unbestimmte Rechtsbegriffe in landesrechtlichen Erlassen und schliesst bisweilen im Einzelfall auf einen Normsinn, der sich nicht ohne Weiteres direkt aus dem Wortlaut ergibt. In einem solchen Fall kann der Gesetzgeber die Rechtsprechung (stillschweigend) billigen oder eine Gesetzesänderung auslösen.

Diese Reaktion bleibt dem Gesetzgeber gegen ein Urteil eines internationalen Gerichts versagt. Hingegen kann der betreffende Staatsvertrag geändert werden, wenn alle Vertragsparteien zustimmen.

2.3

Eckpunkte des Völkerrechts

Völkerrechtliche Verpflichtungen eines Staates können sich aus verschiedenen Rechtsquellen ergeben. Die von ihrem Umfang her wichtigste Quelle sind die völkerrechtlichen Verträge. Wichtige grundlegende völkerrechtliche Verpflichtungen ergeben sich aber auch aus dem Völkergewohnheitsrecht oder aus allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen.19 Dabei kennt das Völkerrecht keine Normenhierarchie, wie sie im innerstaatlichen Recht gegeben ist.20 Einzig das zwingende Völkerrecht, das Ius cogens, geht allen anderen völkerrechtlichen Normen vor.

Völkerrechtliche Verpflichtungen sind verbindlich, solange sie für den betreffenden Staat in Kraft stehen. Insbesondere ist es nicht möglich, sich auf innerstaatliches Recht ­ habe dieses nun Verordnungs-, Gesetzes- oder Verfassungsrang ­ zu berufen, um die Nichterfüllung einer völkerrechtlichen Verpflichtung zu rechtfertigen.

Das Völkerrecht (in Art. 27 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge, WVK21) verneint ausdrücklich die Möglichkeit, dass widersprechendes nationales Recht vorgehen und die Nichterfüllung eines völkerrechtlichen Vertrages rechtfertigen könnte. Es kann somit keine automatische Aufhebung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch den Erlass widersprechenden nationalen Rechts geben, unabhängig von dessen Rang. Diesbezüglich gilt der Grundsatz pacta

16

17 18 19 20 21

Vgl. dazu die Ausführungen in der Botschaft vom 1.10.2010 zur Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)», BBl 2010 6963, Ziff. 5.

Vgl. als Beispiel Art. 19 EMRK, wonach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Einhaltung der Konventionspflichten überprüft.

Vgl. schon Bericht, Ziff. 8.6 S. 2307 f. und Ziff. 8.6.2 S. 2312.

Ausführlich dazu Bericht, Ziff. 4.

Bericht, Ziff. 4.7.

SR 0.111

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sunt servanda22, wonach sich der oder die Vertragspartner darauf verlassen können, dass ein Staat seine völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht einseitig unter Berufung auf sein innerstaatliches Recht relativiert.

Die Bindungswirkung völkerrechtlicher Verpflichtungen wird unter anderem dann beendet, wenn diese gekündigt werden. Nicht alle völkerrechtlichen Normen aber sind einseitig kündbar. Völkerrechtliche Verträge sind dann einseitig kündbar, wenn dies von den Vertragsparteien so vorgesehen ist. Dies ergibt sich entweder aus dem Text des betreffenden Vertrages oder aus dessen Auslegung. Eine Teilkündigung eines Vertrags ist grundsätzlich nicht möglich, sofern sich die Parteien nicht anders einigen (Art. 44 WVK). Das heisst, dass ein Vertrag grundsätzlich nur in seiner Gesamtheit gekündigt werden kann. Auch wenn ein Vertrag unkündbar ist, bleibt eine einvernehmliche Auflösung möglich. Diese setzt indessen die Zustimmung sämtlicher Vertragsparteien voraus.

Die Schweiz hat zahlreiche unkündbare völkerrechtliche Verträge abgeschlossen.

Die zahlenmässig grösste Gruppe bilden die Grenzverträge mit den Nachbarstaaten.23 Deren Unkündbarkeit ist Ausdruck der Tatsache, dass die gemeinsame Grenze nur gemeinschaftlich festgelegt werden kann. Bedeutend sind daneben die beiden UNO-Pakte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNO-Pakt I) und über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II), welche ebenfalls unkündbar sind.24 Sie enthalten keine Kündigungsklausel. Die Unmöglichkeit der Vertragskündigung ergibt sich aus dem grundsätzlichen und universellen Charakter der Rechte, welche die Pakte schützen, aus der Tatsache, dass sie direkt aus der Charta der Vereinten Nationen ableitbare Pflichten konkretisieren, sowie aus der wachsenden Bedeutung, welche die internationale Gemeinschaft dem Schutz der Menschenrechte beimisst.25 Das Instrument der Kündigung kann auch beim Völkergewohnheitsrecht sowie den allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen keine Anwendung finden. Es handelt sich dabei einerseits um Normen, welche von der internationalen Staatengemeinschaft als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung für verbindlich angesehen werden26, und andererseits um Normen, die in den grossen Rechtssystemen der Welt bekannt sind und dadurch universelle Geltung haben.27 Eine nachträgliche
Befreiung von der Verbindlichkeit bestehenden Gewohnheitsrechts ist nur durch die Bildung einer neuen völkerrechtlichen Norm gewohnheitsrechtlicher oder staatsvertraglicher Natur möglich. Ein einzelner Staat jedenfalls kann durch ein abweichendes Verhalten, auch wenn es längere Zeit andauert, nicht einseitig Völkergewohnheitsrecht ändern.

22 23 24

25 26

27

Bericht, Ziff. 4.2.

In der Systematischen Rechtssammlung zu finden unter der Rubrik SR 0.132.

SR 0.103.1 und 0.103.2. Beide wurden von der Bundesversammlung am 13. Dezember 1991 genehmigt und unterstanden dem bereits in der alten Bundesverfassung verankerten Staatsvertragsreferendum für unbefristete und unkündbare Verträge. Für den UNO-Pakt I AS 1993 724 und den UNO-Pakt II AS 1993 747.

Botschaft des Bundesrates, BBl 1991 I 1208, mit weiteren Hinweisen.

Z.B. das Prinzip der territorialen Integrität von Staaten, die Grundsätze betreffend die Immunität von Staats- und Regierungschefs von der Gerichtsbarkeit oder die grundlegenden Regeln des Vertragsrechts, s. dazu Bericht, Ziff. 4.3.

Z.B. das Gebot von Treu und Glauben, das Verbot des Rechtsmissbrauchs oder das Gebot der Verhältnismässigkeit, s. dazu Bericht, Ziff. 4.4.

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Trifft neu geschaffenes Verfassungsrecht auf unkündbares Völkerrecht, welches nicht mit diesem vereinbar ist, so stellt die Änderung der entsprechenden völkerrechtlichen Verpflichtungen die einzige Lösungsmöglichkeit dar, um einen Konflikt zu vermeiden. Solche Änderungen setzen allerdings das Einverständnis sämtlicher Vertragsparteien oder eine anhaltende, von der Staatengemeinschaft getragene und geübte abweichende Praxis voraus (Art. 39 ff. WVK). Eine Vertragspartei kann somit nicht einseitig eine Änderung eines Staatsvertrags oder von Völkergewohnheitsrecht herbeiführen. Aus diesem Grund stellt eine Änderung oftmals keine realistische Massnahme dar, um einen Widerspruch mit schweizerischem Verfassungsrecht auszuräumen. Jedenfalls würden die Verhandlungen und das Verfahren zur Änderung (welches eine Ratifikation der Änderungen durch alle Vertragsparteien beinhalten müsste) oder die Bildung einer neuen Praxis so viel Zeit in Anspruch nehmen, dass die Verfassungsnorm schon während geraumer Zeit in Kraft stehen und dem noch unveränderten, widersprechenden Völkerrecht gegenüber stehen würde. Während dieser Zeitspanne wäre die Schweiz völkerrechtsbrüchig und würde völkerrechtlich verantwortlich.

Aufgrund dieser Charakteristika des Völkerrechts ist es bei der Entstehung von Verfassungsrecht, welches völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz widerspricht, nicht immer möglich, den Konflikt durch eine Aufhebung oder Änderung der entsprechenden völkerrechtlichen Normen zu vermeiden. Es sind daher auch Lösungsansätze zu prüfen, welche geeignet sind, das Entstehen von Konflikten im Verfahren der Schaffung neuen Verfassungsrechts zu vermeiden (vgl. schon Ziff. 2.1).

2.4

Eckpunkte des Verfassungs- und des Initiativrechts

2.4.1

Inhalt und Tragweite der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts

Das geltende Verfassungsrecht führt die materiellen Schranken für Verfassungsvorlagen in den Artikeln 139 Absatz 2, 193 Absatz 4 und 194 Absatz 2 BV auf. Der in diesen Verfassungsnormen verwendete (landesrechtliche) Begriff der «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» knüpft vorab an das zwingende Völkerrecht (Ius cogens) an, wie es Artikel 53 Satz 2 WVK allgemein umschreibt.28 Ius cogens bezeichnet die Fundamentalnormen des Völkerrechts, von denen keine Abweichung zulässig ist. Aufgrund der inhaltlichen Bedeutung dieser Normen nimmt das Ius cogens innerhalb des Völkerrechts eine hierarchisch vorrangige Stellung ein; widersprechende völkerrechtliche Abreden sind nichtig (vgl. Art. 53 erster Satz WVK).29 Eine autoritative Auflistung des zwingenden Völkerrechts existiert nicht. Immerhin ergeben sich Anhaltspunkte auf Normen mit Ius-cogens-Charakter aus der Staaten-

28

29

Art. 53 Satz 2 WVK lautet wie folgt: «Im Sinne dieses Übereinkommens ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.».

Vgl. Bericht, Ziff. 4.7 und 8.7.1.1. Vgl. auch Alfred Verdross, Jus dispositivum and jus cogens in international law, AJIL 60 (1966), S. 55 ff.; ders., Die Quellen des universellen Völkerrechts, Freiburg i.Br. 1973, S. 21, 27.

3625

praxis und aus Staatsverträgen des humanitären Völkerrechts. Zum zwingenden Völkerrecht zählen namentlich:30 ­

die Gleichheit der Staaten, das Gewaltverbot (Verbot der militärischen Gewaltanwendung) der UNO-Charta, die Verbote von Folter, Völkermord und Sklaverei sowie das Verbot der Ausschaffung eines Flüchtlings in einen Staat, wo sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatszugehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Anschauungen gefährdet wäre («Non-refoulement-Gebot»);

­

die Grundzüge des humanitären Völkerrechts («Recht im Krieg»), welche bestimmten Personengruppen besonderen Schutz zukommen lassen; gemäss jeweiligem Artikel 3 der vier Genfer Abkommen von 194931 sind «jederzeit und jedenorts» verboten: Angriffe auf Leib und Leben, namentlich Mord jeglicher Art, Verstümmelung, grausame Behandlung und Folterung; Gefangennahme von Geiseln; Beeinträchtigung der persönlichen Würde, namentlich erniedrigende und entwürdigende Behandlung; Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines ordnungsmässig bestellten Gerichtes, das die von den zivilisierten Völkern als unerlässlich anerkannten Rechtsgarantien bietet.

Der Bundesrat hat ferner wiederholt bestätigt,32 dass unter den Begriff der «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» auch die notstandsfesten Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)33 fallen, wie sie in deren Artikel 15 aufgelistet sind: Verbot willkürlicher Tötung (Art. 2 EMRK), Verbot der Folter (Art. 3 EMRK), Verbot der Sklaverei und der Leibeigenschaft (Art. 4 Abs. 1 EMRK), Grundsatz «Keine Strafe ohne Gesetz» (Art. 7 EMRK) und ausserdem das Verbot der Doppelstrafe oder der Grundsatz «ne bis in idem» (Art. 4 ZP Nr. 7)34. Im

30

31

32 33 34

Vgl. ausführlich Bericht, Ziff. 8.7.1.1; ferner Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20.11.1996, BBl 1997 I 362, 433 f.; Botschaft betreffend Beitritt der Schweiz zum WVK, BBl 1989 II 783. Vereinzelt finden sich in Urteilen des Bundesgerichts Überlegungen zu einem weiteren Umfang des zwingenden Völkerrechts, etwa indem es den Grundsatz von Treu und Glauben (BGE 117 Ib 337 E. 2a) oder Verfahrensgarantien der EMRK und des UNO-Pakts II als internationalen «ordre public» einstufte (BGE 126 II 324 E. 4a; zurückhaltender nunmehr BGE 133 II 450 E. 7). Vgl. dazu ferner Robert Baumann, Völkerrechtliche Schranken der Verfassungsrevision, ZBl 2007, S. 188.

SR 0.518.12 (Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde); SR 0.518.23 (Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See); SR 0.518.42 (Behandlung der Kriegsgefangenen); SR 0.518.51 (Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten).

Vgl. zuletzt und mit weiteren Hinweisen Bericht, Ziff. 8.7.1.1.

Konvention vom 4. Nov. 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, SR 0.101.

Protokoll Nr. 7 vom 22.11.1984 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (SR 0.101.07; für die Schweiz in Kraft getreten am 1.11.1988). Art. 4 Abs. 3 ZP Nr. 7 bestimmt: «Von diesem Artikel darf nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichten werden.».

3626

Weiteren kann heute auf europäischer Ebene auch das Verbot der Todesstrafe35 dazugezählt werden.36 Die Praxis der Bundesbehörden hat punktuell auch notstandsfesten Garantien des UNO-Pakts II den Gehalt von «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» zuerkannt.37 Gemäss Artikel 4 Absatz 2 UNO-Pakt II dürfen aufgrund eines öffentlichen Notstands «die Artikel 6, 7, 8 (Abs. 1 und 2), 11, 15, 16 und 18 nicht ausser Kraft gesetzt werden.» Diese Auflistung ist insoweit zu relativieren, als stets durch Auslegung zu prüfen ist, inwieweit die betreffende Grundrechtsgarantie des UNOPakts II auch in Notstandssituationen eingriffsresistent ist.38 So kann beispielsweise nach Artikel 18 Absatz 3 des UNO-Pakts II die Bekundung eines Glaubensbekenntnisses, die sogenannte externe Religionsfreiheit (sog. Forum externum), eingeschränkt werden. In Berücksichtigung dieser Besonderheit können die folgenden Garantien des UNO-Pakts II als notstandsfest bezeichnet werden:

35

36

37 38

­

Recht auf Leben (Art. 6 UNO-Pakt II): Nach dieser Bestimmung (Abs. 1) darf niemand «willkürlich seines Lebens beraubt werden.» Ferner ist die Todesstrafe unzulässig, ausser im Rahmen der Absätze 2 und 4­6.

­

Folterverbot, Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels sowie Verbot der Leibeigenschaft (Art. 7 und 8 Abs. 1 und 2 UNO-Pakt II).

­

Verbot des Schuldverhafts (Art. 11 UNO-Pakt II): Niemand darf nur deswegen in Haft genommen werden, weil er nicht in der Lage ist, eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen.

­

Grundsatz «Keine Strafe ohne Gesetz» (Art. 15 UNO-Pakt II).

­

Universelle Rechtsfähigkeit (Art. 16 UNO-Pakt II).

­

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 18 UNO-Pakt II). Notstandsfest ist der innerste Bereich der religiösen und ethischen Selbstverantwortung, das sogenannte Forum internum (Abs. 2): Niemand darf einem Zwang ausgesetzt werden, der seine Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen, beeinträchtigen würde.

Vgl. Art. 3 (und die in Art. 2 aufgeführte Ausnahme für Kriegszeiten) des Protokolls Nr. 6 vom 28.4.1983 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe (SR 0.101.6; für die Schweiz in Kraft getreten am 1.11.1987) und Art. 2 des Protokolls Nr. 13 vom 13.5.2002 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe (SR 0.101.093; für die Schweiz in Kraft getreten am 1.7.2003).

Vgl. Walter Kälin/Jörg Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Basel 2005, S. 280 f.

Der EGMR hat im Urteil Öcalan c. Turquie vom 12.5.2005 in Ziff. 163 ausgeführt, «on peut dire que la peine de mort en temps de paix en est venue à être considérée comme une forme de sanction inacceptable, (...) qui n'est plus autorisée [...]».

Vgl. mit weiteren Hinweisen Bericht, Ziff. 8.7.1.1.

Vgl. auch Jörg Paul Müller/Markus Schefer, Grundrechte in der Schweiz. Im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der UNO-Pakte, 4. Aufl., Bern 2008, S. 45.

3627

2.4.2

Notwendigkeit einer Verfassungsrevision

Der Bundesrat hat die in der Lehre vereinzelt vertretene Meinung39 abgelehnt, die Probleme bei der Schaffung von völkerrechtswidrigem Verfassungsrecht durch Volksinitiativen liessen sich durch eine weite Auslegung des Verfassungsbegriffs der «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» lösen. Die damit verbundene Einschränkung der Volksrechte darf nach Auffassung des Bundesrats nicht durch eine blosse Praxisänderung erfolgen, zu der sich Bürgerinnen und Bürger nicht äussern können.40 Damit steht die Notwendigkeit einer Verfassungsrevision fest, wenn der Wille besteht, die Ungültigkeitsgründe ­ über den Kreis der Normen des Ius cogens und der notstandsfesten Garantien des Völkerrechts hinaus ­ zu erweitern. Dieses Vorhaben bedingt eine Ergänzung der Artikel 139 Absatz 3, 193 Absatz 4 und 194 Absatz 2 BV und bedarf der Zustimmung von Volk und Ständen.

2.4.3

Änderbarkeit der Ungültigkeitsgründe

Die Feststellung, wonach eine Ausdehnung der Völkerrechtswidrigkeit als Ungültigkeitsgrund für Volksinitiativen eine Ergänzung des Verfassungstextes bedingt, führt zur Frage, ob die betreffende Verfassungsnorm mit erhöhtem Schutz belegt werden kann. Dies insofern, als künftige Änderungen des «Ungültigkeitstatbestands» nur unter qualifizierten Voraussetzungen möglich oder überhaupt ausgeschlossen wären. Sogenannte Ewigkeits- oder Versteinerungsklauseln nach dem Muster von Artikel 79 Absatz 3 des deutschen Grundgesetzes von 194941 sind dem Verfassungsrecht der Schweiz fremd. Lehrmeinungen, wonach bestimmte «unverzichtbare Grundwerte» unantastbar seien, haben sich nicht durchgesetzt.42 Das mag an der Verfassungsentwicklung der Schweiz liegen, wo Werte wie Demokratie, Föderalismus, Gewaltenteilung und Rechtsstaat eine lange Tradition aufweisen und im kollektiven Gedächtnis tief verankert sind.43 Freilich lässt sich auch das Demokratieprinzip anführen (vgl. Ziff. 2.2.1), das mit einer verfassungsrechtlichen Ewigkeitsklausel nur schwer vereinbar wäre.

Der geltende Verfassungstext macht zunächst deutlich, dass die Bundesverfassung jederzeit ganz oder teilweise geändert werden kann (Art. 192 Abs. 1 BV). Absolute autonome materielle Schranken und Wartefristen sind damit ausgeschlossen. Ferner sind in den Artikeln 192­195 BV Vorschriften verankert, welche das Revisionsverfahren in den Grundzügen regeln. Ausdrückliche Vorgaben für Teilrevisionen der Bundesverfassung nennen die Artikel 139 Absatz 3 und 194 Absätze 2 und 3: Wahrung der Einheit der Form und der Materie sowie Beachtung der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts. Die Bedeutung des Letzteren unterstreicht Arti-

39 40 41

42 43

Vgl. die Nachweise in Ziff. 9.6.1.1 (S. 2330) des Berichts.

Bericht, Ziff. 9.6.1.1. Vgl. auch Helen Keller/Markus Lanter/Andreas Fischer, Volksinitiativen und Völkerrecht: die Zeit ist reif für eine Verfassungsänderung, ZBl 2008, S. 138.

Diese Norm verbietet Verfassungsänderungen, die den bundesstaatlichen Aufbau, das Bekenntnis zur Menschenwürde und zu den Grundrechten sowie die Grundsätze des demokratischen und sozialen Bundesstaats berühren. Ähnlich: Art. 288 der portugiesischen Verfassung von 1976.

Vgl. die Hinweise bei Ulrich Häfelin/Walter Haller/Helen Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl., Zürich 2008, Rz. 28.

Vgl. auch Peter Häberle, Die Verfassung «im Kontext», in: Daniel Thürer/Jean-François Aubert/Jörg Paul Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001, § 2 Rz. 35.

3628

kel 193 Absatz 4 BV, wonach auch bei einer Totalrevision der Bundesverfassung die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts eine inhaltliche Schranke darstellen.

Der hohen Geltungskraft des zwingenden Völkerrechts (Ius cogens) kann sich kein Rechtsstaat entziehen. Im zwingenden Völkerrecht ist daher eine der nationalen Verfassung übergeordnete (heteronome) materielle Schranke zu erblicken, die unabhängig davon Geltung beansprucht, ob der Verfassungstext einen entsprechenden Vorbehalt enthält.44 Zwar beinhalten die Normen des Ius cogens kein Verbot, über Verfassungsänderungen abzustimmen, die zwingendem Völkerrecht widersprechen. Es ist daher eine verfassungsrechtliche Frage, ob Volksinitiativen, die zwingendem Völkerrecht widersprechen, für gültig oder ungültig zu erklären sind. Indessen können Verfassungsänderungen, die Ius cogens verletzen, keine Wirkungen entfalten. Demzufolge macht es keinen Sinn, darüber abzustimmen.

Jüngst wurde mit der parlamentarischen Initiative 09.466 (Fraktion der Schweizerischen Volkspartei) der Versuch unternommen, durch eine Ergänzung von Artikel 139 Absatz 2 BV die folgende (abschliessende) Definition in den Verfassungstext aufzunehmen: «Zwingende Bestimmungen des Völkerrechts sind: das Verbot des Angriffskrieges, das Verbot der Folter, das Verbot des Völkermordes und das Verbot der Sklaverei.» Der Nationalrat hat die vorgeschlagene Einengung des Ungültigkeitstatbestands nicht unterstützt und der Initiative am 28. September 2010 keine Folge gegeben.45 Zusammengefasst lässt sich somit festhalten: Soweit der Verfassungsgeber über das völkerrechtliche Ius cogens hinaus materielle Ungültigkeitsgründe für Volksinitiativen einführen und sich damit im entsprechenden Umfang selber binden will, kann er für die betreffenden verfassungsrechtlichen Ungültigkeitstatbestände keine höhere Schwelle der Revidierbarkeit einführen. Er ist jederzeit frei, von einer erweiterten Selbstbindung wieder (teilweise oder vollständig) abzurücken, denn letztlich verfügt nur der Verfassungsgeber als oberstes Organ im Staat über hinreichende Legitimität zum Entscheid, inwieweit allfällige Verstösse gegen das Völkerrecht in Kauf genommen werden sollen. Den Anlass dazu können ­ wie bei jeder Teilrevision der Bundesverfassung ­ das Stimmvolk oder die Behörden geben. Für jede Erweiterung oder Rückstufung der Selbstbindung sind ein Volks- und ein Ständemehr erforderlich.

2.4.4

Geltung für Volks- und Behördenvorlagen

Der Vorbehalt der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts ist in der Bundesverfassung an zwei Orten erwähnt. Zum einen im 4. Titel bei der Umschreibung des Initiativrechts (Art. 139 Abs. 3 BV) und zum anderen im 6. Titel, der namentlich die Revisionsvorschriften aufführt (Art. 193 Abs. 4 und 194 Abs. 2 BV). Die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts als materielle Schranke gelten folglich sowohl für Verfassungsvorlagen, die von den Behörden vorbereitet werden, als auch für solche, die auf dem Weg der Volksinitiative entstehen. Es erscheint selbstverständ44

45

Vgl. Bericht, Ziff. 8.7.1.1 und Botschaft vom 20.11.1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 362, 430. Vgl. ferner Robert Baumann, Völkerrechtliche Schranken der Verfassungsrevision, ZBl 2007, S. 206; Yvo Hangartner/Andreas Kley, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2000, Rz. 553.

AB 2010 N 1544 ff.

3629

lich, dass der Befund über die Vereinbarkeit einer Verfassungsvorlage mit den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts nicht davon abhängen kann, wer die Revision ausgelöst hat (vgl. auch Art. 5 Abs. 1 BV). Bei der Diskussion über eine Ausdehnung der Völkerrechtswidrigkeit als Ungültigkeitsgrund für Volksinitiativen muss also stets mitbedacht werden, dass Behördenvorlagen dem gleichen Beurteilungsmassstab unterworfen sind wie die Volksvorlagen.46 Die Bindung an den (gegebenenfalls erweiterten) Ungültigkeitstatbestand gilt folglich auch bei einer behördlich eingeleiteten Totalrevision und bei Teilrevisionen, seien sie durch die Bundesversammlung oder den Bundesrat initiiert, ebenso wie bei der Ausarbeitung von Gegenentwürfen zu Volksinitiativen (Art. 139 Abs. 5 dritter Satz BV). An der beschriebenen Bindung ändert nichts, dass die Bundesverfassung bei Behördenvorlagen ­ anders als bei Volksinitiativen ­ eine gesonderte ganze oder teilweise Ungültigerklärung als Rechtsfolge nicht vorsieht.47 Die Bundesversammlung, wenn sie eine Verfassungsvorlage «in eigener Sache» beurteilt, hat den Ungültigkeitstatbestand mit genau gleicher Strenge anzuwenden, wie wenn ihr eine Volksvorlage zur Gültigkeitsprüfung unterbreitet wird.

2.4.5

Das Schweizer Initiativrecht

2.4.5.1

Verfassungsvorgaben zum Behandlungsweg der Volksinitiativen

In Artikel 192 Absatz 1 BV ist ausdrücklich verankert, dass die Verfassung jederzeit geändert werden kann. Es gibt daher keine Sperr- oder Schonfristen für Verfassungsnormen, weshalb eine Volksinitiative auf Teil- oder Totalrevision zu jeder Zeit ergriffen werden kann (vgl. schon Ziff. 2.4.3). Das geltende Verfassungsrecht weist die Aufgabe, über die Gültigkeit von zustande gekommenen Volksinitiativen zu entscheiden (Art. 139 Abs. 3 und 173 Abs. 1 Bst. f BV), der Bundesversammlung zu. Die Verfassung bestimmt somit die Bundesversammlung als zuständiges Organ und zudem den Zeitpunkt des Entscheides. Der Entscheid wird gefällt, wenn die Initiative zustande gekommen ist, das heisst erst nach Abschluss der Unterschriftensammlung und nach Einreichung der Initiative. Im Weiteren wird in Artikel 139 Absatz 5 BV festgehalten, dass die Bundesversammlung die zustande gekommene Initiative den Stimmberechtigten zur Annahme oder Ablehnung empfiehlt und der Initiative einen Gegenentwurf gegenüberstellen kann. Der Bundesrat hat dazu ein Antragsrecht (Art. 160 Abs. 2 BV).

2.4.5.2

Quantitative Bedeutung

Einige Hinweise zur quantitativen Bedeutung der Volksinitiative sollen dazu dienen, die Tauglichkeit von Vorschlägen zur Anpassung des Verfahrens für die Behandlung von Volksinitiativen besser beurteilen zu können.

Seit der Einführung der obligatorischen Vorprüfung von Volksinitiativen durch die Bundeskanzlei im Jahre 1978 (Art. 69 des Bundesgesetzes vom 17. Dez. 1966 über

46 47

Vgl. auch Luzian Odermatt, Ungültigerklärung von Volksinitiativen, AJP 1996, S. 715.

Vgl. Art. 139 Abs. 3 BV und demgegenüber die Art. 193 Abs. 4 und 194 Abs. 2 BV.

3630

die politischen Rechte, BPR48) wurden Unterschriftensammlungen zu 241 Volksinitiativen gestartet, von denen 149 zustande und 76 nicht zustande kamen; die verbleibenden 16 Volksinitiativen befinden sich derzeit noch in der Phase der Unterschriftensammlung. Jährlich werden also im Durchschnitt der letzten Jahrzehnte sechs Volksinitiativen gestartet, und rund jede dritte gestartete Volksinitiative scheitert an der erforderlichen Unterschriftenzahl oder wird nicht eingereicht. Dabei sind jedoch erhebliche Schwankungen zu verzeichnen, und zwar sowohl im Legislaturzyklus (stark gesteigerte Lancierungsquote jeweils in der zweiten Legislaturhälfte und besonders häufiges Scheitern der erst im Sommer des Wahljahres lancierten Volksinitiativen) als auch über längere Zeitabschnitte hinweg.

Öffentlich nirgends ersichtlich sind die Initiativprojekte, die der Bundeskanzlei zur Übersetzung und Vorprüfung eingereicht, dann aber niemals lanciert werden: Sie übersteigen die Anzahl der lancierten Volksinitiativen. Zudem werden jene Volksinitiativen, die lanciert werden, während der Vorprüfung durch die Urheberschaft in mindestens der Hälfte der Fälle redaktionell und inhaltlich noch ein- oder mehrmals verändert.

In den letzten Jahrzehnten hatte die Bundeskanzlei im Jahresdurchschnitt daher ungefähr 15 Volksinitiativen vorzuprüfen. Für die Suche nach einer praktikablen Lösung ist von einem durchschnittlichen Arbeitsanfall von mindestens einer Volksinitiative pro Monat auszugehen, mit Belastungsspitzen zumeist im unmittelbaren Vorfeld der Nationalratswahlen von bis zu sieben gleichzeitig unterbreiteten Volksinitiativen. Die Ablehnungsquote von Volksinitiativen in der Abstimmung war in der Vergangenheit hoch: Von den 175 Initiativen, über die Volk und Stände abgestimmt haben, wurden nur 18 angenommen.49

2.5

Fazit

Gemäss geltendem Verfassungsrecht bilden die «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» (zwingendes Völkerrecht im Sinne des Ius cogens sowie die notstandsfesten Garantien des Völkerrechts) eine materielle Schranke für Verfassungsrevisionen. Durch die in Artikel 139 Absatz 3 BV vorgesehene Rechtsfolge der Ungültigerklärung werden Konflikte zwischen Verfassungsrecht und den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts wirksam vermieden. Hingegen besteht keine Gültigkeitsschranke, welche die Schaffung von Verfassungsrecht verhindern würde, das den «übrigen» Bestimmungen des Völkerrechts widerspricht. Das Schweizer Recht kennt auch keine Vorrangregel, welche klar vorgibt, wie ein solcher Widerspruch aufzulösen wäre.

Verfassungs- und völkerrechtliche Eckpunkte stecken das (enge) Feld ab, auf welchem die Suche nach Lösungen zur Vermeidung von Widersprüchen zwischen dem Initiativrecht und den völkerrechtlichen Verpflichtungen erfolgt. Die erste, unter der nachfolgenden Ziffer 3 zu untersuchende Massnahme stärkt das Vorprüfungsverfahren: Initiantinnen und Initianten erhalten in einer frühen Phase, schon vor der Unterschriftensammlung, eine behördliche Stellungnahme betreffend die Völker48 49

SR 161.1 Stand: 23. Februar 2011. Vgl. auf der Homepage der Bundeskanzlei: http://www.bk.admin.ch (Rubriken Themen/Politische Rechte/Volksinitiativen/ Übersicht in Zahlen).

3631

rechtskonformität ihrer Verfassungsinitiative. Dies ermöglicht dem Komitee, gegebenenfalls den Initiativtext anzupassen, um Konkordanz mit dem Völkerrecht herzustellen.

3

Materielle Vorprüfung vor der Unterschriftensammlung

3.1

Prüfungsgegenstand und -massstab

Das heutige Vorprüfungsverfahren durch die Bundeskanzlei vor Beginn der Unterschriftensammlung beschränkt sich auf formelle Punkte: Prüfung der Anforderungen an die Unterschriftenliste gemäss Artikel 68 BPR, Prüfung des Titels der Volksinitiative sowie Übersetzung des Initiativtextes. Die Vorprüfung der Völkerrechtskonformität kann an diesem Verfahren anknüpfen und gleichzeitig vorgenommen werden. Die Vereinbarkeit der Volksinitiative mit dem Völkerrecht wird nicht erst nach dem Zustandekommen der Volksinitiative einer Prüfung unterzogen, sondern bereits vor Beginn der Unterschriftensammlung. Eine Vorprüfung vor Beginn der Unterschriftensammlung soll sich jedoch nicht nur auf die Prüfung der Gültigkeit der Volksinitiative beschränken, sondern auch übriges Völkerrecht umfassen. Wie im Bericht dargelegt wurde, sind in jüngerer Vergangenheit vermehrt Initiativen eingereicht worden, die zwar nicht gegen zwingende Bestimmungen des Völkerrechts, aber gegen übriges Völkerrecht verstossen, das teilweise nicht kündbar ist oder bei dem eine Kündigung aus politischen Gründen nur schwer denkbar ist. Ziel einer Vorprüfung soll nicht ausschliesslich sein, die Initiantinnen und Initianten davor zu bewahren, Unterschriften für eine Initiative zu sammeln, die anschliessend für ungültig erklärt werden muss. Ziel einer solchen Vorprüfung soll in genereller Weise die Vermeidung von völkerrechtswidrigen Volksinitiativen sein, namentlich auch solcher Volksinitiativen, die Völkerrecht widersprechen, bei dem eine Kündigung nicht möglich oder aus politischen Gründen nur schwer denkbar ist. Die Vorprüfung ist als Dienstleistung gegenüber den Initiantinnen und Initianten konzipiert: Sie können allfällige Probleme bezüglich Völkerrechtskonformität frühzeitig erkennen, womit die Anpassung des Initiativtextes vor Beginn der Unterschriftensammlung begünstigt und gefördert wird. Die Vorprüfung bezweckt, dass Initiantinnen und Initianten sowie Stimmberechtigte im Bewusstsein der Völkerrechtswidrigkeit seltener eine völkerrechtswidrige Initiative einreichen und annehmen. Aus diesem Grund soll die Vorprüfung nicht nur die Übereinstimmung der Volksinitiative mit den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts umfassen, sondern auch die Übereinstimmung der Initiative mit dem übrigen einschlägigen Völkerrecht. Sofern die materiellen
Ungültigkeitsgründe für Volksinitiativen auf die grundrechtlichen Kerngehalte ausgedehnt werden (s. dazu Ziff. 4), würde es sich aufdrängen, den Prüfungsmassstab entsprechend zu erweitern.

Hinsichtlich des Prüfungsgegenstands stellt sich schliesslich die Frage, inwiefern auch die weiteren in Artikel 139 Absatz 3 BV aufgeführten Gültigkeitsvoraussetzungen ­ Einheit der Materie und Einheit der Form von Volksinitiativen ­ einer Vorprüfung unterzogen werden sollten. Zur Beurteilung dieser Fragen sind Kenntnisse des die Initiative betreffenden Fachbereichs erforderlich, weshalb dafür dasjenige Fachamt beigezogen werden müsste, welches nach Einreichung der Initiative mit der Ausarbeitung der Botschaft betraut ist. Das hätte jedoch zur Folge, dass das Prüfungsverfahren komplizierter ausgestaltet und dass dadurch auch mit einem 3632

deutlich erhöhten Zeitbedarf gerechnet werden müsste. In der Praxis boten diese beiden Anforderungen allerdings bis heute kaum Probleme, sodass es zurzeit überflüssig erscheint, dafür Lösungen zu suchen.

3.2

Keine Bindungswirkung

Ein zentraler Punkt bei der Einführung eines Verfahrens der Vorprüfung der Völkerrechtskonformität vor Beginn der Unterschriftensammlung ist die Frage, ob diese Vorprüfung Bindungswirkung entfalten soll oder nicht.

Der Bundesrat ist der Auffassung, dass eine Vorprüfung von Volksinitiativen auf Völkerrechtskonformität vor der Unterschriftensammlung keine Bindungswirkung entfalten sollte: Die Initiantinnen und Initianten sind nicht verpflichtet, ihr Initiativvorhaben aufzugeben oder den Initiativtext anzupassen; Bundesrat und Parlament sind bei ihrer späteren Beurteilung der Gültigkeit der Initiative nach Artikel 139 Absatz 3 BV nicht an die Stellungnahme der Vorprüfung gebunden.

Würde der Vorprüfung bindende Wirkung zuerkannt, ergäbe sich das Problem, worauf sich die Bindungswirkung beziehen soll. Angenommen es würde festgestellt, dass die Initiative gegen zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verstösst: Würden die Initiantinnen und Initianten dann verpflichtet, den Initiativtext anzupassen? Falls sie eine solche Überarbeitung ablehnen, wäre dann eine Unterschriftensammlung ausgeschlossen? Das hätte zur Folge, dass es sich nicht mehr um ein Vorprüfungsverfahren handeln würde, sondern dass der Entscheid über die Gültigkeit der Initiative auf den Zeitpunkt vor der Unterschriftensammlung verschoben würde. Auch bei der Feststellung des Verstosses der Initiative gegen nicht zwingende Bestimmungen des Völkerrechts würde sich die Frage stellen, welches die Konsequenzen wären: Würden Initiantinnen und Initianten ebenfalls zur Anpassung der Initiative verpflichtet, würde dies im Ergebnis implizit zu einer Ausdehnung der Ungültigkeitsgründe für Volksinitiativen führen. Falls man keine Verpflichtung zur Anpassung der Initiative vorsehen würde, ist es nicht notwendig, der Vorprüfung Bindungswirkung zuzuerkennen. Der Bundesrat ist daher der Auffassung, dass nur ein Vorprüfungsverfahren ohne Bindungswirkung in Frage kommt.

Das Postulat 10.3885 der Staatspolitischen Kommission NR (09.521. Entscheid über die Gültigkeit einer Volksinitiative vor der Unterschriftensammlung) verlangt vom Bundesrat die Prüfung eines Verfahrens, in welchem der Entscheid über die Gültigkeit einer Volksinitiative vor Beginn der Unterschriftensammlung gefällt werden kann. Eine solche Vorverschiebung des Entscheides über die Gültigkeit
bewirkt jedoch lediglich, die Sammlung von Unterschriften für Initiativen in den wenigen Fällen zu verhindern, in welchen die Initiative anschliessend wegen Ungültigkeit den Stimmberechtigten nicht zur Abstimmung unterbreitet wird. Zur Vermeidung von Volksinitiativen, die dem übrigen Völkerrecht widersprechen, liefert dieser Lösungsansatz keinen Beitrag.

3.3

Prüfungsorgane

Als zuständige Prüfungsorgane kommen grundsätzlich mehrere in Betracht: Verwaltungsbehörden, eine ausserparlamentarische Kommission, die Bundesversammlung oder das Bundesgericht. Die Betrauung einer parlamentarischen Kommission mit 3633

dieser Aufgabe hätte gewichtige Nachteile. Der hauptsächlichste Nachteil dieser Lösung besteht darin, dass sich parlamentarische Gremien zweimal mit der gleichen Materie befassen müssten. Dies gilt zumindest dann, wenn die Initiativen zustande kommen. Ausserdem ist mit einer nicht unerheblichen zeitlichen Verzögerung des Beginns der Unterschriftensammlung zu rechnen, wenn die Vorprüfung von einer parlamentarischen Kommission vorgenommen wird, da diese sich ihrerseits bei ihrem Entscheid auf einen vorbereitenden Bericht der Verwaltung stützen müsste, der zuerst erstellt werden müsste.

Würde die Bundesversammlung die Vorprüfung vornehmen, würden die für die parlamentarische Kommission genannten Nachteile noch verstärkt zu Tage treten.

Namentlich die zeitliche Verzögerung für den Beginn der Unterschriftensammlung würde stark ins Gewicht fallen, sodass es für Initiantinnen und Initianten schwieriger würde, auf aktuelle brennende Probleme mit der Lancierung einer Volksinitiative zu reagieren und die Aktualität dafür auszunützen, schnell die nötigen Unterschriftenzahlen zusammenzubringen. Diese Nachteile würden auch bei einer Vorverschiebung des Entscheides der Bundesversammlung über die Gültigkeit einer Volksinitiative vor der Unterschriftensammlung auftreten, wie es im Postulat 10.3885 zu prüfen verlangt wird. Die Bundesversammlung müsste sich ­ sofern sie die Gültigkeit der Initiative bejaht ­ zweimal mit der Initiative befassen, sofern diese zustande kommt.

Sie würde sich zu einem Zeitpunkt mit der Initiative befassen, in dem die politische Diskussion insofern gar noch nicht geführt ist, als die notwendigen Unterschriften noch nicht gesammelt worden sind. Da auch damit zu rechnen wäre, dass Initiativen, die von der Bundesversammlung für ungültig erklärt werden, in leicht abgeänderter Form umgehend neu eingereicht werden, müsste sich die Bundesversammlung unter Umständen mehrmals mit Initiativen befassen, die im Wesentlichen den gleichen Inhalt haben. Das würde für das Parlament einen erheblichen Mehraufwand bedeuten.

Auch das Bundesgericht ist nach Auffassung des Bundesrates kein geeignetes Organ für eine konsultative materielle Vorprüfung von Volksinitiativen: Aufgabe von Gerichten ist es, verbindlich über Einzelfälle zu urteilen, und nicht Stellungnahmen zu erstellen, welchen keine Bindungswirkung
zukommt. Bleibt die Bundesversammlung für den Entscheid über die Gültigkeit der Initiative zuständig, wäre eine solche Lösung auch aus Gründen der Gewaltenteilung abzulehnen. Sollte hingegen der Entscheid über die Gültigkeit von Volksinitiativen dem Bundesgericht übertragen werden, wie dies im Prüfauftrag des Postulats 10.3885 offen gelassen wird, käme dies einer teilweisen Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit gleich. Es wäre kaum zu begründen, warum das Bundesgericht über die Verfassungsmässigkeit von Volksinitiativen entscheiden könnte, nicht aber über diejenige von Bundesgesetzen.

Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Frage der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht bereichsweise, sondern umfassend geprüft werden soll, wie dies im Rahmen der parlamentarischen Initiativen 05.445 (Studer Heiner, Verfassungsgerichtsbarkeit) und 07.476 (Müller-Hemmi Vreni, Bundesverfassung massgebend für rechtsanwendende Behörden) geschieht.50

50

Vgl. dazu den Bericht und Vorentwurf der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats vom 17. Februar 2011: http://www.parlament.ch/d/dokumentation/berichte/vernehmlassungen/ 05-445-07-476/Documents/bericht-rk-n-05-445-07-476-2011-02-17-d.pdf.

3634

Die Betrauung einer Verwaltungsbehörde ist hingegen eine relativ einfach zu realisierende Lösung. Als zuständige Stellen für eine Prüfung der Völkerrechtskonformität geplanter Volksinitiativen kommen die Direktion für Völkerrecht und das Bundesamt für Justiz in Frage, die sich bereits heute mit Fragen der Auslegung von internationalem Recht und Verfassungsrecht befassen. Diese Organisationseinheiten können eine Vorprüfung gemeinsam vornehmen. Die beiden mit der Materie der präventiven Rechtskontrolle vertrauten Organisationseinheiten sind in der Lage, relativ rasch zu einem übereinstimmenden Ergebnis zu gelangen. Sollten sich die beiden Dienststellen ausnahmsweise nicht auf Anhieb einigen können, gibt es verschiedene Möglichkeiten, doch noch zu einer Einigung zu kommen; eine Möglichkeit besteht auch darin, dass die Departemente oder der Bundesrat den ihnen unterstellten Ämtern Weisungen erteilen, wie sie in einem konkreten Fall vorzugehen haben. Mit solchen Konflikten ist allerdings in den seltensten Fällen zu rechnen.

Da ­ unter Vorbehalt von Differenzen ­ kein weiteres Gremium mit der Fragestellung befasst wird, muss das Initiativkomitee nicht mit einer Verzögerung bis zum Beginn der Unterschriftensammlung rechnen. Das Bundesamt für Justiz und die Direktion für Völkerrecht können mit der Prüfung der Völkerrechtskonformität der Initiative beginnen, sobald die Bundeskanzlei den Originaltext mit dem Initiativkomitee bereinigt hat. Die Bundeskanzlei unterbreitet dem Bundesamt für Justiz und der Direktion für Völkerrecht alle Volksinitiativen zur Prüfung der Völkerrechtskonformität und nimmt selber keine Triage möglicherweise problematischer Initiativen vor. Das Vorprüfungsverfahren der Bundeskanzlei und die Vorprüfung hinsichtlich der Völkerrechtskonformität durch das Bundesamt für Justiz und die Direktion für Völkerrecht finden daher teilweise gleichzeitig statt. In dieser Phase hat das Initiativkomitee die Möglichkeit, aufgrund erster Hinweise den Text der Initiative anzupassen, um die Lancierung einer völkerrechtswidrigen Initiative zu vermeiden. Es ist damit zu rechnen, dass die materielle Vorprüfung zu keiner erheblichen Verzögerung des Beginns der Unterschriftensammlung gegenüber dem heutigen Verfahren führt, soweit die dazu nötigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.

3.4

Bekanntmachung der verwaltungsinternen Stellungnahme

Damit die Stellungnahme der Verwaltung ihre gewünschte Wirkung entfalten kann, muss sie in geeigneter Weise publik gemacht werden.

Nach Artikel 69 BPR veröffentlicht die Bundeskanzlei nach Abschluss der Vorprüfung die Verfügung über das Vorprüfungsverfahren samt Initiativtext im Bundesblatt. Ab dem Datum dieser Publikation beginnt die Frist für die Sammlung der Unterschriften zu laufen. Die Bekanntmachung der Stellungnahme der Verwaltung über die Völkerrechtskonformität der Volksinitiative kann mit dieser Publikation im Bundesblatt verbunden werden. Durch die Publikation des Ergebnisses im Bundesblatt ist diese Information öffentlich zugänglich; da das Bundesblatt auch auf dem Internet eingesehen werden kann, ist der Zugang zu dieser Information sehr einfach.

Die Publikation gleichzeitig mit der Vorprüfungsverfügung im Bundesblatt belegt später den eidgenössischen Räten, dass die Urheber der Volksinitiative in der Verfügung auf die Probleme aufmerksam gemacht worden sind und offenbar eine grundund völkerrechtskonforme Anpassung des Initiativtextes abgelehnt haben. Zum

3635

konkreten Verfahren und zur Ausgestaltung dieser Publikationen sind verschiedene Punkte festzulegen: Es stellt sich zunächst die Frage, ob eine Stellungnahme in jedem Fall publiziert werden soll oder nur in denjenigen Fällen, in denen eine Völkerrechtswidrigkeit festgestellt wird. Der Aufwand für die Erstellung eines Gutachtens in Fällen, in denen offensichtlich keine Völkerrechtswidrigkeit besteht, ist gering und die entsprechende Stellungnahme kann sehr kurz gehalten werden. Das spricht dafür, in jedem Fall eine Stellungnahme zu publizieren, auch bei positivem Bescheid über die Völkerrechtskonformität. Mit dieser Lösung kann zudem der Dienstleistungscharakter der behördlichen Stellungnahme verstärkt zum Ausdruck gebracht werden: Den Initiantinnen und Initianten wird nicht nur ermöglicht, den Initiativtext noch im Laufe des Vorprüfungsverfahrens anzupassen, wenn eine Völkerrechtswidrigkeit offenbar wird, sie erhalten im Fall einer positiven Prüfung auch eine Bestätigung der Konformität ihrer Initiative mit einschlägigen Bestimmungen des Völkerrechts.

Neben der Publikation der Stellungnahme von Bundesamt für Justiz und Direktion für Völkerrecht sollen die Initiantinnen und Initianten verpflichtet werden, auf dem Unterschriftenbogen einen Hinweis mit einem Verweis aufzunehmen. Damit wird eine starke Gewichtung der Publizitätswirkung erreicht. Im Verweis soll die Fundstelle der behördlichen Stellungnahme im Bundesblatt angegeben werden. Mit einem Hinweis soll zudem auf dem Unterschriftenbogen angegeben werden, zu welchem Ergebnis die Direktion für Völkerrecht und das Bundesamt für Justiz bei ihrer Prüfung gekommen sind. Dafür können Standardsätze verwendet werden, welche kurz und prägnant das Ergebnis der materiellen Vorprüfung wiedergeben.

Die drei Standardsätze erfüllen auf diese Weise eine Ampelfunktion: Vereinbarkeit mit einschlägigem Völkerrecht bedeutet grünes Licht, Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen kommt gelb gleich, und ein Verstoss gegen zwingende Bestimmungen des Völkerrechts bedeutet rot. Diese Formulierungen, die jeweils am Schluss der verwaltungsinternen Stellungnahme stehen und auf dem Unterschriftenbogen aufgedruckt werden müssen, könnten wie folgt lauten: ­

«Nach Auffassung von Bundesamt für Justiz und Direktion für Völkerrecht ist die Volksinitiative mit den einschlägigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz vereinbar.» Diese Formulierung wird in allen Fällen gewählt, in denen sich die Volksinitiative hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht als unproblematisch erweist oder von den Initiantinnen und Initianten entsprechend abgeändert wurde.

­

«Nach Auffassung von Bundesamt für Justiz und Direktion für Völkerrecht verletzt die Volksinitiative völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz; sie wäre jedoch nicht für ungültig zu erklären, weil sie keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts verletzt.» Diese Formulierung ist dann auf dem Unterschriftenbogen aufzunehmen, wenn die Volksinitiative völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz widerspricht, diese völkerrechtlichen Verpflichtungen jedoch nicht Bestandteil der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts sind und damit kein Ungültigkeitsgrund vorliegt.

­

«Nach Auffassung von Bundesamt für Justiz und Direktion für Völkerrecht steht diese Volksinitiative im Widerspruch zu zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts und wäre daher für ungültig zu erklären.» Diese Formulierung müsste in jenen Fällen auf dem Unterschriftenbogen aufgedruckt werden, in denen die Initiative nach Auffassung von Bundesamt für Justiz und

3636

Direktion für Völkerrecht gegen zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verstösst und daher für ungültig zu erklären ist.

Die Verpflichtung zur Aufnahme des Verweises und des Hinweises muss als zusätzliche Anforderung an die Gültigkeit des Unterschriftenbogens ausgestaltet werden.

Bei fehlendem Verweis und Hinweis auf einem Unterschriftenbogen sind die betreffenden Unterschriften ungültig und bei der Zählung der notwendigen Unterschriftenzahlen nicht zu berücksichtigen.

Sofern die materiellen Ungültigkeitsgründe für Volksinitiativen ausgedehnt werden (s. dazu Ziff. 4) und der Prüfungsmassstab auf diese zusätzlichen Ungültigkeitsgründe für Initiativen ausgedehnt würde, müssten die Formulierungen entsprechend angepasst werden.

3.5

Rechtsschutz

Weil die Stellungnahme der Verwaltung den Bundesrat und das Parlament bei der späteren Beurteilung der Gültigkeit der Initiative nach Artikel 139 Absatz 3 BV nicht bindet und niemanden an der rechtsgültigen Unterschrift unter diese Volksinitiative hindert, muss gegen sie kein Rechtsmittel eingeräumt werden. Die Rechtsweggarantie von Artikel 29a BV gilt zwar grundsätzlich auch im Bereich der politischen Rechte.51 Das Gesetz kann jedoch in Ausnahmefällen davon abweichen.

Ein begründeter Ausnahmefall liegt hier insofern vor, als Gerichte nicht für Fragen zuständig sein sollen, über die von vornherein nicht verbindlich entschieden werden kann. Von einer Delegation der Geschäftserledigung nach Artikel 177 Absatz 3 BV kann nicht gesprochen werden, sodass auch nicht unter diesem Titel Rechtsschutz gewährt werden muss.

3.6

Fazit

Ein Verfahren zur Vorprüfung der Völkerrechtskonformität kann zwar nicht mit Sicherheit verhindern, dass völkerrechtswidrige Initiativen zustande kommen, aber es kann dazu beitragen, die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens solcher Initiativen zu vermindern. Wie bereits im Bericht ausgeführt,52 kann damit erreicht werden, dass die Initiantinnen und Initianten sowie die Stimmberechtigten glaubwürdig und kompetent informiert sind, wenn eine Volksinitiative völkerrechtswidrig ist. Initiativkomitees erhalten so in einem frühen Stadium Kenntnis über allfällige Probleme und können ihr Volksbegehren so umformulieren, dass die signalisierten Probleme vermieden werden; dennoch bleiben sie in ihrem Entscheid frei und können auch auf eine Umformulierung verzichten. Mit der Vorprüfung der Völkerrechtskonformität von Volksinitiativen soll erreicht werden, dass die Wahrscheinlichkeit der Einreichung, des Zustandekommens und der Annahme völkerrechtswidriger Volksinitiativen vermindert wird. Es kann damit auch Frustrationen vorgebeugt werden, welche dadurch entstehen können, dass in guten Treuen Unterschriften gesammelt werden und die Initiative danach für ungültig erklärt wird. Die Eigenverantwortung der Initiantinnen und Initianten wird durch eine solche Information 51 52

BGE 134 I 199 E. 1.2; BGE 136 II 132 E. 2.5.2.

Bericht, Ziff. 9.9.2.1.

3637

gestärkt, und zudem können allfällige Hemmungen der eidgenössischen Räte gegenüber notwendigen Ungültigkeitserklärungen abgebaut werden.

Wie vorne in Ziffer 3.2 ausgeführt, ist der Bundesrat der Auffassung, dass eine solche Vorprüfung keine Bindungswirkung entfalten soll, und schlägt vor, dass diese durch das Bundesamt für Justiz und die Direktion für Völkerrecht gemeinsam vorgenommen wird (Ziff. 3.3).

Für die Bekanntmachung der verwaltungsinternen Stellungnahme soll ein Weg gewählt werden, der möglichst grosse Publizitätswirkung garantiert und zugleich auf einfache Weise zu verwirklichen ist. Einerseits wird die Stellungnahme von Bundesamt für Justiz und Direktion für Völkerrecht im Bundesblatt publiziert. Zudem werden die Initiantinnen und Initianten verpflichtet, auf dem Unterschriftenbogen einen Verweis auf die im Bundesblatt publizierte verwaltungsinterne Stellungnahme sowie einen Hinweis auf das Ergebnis der Stellungnahme ­ in Form von standardisierten Sätzen ­ aufzudrucken. Eine gewisse Gefahr besteht, dass Initiantinnen und Initianten versuchen, bei einem ihnen missliebigen Resultat der verwaltungsinternen Stellungnahme den Hinweis im Kleingedruckten untergehen zu lassen. Eine solche Lösung bedeutet aber auch, dass die Bundeskanzlei bei der Zählung der Unterschriften einer eingereichten Initiative auf den Unterschriftenbögen prüfen muss, ob der Hinweis enthalten ist oder nicht (Art. 72 Abs. 2 Bst. a BPR). Das bewirkt einen Mehraufwand der Bundeskanzlei. Ein Mehraufwand entsteht allerdings nicht nur bei der Bundeskanzlei, sondern auch beim Bundesamt für Justiz und der Direktion für Völkerrecht für die materielle Vorprüfung. Dabei gilt es nicht nur den Aufwand für die letztlich im Bundesblatt publizierte Stellungnahme zu beachten, sondern auch den Aufwand für die (erneute) Begutachtung von Initiativtexten, die aufgrund erster behördlicher Rückmeldungen angepasst wurden. Nach einer ersten Einschätzung sind für diese Aufgabe für die Bundeskanzlei, die Direktion für Völkerrecht und das Bundesamt für Justiz zusätzlich insgesamt 300 Stelleprozente erforderlich.

3.7

Redaktionsvorschläge

Die materielle Vorprüfung der Volksinitiativen knüpft am bestehenden Vorprüfungsverfahren der Bundeskanzlei an und soll zur gleichen Zeit stattfinden. Für die gesetzliche Verankerung wird daher eine Ergänzung der Regelung des Vorprüfungsverfahrens des BPR vorgeschlagen. In Artikel 68 Absatz 1 Buchstabe f BPR wird die Verpflichtung zur Aufnahme des Hinweises und Verweises auf die Stellungnahme der materiellen Vorprüfung verankert; die Bundeskanzlei wird daher bei der Prüfung der Unterschriften auch diesen Punkt zu kontrollieren haben. Das Verfahren der materiellen Vorprüfung wird bei der Regelung des Vorprüfungsverfahrens der Bundeskanzlei in Artikel 69 BPR in einem zusätzlichen Absatz 3bis geregelt. Dort wird auch festgelegt, dass die Bundeskanzlei den konkreten Wortlaut des Hinweises und Verweises nach Artikel 68 Absatz 1 Buchstabe f in der Verfügung festlegen wird. Den Wortlaut des Hinweises wird die Bundeskanzlei der Stellungnahme von Bundesamt für Justiz und Direktion für Völkerrecht entnehmen. In Artikel 80 Absatz 3 BPR wird das Ergebnis der materiellen Vorprüfung ausdrücklich von der rechtlichen Überprüfbarkeit ausgenommen werden.

3638

Die Formulierung könnte wie folgt lauten: BPR Art. 68 Abs. 1 Bst. f (neu) Wird eine Volksinitiative zur Unterzeichnung aufgelegt, so hat die Unterschriftenliste (auf Bogen, Blatt oder Karte) folgende Angaben zu enthalten:

1

f.

einen Hinweis auf das Ergebnis der materiellen Vorprüfung nach Artikel 69 Absatz 3bis sowie einen Verweis auf die Fundstelle des im Bundesblatt publizierten Ergebnisses der Vorprüfung.

BPR Art. 69 Abs. 3bis (neu) und 4 3bis Sie [die Bundeskanzlei] unterbreitet den Initiativtext dem Bundesamt für Justiz und der Direktion für Völkerrecht zur Vorprüfung seiner Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht. Diese erarbeiten eine gemeinsame Stellungnahme.

Die Bundeskanzlei legt in ihrer Verfügung fest, wie in der Unterschriftenliste auf das Ergebnis der Vorprüfung hinzuweisen ist.

Der Titel und der Text der Initiative, die Namen der Urheber und das Ergebnis der Vorprüfung nach Absatz 3bis werden im Bundesblatt veröffentlicht.

4

BPR Art. 80 Abs. 3 Den Mitgliedern des Initiativkomitees steht die Beschwerde auch gegen Verfügungen der Bundeskanzlei über die formelle Gültigkeit der Unterschriftenliste (Art. 69 Abs. 1) und betreffend den Titel der Initiative (Art. 69 Abs. 2), nicht aber gegen das Ergebnis der Vorprüfung nach Artikel 69 Absatz 3bis zu.

3

Sofern die materiellen Ungültigkeitsgründe für Volksinitiativen auf die grundrechtlichen Kerngehalte ausgedehnt werden (s. dazu Ziff. 4), würde es sich aufdrängen, den Prüfungsmassstab auch auf diese zusätzlichen Ungültigkeitsgründe für Initiativen auszudehnen. Die Formulierung könnte in diesem Fall wie folgt lauten: BPR Art. 68 Abs. 1 Bst. f (neu) Wird eine Volksinitiative zur Unterzeichnung aufgelegt, so hat die Unterschriftenliste (auf Bogen, Blatt oder Karte) folgende Angaben zu enthalten:

1

f.

einen Hinweis auf das Ergebnis der materiellen Vorprüfung nach Artikel 69 Absatz 3bis sowie einen Verweis auf die Fundstelle des im Bundesblatt publizierten Ergebnisses der Vorprüfung.

BPR Art. 69 Abs. 3bis (neu) und 4 Sie [die Bundeskanzlei] unterbreitet den Initiativtext dem Bundesamt für Justiz und der Direktion für Völkerrecht zur Vorprüfung seiner Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht und dem Kerngehalt der Grundrechte der Bundesverfassung. Diese erarbeiten eine gemeinsame Stellungnahme. Die Bundeskanzlei legt in ihrer Verfügung fest, wie in der Unterschriftenliste auf das Ergebnis der Vorprüfung hinzuweisen ist.

3bis

3639

Der Titel und der Text der Initiative, die Namen der Urheber und das Ergebnis der Vorprüfung nach Absatz 3bis werden im Bundesblatt veröffentlicht.

4

BPR Art. 80 Abs. 3 Den Mitgliedern des Initiativkomitees steht die Beschwerde auch gegen Verfügungen der Bundeskanzlei über die formelle Gültigkeit der Unterschriftenliste (Art. 69 Abs. 1) und betreffend den Titel der Initiative (Art. 69 Abs. 2), nicht aber gegen das Ergebnis der Vorprüfung nach Artikel 69 Absatz 3bis zu.

3

4

Erweiterung der Ungültigkeitsgründe

4.1

Problematik unbestimmter und formeller Kriterien

Im Bericht wurde die Erweiterung der Ungültigkeitsgründe als mögliche Lösung zur Vermeidung von Konflikten zwischen dem Initiativ- und dem Völkerrecht erwogen.

Näher untersucht wurden dabei die folgenden vier Varianten:53 ­

Einführung einer zusätzlichen materiellen Schranke, wonach Volksinitiativen keinen Bestimmungen des Völkerrechts widersprechen dürfen, die für die Schweiz von vitaler Bedeutung sind;

­

Einhaltung der internationalen Menschenrechtsgarantien als neues bzw.

zusätzliches Gültigkeitserfordernis;

­

Auflistung der (bedeutenden) völkerrechtlichen Bestimmungen oder Verträge als generelle Schranke für Verfassungsänderungen;

­

Rechtliche oder politische Undurchführbarkeit von Volksinitiativen als neuer Ungültigkeitsgrund.

Der Bundesrat gelangte zum Schluss, die Gültigkeit der Volksinitiativen weiteren Schranken zu unterwerfen, führe zu juristischen und politischen Problemen.54 Nach seiner Auffassung bestehen die juristischen Probleme im Wesentlichen darin, dass die untersuchten Varianten mit unbestimmten und damit wenig praktikablen Kriterien operieren. So seien kaum griffige Anhaltspunkte verfügbar, um zu entscheiden, ob die konkrete Verfassungsvorlage rechtlich oder politisch durchführbar ist oder ob eine völkerrechtliche Bestimmung für die Schweiz von vitaler Bedeutung ist. Erhebliches politisches Ermessen wäre auszuüben, um einen entsprechend formulierten Ungültigkeitsgrund anzuwenden. Berechtigte Ansprüche des Initiativkomitees auf die Voraussehbarkeit des Prüfungsergebnisses (Rechtssicherheit) wären bei einer solchen Lösung schwer einlösbar. Im Übrigen ist der politische Entscheid für oder gegen eine Verfassungsvorlage durch Volk und Stände an der Urne und nicht durch die Bundesversammlung im Rahmen der Gültigkeitsprüfung zu fällen. Dennoch wollte sich der Bundesrat der Diskussion über eine allfällige Erweiterung der materiellen Schranken der Verfassungsrevision nicht verschliessen und brachte seine

53 54

Bericht, Ziff. 9.6.1.2­9.6.1.5.

Bericht, Ziff. 10, S. 2341.

3640

Bereitschaft zum Ausdruck, die Konsequenzen einer solchen Massnahme zu analysieren.55 Ein tauglicher Ansatz könnte darin erblickt werden, die Verfassung mit einer Bestimmung zu ergänzen, wonach die Bundesversammlung das unkündbare Völkerrecht in ihre Prüfung einschliesst und bei einem Normwiderspruch die Volksinitiative für ungültig erklärt. Damit könnten Konflikte vermieden werden, die juristisch infolge der Unmöglichkeit der Kündigung anderweitig nicht einseitig gelöst werden können. Ein Vorzug dieser Variante liegt ferner in der Bestimmtheit des (formellen) Kriteriums.

Sachliche Gründe sprechen jedoch gegen eine derartige Einschränkung des Initiativrechts. Zum einen beinhalten die unkündbaren Verträge oft Regelungen, die kaum je mit einer Volksinitiative in Konflikt geraten; Grenzverträge seien hier als typisches Beispiel genannt.56 Zum anderen ist das Kriterium der Kündbarkeit nicht deckungsgleich mit dem (materiellen) Kriterium der Wichtigkeit einer völkerrechtlichen Norm. Weil aber der Konflikt einer Verfassungsvorlage gerade mit den elementaren völkerrechtlichen Verpflichtungen als besonders stossend oder nachteilig empfunden wird, sollte ein erweiterter Ungültigkeitsgrund (zumindest auch) auf das Wichtigkeitskriterium abstellen. Aus diesen Gründen ist von einer Lösung, die an das Kriterium der Unkündbarkeit anknüpft, Abstand zu nehmen.

Diesen juristischen Problemen Rechnung tragen heisst, einen erweiterten Ungültigkeitstatbestand auf möglichst bestimmten Rechtsbegriffen aufzubauen. Für die Gültigkeitsprüfung sollen materielle (inhaltliche) Kriterien wegleitend sein; das Anknüpfen an formelle Kriterien erscheint ungeeignet. Auf diesen Überlegungen fussen die Ausführungen in den nachfolgenden Ziffern und der Vorschlag, grundrechtliche Kerngehalte als zusätzliche materielle Schranke für Volksinitiativen einzuführen.

4.2

Erweiterung der Ungültigkeitsgründe aufgrund materieller Kriterien

4.2.1

Landesrechtliche Grundwerte und Volksinitiativen

Nach geltendem Verfassungsrecht bilden ­ neben den Anforderungen an die Einheit der Form und die Einheit der Materie ­ die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts den Prüfmassstab für den Entscheid über die Gültigkeit von Volksinitiativen.57 Die politische und die juristische Diskussion zur Frage der Ungültigkeitsgründe für Volksinitiativen betrifft indessen nicht nur das Verhältnis zwischen dem Landesrecht (Initiativrecht) und dem Völkerrecht. Vielmehr erfasst sie auch die Konkordanz von Volksinitiativen mit dem Landesrecht, nämlich den grundlegenden Werten, die als Grundrechte oder -prinzipien in der Bundesverfassung verankert und damit direktdemokratisch legitimiert sind. Deshalb erscheint die Prüfung lohnend, ob die grundrechtlichen Kerngehalte der Disposition des Verfassungsgebers ­ im Sinne einer Selbstbindung (vgl. Ziff. 2.4.3) ­ zu entziehen seien und als zusätzliche materielle Schranke von Verfassungsrevisionen anzunehmen sind.

55 56 57

Bericht, Ziff. 9.6.3.

Vgl. Walter Kälin et al., Völkerrecht. Eine Einführung, 3. Aufl., Bern 2010, S. 44.

Vgl. bereits Bericht, Ziff. 8.7.1.1 sowie Ziff. 2.4.1 des vorliegenden Zusatzberichts.

3641

4.2.2

Grundrechtliche Kerngehalte als materielle Schranke der Verfassungsrevision

4.2.2.1

Begriff und Funktion der Kerngehalte

Die Einschränkung von Grundrechten, die in der Bundesverfassung garantiert werden, erweist sich nach Massgabe von Artikel 36 Absätze 1­3 BV als verfassungskonform, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, durch ein anerkanntes öffentliches Interesse gerechtfertigt und verhältnismässig ist. Allerdings ist nach Artikel 36 Absatz 4 BV der Kerngehalt der Grundrechte unantastbar (absolut geschützt), selbst wenn die Eingriffsvoraussetzungen nach Artikel 36 Absätze 1­3 BV erfüllt wären.58 Die Anerkennung eines Kerngehalts bedeutet also, dass die Abwägung im Rahmen der Verhältnismässigkeit an einem bestimmten Punkt aufhört und jede weitere Einschränkung eines Grundrechts durch eine staatliche Behörde unabhängig von der Qualifizierung des geltend gemachten öffentlichen Interesses und der Frage der Verhältnismässigkeit zu unterbleiben hat.59 Kerngehalte erfüllen ihre Funktion auch und gerade wenn der Sicherheit des Landes Gefahr droht, etwa durch den Terrorismus oder das organisierte Verbrechen. Sie sind mit anderen Worten notstandsfest.

Das Bundesgericht hat bereits in den 1960er-Jahren für einzelne Grundrechte einen solchen Wesens- oder Kerngehalt anerkannt.60 Mit der Nachführung von 1999 wurde der Begriff ­ mit dem bewussten Verzicht auf eine allgemeine Definition ­ in die Bundesverfassung aufgenommen.61 Der Inhalt von Kerngehalten ergibt sich denn auch nicht aus Artikel 36 Absatz 4 BV, sondern aus der Analyse der einzelnen Grundrechtsgarantien, wobei heute nicht gesichert ist, ob alle Grundrechte einen Kerngehalt aufweisen (vgl. auch Ziff. 4.2.3 und 4.2.4).62 Nach ihrer herkömmlichen Funktion soll die Kerngehaltsgarantie von Artikel 36 Absatz 4 BV die Grundrechte vor völliger Aushöhlung durch den Gesetzgeber bewahren. Der hier untersuchte Vorschlag, die materiellen Schranken der Verfassungsrevision auf die Kerngehalte auszudehnen, kommt folglich einer Funktionserweiterung der Kerngehalte gleich: Der Verfassungsgeber unterwirft sich ­ durch Selbstbindung (vgl. Ziff. 2.4.3) ­ denselben inhaltlichen Schranken, wie sie für den Gesetzgeber gelten (Parallelismus der materiellen Schranken). Mit den Artikeln 139 Absatz 3, 193 Absatz 4 und 194 Absatz 2 und den darin aufgeführten Vorbehalten der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts kennt die Bundesverfassung schon heute materielle Schranken (insb. Ius
cogens als heteronome Schranke). Die Erweiterung des Ungültigkeitstatbestands mit den grundrechtlichen Kerngehalten käme der Einführung von selbstständig vorgegebenen, der Verfassung entstammenden (autonomen) Schranken gleich.

58 59

60

61 62

Vgl. BGE 131 I 166 E. 5.3 S. 177.

Jörg Paul Müller, Allgemeine Bemerkungen zu den Grundrechten, in: Daniel Thürer/ Jean-François Aubert/Jörg Paul Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001, § 39 Rz. 58.

Vgl. etwa BGE 90 I 29 E. 3b S. 37 und eingehend zur Entwicklung der Rechtsprechung Markus Schefer, Die Kerngehalte von Grundrechten. Geltung, Dogmatik, inhaltliche Ausgestaltung, Bern 2001, S. 57 ff.

Botschaft vom 20.11.1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 196 f.

Giovanni Biaggini, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2007, Art. 36 Rz. 24.

3642

4.2.2.2

Impulse zur Ermittlung des Kerngehalts aus dem Verfassungsrecht

Die Bundesverfassung legt sich nicht auf klare Kriterien fest, die einen Grundrechtsaspekt eindeutig als Kerngehalt kennzeichnen.63 Immerhin deuten Formulierungen wie «[...] ist verboten» oder «niemand darf gezwungen werden [...]» auf den absoluten Charakter hin; doch sind solche Wendungen nicht durchwegs schlüssig. Beispielsweise sind in Lehre und Praxis als Kerngehalte des Rechts auf Leben bzw. der Garantie körperlicher oder psychischer Integrität das Verbot der Todesstrafe (Art. 10 Abs. 1 zweiter Satz BV) und das Verbot der Folter und jeder anderen Art grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (Art. 10 Abs. 3 BV) anerkannt. Hingegen wurde in der Botschaft über die neue Bundesverfassung ausgeführt, das in Artikel 17 Absatz 2 BV aufgeführte Zensurverbot funktioniere nur gegenüber der Vorzensur im Sinne einer systematischen vorgängigen Kontrolle durch die Behörde als eingriffsresistenter Kerngehalt der Medienfreiheit.64 Mit einer deutlicheren textlichen Fixierung der Kerngehalte hätte der Verfassungsgeber den Bürgerinnen und Bürgern eine einfach zugängliche Auflistung unterbreiten können. Die Verfassung des Kantons Bern65 kann diesbezüglich als Beispiel angeführt werden. Der Verzicht auf eine solche Fixierung bietet aber den Vorteil der Entwicklungsfähigkeit der Kerngehaltsdoktrin. Es ist daher Aufgabe der Bundesbehörden und insbesondere des Bundesgerichts, in Würdigung der Verfassungsmaterialien und rechtsvergleichend (unter Einbezug namentlich der kantonalen Verfassungen) die Kerngehalte der einzelnen Grundrechte herauszuschälen. Daneben steht dem Verfassungsgeber jederzeit offen, selber durch explizite Normierungen zur Entwicklung der grundrechtlichen Kerngehalte beizutragen.

Zu den ausdrücklich im Verfassungstext angesprochenen sowie zu den von Lehre und Praxis weitgehend anerkannten Kerngehaltsgarantien gehören namentlich:66

63 64 65 66

­

Verbot der willkürlichen Tötung, d.h. der staatlichen Tötung infolge einer Gewaltanwendung, die nicht absolut erforderlich war, um ein ­ eng umschriebenes ­ legitimes Ziel zu erreichen (Bsp.: Notwehrsituation bei einer Geiselnahme; Art. 10 Abs. 1 erster Satz BV).

­

Verbot der Todesstrafe (Art. 10 Abs. 1 zweiter Satz BV).

­

Verbot der Folter und jeder anderen Art grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (Art. 10 Abs. 3 BV). Als Kerngehaltsverletzungen erscheinen etwa die Narkoanalysen als Methoden zur Wahrheitsfindung im Prozess, die Zwangssterilisation oder Haftmassnahmen, welche auf die Vernichtung der Persönlichkeit der inhaftierten Person zielen.

­

Recht auf Hilfe in Notlagen (Art. 12 BV; vgl. dazu auch Ziff. 4.2.5.1).

­

Verbot der Zwangsheirat (Art. 14 BV).

Vgl. zum Ganzen Beatrice Weber-Dürler, Grundrechtseingriffe, in: Ulrich Zimmerli (Hrsg.), Die neue Bundesverfassung (BTJP 1999), Bern 2000, S. 143.

BBl 1997 I 160 f.

Verfassung des Kantons Bern vom 6. Juni 1993 (SR 131.212).

Vgl. aus der Lehre insbesondere Regina Kiener/Walter Kälin, Grundrechte, Bern 2007, S. 117 ff.

3643

­

Verbot des Zwangs, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen (Art. 15 Abs. 4 BV).

­

Staatlicher Zwang gegenüber Einzelnen zur inneren Identifikation mit einer fremden Meinung (Art. 16 BV).

­

Verbot der systematischen Vorzensur (Art. 17 Abs. 2 BV).67

­

Freie Sprachwahl im Privatbereich (Art. 18 BV).

­

Verbot der Ausweisung von Schweizerinnen und Schweizern (im Sinne einer mit einem Rückkehrverbot belegten Anordnung, das Staatsgebiet zu verlassen; Art. 25 Abs. 1 erster Satz 1 BV).68

­

Verbot der Ausschaffung oder Auslieferung in einen Staat, in dem Folter oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung droht (Art. 25 Abs. 3 BV).

­

Verbot von Eingriffen, die das Eigentum als Rechtsinstitut betreffen (Art. 26 BV), beispielsweise durch eine konfiskatorische Besteuerung oder den Ersatz des Eigentums durch staatlich verliehene Nutzungsrechte.

­

Verbot des staatlichen Zwangs zur Ausübung eines bestimmten Berufs oder einer bestimmten Geschäftstätigkeit (Art. 27 BV).

Diese Auflistung kann nicht vollständig sein. Die Inhaltsbestimmung der Kerngehalte kann nicht anders als in einem stetig fortschreitenden Prozess erfolgen.

Damit ist aber auch sichergestellt, dass die Kerngehalte ihre absolute Schutzfunktion trotz rechtlichen und gesellschaftlichen Veränderungen auch in der Zukunft erfüllen können. Das mit Einzelfällen befasste Bundesgericht hat bislang nur punktuell Kerngehaltsgarantien anerkannt. Wichtige Anhaltspunkte enthalten indessen auch Urteile, in denen das Bundesgericht die Verletzung einer Kerngehaltsgarantie verneint hat.69 Lehrmeinungen über den Inhalt von Kerngehalten können also nur in Bezug auf einen Teil der Freiheitsrechte als einigermassen gefestigt bezeichnet werden.

Darüber hinaus besteht namentlich keine Einigkeit, ob und inwieweit auch das Gleichheitsgebot und die Verfahrensgarantien der Bundesverfassung einen Kerngehalt aufweisen. Daher ist in den Ziffern 4.2.3 und 4.2.4 zu diesen Grundrechten der Stand der Rechtspraxis näher zu beleuchten.

67 68

69

Kritisch dazu Giovanni Biaggini, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2007, Art. 17 Rz. 16.

Das Verbot der Auslieferung (im Sinne der Übergabe einer Person an die Behörden eines anderen Staates zwecks Strafverfolgung oder -vollzug) hat insofern «relativen» Charakter, als es bei Zustimmung des Betroffenen nicht greift. Nicht als Auslieferung gilt ferner die Überstellung an einen Internationalen (Straf-)Gerichtshof, bspw. gestützt auf das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 (SR 0.312.1). Vgl.

dazu Giovanni Biaggini, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2007, Art. 25 Rz. 7 f.

Vgl. etwa BGE 135 I 79 E. 5 (Glaubensfreiheit und gemischtgeschlechtlicher Schwimmunterricht an der Primarschule); BGE 134 I 140 E. 6.3 (Schutzmassnahmen gegen häusliche Gewalt); BGE 130 I 71 E. 6 S. 81 (Hilfe in Notlagen); BGE 129 I 173 E. 5.1 S. 181 (Bestimmung des Bestattungsorts); BGE 129 V 323 E. 3.3.3 S. 326 (Beweismittelverwertung von Überwachungsberichten und Videobändern eines Privatdetektivs im Rahmen eines sozialversicherungsrechtlichen Verfahrens); BGE 126 I 112 E. 3b S. 116 (medikamentöse Zwangsbehandlung in psychiatrischer Klinik zu Heilzwecken).

3644

4.2.2.3

Begriff des «Kerngehalts» im Völkerrecht

Gelegentlich wird auch im völkerrechtlichen Diskurs der Begriff des Kerngehalts verwendet. Dies geschieht jedoch in uneinheitlicher Weise. Der Begriff des Kerngehalts als Terminus technicus des schweizerischen Konzepts des «Schrankenartikels» (Art. 36 BV) kann jedenfalls nur bedingt auf das Völkerrecht übertragen werden.

Mit wenigen Ausnahmen gelten völkerrechtliche Menschenrechtsgarantien nicht absolut, sondern können aus qualifizierten Gründen eingeschränkt werden. Immerhin ist gesichert, dass elementare Menschenrechte, etwa das Sklaverei- und das Folterverbot, Bestandteil des zwingenden Völkerrechts sind (vgl. auch Ziff. 2.4.1).

Namentlich funktioniert das zwingende Völkerrecht als absolut zu beachtende Schranke gegenüber widersprechenden unilateralen Akten (z.B. Vorbehalten) und kann dazu führen, dass entgegenstehendes Landesrecht nicht zum Tragen kommt.

Auch das humanitäre Völkerrecht und das internationale Flüchtlingsrecht kennen Garantien, die mit erhöhtem Schutz belegt sind. Das humanitäre Völkerrecht ­ insbesondere die vier Genfer Abkommen von 1949 mitsamt Zusatzprotokollen aus den Jahren 1977 und 2005 ­ findet nur im Falle bewaffneter Konflikte Anwendung.

Es normiert Mindeststandards für internationale und interne Konflikte, um sowohl Kombattanten als auch Zivilisten vor Übergriffen zu schützen. Dabei ist anerkannt, dass in Analogie zu den Menschenrechten auch gewisse Garantien des humanitären Völkerrechts absolute Geltung beanspruchen, so etwa die Verbote der jeweiligen Artikel 3 der vier Genfer Abkommen, welche «jederzeit und jedenorts» zu beachten sind (vgl. Ziff. 2.4.1). Insofern bilden diese Garantien eine Grundlage der zivilisierten Völkergemeinschaft, welche sogar in Kriegszeiten eingehalten werden müssen.

Eine weitere Annäherung an den Begriff des Kerngehalts in einem weiteren Sinne kann über die Frage nach der Verpflichtungsart der einzelnen Menschenrechtsgarantien erfolgen: Diese Interpretation reflektiert die in der heutigen Doktrin und Praxis anerkannten drei Ebenen von Verpflichtungen, die sich aus den Menschenrechten ergeben.70 Lehre und Praxis anerkennen heute zunehmend, dass menschenrechtliche Garantien unabhängig von ihrer Rechtsnatur als bürgerliche resp. wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gleichzeitig zu einem Unterlassen und einem Tun verpflichten. Angesprochen sind hier verschiedene Verpflichtungsschichten:

70

­

So können etwa alle Garantien auf einer ersten Stufe ­ im Kern ­ wirksam durch staatliches Unterlassen geschützt werden (duty to respect).

­

Auf einer zweiten Stufe werden die Vertragsstaaten menschenrechtlicher Verträge verpflichtet, die Garantien auch im Verhältnis zwischen Privaten durchzusetzen (duty to protect).

­

Auf einer dritten Stufe haben Staaten unter Umständen Leistungen zu erfüllen (duty to fulfil).

Walter Kälin/Jörg Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2. Aufl., Basel 2008, S. 110 ff. Vgl. ferner UNO-Sozialausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 15 (2002), Ziff. 20 ff.; UNO-Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 31 (2004), Ziff. 4 ff.; vgl. auch EGMR (Grand Chamber), Makaratzis vs. Greece, Reports 2004-XI, Ziff. 56 ff.; Afrikanische Kommission für die Rechte der Menschen und Völker, The Social and Economic Rights Action Center for Economic and Social Rights vs. Nigeria, 155/96 (2001), Ziff. 44 ff.

3645

In der Praxis der Kontrollorgane der UNO-Menschenrechtsübereinkommen vertritt namentlich der für die Überwachung des UNO-Pakts I zuständige UNO-Sozialausschuss (CESCR) die Haltung, Paktgarantien besässen einen «harten Kern» im Sinne von Minimalansprüchen des Individuums.71 Ohne deren Gewährleistung werde das betroffene Recht ausgehöhlt und seines Sinnes beraubt. Der Ausschuss hat festgestellt, jeder Vertragsstaat habe die grundlegende Minimalverpflichtung, mindestens die Verwirklichung des Kernbereichs jedes Rechtes zu gewährleisten. Dies kommt einer Anerkennung eines Kerngehalts nahe, wie er für die verfassungsrechtlichen Grundrechte besteht.

Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass das internationale Recht mit der Bezeichnung von einzelnen Menschenrechten als zwingendem Völkerrecht bzw. der Umschreibung von «Kernbereichen» einzelner Garantien Rechtsinstitute geschaffen hat, die enge Verwandtschaft aufweisen zum landesrechtlichen Begriff der grundrechtlichen Kerngehalte. Diese völkerrechtlichen Rechtsinstitute erfüllen die Funktion eines Impulsgebers für die Ermittlung und Konkretisierung von Kerngehalten der Bundesverfassung ­ Impulse, die der Verfassungsgeber und die Rechtsprechung aufgegriffen haben72 und auch künftig aufgreifen können.

4.2.3

Das Diskriminierungsverbot als mögliche Quelle materieller Schranken der Verfassungsrevision

4.2.3.1

Begriff und Tragweite des Diskriminierungsverbots

Das Diskriminierungsverbot, verankert in Artikel 8 Absatz 2 BV, erfüllt in Ergänzung zur allgemeinen Gleichheitsgarantie von Artikel 8 Absatz 1 BV und durch Verknüpfung mit der Menschenwürde73 (Art. 7 BV), die Funktion eines besonderen Gleichheitssatzes. Dabei stellt die Diskriminierung eine qualifizierte Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Situationen dar, indem sie eine Benachteilung von Menschen bewirkt, die als Herabwürdigung oder Ausgrenzung einzustufen ist, weil sie an Unterscheidungsmerkmale wie namentlich Herkunft, Rasse, Geschlecht oder soziale Stellung anknüpft, die einen wesentlichen und nicht oder nur schwer aufgebbaren Bestandteil der Identität der betroffenen Personen ausmachen. Eine solche Ungleichbehandlung kann nur gerechtfertigt werden, wenn sie unter Angabe ernsthafter und triftiger Gründe erfolgt.74

71 72 73

74

UNO-Sozialausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 3 (1990), Ziff. 10.

Vgl. die Auflistung in Ziff. 4.2.2.2 sowie die Ziff. 4.2.5.1.

Menschenwürde bedeutet jenen normativen Kern, den jede Person an Respekt und Schutz im Verfassungsstaat voraussetzungslos, im Namen ihrer Existenz von der Rechtsgemeinschaft fordern kann (Jörg Paul Müller/Markus Schefer, Grundrechte in der Schweiz. Im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der UNO-Pakte, 4. Aufl., Bern 2008, S. 1). Es handelt sich bei der Menschenwürde um ein konstituierendes Element, das in den modernen demokratischen Verfassungen längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist und bereits in der Charta der Vereinten Nationen und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (Präambel und Art. 1) verankert wird. Vgl. auch Bernhard Waldmann, Das Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 BV als besonderer Gleichheitssatz, Bern 2003, S. 234 ff.

Vgl. BGE 135 I 49 E. 4.1 m.w.H.

3646

Die Wurzeln des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbots reichen in das internationale Recht. Bereits die UNO-Charta75 führt unter ihren Zielen und Grundsätzen in Artikel 1 Absatz 3 aus, es sei zur Lösung internationaler Probleme die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen. Gemäss Artikel 14 EMRK haben die Vertragsstaaten den Genuss der Konventionsrechte «ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.»76 Artikel 8 Absatz 2 BV ist an diese Grundsätze und Garantien angelehnt und definiert den Begriff der «Diskriminierung» nicht inhaltlich, sondern zählt exemplarisch bestimmte verpönte Unterscheidungsmerkmale auf. Im Unterschied zu einzelnen Freiheitsrechten schützt das Diskriminierungsverbot nicht einen spezifischen Lebensbereich, sondern entfaltet eine Querschnittwirkung in der gesamten Rechtsordnung.77 Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten des landes- und völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes sind stets durch das verfassungsrechtliche und politische System des Staates bedingt, in das sie hineinwirken. Die politische Ordnung der Schweiz weist Strukturprinzipien auf, die den Schutz und die Entwicklung der Menschenrechte wesentlich beeinflussten und prägten. Gemeint sind Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Föderalismus (vgl. Ziff. 2.2.1). Das Rechtsgleichheitsgebot, das Diskriminierungsverbot als besonderer Gleichheitssatz und schliesslich auch der Minderheitenschutz sind zentrale Elemente des schweizerischen Staatswesens.

Die geeignete Mitwirkung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Staatswesen ist eine der wichtigsten Grundlagen der Stabilität und des Erfolges des Bundesstaates Schweiz. Dabei kommt dem Diskriminierungsverbot zentrale Bedeutung zu, denn es hat wesentlich dazu beigetragen, den in der Eidgenossenschaft zusammengeschlossenen verschiedenen Bevölkerungsgruppen trotz grosser Heterogenität in Bezug auf Sprache, Religion, Herkunft, soziale Stellung usw. zu einem friedlichen und solidarischen
Zusammenleben zu verhelfen. Das Diskriminierungsverbot zählt mithin zu den Grundfesten unseres demokratischen Rechtsstaates. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen allerdings, dass sich die Ausübung der direktdemokratischen Rechte (potenziell) in einem Spannungsverhältnis zum Schutz einzelner Bevölkerungsgruppen vor Diskriminierungen befindet.78

75 76

77 78

Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.1945 (SR 0.120; für die Schweiz in Kraft getreten am 10.9.2002).

Vgl. ferner Art. 2 Abs. 2 UNO-Pakt I und Art. 2 Abs. 1 UNO-Pakt II sowie Konventionen, die sich ganz spezifisch bestimmter Diskriminierungsprobleme annehmen: das Übereinkommen vom 18.12.1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (SR 0.108; für die Schweiz in Kraft getreten am 26.4.1997) und das Internationale Übereinkommen vom 21.12.1965 zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (SR 0.104; für die Schweiz in Kraft getreten am 29.12.1994).

Statt vieler Jörg Paul Müller/Markus Schefer, Grundrechte in der Schweiz. Im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der UNO-Pakte, 4. Aufl., Bern 2008, S. 651 f.

In der neueren politologischen Forschung ist im Fall konfessioneller Minderheitenrechte gar von einer systematisch diskriminierenden Wirkung der Volksrechte im Sinne der aktiven Beschneidung von religiösen Kultusfreiheiten die Rede, vgl. dazu Adrian Vatter, 19. Synthese: religiöse Minderheiten im direktdemokratischen System der Schweiz, in: ders. (Hrsg.), Vom Schächt- zum Minarettverbot, Religiöse Minderheiten in der direkten Demokratie, Bern 2010, S. 264 f.

3647

Seiner fundamentalen Bedeutung für das schweizerische Staatswesen entsprechend, ist das Diskriminierungsverbot nicht nur verfassungsrechtlich als Grundrecht verankert, sondern auch in vielfacher Ausprägung institutionell umgesetzt. Es ist somit ein vergleichbar elementarer Grundwert der Bundesverfassung, wie es die grundrechtlichen Kerngehalte sind. Um seine wichtigen Funktionen weiterhin wirksam wahrnehmen zu können, muss es aber in einer sich stets ändernden gesellschaftlichen Realität dynamisch zur Anwendung gelangen. Je pluralistischer eine Gesellschaft zusammengesetzt ist, umso wichtiger scheint es, unterschiedliche Interessen, Wertungen und Auffassungen einzubinden, um Gefühle der Benachteiligung und Ressentiments zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft, und damit potenzielle Spannungen, zu vermeiden. Es geht mithin darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen der Bundesstaat Schweiz auch künftig seine integrierenden Qualitäten entfalten kann. Dazu leistet das Diskriminierungsverbot einen wichtigen Beitrag.

4.2.3.2

Das Diskriminierungsverbot als materielle Schranke?

Es finden sich Lehrmeinungen, wonach der Verfassungsgeber mit Artikel 8 Absatz 2 BV den Kerngehalt der Rechtsgleichheit umschrieben habe. Zugleich wird aber eingeräumt, das Diskriminierungsverbot bleibe als Kerngehaltsprinzip weiterhin konkretisierungsbedürftig.79 Das Bundesgericht hat diese Überlegungen soweit ersichtlich und trotz regelmässiger Auseinandersetzung mit Artikel 8 Absatz 2 BV bislang nicht übernommen. Beim heutigen Stand der Rechtspraxis würde demnach eine materielle Schranke der Verfassungsrevision, die sich auf «grundrechtliche Kerngehalte der Bundesverfassung» erstreckt, keine Elemente des Diskriminierungsverbots erfassen.

Sollte Artikel 8 Absatz 2 BV als autonome materielle Schranke für Verfassungsrevisionen gelten, müsste dies im Verfassungstext zusätzlich erwähnt sein. Die Aufnahme des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbots in den Katalog der materiellen Schranken würde die Ungültigkeit von Initiativen bedeuten, die im Sinne von Artikel 8 Absatz 2 BV eine qualifizierte Ungleichbehandlung bewirken. So hat der Bundesrat in der Botschaft vom 27. August 2008 zur Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten» ausgeführt, das Vorhaben stehe im Widerspruch zum Diskriminierungsverbot.80 Weitere vergleichbare Fälle sind vorstellbar. Zu denken ist etwa an eine Volksinitiative, welche fordert, dass für Straftaten, die durch Personen mit einer bestimmten Herkunft begangen werden, prinzipiell härtere Sanktionen ausgesprochen werden. Ein weiteres Beispiel wäre eine Volksinitiative, welche für sämtliche Kinder gewisser Glaubensrichtungen eine Schulpflicht in gesonderten Schulen einführt. Schliesslich könnte beispielsweise die willkürliche Aufteilung der Sitzplätze in einem Bus getrennt nach Hautfarbe oder nach religiösen Gruppen angeführt werden. Ein derartiger Eingriff knüpft an besonders sensiblen persönlichen und «unablegbaren» Merkmalen an, nämlich der Zugehörigkeit zu einer Rasse oder Religionsgemeinschaft. Der Eingriff lässt sich zudem auf keinerlei qualifizierte und 79

80

Bernhard Waldmann, Das Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 BV als besonderer Gleichheitssatz, Bern 2003, S. 174 ff., 499; vgl. ferner Markus Schefer, Die Kerngehalte von Grundrechten. Geltung, Dogmatik, inhaltliche Ausgestaltung, Bern 2001, S. 476 ff.

und Thomas Gächter, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, Zürich 2005, S. 388.

BBl 2008 7603 ff. (7615 f., 7638 ff.).

3648

objektive Gründe abstützen und schafft für die betroffene Gruppe eine pauschale und schwerwiegende Herabwürdigung, welche die Menschenwürde besonders stark tangiert. Zu diesem Element hält das Bundesgericht etwa in BGE 134 I 49 fest (E. 3.2): «[Die] Ungleichbehandlung wegen eines religiösen Bekenntnisses lässt sich durch keinerlei qualifizierte und objektive Gründe rechtfertigen. Glaubensinhalte, die ein religiös motiviertes Verhalten begründen oder bestimmte Bekleidungsweisen nahelegen, sind grundsätzlich nicht zu überprüfen und zu bewerten (vgl. BGE 119 Ia 178 E. 4c S. 185). Art. 8 Abs. 2 ist insoweit Ausdruck weltanschaulicher Pluralität und gebietet im Grundsatz die Anerkennung von Bekenntnissen und Überzeugungen, die von den in der Schweiz herkömmlichen Vorstellungen abweichen.» Das Bundesgericht führte zudem aus (E. 3.1), dass eine Diskriminierung vorliege, «wenn eine Person ungleich behandelt wird allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, welche historisch und in der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit tendenziell ausgegrenzt oder sonst als minderwertig behandelt wird. Die Diskriminierung stellt eine qualifizierte Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Situationen dar, indem sie eine Benachteiligung von Menschen bewirkt, die als Herabwürdigung oder Ausgrenzung einzustufen ist, weil sie an Unterscheidungsmerkmale anknüpft, die einen wesentlichen und nicht oder nur schwer aufgebbaren Bestandteil der Identität der betroffenen Personen ausmachen; insofern beschlägt das Diskriminierungsverbot auch Aspekte der Menschenwürde nach Artikel 7 BV.» Das Diskriminierungsverbot schützt Bereiche, in denen auch wichtige völkerrechtliche Grundprinzipien bestehen. Würde also zusätzlich zu den grundrechtlichen Kerngehalten das Diskriminierungsverbot als neue materielle Schranke der Verfassungsrevision verankert, könnten weitere potenzielle Konflikte zwischen Völkerrecht und neu geschaffenem Verfassungsrecht vermieden werden. Indem verhindert wird, dass keine dem Diskriminierungsverbot widersprechenden Verfassungsvorlagen zur Abstimmung gelangen, würde ferner auch das Prinzip der Einheit der Bundesverfassung gestärkt. Die Hervorhebung des Diskriminierungsverbotes wäre ­ wie diejenige der Kerngehalte der Grundrechte ­ eine konsequente Umsetzung und Ausprägung der gefestigten
Entscheidung des Schweizer Verfassungsgebers für eine materielle Grundordnung81, die sich nicht auf organisatorisch-institutionelle Grundlegungen beschränkt, sondern in den verschiedenen Bereichen der staatlichen und sozialen Ordnung inhaltliche Grundentscheidungen trifft, die eine rechtsstaatlichdemokratische Ordnung sowie Freiheit und Menschenwürde der Bürgerinnen und Bürger gewährleisten. Das Diskriminierungsverbot ist schliesslich ein in der verfassungsrechtlichen Praxis etablierter Begriff, dessen Anwendung und Gehalt in Lehre und Praxis in den wesentlichen Grundzügen unbestritten ist.

Diesen Vorteilen steht der Nachteil einer zusätzlichen Beschränkung des Initiativrechts entgegen. Zudem sind einige der in Artikel 8 Absatz 2 BV aufgeführten Anknüpfungsmerkmale mit Unklarheiten behaftet, etwa die Begriffe der sozialen Stellung oder der weltanschaulichen Überzeugung. Schliesslich bestehen zwischen den grundrechtlichen Kerngehalten von Freiheitsrechten und dem Diskriminierungsverbot wesentliche strukturelle Unterschiede: Während erstere einen Bereich kennzeichnen, der vor staatlichen Eingriffen absolut geschützt ist, statuiert das Diskrimi81

Ulrich Häfelin/Walter Haller/Helen Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl., Zürich 2008, Rz. 21; zum Diskriminierungsverbot insb. Jörg Paul Müller/Markus Schefer, Grundrechte in der Schweiz. Im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der UNO-Pakte, 4. Aufl., Bern 2008, S. 679 ff., 684 ff. m.w.H.; S. 135 ff., 192 f.

3649

nierungsverbot kein generelles Anknüpfungsverbot an die in Artikel 8 Absatz 2 BV aufgeführten Merkmale.

Falls das Parlament über die vom Bundesrat vorgeschlagene Erweiterung des Ungültigkeitsgrunds auf grundrechtliche Kerngehalte der Bundesverfassung hinausgehen möchte, bestünde ­ wie dargelegt ­ eine Möglichkeit darin, das Diskriminierungsverbot als materielle Schranke von Verfassungsrevisionen vorzusehen.

4.2.4

Verfahrensgarantien als Minimalgarantien

Die Bundesverfassung verankert im Kapitel über die Grundrechte allgemeine Verfahrensgarantien und solche für gerichtliche Verfahren (Art. 29 und 30 BV), einen Anspruch auf Gerichtszugang unter Vorbehalt gesetzlicher Ausnahmen (Art. 29a BV) sowie Verfahrensgarantien im Strafverfahren (Art. 32 BV) und beim Freiheitsentzug (Art. 31 BV). Die genannten Ansprüche dienen als Instrument zum Schutz der materiellen (Grund-)Rechte bzw. zur Durchsetzung individueller Rechtsansprüche. In den Verfahrensgrundrechten spiegelt sich die Einsicht, dass die Legitimität staatlicher Anordnungen wesentlich auf der Fairness des vorangehenden Verfahrens und der Mitwirkung der betroffenen Person beruht. Besondere Schutzfunktionen erfüllen die Verfahrensgarantien bei der Anordnung staatlicher Zwangsmassnahmen, namentlich bei freiheitsentziehenden Massnahmen.82 Die beschriebene, Legitimität stiftende Funktion der Verfahrensgrundrechte unterscheidet sich wesentlich von der Abwehrfunktion der Freiheitsrechte, in deren Schutzbereich der Staat unter den Voraussetzungen von Artikel 36 BV zulässigerweise eingreifen kann (vgl. Ziff. 4.2.2.1). Die Unterscheidung in (gerechtfertigte) Grundrechtseingriffe und Grundrechtsverletzungen, wie sie bei den Freiheitsrechten möglich ist, kann nicht unbesehen auf die Verfahrensgarantien übertragen werden.

Folglich stellt sich auch die Frage nach einem Kerngehalt der Verfahrensgarantien nicht, weil jeder Eingriff in eine Verfahrensgarantie unweigerlich eine Grundrechtsverletzung bewirkt.83 Darin dürfte die Begründung liegen, weshalb in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis Diskussionen über Kerngehalte von Verfahrensgrundrechten kaum geführt werden. Demnach wären die Verfahrensgrundrechte von einer Erweiterung der Ungültigkeitsgründe auf «grundrechtliche Kerngehalte der Bundesverfassung» nicht erfasst. Sollten sie als autonome materielle Schranke für Verfassungsrevisionen funktionieren, müsste dies ausdrücklich im Verfassungstext abgebildet sein. Weil aber damit eine massive Einschränkung des Initiativrechts und damit eine Zurückdrängung des Demokratieprinzips verbunden wäre, ist nach Auffassung des Bundesrats von einer solchen Lösung Abstand zu nehmen.

82 83

Vgl. Regina Kiener/Walter Kälin, Grundrechte, Bern 2007, S. 27 f.

Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Bern 2007, § 7 Rz. 114.

3650

4.2.5

Einschätzung der Vor- und Nachteile der Erweiterung der Ungültigkeitsgründe auf die grundrechtlichen Kerngehalte der Bundesverfassung

Eine Analyse der vorgeschlagenen Einführung autonomer Schranken der Verfassung macht folgende Vorteile deutlich: Die Anknüpfung an die grundrechtlichen Kerngehalte stellt auf einen etablierten, im Verfassungstext bereits verankerten Rechtsbegriff ab (Art. 36 Abs. 4 BV). Jedenfalls für einen Teil wichtiger Freiheitsrechte bestehen deutliche inhaltliche Umschreibungen des Kerngehalts und damit bestimmte und praktikable Kriterien für die Gültigkeitsprüfung von Verfassungsvorlagen. Die Erweiterung des Ungültigkeitstatbestands ist massvoll und stärkt damit ­ unter gleichzeitiger Schonung des Demokratieprinzips ­ das Rechtsstaatsprinzip.

Die grundrechtlichen Kerngehalte gehen nur insofern über das Minimum des internationalen Rechts (zwingendes Völkerrecht und notstandsfeste Garantien) hinaus, als spezifisch schweizerische Gewährleistungen betroffen sind. Und schliesslich ­ und darin liegt der eigentliche Zweck des Lösungsvorschlags ­ leistet die Erweiterung der materiellen Schranken auf grundrechtliche Kerngehalte einen wichtigen Beitrag zur Vermeidung von Kollisionen zwischen dem Initiativ- und dem Völkerrecht. Mit der Erweiterung kann die Schaffung von Verfassungsrecht verhindert werden, welches Bestimmungen widerspricht, die in wichtigen völkerrechtlichen (insbesondere menschenrechtlichen) Verträgen niedergelegt sind oder sich als Völkergewohnheitsrecht herausgebildet haben und die nach ihrem Gehalt mit grundrechtlichen Kerngehalten deckungsgleich sind.

Inhalt und Funktion der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts und der grundrechtlichen Kerngehalte, beschrieben in den Ziffern 2.4.1 und 4.2.2, machen die vielfachen Bezugspunkte und Überschneidungen deutlich. Einerseits zwischen dem zwingenden Völkerrecht und den notstandsfesten Garantien des Völkerrechts: So überschneiden sich beispielsweise Normen des Ius cogens mit Garantien des UNO-Pakts II (Folter- und Sklavereiverbot) und solchen der EMRK (Verbot der Leibeigenschaft und Grundsatz «Keine Strafe ohne Gesetz»). Andererseits bestehen Überschneidungen zwischen diesen völkerrechtlichen Normen und der hier untersuchten autonomen Schranke der grundrechtlichen Kerngehalte, weil deren Inhalt wesentlich auch durch völkerrechtliche Garantien mitgestaltet wird (Recht auf Leben,84 Verbot des Schuldverhafts,85 Forum internum der Glaubens- und Gewissensfreiheit86,
allgemeine Rechtsfähigkeit87). Die Unmöglichkeit einer trennscharfen Abgrenzung ist indessen kein Nachteil. Sie kann sogar die Anwendung des Ungültigkeitstatbestands vereinfachen, etwa wenn Zweifel bestehen, ob eine internationalrechtliche Bestimmung Ius-cogens-Charakter aufweist oder notstandsfest ist, der entsprechende Norminhalt aber eindeutig als grundrechtlicher Kerngehalt identifiziert ist.

84 85

86 87

Vgl. Art. 10 Abs. 1 erster Satz BV und Ziff. 2.4.1.

Vgl. BGE 130 I 169 E. 2.2; ferner Jörg Paul Müller/Markus Schefer, Grundrechte in der Schweiz. Im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der UNO-Pakte, 4. Aufl., Bern 2008, S. 93.

Vgl. Art. 15 Abs. 4 BV und Ziff. 2.4.1 hiervor.

Markus Schefer, Die Kerngehalte von Grundrechten. Geltung, Dogmatik, inhaltliche Ausgestaltung, Bern 2001, S. 472, postuliert, die allgemeine Rechtsfähigkeit sei als Teilgehalt von Art. 7 BV anzuerkennen.

3651

Demgegenüber lassen sich die folgenden Nachteile des vorgeschlagenen Konzepts anführen: Nicht alle potenziellen Konflikte zwischen dem Völkerrecht und neu zu schaffendem Verfassungsrecht werden vermieden. Weiterhin werden Volksinitiativen als gültig erklärt werden müssen, obwohl sie im Widerspruch zu völkerrechtlichen Verpflichtungen stehen, solange die Verfassungsvorlage nicht gegen zwingendes Völkerrecht, notstandsfeste Garantien des Völkerrechts oder grundrechtliche Kerngehalte verstösst. Zwar besteht heute Klarheit über den Begriff des grundrechtlichen Kerngehalts in seiner allgemeinen Umschreibung und über die (absolute) Schutzfunktion der Kerngehalte (Ziff. 4.2.2.1). Die konkrete Ermittlung des Kerngehalts hingegen ist ­ jedenfalls für einen Teil der Grundrechte ­ kein einfaches Unterfangen. Namentlich besteht in Lehre und Praxis noch keine Einigkeit, ob und inwieweit Sozialrechte einen Kerngehalt aufweisen (Anspruch auf unentgeltlichen Grundschulunterricht, Art. 19 BV; Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, Art. 29 Abs. 3 BV).88 Die grundrechtlichen Kerngehalte bilden mithin nicht einen in allen Teilen gefestigten Prüfmassstab. Indessen bestehen vergleichbare Schwierigkeiten bereits unter dem geltendem Verfassungsrecht, das an die «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» anknüpft.

4.2.6

Fazit

Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Erweiterung der materiellen Schranke auf die grundrechtlichen Kerngehalte einen geeigneten und ausgewogenen Beitrag leistet zur Entschärfung der drängendsten Probleme, wie sie durch das Einreichen völkerrechtswidriger Volksinitiativen entstehen können. Gleichzeitig werden die Volksrechte und damit das Demokratieprinzip geschont, und es wird den spezifisch schweizerischen Ausprägungen des Grund- und Menschenrechtsverständnisses entsprochen.

Beispielsweise müsste die Bundesversammlung eine Volksinitiative zur Wiedereinführung der Todesstrafe wegen Verstosses gegen den grundrechtlichen Kerngehalt des Rechts auf Leben (Art. 10 Abs. 1 zweiter Satz BV) für ungültig erklären.89 Hingegen wären die folgenden beispielhaft angeführten Volksinitiativen aus der jüngeren Vergangenheit nach Auffassung des Bundesrats nicht im Widerspruch gestanden zu den grundrechtlichen Kerngehalten: die Ausschaffungsinitiative (2010 angenommen)90, die Minarett-Initiative (2009 angenommen)91, die Initiative «Für

88

89

90

91

Nicht restlos geklärt ist namentlich, ob grundrechtlicher Schutzbereich und Kerngehalt von Sozialrechten deckungsgleich sind (bejaht mit Bezug auf Art. 12 BV in BGE 131 I 166 E. 3.1) und ab welchem Punkt eine Relativierung der Anspruchsvoraussetzungen eine Kerngehaltsverletzung bedeutet.

Vgl. in diesem Zusammenhang die Vorprüfungsverfügung der Bundeskanzlei vom 10. August 2010 betreffend die Volksinitiative «Todesstrafe bei Mord mit sexuellem Missbrauch» (BBl 2010 5471).

Vgl. Botschaft vom 24. Juni 2009 zur Volksinitiative «für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)», BBl 2009 5097 und den entsprechenden Bundesbeschluss vom 18. Juni 2010, BBl 2010 4241.

Vgl. Botschaft vom 27. August 2008 zur Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten», BBl 2008 7603 und den entsprechenden Bundesbeschluss vom 12. Juni 2009, BBl 2009 4381.

3652

demokratische Einbürgerungen» (2008 verworfen)92 oder die Verwahrungsinitiative (2004 angenommen)93.

4.3

Redaktionsvorschläge

Die in Ziffer 4 untersuchte Erweiterung der materiellen Schranken lässt sich mit den folgenden Änderungen der Bundesverfassung umsetzen: BV Art. 139 Abs. 3 Verletzt die Initiative die Einheit der Form, die Einheit der Materie, zwingende Bestimmungen des Völkerrechts oder den Kerngehalt der Grundrechte der Bundesverfassung, so erklärt die Bundesversammlung sie für ganz oder teilweise ungültig.

3

BV Art. 193 Abs. 4 Die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts und der Kerngehalt der Grundrechte der Bundesverfassung dürfen nicht verletzt werden.

4

BV Art. 194 Abs. 2 Die Teilrevision muss die Einheit der Materie wahren und darf die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts und den Kerngehalt der Grundrechte der Bundesverfassung nicht verletzen.

2

5

Anwendung der (relativierten) Schubert-Praxis auf späteres Verfassungsrecht

5.1

Fehlen einer gefestigten Konfliktregel

Der Ausbau des Vorprüfungsverfahrens (Ziff. 3) und die Erweiterung der Ungültigkeitsgründe auf grundrechtliche Kerngehalte (Ziff. 4) verhindern nicht sämtliche Konflikte zwischen dem Völker- und dem Landesrecht. Zur Lösung eines Normwiderspruchs zwischen den nicht zwingenden (dispositiven) Bestimmungen des Völkerrechts und dem Verfassungsrecht enthält die Bundesverfassung keine klare und umfassende Konfliktregel. Artikel 5 Absatz 4 BV beauftragt die Behörden, das Völkerrecht zu beachten; ein absoluter Vorrang des Völkerrechts vor dem Verfassungsrecht und damit eine eigentliche Kollisionsnorm lassen sich daraus aber nicht ableiten. Artikel 190 BV verpflichtet die rechtsanwendenden Behörden, speziell das Bundesgericht, die Bundesgesetze und das Völkerrecht selbst dann anzuwenden, wenn diese verfassungswidrig sind. Die in dieser Bestimmung statuierte Massgeblichkeit des Völkerrechts ist allerdings ­ bezogen auf das Verfassungsrecht ­ keine absolute. Ausnahmen vom Massgeblichkeitsgebot, die ein Teil der Lehre postuliert, 92

93

Vgl. Botschaft vom 25. Oktober 2006 zur Eidgenössischen Volksinitiative «für demokratische Einbürgerungen», BBl 2006 8953 und den entsprechenden Bundesbeschluss vom 5. Oktober 2007, BBl 2007 6947.

Vgl. Botschaft vom 4. April 2001 zur Volksinitiative «Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter», BBl 2001 3433 und den entsprechenden Bundesbeschluss vom 20. Juni 2003, BBl 2003 4434.

3653

wurden im Bericht wiedergegeben mit der Feststellung, dass dazu noch keine gefestigte Behördenpraxis existiere:94 ­

Anwendung der Verfassungsbestimmung, wenn diese jünger als die völkerrechtliche Norm und Artikel 190 BV ist. Das bedeutet mit anderen Worten die Anwendung des Lex-posterior- bzw. Lex-specialis-Prinzips, analog zur Ausnahme für Konflikte zwischen Bundesgesetz und jüngerem Verfassungsrecht.

­

Anwendung der Verfassungsbestimmung, wenn diese jünger als die betroffene völkerrechtliche Norm ist und der Verfassungsgeber bewusst gegen das Völkerrecht verstossen hat (analoge Anwendung der sog. Schubert-Praxis).

In den folgenden Abschnitten wird die Möglichkeit geprüft, die (relativierte) Schubert-Praxis in der Verfassung zu verankern mit dem Ziel, im Sinne einer Kollisionsregel sowohl das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Bundesgesetzen als auch zwischen Völkerrecht und Verfassungsrecht zu klären. Zu diesem Zweck leitet ein Überblick über Geltungsbereich und Funktion der Schubert-Praxis die Ausführungen ein (Ziff. 5.2). Anschliessend erörtert der Zusatzbericht die Entwicklung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (Ziff. 5.3), zeigt die Praxis von Bundesrat und Bundesverwaltung zum Rang des Völkerrechts auf (Ziff. 5.4) und beleuchtet in Ziffer 5.5 beispielhaft die im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens vertretene Haltung der Bundesversammlung betreffend das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht. Ziffer 5 schliesst mit einer Würdigung der Vor- und Nachteile (Ziff. 5.6).

5.2

Geltungsbereich und Funktion der Schubert-Praxis

Beim Verhältnis von Völkerecht und Landesrecht wird differenziert zwischen der innerstaatlichen Geltung des Völkerrechts, der innerstaatlichen Anwendbarkeit des Völkerrechts und dem Rang des Völkerrechts gegenüber dem Landesrecht.95 Die Schubert-Praxis betrifft nur den letzten Punkt, also die Frage des Rangs des Völkerrechts. Sie kommt zur Anwendung, wenn eine völkerrechtliche Bestimmung innerstaatliche Geltung erlangt hat, direkt anwendbar ist und in Konflikt zum Landesrecht steht, also keine völkerrechtskonforme Auslegung des Landesrechts möglich ist.

Gemäss der Schubert-Praxis geht das Völkerrecht, umfassend die völkerrechtlichen Verträge, Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze, den Bundesgesetzen vor, seien diese jünger oder älter. Hat aber die Bundesversammlung einen Verstoss gegen Völkerrecht in Kauf genommen, ist dieser Entscheid für das Bundesgericht aufgrund von Artikel 190 BV verbindlich: Es hat das Bundesgesetz anzuwenden. Ein solcher Vorbehalt der bewussten Völkerrechtsverletzung durch den Bundesgesetzgeber kommt indessen nach der sog. PKK-Rechtsprechung des Bundesgerichts dann nicht zum Tragen, wenn ein Verstoss gegen eine internationale Menschenrechtsgarantie in Frage steht (vgl. differenziert sogleich Ziff. 5.3). Die Schubert-Praxis funktioniert damit als Konfliktregel.

94 95

Bericht, Ziff. 8.6.1 m.w.H.

Vgl. Bericht, Ziff. 5.1 S. 2284. Vgl. dazu und für das Folgende eingehend auch Robert Baumann, Die Tragweite der Schubert-Praxis, AJP 2010, S. 1009 ff.

3654

5.3

Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Rang des Völkerrechts

5.3.1

Vorläufer und Etablierung der Schubert-Praxis

In einer ersten Phase (1875­1933) räumte das Bundesgericht dem Völkerrecht durchwegs den Vorrang ein; in dieser Phase scheint der Vorrang selbstverständlich gewesen zu sein.96 1933 änderte das Bundesgericht mit dem Urteil Steenworden seine Rechtsprechung. Dieser Entscheid war von einer dualistischen Strömung beeinflusst. Das Bundesgericht ging davon aus, völkerrechtliche Verträge und Bundesgesetze seien gleichrangig. Folglich entschied es den Konflikt zwischen einem älteren Vertrag und einem jüngeren Bundesgesetz nach dem Grundsatz lex posterior derogat priori zugunsten des Letzteren.97 In den nächsten siebzehn Jahren löste das Bundesgericht Konflikte zwischen Völkerrecht und Landesrecht nach dem Lex-posterior- oder dem Lex-specialis-Prinzip.98 1968 liess das Bundesgericht im Entscheid Frigerio die Rangfrage ausdrücklich wieder offen, weil das jüngere Gesetz völkerrechtskonform ausgelegt werden konnte. Weiter führte es aus: «Es genügt festzuhalten, dass der Bundesgesetzgeber gültig abgeschlossene Staatsverträge gelten lassen will, sofern er nicht ausdrücklich in Kauf nimmt, dass völkerrechtswidriges Landesrecht zustande komme.»99 Die spätere Schubert-Praxis ist im Urteil Frigerio damit schon angelegt.

Beim 1973 gefällten Entscheid Schubert ging es um einen Konflikt zwischen einem jüngeren Bundesbeschluss und einem älteren Staatsvertrag.100 Ein österreichischer Staatsbürger rügte, die Unterstellung seines geplanten Liegenschaftserwerbs im Kanton Tessin unter die Bewilligungspflicht gemäss Bundesbeschluss über die Bewilligungspflicht für den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland von 1961/1970 (BewB)101 verletze den Niederlassungsvertrag zwischen der Schweiz und Österreich von 1875102. Das Bundesgericht zitierte das Urteil Frigerio und anerkannte ausdrücklich den grundsätzlichen Vorrang des Völkerrechts. Sodann führte es aus, die Möglichkeit des Gesetzgebers, bewusst gegen Völkerrecht zu verstossen erlaube es, gewisse Härten zu mildern und in der Praxis bestimmte dringende Interessen zu wahren. Eine solche bewusste Abweichung (consapevole deroga) sei innerstaatlich massgebend und binde das Bundesgericht gemäss Artikel 113 Absatz 3 aBV.103 Als Beleg für die bewusste Abweichung genügte dem Bundesgericht, dass die Bundesversammlung bei ihren Beratungen die völkerrechtlichen Aspekte in Betracht gezogen und vertieft diskutiert hatte.104 Das Bundesgericht hat

96 97 98 99 100 101 102 103 104

Vgl. exemplarisch BGE 35 I 467 E. 5 S. 473 (Spengler).

BGE 59 II 331 E. 4 (Steenworden).

Robert Baumann, Die Tragweite der Schubert-Praxis, AJP 2010, S. 1010 m.w.H.

BGE 94 I 669 E. 6a (Frigerio).

BGE 99 Ib 39 AS 1961 203; 1965 1239; 1970 1199 SR 0.142.111.631 BGE 99 Ib 39 E. 3 BGE 99 Ib 39 E. 4 S. 44

3655

die Schubert-Praxis in der Folge wiederholt bestätigt.105 ­ Neben dieser «SchubertLinie» hat sich das Bundesgericht in den 1990er-Jahren in verschiedenen Entscheiden für den unbedingten Vorrang des Völkerrechts ausgesprochen.106 Es handelte sich jedoch um Entscheide im Bereich der Auslieferung, für den Artikel 1 Absatz 1 des Rechtshilfegesetzes vom 20. März 1981107 ausdrücklich die Anwendung der völkerrechtlichen Verträge vorbehält.

5.3.2

Vorrang internationaler Menschenrechtsgarantien («PKK-Rechtsprechung»)

Im PKK-Urteil vom 26. Juli 1999108 entschied das Bundesgericht, ein Konflikt zwischen einem völkerrechtlichen Vertrag und einem Bundesgesetz sei unter Rückgriff auf die allgemein anerkannten und in den Artikeln 26 und 27 WVK kodifizierten Grundsätze des Völkerrechts zu lösen (Maxime pacta sunt servanda und Verbot der Berufung auf Landesrecht zur Rechtfertigung der Nichterfüllung völkerrechtlicher Verträge). Diese völkerrechtlichen Grundsätze seien nicht nur für den Gesetzgeber, sondern für sämtliche Staatsorgane bindend. Im Konfliktfall gehe deshalb das Völkerrecht dem Landesrecht prinzipiell vor, mit der Folge, dass eine völkerrechtswidrige Norm im Einzelfall nicht angewendet werden könne. Diese Konfliktregelung dränge sich umso mehr auf, wenn sich der Vorrang aus einer völkerrechtlichen Norm ableite, die dem Schutz der Menschenrechte diene. Offen liess das Bundesgericht, ob in anderen Fällen davon abweichende Konfliktlösungen in Betracht zu ziehen seien, wobei es als Beispiel auf den Schubert-Entscheid verwies.109 Das Bundesgericht hat den PKK-Entscheid in der Folge wiederholt bestätigt.110 Namentlich hat es in einem Urteil aus dem Jahr 2007 dem älteren Vertrag (Freizügigkeitsabkommen) den Vorrang vor der jüngeren Gesetzesbestimmung (Arbeitslosenversicherungsgesetz) mit der Begründung eingeräumt, der Vertrag schütze das grundrechtliche Diskriminierungsverbot. Dies obwohl die Bundesversammlung die betreffende Gesetzesnorm zur Einschränkung der Tragweite des Vertrags beschlossen hatte.111 Die Schubert-Praxis ist mit dem PKK-Entscheid von 1999 in Bezug auf internationale Menschenrechtsgarantien relativiert worden, jedenfalls soweit diese in der EMRK verankert sind. Beweggrund des Bundesgerichts dürfte gewesen sein, Verurteilungen der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

105

106 107 108 109 110 111

BGE 112 II 1 E. 8 S. 13; BGE 117 IV 124 E. 4b S. 128; BGE 117 Ib 367 E. 2b S. 370; relativierend BGE 118 Ia 341 E. 5 S. 353 mit der Erwägung, die Abweichung vom Willen des Gesetzgebers und umso mehr des Verfassungsgebers wäre problematisch; relativierend auch BGE 125 III 209 E. 4a­4c S. 214 ff. Vgl. zur Praxis des Bundesgerichts nach dem Schubert-Entscheid: Alberto Achermann, Der Vorrang des Völkerrechts, in: Thomas Cottier/Alberto Achermann/Daniel Wüger/Valentin Zellweger, Der Staatsvertrag im schweizerischen Verfassungsrecht. Beiträge zu Verhältnis und methodischer Angleichung von Völkerrecht und Bundesrecht, Bern 2001, S. 46­65.

BGE 102 Ia 317 (Lanusse); BGE 106 Ib 400 (Bozano); BGE 122 II 485 SR 351.1 BGE 125 II 417.

BGE 125 II 417 E. 4d Vgl. BGE 128 IV 117 E. 3b S. 122; BGE 128 IV 201 E. 1.3 S. 205 BGE 133 V 367 E. 11

3656

(EGMR) präventiv zu verhindern.112 Bei den Garantien der UNO-Pakte, deren Einhaltung nicht durch ein Gericht überprüft wird, ist das Bundesgericht bedeutend zurückhaltender, wobei es hier bevorzugt argumentiert, die Bestimmung sei nicht direkt anwendbar, und damit einer Konfliktsituation ausweicht.113 Das Bundesgericht scheint zudem gemäss beiläufig geäusserten Rechtsansichten (Obiter dicta) gewillt, dem Völkerrecht den Vorrang einzuräumen, wenn es durch die Annahme in einer Volksabstimmung direktdemokratisch legitimiert ist und nicht gegen zentrale Grundwerte der Verfassung verstösst. Ausserdem scheint es einem völkerrechtlichen Vertrag den Vorrang einräumen zu wollen, wenn der Vertrag selbst bestimmt, dass er dem Landesrecht vorgehe.114 Mit dieser Rechtsprechung ist die Schubert-Praxis seit Ende der 1990er-Jahre in bedeutendem Masse relativiert worden.

5.4

Praxis von Bundesrat und Bundesverwaltung zum Rang des Völkerrechts

Der nachfolgende Abriss zeigt die seit Ende der 1980er-Jahre praktizierte Haltung des Bundesrats und der Bundesverwaltung zum Rang des Völkerrechts. In der EWR-Botschaft führte der Bundesrat 1992 aus, das EWR-Recht gehe dem Landesrecht vor; dieser Vorrang sei eine wichtige Grundbedingung für die Verwirklichung der Vertragsziele. Deshalb seien alle Organe der Eidgenossenschaft direkt an das EWR-Recht gebunden, und kein Organ könne sich auf den Grundsatz der Gewaltenteilung berufen, um sich den daraus fliessenden Verpflichtungen zu entziehen.

Vielmehr gelte diesbezüglich die Kollisionsregel «Völkerecht bricht Landesrecht».115 Die EWR-Botschaft erteilte damit der Schubert-Praxis eine klare Absage.

Im Rahmen der Integrationsbemühungen des Bundesrates hatten bereits 1989 das Bundesamt für Justiz und die Direktion für Völkerrecht eine gemeinsame Stellungnahme publiziert, die sich ebenfalls für den Vorrang des Völkerrechts aussprach.116 Ein Gutachten der Direktion für Völkerrecht aus dem Jahr 1988 gelangte zum gleichen Schluss.117 Nach der Ablehnung des EWR-Vertrags bezeichnete der Bundesrat 1996 in der Botschaft über eine neue Bundesverfassung den Vorrang des Völkerrechts als Grundsatz und wies in einer Fussnote wieder auf die Schubert-Praxis hin.118 In der Botschaft zur Justizreform führte er bezüglich der Schubert-Praxis aus: «Zugunsten dieser Praxis lässt sich anführen, dass es kaum Aufgabe des Richters ist, korrigierend einzugreifen, wenn der Gesetzgeber bewusst Völkerrecht verletzt hat und damit bereit ist, die Konsequenzen des Rechtsbruchs zu tragen. Die Justizreform soll deshalb dem Bundesgericht die Möglichkeit lassen, in solchen ­ seltenen ­ Aus112

113 114

115 116 117 118

So BGE 136 III 168 E. 3.3.4 und die Bemerkungen zu diesem Urteil von Felix Schöbi, Vorrang der EMRK vor Bundesgesetzen?, recht 2010, S. 131 ff.; ferner Bericht, Ziff. 8.6.2 S. 2312.

Beispielsweise in Bezug auf das Recht auf unentgeltlichen Zugang zum Hochschulunterricht: BGE 130 I 113 E. 3.3; BGE 120 Ia 1 E. 5d S. 12 f.

BGE 133 V 367 E. 11.4 und 11.5. Vgl. allerdings zu einem allenfalls bestehenden Richtungsstreit innerhalb des Bundesgerichts Robert Baumann, Die Tragweite der Schubert-Praxis, AJP 2010, S. 1013 f.

Botschaft vom 18.5.1992 zur Genehmigung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, BBl 1992 IV 87 ff.

VPB 53 (1989) Nr. 54, insb. S. 420­423.

SJIR 1989, S. 216 f.

BBl 1997 I 135

3657

nahmefällen weiterhin auf die Durchsetzung des Vorrangs des Völkerrechts zu verzichten.»119 Die Justizreform liess in der Folge die Schubert-Praxis unberührt.

Der Bericht vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht stellt die seit dem Ende der 1990er-Jahre erfolgte Änderung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung dar.120 Dementsprechend folgen Bundesrat und Bundesverwaltung der Relativierung der Schubert-Praxis in Bezug auf internationale Menschenrechtsgarantien. Ferner macht der Bericht deutlich, dass verfassungsrechtliche Grundprinzipien und grundrechtliche Kerngehalte dem Völkerrecht vorgehen.121 Schliesslich sind nach Ansicht des Bundesrats die rechtsanwendenden Behörden grundsätzlich gehalten, völkerrechtswidrige Verfassungsbestimmungen anzuwenden, wenn diese jünger als die völkerrechtliche Bestimmung und Artikel 190 BV sowie direkt anwendbar sind. Den Vorrang jüngeren Verfassungsrechts begründet der Bundesrat mit Artikel 190 BV, der die Gerichte hindere, ihre eigenen Interessenabwägungen an die Stelle der Abwägung des Gesetzgebers zu setzen. Wenn schon die Entscheide des Gesetzgebers für die Gerichte verbindlich seien, müsse dies umso mehr für die ­ demokratisch noch stärker legitimierten ­ Entscheide des Verfassungsgebers gelten.122

5.5

Festlegungen der Bundesversammlung zur Vereinbarkeit von Erlassen mit dem Völkerrecht

Für die Analyse der Schubert-Praxis interessiert die Frage, inwiefern die Bundesversammlung beim Erlass von Landesrecht tatsächlich «bewusste Abweichungen» von völkerrechtlichen Verpflichtungen in Kauf nimmt. Ausgewählte Beispiele geben darüber Aufschluss:123 ­

Beim Bundesbeschluss über die Bewilligungspflicht für den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland (BewB), der dem Bundesgericht den Anstoss zur Schubert-Praxis gab, hat das Parlament zwar völkerrechtliche Aspekte in Betracht gezogen und diskutiert, ging schliesslich aber von der Völkerrechtskonformität aus.124

­

Die Bundesversammlung diskutierte bei den Beratungen zum Bundespersonalgesetz125 im Jahre 1999, ob das Fehlen eines Beschwerdeweges für Leistungslohnentscheide mit der EMRK vereinbar sei. Die Kommission des Ständerats ging von der EMRK-Konformität aus. Die Kommission des Nationalrats beurteilte das Risiko einer Verletzung der EMRK als klein, stand aber für die Einführung eines Beschwerdewegs ein. National- und Ständerat stimmten schliesslich für eine Lösung ohne Beschwerdeweg.126

119 120 121 122 123

BBl 1997 I 514 Bericht, Ziff. 8.6.2 und Ziff. 5.3 des vorliegenden Zusatzberichts.

Bericht, Ziff. 8.6.1 S. 2310 mit Hinweis auf die EWR-Botschaft.

Bericht, Ziff. 9.3.3 und Ziff. 5.1 des vorliegenden Zusatzberichts.

In Anlehnung an die ­ mit weiteren Hinweisen und Beispielen versehene ­ Untersuchung von Robert Baumann, Die Tragweite der Schubert-Praxis, AJP 2010, S. 1016 ff.

124 AS 1961 203; 1965 1239; 1970 1199 125 Bundespersonalgesetz vom 24.3.2000 (BPG; SR 172.220.1).

126 Die (damalige) Eidgenössische Personalrekurskommission hat die parlamentarische Beratung und Entscheidfindung in VPB 68 (2004) Nr. 91 E. 2b/cc nachgezeichnet.

3658

­

Die Meinungen in den Räten waren auch bei den Beratungen zur Änderung des Patentgesetzes127 geteilt. Wichtiger Diskussionspunkt bildete die Völkerrechtskonformität des vorgeschlagenen Systemwechsels von der sogenannten «nationalen Erschöpfung» zur «europäischen Erschöpfung». Verschiedene Parlamentarier gingen von einer Verletzung des WTO-Rechts aus, andere bejahten die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht.128

­

Jüngstes Beispiel ist die parlamentarische Initiative 03.428 (Leutenegger Oberholzer) betreffend die namens- und bürgerrechtliche Gleichstellung der Ehegatten. Der Nationalrat ist einem Vorschlag seiner Rechtskommission gefolgt, obwohl in der Beratung der ­ nicht weiter diskutierte ­ Hinweis auf eine mögliche Verurteilung der Schweiz durch den EGMR gemacht wurde.129 Der Ständerat hat die parlamentarische Initiative noch nicht behandelt. In Würdigung dieser Nationalratsdebatte ist das Bundesgericht in einem jüngst ergangenen Urteil zum Problem der Kollision zwischen dem Namensrecht der Ehegatten und der EMRK zu folgendem Schluss gekommen:130 «Die verweigerte Änderung bzw. Anpassung des ehelichen Namensrechts an die EMRK bzw. aktuelle Rechtsprechung des EGMR läuft darauf hinaus, dass der schweizerische Gesetzgeber bewusst den Grundsatz der Einheit der Familie und ihres Namens höher gewichtet als den Rechtsgleichheitsgrundsatz, wie ihn der Europäische Gerichtshof versteht. Damit liegt nahe, gemäss BGE 99 Ib 39 ff. i.S. Schubert das Bundesgesetz weiterhin als massgeblich zu erachten, [...].»

Weitere Beispiele liessen sich anfügen,131 die deutlich machen, dass die Bundesversammlung bislang noch kaum eine «bewusste Abweichung» (consapevole deroga) von völkerrechtlichen Verpflichtungen im Sinne der Schubert-Praxis in Kauf nahm.

Die Schubert-Praxis stellt vielmehr darauf ab, dass sich die Bundesversammlung mit den völkerrechtlichen Aspekten auseinandergesetzt hat (consapevole dei riflessi e delle implicazioni132).

Am 14. September 2010 hat der Nationalrat beschlossen, der parlamentarischen Initiative 09.414 (Fraktion der Schweizerischen Volkspartei) mit dem Titel «Völkerrecht soll Landesrecht nicht brechen» keine Folge zu geben.133 Nach dem Willen der Initiantin hätte Artikel 190 BV mit dem folgenden neuen Absatz 2 ergänzt werden sollen: «Besteht zwischen einem älteren Staatsvertrag oder einer anderen völkerrechtlichen Norm und einem jüngeren Bundesgesetz ein Widerspruch, so ist das Bundesgericht an das Bundesgesetz gebunden.»

127 128 129 130 131 132 133

Bundesgesetz vom 25.6.1954 über die Erfindungspatente (Patentgesetz; SR 232.14); AS 2009 2615.

AB 2008 S 688 ff.; AB 2008 N 1847 ff. (1853), 1978 AB 2009 N 2283 f., BR Widmer-Schlumpf.

BGE 136 III 168 E. 3.3.3 und 3.3.4 Vgl. Robert Baumann, Die Tragweite der Schubert-Praxis, AJP 2010, S. 1016 ff.

BGE 99 Ib 39 E. 4 AB 2010 N 1229

3659

5.6

Vor- und Nachteile

Mit der Verankerung der ­ im Sinne der «PKK-Rechtsprechung» modifizierten ­ Schubert-Praxis enthielte die Bundesverfassung eine Regel, die den Rang des Gesetzesrechts gegenüber dem Völkerrecht und den Rang des Verfassungsrechts gegenüber dem Völkerrecht festlegen würde. Diese Vorrangregel liesse sich in Artikel 190 BV verankern. Der Normtext könnte wie folgt lauten: «Bei einem Widerspruch zwischen dem Völkerrecht und der Bundesverfassung oder einem Bundesgesetz findet das innerstaatliche Recht Anwendung, wenn der Verfassungs- oder Gesetzgeber bewusst vom Völkerrecht abgewichen ist und die Bestimmung des Völkerrechts nicht dem Schutz der Menschenrechte dient.» Das Bundesgericht könnte einer allfälligen Verurteilung durch den EGMR zuvorkommen, anstatt erst im Rahmen einer Revision nach Artikel 122 des Bundesgerichtsgesetzes134 eine EMRKkonforme Entscheidung treffen zu müssen. Gestützt auf einen im dargelegten Sinne angepassten Artikel 190 BV müsste das Bundesgericht beispielsweise Artikel 72 Absatz 3 BV («Der Bau von Minaretten ist verboten») in einem konkreten Beschwerdeverfahren wegen Verstössen gegen die EMRK die Anwendung versagen.135 Die Analyse der bundesgerichtlichen Praxis hat einige klare Linien aufgezeigt. So ist die im PKK-Entscheid vorgenommene Relativierung der Schubert-Praxis, wonach diese nicht gilt, wenn die völkerrechtliche Norm dem Schutz der Menschenrechte dient, inzwischen in mehreren Entscheiden bestätigt worden. Die Analyse zeigt aber auch, dass die Schubert-Praxis in einzelnen Punkten (noch) nicht gefestigt ist.

Namentlich ist die Tragweite der internationalen Menschenrechtsgarantien, welche den völkerrechtlichen Vorrang begründen sollen, nicht klar bestimmt. Ferner sind zwischen den Abteilungen des Bundesgerichts Abstufungen auszumachen, welches Gewicht dem Willen des Gesetzgebers zukommen soll.136 Damit verbunden ist die Schwierigkeit, dass in der Bundesversammlung die Meinungen über die Völkerrechtskonformität eines Erlasses oft geteilt sind und dementsprechend eine «bewusste Abweichung» des Gesetzgebers kaum je auszumachen ist. Vielmehr scheint es, als verstehe die Bundesversammlung die Völkerrechtskonformität und die Risiken eines völkerrechtswidrigen Erlasses (zumindest auch) als politischen Entscheid. Diese Gründe sprechen dagegen, die Schubert-Praxis in der Verfassung
als (starre) Kollisionsregel zu verankern. Vielmehr soll weiterhin dem Bundesgericht vorbehalten bleiben, die Schubert-Praxis zu ändern, zu präzisieren oder davon Abstand zu nehmen.

Zu den weiteren im Bericht137 und in der Antwort des Bundesrats vom 27. August 2008 auf die Motion 08.3249 (Lukas Reimann, Verfassungsgrundlage für die Schubert-Praxis) bereits angeführten Gründen, die gegen eine Verankerung der SchubertPraxis sprechen, kommt noch ein Grund hinzu: Ohne die gleichzeitige Ausweitung der Ungültigkeitsgründe auf die internationalen Menschenrechtsgarantien führte die Verankerung der Schubert-Praxis zu einem gewissen Ungleichgewicht zwischen den Gewalten: Die Bundesversammlung könnte eine Volksinitiative, welche die interna134

Bundesgesetz vom 17.6.2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz; SR 173.110).

135 Botschaft zur Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten» vom 27.8.2008, BBl 2008 7603 ff., Ziff. 6.3.

136 Vgl. Robert Baumann, Die Tragweite der Schubert-Praxis, AJP 2010, S. 1013 f.

137 Vgl. Bericht, Ziff. 9.3.4.

3660

tionalen Menschenrechtsgarantien (die nicht zwingendem Völkerrecht oder notstandsfesten Garantien des Völkerrechts zugeordnet sind) missachtet, nicht für ungültig erklären. Das Bundesgericht hingegen wäre auf Beschwerde hin in einem konkreten Anwendungsfall gehalten, dem neu geschaffenen Verfassungsrecht die Anwendung zu versagen.

Zusammengefasst überwiegen die Nachteile einer Verankerung der Schubert-Praxis auf Verfassungsstufe. Somit ist ­ auch im Lichte der hier vorgenommenen Analyse der Schubert-Praxis ­ die bereits im Bericht geäusserte Auffassung zu bestätigen.138

6

Gesamtwürdigung und Schlussfolgerung

In Anbetracht der zahlreichen verfassungs- und völkerrechtlichen Eckpunkte und Leitplanken ist das Feld für die Suche nach Lösungen zur besseren Vereinbarkeit zwischen neuem Verfassungsrecht und dem Völkerrecht eng abgesteckt. Wenn weder dem Demokratie- noch dem Rechtsstaatsprinzip eine klare Vorrangstellung zukommen soll, scheiden gewisse Lösungen von vornherein aus. Im Bewusstsein, nicht sämtliche Widersprüche vermeiden zu können, leisten die beiden hier vorgeschlagenen Massnahmen ­ Erweiterung des Vorprüfungsverfahrens und Ausdehnung der Ungültigkeitsgründe ­ je einzeln und in Kombination nach Überzeugung des Bundesrats einen wichtigen Lösungsbeitrag. Das Bundesgericht hat mit der «Schubert-Praxis» eine Vorrangregel entwickelt, mit der sich festlegen lässt, was gilt, wenn das Völkerrecht und die Vorschriften eines Bundesgesetzes voneinander abweichen. Diese Vorrangregel liesse sich ­ im Sinne einer dritten Massnahme ­ analog auf Normenkonflikte zwischen Verfassungsrecht und Völkerrecht übertragen und in der Bundesverfassung verankern. Der Bundesrat empfiehlt jedoch, von einer Aufnahme in den Verfassungstext abzusehen. Im Umgang mit völkerrechtswidrigen Volksinitiativen können die Lösungsbeiträge auch als «Eskalationsstufen» begriffen werden: Falls es nicht bereits im Vorprüfungsverfahren und im Austausch mit dem Initiativkomitee gelingt, Konkordanz mit dem Völkerrecht herzustellen, muss die Bundesversammlung die Volksinitiative für ungültig erklären, soweit sie zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts widerspricht oder grundrechtliche Kerngehalte verletzt. Normkonflikte zwischen Verfassungs- und Völkerrecht blieben jedoch weiterhin denkbar. Auf der dritten «Eskalationsstufe» schliesslich müssen die rechtsanwendenden Behörden, namentlich das Bundesgericht, im Einzelfall über den Vorrang entweder des Verfassungsrechts oder des entgegenstehenden Völkerrechts entscheiden. Für die Umsetzung der vorgeschlagenen Massnahmen braucht es die im Zusatzbericht vorgeschlagenen Verfassungs- und Gesetzesänderungen, die dem obligatorischen bzw. dem fakultativen Referendum unterstehen.

138

Vgl. Bericht, Ziff. 9.3.4 S. 2324.

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