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Botschaft des

Bundesrathes an die Bundesversammlung, betreffend die Gewährleistung eines Verfassungsdekrets des Kantons Tessin vom 10. Februar 1883.

(Vom 14. April 1883.)

Tit.

Mittelst schriftlicher Eingabe an den Bundesrath vom 24. März d. J. haben die Gemeinderäthe sämmtlicher Ortschaften des tessinischen Bezirkes Riviera, mit alleiniger Ausnahme desjenigen von Claro, nämlich die Gemeinderäthe von Biasca, Cresciano, Iragna, Lodrino und Osogna (welche Ortschaften zusammen eine Wohnbevölkerung von 3763 Seelen zählen, während Claro 1121 Einwohner hat), gegen ein Dekret des Großen Rathes des Kantons Tessin vom 10. Februar 1883, betreffend Partial-Révision der Staatsverfassung , einen bundesrechtlichen Rekurs im Sinne der nachfolgenden Begehren eingelegt: 1) Es sei dieser Partial-Revision der Verfassung die eidgenössische Gewährleistung zu versagen, weil sie im Widerspruche mit Art. 15 litt, a des Verfassungsdekretes vom 20. Nov. 1875, genannt Riformetta, entstanden sei; 2) Sei von den Bundesbehörden eine genaue Untersuchung der Verbal-Prozesse über die Volksabstimmung vom 4. März abbin und der Stimmzeddel anzuordnen; 3) Möge während der Anhängigkeit dieser Angelegenheit vor dem Forum der Bundesbehörden die Vollziehung des angestrittenen Revisions-Statutes untersagt werden.

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Der Bundesrath, dem eine offizielle Mittheilung über diese Verfassungsrevision noch nicht zugekommen war, übermittelte die Rekurseingabe dem Staatsrathe des Kantons Tessin mit der Einladung, seine Gegenbemerkungen gleichzeitig mit ;
Dieses ist nun am 5. April d. J. geschehen und wir beehren uns, Ihnen in Nachstehendem vorerst den Inhalt des Revisionswerkes mitzutheilen, sodann die von den Rekurrenten- dagegen erhobenen Einwendungen, sowie die in der Erwiderung der Tessiner Regierung enthaltenen Bemerkungen anzuführen und soweit erforderlich jeweilen zur Begründung unseres Antrages unsere eigene Auffassung in Betreff der streitigen Fragen darzulegen.

I.

Mit Botschaft vom 19. Januar 1883 beantragte der Staatsrath dem Großen Rathe des Kantons Tessin die Vornahme einer PartialRévision der kantonalen Staatsverfassung. Der Große Rath genehmigte durch Schlußabstimmung vom 10. Februar mit 51 gegen 13 Stimmen einen Revisionsentwurf, welcher am 4. März der Volksabstimmung unterbreitet und in derselben bei einer Gresammtzahl von 17,712 zur Berechnung des absoluten Mehrs in Betracht fallenden Stimmen mit 9118 gegen 8536, also mit 261 Stimmen über die absolute Mehrheit, angenommen wurde.

Dieses Abstimmungsresultat ist im Amtsblatte vom 10. März durch den Staatsrath veröffentlicht und die Partial-Révision der Verfassung, vom 10. Februar 1883, demgemäß als angenommen proklamirt worden.

Die Revision erstreckt sich auf folgende wesentliche Punkte:

1. G e r i c h t s o r g a n i s a t i o n (Art. l--4 des Dekretes).

Das Appellationsgericht wird (von bisher 9) auf 5 Mitglieder reduzirt.

Die Bezirke Riviera und Bellinzona erhalten zusammen ein Bezirksgericht, dessen ordentlicher Amtssitz na.ch Bellinzona verlegt wird : dem Gesetze bleibt es vorbehalten, zu bestimmen, daß das Gericht für gewisse Geschäfte im Gerichtshause der Riviera zu sitzen habe. Die übrigen 6 Bezirke behalten ihre Bezirksgerichte.

Die Zahl der Mitglieder der Bezirksgerichte wird (von bisher 5) auf 3 heruntergesetzt, von welchen mindestens zwei aus den Fünfer-

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vorschlagen der Kreise*) durch den Großen Rath zu \Vahlen sind, während nach der bisherigen Verfassungsbestimmurig (Abschnitt III der Revision vom 1./4. März 1855) die Bezirksgerichte aus 5 den Kreisvorschlägen zu entnehmenden Mitgliedern bestanden. Es wird vorgesehen, daß die Gesetzgebung den Gerichtspräsidenten besondere Funktionen übertragen, und dem Appellationsgerichte oder dessen Abtheilungen die Beurtheilung wichtigerer Fälle, die überdem an's Bundesgericht gezogen werden können, mit Umgehung einer Vorinstanz unmittelbar zuweisen kann.

Die Amtsdauer aller Gerichtsbehörden ist auf 6 Jahre (mit öesammterneuerung) festgesetzt. (Bisher betrug dieselbe 4 Jahre mit bloß theilweise, zu Viertheilen, eintretender Erneuerung.)

2. W a h l f ä h i g k e i t (Art. 5).

Die passive Wahlfähigkeit beginnt: a. für die Mitglieder des Großen Käthes mit dem vollendeten 20. (bis jetzt 25.) Altersjahre; · b. für die Mitglieder des Staatsrathes, der Gerichtsbehörden, der Gemeinderäthe und alle übrigen verfassungsmäßigen öffentlichen Behörden mit zurückgelegtem 25. Altersjahre. (Bisher waren die Mitglieder der Bezirks- und Friedensgerichte und der Gemeinderäthe nach dem 25., die Mitglieder des Staatsrathes und des Appellationsgerichtes erst nach zurückgelegtem 30. Lebensjahre wählbar.)

3. G r o ß e r R a t h (Art. 6).

Auf Verlangen der absoluten Mehrheit ihrer Mitglieder nach deren effektivem verfassungsmäßigen Bestände ist
4. F a k u l t a t i v e s R e f e r e n d u m (Art. 7).

Innerhalb eines Monats onach der amtlichen Bekanntmachung der Gesetze und allgemein verbindlicher legislativer Beschlüsse nicht dringlicher Natur kann von 5000 Stimmberechtigten deren Vorlage an das Volk zur Abstimmung über Annahme oder Ver*) Eine Ausnahme bildete bis jetzt der Kreis -- zugleich Bezirk (Distrikt) -- Kiviera, der die dreifache Zahl (15) Kandidaten zu bezeichnen hatte; diese Ausnahme fällt nun dahin, die Riviera wird von nun an, wie alle übrigen Kreise, einen Fünfervorschlag (für das Bezirksgericht Bellinzona-Riviera) zu machen haben.

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werfung verlangt werden, und es muß in diesem Falle die Abstimmung binnen 30 Tagen, nachdem das Begehren als gültig gestellt anerkannt ist, stattfinden.

5. Die S t a n d e s s t i m m e (Art. 8) soll inskünftig vom Volke durch absolute Mehrheit der Stimmenden (statt wie bisanhin durch den Großen Rath) abgegeben werden.

6. U e b e r g a n g s - und A u f h e b u n g s b e s t i m m u n g e n Art. 9--12.

(Aufhebung des Schwurgerichts.)

Der Staatsrath hat binnen 7 Tagen nach der auf den 4. März angeordneten Volksabstimmung über die vorliegende Revision das Resultat der Abstimmung in öffentlicher Sitzung feststellen, und wenn die Revision von der Mehrheit der abstimmenden Bürger als angenommen erscheint, innerhalb 15 Tagen die Kreisversammlungen für die Wahlen, beziehungsweise Wahlvorschläge, betreffend die richterlichen Beamten, und binnen weitern 20 Tagen den Großen Rath zum Erlaß der erforderlichen Ausführungsgesetze und zur Ernennung des Appellationsgerichts, der Anklagekammer und der Bezirksgerichte einzuberufen, -- ferner (ohne Fristbestimmung) die Bundesgenehmigung für diese Revision nach Maßgabe von Art. 6 der Bundesverfassung nachzusuchen.

Die Mitglieder der bestehenden Gerichte bleiben im Amte, bis sie in Gemäßheit der neuen Verfassungsbestimmungen ersetzt sind.

Das Gesetz wird den Amtsantritt der neuen Gerichtsbehörden bestimmen; der Sitz des Bezirksgerichts der Riviera und des Bezirks Bellinzona ist innerhalb des laufenden Jahres ebenfalls mit gesetzlicher Bestimmung des Zeitpunktes nach Bellinzona zu verlegen.

Das Schwurgericht ist abgeschafft.

II.

Die Rekursschrift der genannten fünf Gemeinderäthe der Riviera ergeht sich zwar auch in einer ziemlich scharfen Kritik des meritorischea Werthes der neuesten Verfassungsrevision, des Kantons Tessin. Allein die Einwendungen derselben gegen die neuen organisatorischen Bestimmungen mit Bezug auf die administrativen und gerichtlichen Behörden, deren Zusammensetzung und Amtssitz, die Wählbarkeit ihrer Mitglieder, das Vorschlagsrecht der Kreisversammlungen, die Abschaffung des Schwurgerichts u. s. w. bieten

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keinen Anlaß, vom bundesrechtlichen Standpunkte aus diese Bestimmungen zu beanstanden. Wenn die Rekurrenten insbesondere vermeinen, es könne dem Art. 5 des Verfassungsstatutes, der für die Wählbarkeit der Mitglieder der Staatsbehörden gewisse, sowohl unter sich, als von den Bedingungen der eidgenössischen Militärpflichtigkeit, der eivilrechtlichen Handlungsfähigkeil, der Wahlfähigkeit der Mitglieder des Nationalrath.es u. s. w., abweichende Altersgrenzen festsetzt, Angesichts des Art. 4 der Bundesverfassung die Sanktion des Bundes nicht zu Theil werden, so ist einfach daran zu erinnern, daß dem Art. 4 der Bundesverfassung niemals eine so abstrakte, die Verschiedenheiten der faktischen Verhältnisse verpönende Auslegung gegeben worden ist, was in casu am besten daraus erhellt, daß unter der Herrschaft der 1848er Bundesverfassung, beziehungsweise des nämlichen VerfassuDgsartikels 4, am 1./4. März 1855 eine Partialrevision der tessinisi-.hen Kantonsverfassung stattgefunden hat. die unter Abschnitt V, Ziff. 9, ganz analoge, zum Theil identische Wahlfähigkeitsbestimmungen enthielt und trotzdem durch Bundesbeschluß vom 17. Juli 1855 vorbehaltlos gewährleistet wurde.

Eine fernere Einwendung, die nach feststehendem Bundesrechte sofort als unbegründet erscheint, betrifft den Umstand, daß zufolge Art. 10 des Revisionsdekretes die Ausführung der auf die Gerichtsorganisation und die Wahl der richterlichen Beamten, d. h. der eine völlige Umgestaltung der diesfälligen bisherigen Verhältnisse mit sich bringenden Bestimmungen vor sich gehen soll, bevor die eidgenössische Gewährleistung erfolgt ist. Die Frage, ob die Einführung einer Kantonsverfassung bis nach erlangter eidgenössischer Gewährleistung zu suspendiren sei, ist bereits irn Jahre 1850 in verneinendem Sinne entschieden worden und 'nat seither keine andere Beantwortung gefunden.

, Es läßt sich allerdings nicht einsehen, warum in diesem Falle das zum Mindesten aus praktischen Rücksichten empfehlenswerthe und speziell im Kanton Tessin bisher befolgte Verfahren, vor den Ausführungsbestimmungen, bezw. den daherigen Wahlverhandlungen, die Bundesgenehmigung für die Verfassung einzuholen, nicht beobachtet worden ist. Doch es liegt, wie gesagt, hierin kein Verstoß gegen das bestehende Bundesrecht und so haben wir uns auch mit diesem Einwürfe der Rekurrenten
nicht weiter zu befassen.

Ernstlicher verdient der Vorwurf der Veifassungswidrigkeit, den die fünf Gemeinderäthe mit Bezug auf das ganze Vorgehen der Behörden bei der in Frage stehenden Partialrevision erheben, in Betracht gezogen zu werden. Art. 15 des Revisionsstatutes vom 20. November 1875, der ,,Riformetta", -- so sagen die Rekurren-

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ten -- bezeichne unzweideutig die Bedingungen, unter denen eine totale oder partielle Revision der Kantonsverfassung vorgenommen werden könne. Es könue dies nur geschehen entweder auf Begehren der Mehrheit der Mitglieder des Großen Käthes (nach dessen verfassungsmäßigem Gesammtbestande) oder wenn sieben Tausend stimmberechtigte Bürger in gesetzlicher Form es verlangen. In diesen beiden Fällen habe der Staatsrath inner Monatsfrist dem Volke die Revisionsfrage zu unterbreiten, wobei das Volk eventuell sich gleichzeitig darüber auszusprechen habe, ob es die Revision durch den Großen Rath oder durch einen Verfassungsrath vorgenommen wissen wolle. Durch diese Verfassungsbestimmung, deren bleibenden, allgemein verbindlichen Charakter sowohl der Bundesrath in seinen Botschaften, vom 12. Dezember 1876 über dia ,,Riformetta" (Bundesblatt 1876, Band IV, Seite 805) und vom 9. Juni 1880 über das tessinische Verfassungsgesetz vom 8. Januar 1880 (Bundesblatt 1880, Band III, Seite 299), als auch die nationalräthliche Kommission in ihrem bezüglichen Berichte vom 18. Dezember 1876 (ßundesblatt 1876, Band IV, Seite 827 und 828) anerkannt hätten, sei eine Verfassungsrevision, wie diejenige vom 10. Februar d. J., welche auf Antrag des Staatsrathea von nur 51 gegenüber 13 Großräthen angenommen worden, ein von vorneherein inkonstitutionelles Werk ; denn es hätte zu einer Revision der Zustimmung von mindestens 57 Mitgliedern des Großen Rathes, d. h. der wirklichen absoluten Mehrheit desselben, und darauf der vorgängigen Anfrage an das Volk bedurft. Der Bundesrath habe die Richtigkeit dieser Anschauungsweise bereits in seinem Berichte vom 9. Juni 1880 (Bundesblatt 1880, Bd. III, S. 299) zugegeben, allein aus Gründen der praktischen Konvenienz und aus Scheu vor zu weit getriebenem Formalismus derselben damals keine weitere Folge gegeben, weil die Einwendung nicht schon vor der Volksabstimmung erhoben worden und das Volk übrigens in der Abstimmung seinen Revisionswillen ganz unzweideutig kundgegeben habe.

Im vorwürfigem Falle nun habe die qfientliche Presse, ohne Unterschied der Parteifarbe, die Verfassungswidrigkeit des Vorgehens gleich von Anfang an signalisirt und dagegen Verwahrung eingelegt.

Der Staatsrath selbst habe nur mit einer Stimme mehr den Revisionsantrag1 und in weniger rücksichtsloser Weise beschlossen ;
im Großen Rathe erst, in dessen Kommission gegen alle Uebung Bellinzona durch 2 Mitglieder vertreten gewesen, sei die Riviera ihres Bezirksgerichtes zu Gunsten der doch 1878 mit Verzichtleistung auf weitere Amtssitze ständiger Hauptort gewordenen Stadt Bellinzona beraubt worden. Im Volke aber habe sich zu Gunsten dieses Revisionswerkes eine Mehrheit von bloß 194 Stimmen gefunden. Uni so.

379 mehr sei es gerechtfertigt, von Bundeswegen eine genaue Untersuchung der Verbalprozesse und der Stimmzettel eintreten zu lassen.

Der Staatsrath des Kantons Tessin beruft sich in seiner Erwiderung auf den Vorgang von 1880, wo der Bundesrath und nach diesem die Bundesversammlung über eine gleiche Einwendung einfach zur Tagesordnung geschritten seien. Er macht auf den Sinn und die Tragweite des Art. 15 der Riformetta aufmerksam, zufolge welchem z w e i n e u e W e g e d e r I n i t i a t i v e z u e i n e r V e r f a s s u n g s r e v i s i o n geöffnet worden seien, ohne die bisherigen zu verschließen, und weist im Uebrigen alle Vorwürfe und Ausstellungen, die von den Rekurrenten erhoben werden, als ganz unge rechtfertigt und haltlos zurück.

Nach unzweifelhaften bundesrechtlichen Grundsätzen stehe der sofortigen Inkraftsetzung und Ausführung einer kantonalen Verfassung nach deren Annahme durch das Volk nichts entgegen ; der Vorbehalt der eidgenössischen Gewährleistung habe niemals einen Suspensiv-Effekt geäußert.

Während der Revisionsberathung sowohl als bei der Volksabstimmung habe Alles einen sehr ruhigen und ungestörten Verlauf genommen und keine einzige Beschwerde sei laut geworden.

Das Begehren nach einer eidgenössischen Untersuchung der Abstimmungsverbalprozesse und der Stimmzettel entbehre jeder Begründung. Uebrigens halte der Staatsrath das ganze Material zur unbeschränkten Verfügung der Bundesbehörden.

Der Staatsrath schließt mit dem G e s u c h e , es möge der Partialrevision der Verfassung des Kantons Tessin vom 10. Februar 1883 nach Maßgabe von Art. 6 der Bundesverfassung die Bundesgenehmigung ertheilt werden.

Was nun unsere eigene Auffassung in Bezug auf das durch die konstitutionellen Verhältnisse des Kantons Tessin begründete Verfassungsrevisionsreeht anbelangt, so müssen wir vorerst hervorheben, daß diese Frage vom Bundesrath und der hohen Bundesversammlung bis jetzt materiell- noch nicht entschieden worden ist.

Sowohl die Rekurrenten als der Staatsrath berufen sich mit Unrecht auf unsern Bericht vom 9. Juni 1880 (Bundesbl. 1880, Bd. III, S. 299) betrefi'end die Gewährleistung des tessinischeu Riformino vom 8. Januar 1880. Gegen jenes Verfassungsgesetz hatten die Herren Simen, Mordasini und Mola eine nachträgliche Beschwerde, gestützt auf Art. 15 der Riformetta vom 20. November
1875, eingereicht, d. h. wie die heutigen Rekurrenten die Verfassungsmäßigkeit einer vom Großen Rath auf den Vorsehlag des Staatsrathes mit der absoluten Mehrheit der anwesenden Mitglieder beschlossenen

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Revision bestritten. Der Bundesrath beantragte jedoch, auf diese nachträgliche Eingabe nicht einzutreten, da Niemand im Großen Rathe oder sonstwie vor der Volksabstimmung die Inkonstitutionalität des Vorgehens behauptet und überdem das tessinische Volk in zwei auf einander folgenden Abstimmungen -- am 9. März 1879 und 25. Januar 1880 -- seinen Revisionswillen so ernsthaft kundgegeben habe, daß es als ein zu weit getriebener Formalismus erscheinen dürfte, nun noch einmal von vorn zu beginnen und das Volk erst anzufragen, ob es eine Revision wolle oder nicht. Die Bundesversammlung ist dieser Anschauungsweise beigetretcn. Die Frage ist also nach ihrer meritorischen Seite von den Bundesbehörden nicht beurtheilt worden.

Obgleich sich wohl auch im dermal uns beschäftigenden Falle der Standpunkt der une.inläßlichen Abweisung aus formellen Gründen -- weil eine daherige Beschwerde nicht vor der Volksabstimmung eingereicht worden -- rechtfertigen ließe, so ziehen wir es doch vor, die Frage nunmehr ex professo zu behandeln, um ein für allemal festzustellen, was in dieser Beziehung im Kanton Tessin als Verfassungsrecht gilt und zu gelten hat.

Die Verfassung des Kantons Tessin vom 23. Juni 1830 hatte bloß dem Staatsrathe, nicht auch dem Großen Rathe, das Recht der Initiative zu gesetzgeberischen Akten, also auch zum Erlaß von verfassungsrechtlichen Bestimmungen, zugeschrieben (Art. 23, § 2 und Art. 24, Absatz 3 der zitirten Verfassung). Durch die Revision vom 1./4. März 1855 (Ziff. II, Nr. 3) erhielt auch der Große Rath dieses Initiativrecht. Allein dessen Schlußnahmen, sofern nicht der Staatsrath seine Zustimmung erklärte, konnten erst dann Gesetzeskraft erlangen, wenn sie in einer ordentlichen Session gefaßt und in einer darauf folgenden zweiten ordentlichen Session bestätigt worden waren. Unter den nämlichen Bedingungen wurde dem Großen Rathe die Befugniß zuerkannt, die Gesetzesvorsehläge des Staatsrathes in definitiver Weise zu modifiziren.

Dieses, wie sich in der Folge herausstellte, unter Umständen mit großen praktischen Unzukömmlichkeiten verbundene Verhältniß veranlaßte bei der Revision vom 20. November 1875, der bekannten ,,Riformetta"1, die Annahme des Art. 15, der allerdings sehr wenig richtig unter die Uebergangsbestimmungen versetzt ist, durch welchen Artikel für Verfassungsrevisionsvorsehläge
eine doppelte neue Initiative eingeführt wurde, nämlich diejenige der Mehrheit der Mitglieder des Großen Käthes, in seiner G-esammtheit als verfassungsmäßiger Körper betrachtet, und diejenige von 7000 stimmfähigen Bürgern.

In d i e s e n b e i d e n F ü l l e n hat eine Anfrage ans Volk zu'erfolgen, ob es revidiren wolle oder nicht, und bejahendenfalls, ob die

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.Revision durch einen (bislang im Kanton Tessin nicht vorgesehenen) Verfassungsrath oder durch den Großen Rath vorgenommen werden solle. Das Brforderniß einer zweimaligen Berathung in ordentlichen Großrathssessionen (oder im Verfassungsrathe) fällt bei einer zufolge Art. 15 der Riformetta vom Volke beschlossenen Revision hinweg, gleichwie bei einer auf den Antrag, resp. mit der Zustimmung des Staatsrathes vom Großen Rathe angenommenen Revision.

Durch die Einführung dieser Initiative des Großen Rathes- und des Volkes wollte nun aber keineswegs die regelmäßige, seit 1830 bestehende Initiative des Staatsrathes zu Verfassungsrevisionsvorschlägen unterdrückt und aufgehoben werden. Es wurde vielmehr bloß die Möglichkeit einer Revision ohne, ja gegen den Willen des Staatsrathes und ohne Behinderung durch denselben, zum verfassungsmäßigen Ausdrucke gebracht. Das im Kanton - Tessin diesfalls geltende konstitutionelle Recht bietet sohin mehrfache Analogie mit dem durch Art. 119 und 120 der Bundesverfassung begründeten eidgenössischen Verfassungsrevisionsrechte dar und es ist keinerlei Grund vorhanden, von Bundeswegen etwas dagegen einzuwenden.

III.

Wir kommen demnach zum Schlüsse,, daß die vom Großen Rathe des Kantons Tessin am 10. Februar 1883 auf den Antrag des Staatsrathes beschlossene partielle Verfassungsrevision auf konstitutionell richtigem Boden vorgenommen worden ist. Wir können auch inhaltlich in den von uns unter I angeführten Bestimmungen derselben nichts den Vorschriften der Bundesverfassung Zuwiderlaufendes erblicken.

Das Revisionswerk ist gemäß der Feststellung der hiezu kompetenten kantonalen Behörde von der Mehrheit der an der Abstimmung theilnehmenden Bürger angenommen worden. Wenn auch diese Mehrheit als eine geringe sich darstellt, so berechtigt doch dieser Umstand -- beim Mangel einer auf thatsächlichen Vorgängen und Anhaltspunkten beruhenden Beschwerde -- die Bundesbehörde überall nicht, in die Richtigkeit des amtlich konstatirten und proklamirten Abstimmungsresultates Zweifel zu setzen und von Bundeswegen , nach dem Begehren der Rekurrenten, eine Untersuchung der Verbalprozesse und Stimmzettel eintreten zu lassen.

Wir schließen hiemit unsern Bericht, indem wir Ihnen empfehlen, den beifolgenden Entwurf zu einem Bundesbeschlusse nach Maßgabe des Art. 6 der Bundesverfassung zu genehmigen.

BundesWatt. 35. Jahrg. Bd. II.

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382 Empfangen Sie, Tit., die erneuerte Versicherung unserer vollkommensten Hochachtung und Ergebenheit.

B e . r n , den 14. April 1883.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

L. Ruchonnet.

Der Stellvertreter des Kanzlers der Eidgenossenschaft:

Schatzmann.

(Entwurf.)

Bundesbeschluß betreffend

Gewährleistung destessinischen Verfassungsgesetzes vom 10. Februar 1883.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft und des Antrages des Bundesrathes vom 14. April 1883, betreffend die am 10. Febr.

1883 vom Großen Rathe des Kantons Tessin beschlossene Partialrevision der Kantonsverfassung, in E r w ä g u n g , daß diese Revision in der Volksabstimmung vom 4. März 1883 von der Mehrheit der stimmenden Bürger angenommen worden ist und nichts enthält, was den Vorschriften der Bundesverfassung zuwider wäre; in Anwendung von Art. 6 der Bundesverfassung, beschließt: 1. Dem oben erwähnten Verfassungsgesetze des Kantons Tessin wird die bundesmäßige Garantie ertheilt.

2. Der Bundesrath ist mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

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(Beilage.)

Verfassungsrevision des Kantons Tessin.

Dekret über Partialrevision der Kantonsverfassung.

(Vom 10. Februar 1883.)

D e r G r o ß e R a t h d e r R e p u b l i k u n d d e s K a n t o n s Tessin, auf den Antrag des Staatsrathes, beschließt folgende Partialrevision der Kantonsverfassunff.

Das souveräne Volk des K a n t o n s Tessin nimmt folgende Partialrevision der Verfassung an : Art. 1. Für den ganzen Kanton wird ein vom Großen Rathe zu ernennendes Appellationsgericht aufgestellt, welches, entgegenstehende Bestimmungen der Bundesverfassung und bezüglicher Gesetze vorbehalten, in letzter Instanz in Civil- und Strafsachen urtheilt.

Dasselbe besteht aus fünf Mitgliedern, mit vier Ersatzmännern.

§ 1. Es wird eine Anklagekam nier gebildet, die aus einem Präsidenten und zwei Mitgliedern, welch' letztere aus den Suppleanten des: Appellatiousgerichtes zu nehmen sind, zusammengesetzt ist.

§ 2. Die Mitglieder des Appellationsgerichts und der Anklagekammer müssen diplomirte Juristen sein oder die vom Gesetze i'ür die Ausübung der Advokatur vorgeschriebenen Eigenschaften besitzen.

384 ·

§ 3. Das Appellationsgericht und die Anklagekammer sollen bei ihren Urtheilssprüchen vollzählig sein; fehlt ein Mitglied, so ist ein Suppléant einzuberufen.

Das Gesetz wird für den Fall der Ablehnung der ganzen Behörde, sowie für den Fall, wo die Behörde nicht durch die ordentlichen Suppleanten sollte ergänzt werden können, Vorsorge treffen.

§ 4. Alle Urtheile über Verbrechen, die mit lebenslänglicher Zuchthausstrafe bedroht sind, müssen ohne Ausnahme dem Appellationsgerichte unterstellt werden.

Art. 2. In den Bezirken Bellinzona und Riviera zusammen, und in jedem der andern sechs Bezirke besteht ein Gericht erster Instanz, welches Civil- und Straffälle beurtheilt; dasselbe ist zusammengesetzt aus drei vom Großen Rathe gewählten Mitgliedern, von welchen wenigstens zwei der Liste der von den Kreisen, im Verhältnis von fünf auf jeden Kreis, zu bezeichnenden Kandidaten zu entnehmen sind.

Für jedes Gerieht sind vom Großen Rathe überdieß zwei ordentliche Suppleanten zu ernennen.

Wird ein Gerieht in seiner Gesammtheit abgelehnt, so geht die Sache zur Beurtheilung an das nächstgelegene Gericht, wobei die durch die Verkehrsmittel bedingte Leichtigkeit der Verbindung in Berücksichtigung fällt.

Art. 3. Das Gesetz bestimmt die Obliegenheiten und Befugnisse der verschiedenen Gerichtsbehörden ; dasselbe kann den Präsidenten der letztern besondere Funktionen übertragen, sowie die Beurtheilung solcher wichtigerer Rechtssachen, welche überdem in die Kompetenz des Bundesgerichtes fallen, unmittelbar dem Appellationsgerichte oder seinen Abtheilungen zuweisen.

Art. 4. Alle Gerichtsbehörden haben eine Amtsdauer von sechs Jahren und unterliegen der Gesammt-Erneuerung.

Ihre Mitglieder sind stets wieder wählbar.

Art. 5. Die Mitglieder des Großen Käthes sind nach erfülltem 20. Altersjahr, -- die Mitglieder des Staatsrathes, des Appellatiensgerichtes, der Bezirksgerichte, der Friedensgerichte, der Gremeinderäthe und jeder andern verfassungsmäßigen öffentlichen Behörde dagegen erst nach vollendetem 25. Altersjahre wählbar.

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Art. 6. Auf das Verlangen der die wirkliche absolute Mehrheit der Behörde bildenden Zahl seiner Mitglieder soll der Große Rath vom Staatsrathe zu einer außerordentlichen Session einberufen werden.

Das Begehren muß den Gegenstand der Einberufung bezeichnen.

Der Große Rath hat in diesem Falle seine Verhandlungen auf den betreffenden Gegenstand zu beschränken, das heißt : er kann ohne Zustimmung des Staatsrathes sich mit keinem andern Gegenstande befassen.

Art. 7. Die Gesetze, sowie allgemein verbindliche gesetzgeberische Beschlüsse nicht dringlicher Natur müssen dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden, wenn dies innerhalb eines Monats, von der Veröffentlichung im Amtsblatte an gerechnet, von 5000 stimmberechtigten Bürgern verlangt wird.

Ist das Begehren als gültig anerkannt, so darf die Volksabstimmung nicht über 30 Tage hinausgeschoben werden.

Art. 8. Die Standesstimme wird vom Volke in den politischen Wahlversammlungen (Comitien) mittelst absoluter Stimmenmehrheit abgegeben.

Uebergangs- und Aufhebungsbestimmungen.

Art. 9. Die Volksabstimmung über gegenwärtige Partialre vision findet am Sonntag; ^o den 4. März nächsthin statt.

Art. 10. Der Staatsrath wird binnen sieben Tagen, von der Volksabstimmung an, in öffentlicher Sitzung das Ergebniß derselben proklamiren. und wenn die Revision als von der Mehrheit der an der Abstimmung theilnehmenden Bürger angenommen erscheint, im Weitern : a) binnen 14 Tagen die Kreisversammlungen zur Vornahme der ihnen zustehenden gerichtlichen Wahlvorschläge einberufen ; b) binnen weitern 20 darauf folgenden Tagen eine Versammlung des Großen Käthes, zum Zwecke der Erlassung der zur Vollziehung des gegenwärtigen Verfassungsdekretes erforderlichen Gesetze, sowie zur Wahl des Appellationsgerichts, der Anklagekammer und der Bezirksgerichte, veranstalten ; c) die eidgenössische Gewährleistung gemäß Art. 6 der Bundesverfassung einholen.

386 Art. 11. Gegenwärtiger Revisionsentwurf tritt mit dessen Annahme durch das Volk, beziehungsweise mit der Erlassung, wo dieser Fall zutrifft, der bezüglichen Vollziehungsgesetze in Kraft.

Die Mitglieder der dermalen bestehenden Gerichte bleiben im Amte, bis sie gemäß den vorliegenden Revisionsbestimmungen ersetzt sind.

Das Gesetz wird den Termin für den Beginn der neuen Amtsdauer, sowie den Zeitpunkt der innerhalb des laufenden Jahres vorzunehmenden Verlegung des Gerichtssitzes der Bezirke Bellinzona und Riviera nach Bellinzona, .bestimmen.

Das Gesetz kann vorschreiben, daß dieses letztere Gericht für gewisse Verhandlungen im Gerichtssaale der Riviera zu sitzen habe.

Art. 12. Das Gesohwornengericht ist abgeschafft.

Die mit gegenwärtigem Verfassungsstatute im Widerspruche stehenden oder unvereinbarlichen Verfassungs- und Gesetzesbestim.mungen sind aufgehoben.

B e l l i n z o n a , den 10. Februar

1883.

Für den Großen Rath, De r V i z e p r ä s i d e n t :

Riva.

Die Großräthe Sekretäre: Adv. N. Busca.

Adv. G. Bruni.

(

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Botschaft des

Bunderathes an die Bundesversammlung, betreffend Aenderung der Konzession für eine Eisenbahn von Le Pont nach Vallorbes.

(Vom 14. April 1883.)

Tit.

Die Gesellschaft für die Eisausbeutung der Seen des waadtländischen Jouxthales stellt das Begehren, es möchte die ihr am 30. Januar 1882 vom Bunde ertheilte Konzession zum Bau und Betrieb einer Eisenbahn von Le Pont nach Vallorbes (Eisenbahnaktensammlung n. F., VII, 1) bezüglich der Transporttaxen in folgenden Punkten abgeändert werden: Gepäck, per kg. und km. .

.

. 6 Cts. anstatt 2 , 6 Cts..

-T hi e re, per Stück und km.: Pferde, Maulthiere und über ein Jahr alte Fohlen 30 ,, ,, 20 ,, Stiere, Ochsen, Kühe, Rinder, Esel und kleine Fohlen 20 ,, Kälber, Schweine, Schafe, Ziegen und Hun de 7,6 ,, ,, 5 ,, Eilgut: a. Transporttaxe per 50kg. und km. 4,8 ,, b. Expeditionsgebühr per 50 kg. . 15 ,,

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Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung, betreffend die Gewährleistung eines Verfassungsdekrets des Kantons Tessin vom 10. Februar 1883. (Vom 14. April 1883.)

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18.04.1883

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