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Schweizerisches Bundesblatt.

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Bundesrathsbeschluß betreffend

den Rekurs der Kantonalbank von Appenzell A.-Rh. und des Hrn. G. A. Grämiger zum ,,Scheidweg" in Wyl (St. Gallen), betreffend Beeinträchtigung der Gewerbefreiheit durch Wirthschaftspatentverweigerung.

(Vom 16. Januar 1883.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t h hat in Sachen der K a n t o n a l b a n k von A p p e n z e l l A.-Rh.

und des Hrn. G. A. G r ä m i g e r , zum ,,Scheidweg" in Wyl, Kantons St. Gallen, betreffend Beeinträchtigung der Gewerbefreiheit durch Wirthschaftspatentverweigerung; nach angehörtem Berichte des Justiz- und Polizeidepartements und nach Einsicht der Akten, woraus sich ergeben: I. Die Kantonalbank von Appenzell A.-Rh. kam als Faustpfandbesitzerin eines auf der Liegenschaft des J. Kühn, Wirth zum ,,Scheid weg" in Wyl, Kts. St. Gallen, letztrechtlich haftenden, zu Gunsten der Kreditanstalt in St. Gallen lautenden Versicherungsbriefes von Fr. 10,000 in den Fall, in dem am 9. Juli 1881 ausgebrochenen Konkurse des Eigenthümers Kühn zufolge gerichtlicher Liegenschaftsversteigerung vom 10. Oktober und Ueberschlagsverhandlung vom 15. Oktober 1881 die betreffenden Realitäten (Wohnhaus, zwei Scheunen, Hofstatt, Hofraum und Garten, Wies- und Ackerland) um sämmtliche darauf haftende Pfandschulden, zusammen um Fr. 27,183. 50, käuflich zu Eigenthum zu übernehmen.

ßundesblatt. 35. Jahrg. Bd. I.

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220 II. Wie aus zwei Bescheinigungen der Gemeinderathskanzlei Wyl vom 10. und 12. Oktober 1882 hervorgeht, wurde von den Vorbesitzern in dem Hanse zum ,,Scheidweg" vom März 1832 bis zum 9. Juli 1881 ununterbrochen, vom letzten Inhaber seit November 1872, eine Wirthschaft betrieben, und zwar, wie die Gemeinderathskanzlei bemerkt, von allen Inhabern (während mehr als 49 Jahren) ,,polizeilich klaglos und immer solid."

III. Die Kantonalbank von Appenzell A.-Rh. sah sich für ihre neuerworbene Liegenschaft zuerst um einen Käufer um; als sich keine Verkaufsgelegenheit bot, verpachtete sie dieselbe an Georg Ambros Grämiger von Mosnang, welcher bis dahin in diesem Dorfe während vier Jahren die Wirthschaft n zur Toggenburg", nach dem Zeugniß des dortigen Gemeinderathes ebenfalls untadelhaft, geführt hatte.

Im September 1882 stellte G. A. Grämiger beim Gemeinderath von Wyl zu Händen des Regierungsrathes das Gesuch um Ertheilung eines Wirthschaftpatentes auf das von ihm gepachtete Haus zum ,,Scheidweg". Nach Art. 31 des st. gallischen Gesetzes über die Betreibung von Wirthschaften vom 5. Juli 1881 hatte nämlich das frühere Patent beim Konkurse, des Vorbesitzers Kühn sofort abgegeben werden müssen und es war vom Regierungsrathe auch nicht ein Interimspatent während der Dauer des Konkurses nach Mitgabe des nämlichen Gesetzesartikels bewilligt worden.

Der Regierungsrath von St. Gallen verweigerte aber am 12. September ,,in Erwägung, daß durch Regierungsrathsbesohluß vom 30. November v. J. die Ertheilung neuer Wirthschaftspatente in der Gemeinde Wyl gemäß Art. 4, Absatz 2, des Wirthschaftsgesetzes eingestellt worden"1, die Patenterlheilung und beharrte gegenüber einer Vorstellung der Appenzellisch A.-Rhoden'schen Kantonalbank vom 19. September auf dieser seiner Schlußnahme am 27. September d. J. .

IV. Die letztallegirte Gesetzesstelle lautet: ,,Wenn bei zu starker Vermehrung der an einem Orte bestehenden Wirthschaften ernstliche Besorgnisse für das öffentliche Interesse begründet sind, so ist der Regierungsrath berechtigt, die Brtheilung neuer Wirthschaftspatente bis auf Weiteres einzustellen a V. Gegen den regierungsräthlichen Entscheid vom 12./27. September v. J. erklärte die Kantonalbank von Appenzell A.-Rh. unterm 19. Oktober 1882 den Rekurs an den Bundesrath, welchem Rekurse der Pächter der Liegenschaft zum ,,Scheidweg", G. A. Grämiger, laut schriftlicher Erklärung sich anschließt.

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VI. In dem Rekursrneinoriale vom 19. Oktober wird in thatsächlicher und geschichtlicher Beziehung nebst dem zu Ziffer II und III hievor Gesagten namentlich ausgeführt, daß das Haus zum ^Scheidweg11 zu keinem andern Zwecke als zürn Betrieb einer Wirthschaft gebaut worden sei; dasselbe liege am östlichen Ende des Städtchens Wyl. von wo aus zwei Landstraßen, die eine nach St. Gallen, die andere in den Kanton Thurgau, führen. Die Frequenz der Wirthschaft sei infolge dieser günstigen Lage stets, namentlich an Soon- und Markttagen, eine sehr bedeutende gewesen. Noch in den letzten Jahren habe der Besitzer (Kühn) besteingerichtete Stallungen in Verbindung mit geräumiger Scheune erstellen lassen.

Ohne Wirthschaftsbetrieb wäre der ,,Scheidweg" beinahe werthlos; denn das Wies- und Ackerland befinde sich nicht in unmittelbarer Umgebung des Hauses und genüge üherdieß zum selbstständigen Betrieb des landwirtschaftlichen Gewerbes keineswegs, da das Erträgniß kaum für den Bedarf der Wirthschaft ausreiche. In allen Kauf- und Pfandbriefen sei das Besitzthum als ,,Wirthschafta erwähnt; zur Zeit der Errichtung der betreffenden, von der rekurrirenden Kantonalbank abgelösten Pfandtitel habe im ,,Scheidwega eine patentirte Wirthschaft bestanden und im Vertrauen auf diese Verhältnisse habe die Bank diese Realitäten um die schon genannte Summe zu Eigenthum übernommen.

Die Verweigerung des verlangten Wirthschaftpatentes könne auch vor dem Art. 4, Absatz 2, des neuen st. gallischen Gesetzes nicht zu Recht bestehen ; denn es handle sich nicht um eine neuzugründende Wirthschaft, sondern einfach um die Fortsetzung einer alten, an die Stelle des alten trete ein neues Patent.

In rechtlicher Beziehung wird sodann bemerkt, daß die Bestimmung des allegirten Art. 4 den Grundsatz der Gewerbefreiheit geradezu aufhebe. Infolge der Anwendung dieses Artikels werden die im fraglichen Zeitpunkte bereits ini Besitze eines Wirthschaftspatentes befindlichen Personen gegenüber neuen Bewerbern thatsächlich bevorrechtet. Auch im Vergleich zu den Bewohnern anderer Kantone, die eine solche Wirthschaftsgesetzgebung nicht haben, erscheinen die St. Galler als minderberechtigte Schweizerbürger.

Wenn dem st. gallischen Regierungsrathe das Recht zustehe, auf Grundlage des Bevölkerungsverhältnisses die Zahl der Wirthschaften zu normiren, so sei nicht
abzusehen, warum derselbe nicht auch die anderen Gewerbe (Bäcker, Sattler, Schuhmacher u. s. w.) in gleicher Weise numerisch beschränken dürfte. Auf diesem Wege gelange man in die Zeiten des mittelalterlichen Zunftwesens zurück.

Sehr unrichtig sei das öffentliche Interesse als leitendes Motiv in den Vordergrund geschoben worden. Durch die Verminderung

222 der Wirtschaften werde keinesfalls eine Verminderung der Zahl der Konsumenten und des Quantums des Konsums erreicht, sondern ganz sicher nur das Eine : die Verminderung der Konkurrenz. Die Erreichung dieses Privatzweckes liege aber der Bundesverfassung ferne. Im Gegentheil wolle dieselbe, wie- aus der Botschaft des Bundesrathes vom 17. Juni 1870 betreffend Revision der Bundesverfassung klar und bestimmt hervorgehe, allen Ungleichheilen und Abnormitäten im Gebiete des Handels und Verkehrs durch Anerkennung des gemeinschweizerischen Grundrechtes der freien Arbeit und des freien Verkehrs ein Ende machen.

Die Sache habe endlich noch einen sehr bedenklichen ökonomischen Hintergrund. Durch die Anwendung der fraglichen Bestimmung werden die Wirthschaftsgebäulichkeiten zum großen Nachtheil des Hypolhekarkredites entwerthet.

Der st. gallische Regierungsrath scheine in Bezug auf andere Gemeinden diesem letztern Umstände Rechnung zu tragen; denn vor einiger Zeit habe er beschlossen, auch für die Stadt St. Gallen keine Wirthsehaftspatente mehr zu ertheilen, nicht lange darauf aber dort zwei neue Patente ertheilt, dem Vernehmen nach hauptsächlich deßhalb, weil jene Häuser speziell zur Wirthschaftsbetreibung eingerichtet worden waren.

VII. Der Regierungsrath des Kantons St. Gallen betont in seiner Vernehmlassung über das vorliegende, ihm zur Einsicht übermittelte Rekursmemorial, der Art. 4 des am 17. Mai 1881 erlassenen und am 5. Juli des gleichen Jahres in Kraft getretenen st. gallischen Wirthschaftsgesetzes sei der Absicht des Gesetzgebers entsprungen, den erschreckenden Verheerungen des Alkoholismus entgegenzuwirken, der verderblichen Ueberhandnahme der Wirtschaften in gewissen Ortschaften den Riegel zu stecken. Vermehrte Gelegenheit zum Genüsse geistiger Getränke vermehre naturgemäß den Konsum derselben und gefährde dadurch in erhöhtem Maße das öffentliche Wohl.

Diese Besorgniß sei gerade gegenüber der Gemeinde Wyl begründet, wo gemäß dem Berichte des Gemeinderathes vom November 1881 bei einer Bevölkerungszahl von 2947 Einwohnern auf 61 Seelen eine Wirthsehaft entfalle.

Durch die Anwendung der angefochtenen Bestimmung werde der Pächter Grämiger nicht anders behandelt, als jeder im Kanton St. Gallen niedergelassene Kantons- oder Schweizerbürger unter den gleichen Voraussetzungen ebenfalls behandelt würde. Das Privatinteresse aber müsse vor dem in Gefahr stehenden öffentlichen Interesse zurückstehen.

223 Eine Verletzung des Art. 31 der Bundesverfassung liege nicht vor. Denn die Bundesverfassung garantire keine schrankenlose Gewerbefreiheit. Die wichtigste Schranke bilde auch auf diesem Gebiete das öffentliche Wohl. Die Entscheidung des st. gallischen Regierungsrathes sei eine von der Bundesverfassung zugelassene, von der Rücksicht auf das öffentliche Wohl diktirte und auf gesetzlicher Grundlage beruhende Verfügung über die Ausübung des Wirthschaftsgewerbes.

Alles, was die rekurrirende Bankanstalt in Betreff der Anwendbarkeit des Gesetzes im konkreten Falle vorbringe, sei rechtlich unerheblich, da ein in Kraft bestehendes Gesetz ohne Rücksicht auf persönliche Umstände auf alle unter seiner Herrschaft vorkommenden thatsächlichen Verhältnisse gleichmäßig angewendet werden müsse. Uebrigens sei vom 9. Juli 1881 bis zur Patentbewerbung Grämigers zu Anfang September 1882 der Wirthschaftsbetrieb im fraglichen Hause eingestellt gewesen und es habe sich also in Wirklichkeit nicht um eine Patentübertragung, sondern um eine Neupatentirung gehandelt. Würde in der That ein Unterbruch nicht stattgefunden haben, so hätte allerdings das Patent nicht verweigert werden können, da die Bestimmung des Art. 4, Absatz 2, des Gesetzes nur die Ertheilung von n e u e n Patenten, ,,d. h. von solchen auf Häuser, in denen nicht schon unmittelbar vorher gewirthet worden11, im Auge habe.

Ueber den ihr in der Rekursschrift vorgeworfenen Mangel an konsequenter und gleichmäßiger Handhabung des Gesetzes geht die Behörde mit Stillschweigen hinweg ; in Er w ä g u n g : 1) Seit dein Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1874 haben die Bundesbehörden den Grundsatz aufgestellt und in konsequenter Praxis festgehalten, daß die Bewilligung zur Errichtung von Wirthschaften nicht vom Vorhandensein eines öffentlichen Bedürfnisses abhängig gemacht werden dürfe.

Die Verweigerung eines Wirthschaftspa tentes aus dem alleinigen Grunde, daß sich in einer Ortschaft schon Wirthschaften in genügender Zahl vorfinden, wurde in allen Fällen als eine unzuläßige Beeinträchtigung des in Art. 31 der Bundesverfassung niedergelegten Grundsatzes der Gewerbefreiheit erklärt, neben welchem die Beschränkung der Wirthschaften auf eine Normalzahl nicht mehr haltbar sei.

Diese Reehtsanschauung und die darauf gebaute Praxis des Bundesrathes sind durch die jährlichen Geschäftsberichte jeweilen zur Kenntniß der h. Bundesversammlung gebracht und von dieser

224 stillschweigend gebilligt worden. (Vergi. Bundesblatt 1874 HI, 888; 1875 II, 534 5 1876 II, 574; 1880 II, 611; 1881 II, 686.)

2) Der Bundesrath anerkennt mit der Regierung von St. Gallen vollkommen, daß es eine Pflicht der Staatsbehörden ist, den Gefahren und verderblichen Wirkungen des Alkoholismus mit den der Staatsgewalt zu Gebote stehenden Mitteln entgegen zu treten.

Auch haben neuerlich die gesetzgebenden eidgenössischen Räthe durch Annahme von Postulaten betreffend Bekämpfung des Alkoholgenusses und Beschränkung des Wirthschaftwesens (Postulatesammlung n. F. Nr. 256 b und Nr. 284) ihre Geneigtheit kund gegeben, in dieser Richtung vorzugehen.

Es kann jedoch dem Bundesrathe nicht zustehen, deßwegen in Ansehung des konkreten Rekursfalles von einer langjährigen und konstanten bundesrechtlichen Praxis abzugehen, sondern es muß vielmehr die bisherige Rechtsnorm für ihn so lange maßgebend bleiben, als dieselbe nicht durch einen gegentheiligen Bundesbeschluß aufgehoben ist.

3) Aus dem Gesagten folgt, daß der Art. 4, Absatz 2, des st. gallischen Wirthschaftsgesetzes vom 17. Mai/5. Juli 1881 gegen bestehendes Bundesrecht verstößt, weßhalb eine wie vorliegend ausschließlich auf diese Gesetzesstelle begründete Verfügung der kantonalen Behörde vom Bundesrathe nicht geschützt werden kann; beschlossen: 1. Der Rekurs wird als begründet erklärt und die Schlußnahme der Regierung von St. Gallen vom 12./27. September 1882, wodurch dem Rekurrenten G. A. Grämiger ein Wirthschaftspatent auf das Haus zum ,,Scheidweg" in Wyl verweigert wurde, aufgehoben.

2. Die Bestimmung des Art. 4, Absatz 2, des st. gallischen Wirthschaftsgesetzes vom 17. Mai/5. Juli 1881 ist als dem Art. 31 der Bundesverfassung widersprechend außer Kraft gesetzt.

3. Dieser Beschluß soll der Regierung von St. Gallen und den beiden Rekurrenten, letzteren unter Aktenrückschluß, mitgetheilt werden.

B e r n , den 16. Januar 1883.

[m Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

L. Buchonnet.

Des Kanzler der Eidgenossenschaft : Ringier.

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Bundesrathsbeschluß betreffend den Rekurs der Kantonalbank von Appenzell A.-Rh. und des Hrn. G. A. Grämiger zum ,,Scheidweg" in Wyl (St. Gallen), betreffend Beeinträchtigung der Gewerbefreiheit durch Wirthschaftspatentverweigerung. (Vom 16.

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24.02.1883

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