18.048 Botschaft zur Genehmigung des Protokolls zur Änderung des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 23. Mai 2018

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf eines Bundesbeschlusses über die Genehmigung des Protokolls vom 22. November 2017 zur Änderung des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

23. Mai 2018

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Alain Berset Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2018-0397

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Übersicht Eine Überprüfung des Instrumentariums des Europarats im Bereich der Überstellung verurteilter Personen in ihren Heimatstaat bzw. der stellvertretenden Strafvollstreckung durch diesen hat Mängel aufgezeigt, die Probleme bei der praktischen Anwendung verursachen. Das vorliegende Änderungsprotokoll soll die festgestellten Mängel beheben und die Zusammenarbeit verbessern.

Ausgangslage In regelmässigen Abständen überprüft der Europarat die von ihm verabschiedeten Abkommen auf ihre Anwendung durch die Vertragsparteien mit dem Ziel, eine möglichst grosse Wirksamkeit der Instrumente zu gewährleisten. Eine entsprechende Prüfung wurde 2013 mit Bezug auf das Übereinkommen vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen und sein Zusatzprotokoll vom 18. Dezember 1997 durchgeführt. Die Schweiz hat beide Instrumente ratifiziert. Sie sind für sie seit dem 1. Mai 1988 bzw. dem 1. Oktober 2004 in Kraft.

Gestützt auf eine Umfrage bei den Vertragsparteien hat der Europarat beim Zusatzprotokoll gewisse Mängel festgestellt, die das Funktionieren des Instruments und die damit angestrebte Zusammenarbeit beeinträchtigen. Das vorliegende Änderungsprotokoll wurde ausgearbeitet mit dem Ziel, das Zusatzprotokoll an die festgestellten Bedürfnisse anzupassen und dessen praktische Anwendung und damit seine Durchschlagskraft zu verbessern. Die Schweiz hat das Änderungsprotokoll am 22. November 2017 unterzeichnet.

Inhalt der Vorlage Das Zusatzprotokoll ermöglicht für gewisse Fälle die stellvertretende Strafvollstreckung einer in einem Vertragsstaat ausgesprochenen Freiheitsstrafe durch den Heimatstaat der betroffenen Person auch gegen deren Willen. Das Änderungsprotokoll dehnt die Fälle, in denen dies möglich ist, weiter aus. Es schafft neu eine staatsvertragliche Grundlage für die stellvertretende Strafvollstreckung durch den Heimatstaat in Fällen, in denen sich eine Person im Wissen, dass gegen sie in einem Staat eine Strafuntersuchung läuft oder ein Strafurteil ergangen ist, auf legale Weise in ihren Heimatstaat begibt und sich auf diese Weise der Strafvollstreckung im Staat, der das Urteil gefällt hat, entzieht. Heute ist dies nur möglich, wenn die Person aus diesem Staat flieht.

Eine Überstellung gegen den Willen der betroffenen Person ist nach dem Zusatzprotokoll auch möglich, wenn die verurteilte
Person nach Verbüssung der Freiheitsstrafe den Urteilsstaat aufgrund einer Landesverweisung oder einer Aus- oder Wegweisung ohnehin verlassen müsste. Künftig muss kein Kausalzusammenhang zwischen dem Urteil und der Landesverweisung oder der Aus- oder Wegweisung mehr gegeben sein. Weitere Änderungen betreffen die Überstellung im Fall einer Weigerung der betroffenen Person, eine Stellungnahme dazu abzugeben, sowie die Einführung neuer bzw. die Kürzung bestehender Fristen.

Der Inhalt des Änderungsprotokolls ist mit dem Schweizer Recht vereinbar. Es kann direkt angewendet werden. Anpassungen im Landesrecht sind nicht erforderlich.

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Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

Im Bereich der Überstellung verurteilter Personen in ihren Heimatstaat zur Verbüssung der Freiheitsstrafe bzw. der stellvertretenden Strafvollstreckung durch diesen Staat hat die Schweiz sowohl das Europarats-Übereinkommen vom 21. März 19831 über die Überstellung verurteilter Personen (Überstellungsübereinkommen) als auch sein Zusatzprotokoll vom 18. Dezember 19972 (Zusatzprotokoll) ratifiziert. Die Instrumente sind für unser Land seit dem 1. Mai 1988 bzw. dem 1. Oktober 2004 in Kraft. Das Überstellungsübereinkommen wurde bisher von 66 Staaten, das Zusatzprotokoll von 38 Staaten ratifiziert.

Während das Überstellungsübereinkommen es ausländischen Strafgefangenen aus primär humanitären Gründen unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht, auf ihren Wunsch hin für die Verbüssung einer in einem anderen Vertragsstaat ausgesprochenen Freiheitsstrafe in ihren Heimatstaat zurückzukehren, sieht das Zusatzprotokoll in gewissen Fällen die stellvertretende Strafvollstreckung durch den Heimatstaat auch gegen den Willen der betroffenen Person vor. Eine solche Strafvollstreckung ist gemäss Zusatzprotokoll einerseits möglich, wenn sich die verurteilte Person dem Strafvollzug im Staat, der das Urteil gefällt hat (Urteilsstaat), durch Flucht in ihren Heimatstaat entzieht, und andererseits, wenn sie den Urteilsstaat nach fertig verbüsster Freiheitsstrafe aufgrund einer Landesverweisung oder einer Aus- oder Wegweisung ohnehin verlassen müsste, womit die Resozialisierung dort ebenfalls nicht möglich wäre.

Im Jahr 2013, nachdem auch das Zusatzprotokoll bereits für längere Zeit in Kraft war und entsprechende Erfahrungen hatten gesammelt werden können, führte der Sachverständigenausschuss des Europarats für die Anwendung europäischer Übereinkommen auf dem Gebiet des Strafrechts (PC-OC) bei den Vertragsparteien des Überstellungsübereinkommens und seines Zusatzprotokolls eine Umfrage mit Bezug auf die Wirksamkeit der Instrumente durch. Die Umfrage zeigte bezüglich des Zusatzprotokolls gewisse Mängel auf, die aus Sicht der Vertragsparteien seine praktische Anwendung erschwerten.

1.2

Verlauf der Verhandlungen und Verhandlungsergebnis

Gestützt auf die Antworten und Verbesserungsvorschläge der Vertragsparteien und anschliessende Diskussionen in der PC-OC-Vollversammlung stellte das Gremium dem Lenkungsausschuss des Europarats für Strafrechtsfragen (CDPC) Antrag auf Änderung des Zusatzprotokolls zur Behebung der identifizierten Schwierigkeiten.

1 2

SR 0.343 SR 0.343.1

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Auf entsprechende Anweisung erarbeitete es in der Folge das vorliegende Änderungsprotokoll mit dem Ziel, das Zusatzprotokoll zu verbessern und unter Berücksichtigung der Weiterentwicklung der internationalen Zusammenarbeit im Bereich der Überstellung verurteilter Personen seit seinem Inkrafttreten zu modernisieren.

Die festgestellten Mängel, welche die Wirksamkeit des Zusatzprotokolls und die damit angestrebte Zusammenarbeit beeinträchtigten, sollten damit beseitigt werden.

Die Schweiz, die zum Zeitpunkt der Erarbeitung und Verabschiedung des Instruments eine Zeit lang das Präsidium des PC-OC innehatte, war an den Arbeiten massgebend beteiligt.

Nach seiner Verabschiedung durch das Ministerkomitee des Europarats am 5. Juli 2017 wurde das Protokoll zur Änderung des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen3 (Änderungsprotokoll) am 22. November 2017 zur Unterzeichnung aufgelegt und von der Schweiz gleichentags unterzeichnet.

Das Änderungsprotokoll tritt mit der Ratifikation durch alle Vertragsstaaten des Zusatzprotokolls in Kraft. Angesichts der grossen Anzahl Staaten, und um die Zeit zwischen Annahme des Instruments und möglicher Anwendung zu verkürzen, sieht es die Möglichkeit der vorläufigen Anwendung durch Staaten vor, die anlässlich der Ratifizierung oder später eine entsprechende Erklärung abgeben. Der Bundesrat plant die Abgabe einer solchen Erklärung (vgl. Ziff. 2, Erläuterung zu Art. 5).

1.3

Überblick über den Inhalt des Änderungsprotokolls

Die offensichtlichste Neuerung betrifft die Ausdehnung des bisherigen Anwendungsbereichs für die Übernahme der stellvertretenden Strafvollstreckung durch den Heimatstaat gegen den Willen der betroffenen Person. Das Änderungsprotokoll schafft die rechtliche Grundlage dafür, dass künftig auch in Fällen, in denen sich eine von einer Strafuntersuchung betroffene oder eine bereits verurteilte Person auf grundsätzlich legale Weise in ihren Heimatstaat begibt und sich auf diese Weise in der Folge der Strafvollstreckung im Urteilsstaat entzieht, die Vollstreckung der Strafe im Heimatstaat gegen ihren Willen möglich ist. Bisher war dies lediglich bei Flucht aus dem Urteilsstaat möglich.

Ein derartiger Fall hat vor nicht allzu langer Zeit zu Problemen zwischen der Schweiz und Frankreich geführt und war Auslöser für einen ­ in der Folge allerdings abgelehnten ­ parlamentarischen Vorstoss.4 Mangels entsprechender Rechtsgrundlage hatte Frankreich das Ersuchen der zuständigen kantonalen Behörde um stellvertretende Strafvollstreckung im Fall eines französischen Staatsangehörigen abgelehnt, der sich während laufendem Berufungsverfahren legal in seinen Heimatstaat begeben hatte.

3 4

Sammlung europäischer Verträge (SEV) Nr. 222, www.coe.int/de/web/conventions/full-list Motion 15.3510 Feller «Vollzug von in der Schweiz ausgesprochenen Strafen in Mitgliedstaaten des Europarates. Lücken schliessen»

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Weitere Änderungen betreffen: ­

im Fall der Überstellung infolge späterer Landesverweisung, Aus- oder Wegweisung aus dem Urteilsstaat den Verzicht auf den Kausalzusammenhang zwischen dem freiheitsentziehenden Urteil und der Landesverweisung, der Aus- oder Wegweisung nach fertig verbüsster Freiheitsstrafe,

­

die Überstellung in einem solchen Fall, auch wenn die betroffene Person keine Stellungnahme dazu abgibt,

­

sowie die Einführung neuer Fristen beziehungsweise die Kürzung von Fristen im Bereich der Spezialität (Bestimmung, wonach die betroffene Person im Vollstreckungsstaat nur unter bestimmten Voraussetzungen für zuvor begangene andere Straftaten als diejenige, derentwegen die zu vollstreckende Sanktion verhängt wurde, verfolgt, verurteilt, in Haft gehalten oder anderweitig in ihrer persönlichen Freiheit beschränkt werden darf).

1.4

Würdigung

Das Änderungsprotokoll nimmt Anliegen der Praxis auf, die von den Vertragsparteien des Überstellungsübereinkommens und des Zusatzprotokolls aufgrund von Umsetzungs- und Anwendungsschwierigkeiten eingebracht worden sind. Es führt Änderungen ein mit dem Ziel, einen Beitrag zu einer zeitgemässen und wirkungsvolleren, möglichst raschen zwischenstaatlichen Zusammenarbeit im Bereich der Überstellung bzw. der stellvertretenden Strafvollstreckung zu leisten.

Die Möglichkeit der Übernahme der stellvertretenden Strafvollstreckung durch den Heimatstaat in einem zusätzlichen Fall trägt dazu bei, dem Recht in einer weiteren Konstellation zum Durchbruch zu verhelfen. Ohne diese Möglichkeit würde nämlich wie bis anhin Straflosigkeit drohen, wenn der Heimatstaat, wie dies häufig der Fall ist, seine eigenen Staatsangehörigen nicht ausliefert und der Urteilsstaat ein Ersuchen um Übernahme der Strafverfolgung an diesen Staat aus bestimmten Gründen nicht als zielführend oder wünschenswert erachtet.

Die Schweiz verfügt mit den Artikeln 94 und 100 des Rechtshilfegesetzes vom 20. März 19815 (IRSG) bereits heute über eine innerstaatliche Grundlage dafür, dass sie unabhängig davon, wie die betroffene Person in den anderen Staat gelangt ist, ausländischen Ersuchen um stellvertretende Strafvollstreckung nachkommen und selber solche Ersuchen stellen kann. Darin, dass mit dem Änderungsprotokoll neu auch andere Staaten über eine entsprechende rechtliche Grundlage verfügen, wird wohl der Hauptvorteil des Instruments für unser Land liegen. Dabei hängt der konkrete Nutzen einerseits davon ab, wie viele andere Staaten das Änderungsprotokoll ebenfalls ratifizieren und es in der Praxis auch anwenden werden. Letzteres gilt umso mehr, als das Änderungsprotokoll, gleich wie das Überstellungsübereinkommen und das Zusatzprotokoll, keine Verpflichtung für die Vertragsparteien schafft, einem Ersuchen um Überstellung bzw. stellvertretende Strafvollstreckung nachzukommen oder eine Ablehnung zu begründen. Es ist indessen davon auszugehen, dass 5

SR 351.1

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die Staaten, die das Änderungsprotokoll ratifizieren, gemäss dem Prinzip von Treu und Glauben grundsätzlich auch bereit sind, dieses anzuwenden und einem entsprechenden Ersuchen Folge zu leisten.6 Die weiteren neuen Regelungen, die das Zusatzprotokoll punktuell abändern bzw. an im Rahmen der Wirksamkeitsprüfung erkannte Bedürfnisse anpassen, schaffen angesichts einer gewissen Vereinfachung und Straffung des Verfahrens ebenfalls einen Mehrwert.

Die Ratifizierung des Änderungsprotokolls erfordert keine gesetzgeberische Umsetzung. Neben den bereits im schweizerischen Recht verankerten Bestimmungen (Art. 94 und 100 IRSG) erfordern auch die übrigen Regelungen, namentlich angesichts des in Artikel 1 Absatz 1 IRSG statuierten Vorbehalts anderslautenden Konventionsrechts, keine Gesetzesanpassung. Sie sind mit dem Schweizer Recht vereinbar und können direkt angewendet werden.

1.5

Vernehmlassung

Grundsätzlich ist gemäss Artikel 3 Absatz 1 des Vernehmlassungsgesetzes vom 18. März 20057 (VlG) bei völkerrechtlichen Verträgen, die dem Referendum unterliegen, eine Vernehmlassung durchzuführen. Gemäss Artikel 3a Absatz 1 Buchstabe b in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 VlG kann auf die Durchführung eines Vernehmlassungsverfahrens indessen verzichtet werden, wenn davon keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Dies ist vorliegend der Fall. Die Positionen der interessierten Kreise sind bekannt, zumal es hier lediglich darum geht, im geltenden Instrumentarium identifizierte, im Ergebnis stossende oder die Zusammenarbeit beeinträchtigende Mängel zu beheben. Die Stossrichtung wie auch die Grundprinzipien dieser Instrumente, die für die Schweiz seit Langem in Kraft sind, bleiben unverändert. Fragen hinsichtlich sachlicher Richtigkeit, Akzeptanz und Vollzugstauglichkeit stellen sich damit nicht. Vor allem stellt es unbestrittenermassen ein Grundanliegen der schweizerischen Strafrechtspolitik dar, dass sich in der Schweiz zu einer Freiheitsstrafe verurteilte Personen nicht dem Strafvollzug entziehen können, indem sie sich, ­ auf welche Art und Weise auch immer ­, in ihren Heimatstaat begeben, von wo sie nicht an den Urteilsstaat ausgeliefert werden können. Darüber hinaus entsteht auch den Kantonen kein nennenswerter Umsetzungsaufwand. Es wurde demnach im vorliegenden Fall auf die Durchführung einer Vernehmlassung verzichtet.

6

7

Vgl. in diesem Zusammenhang auch den «Rapport explicatif du Protocole portant amendement au Protocole additionnel à la Convention sur le transfèrement des personnes condamnées» (Rapport explicatif), Ziff. 41, abrufbar unter http://conventions.coe.int > liste complète > no 222.

SR 172.061

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2

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Änderungsprotokolls

Art. 1

(Änderung von Art. 2, Titel sowie Abs. 1 des Zusatzprotokolls; Personen, die den Urteilsstaat vor Abschluss der Vollstreckung der gegen sie verhängten Sanktion verlassen haben)

Artikel 1 erweitert den Anwendungsbereich des Zusatzprotokolls. Er schafft eine rechtliche Grundlage für die stellvertretende Strafvollstreckung durch den Heimatstaat gegen den Willen der betroffenen Person, die den Urteilsstaat verlassen hat, bevor sie ihre Freiheitsstrafe dort angetreten oder fertig verbüsst hat. Neu wird dabei nicht mehr unterschieden, auf welche Weise ­ ob durch Flucht oder legal ­ die Person in ihren Heimatstaat gelangt ist. Vorausgesetzt ist einzig, dass sie den Urteilsstaat im Wissen verlassen hat, dass dort gegen sie ein Strafverfahren läuft oder ein Urteil ergangen ist. Das Urteil, mit dem die entsprechende Freiheitsstrafe verhängt wurde, muss im Zeitpunkt, in dem der Urteilsstaat den Heimatstaat um Übernahme der stellvertretenden Strafvollstreckung ersucht, rechtskräftig sein.

Die Bestimmung kann auch in Situationen Anwendung finden, in denen der verurteilten Person ein Strafaufschub gewährt wurde, der, da die Person im Urteilsstaat in der Folge eine weitere Straftat begangen hat, widerrufen wird, nachdem sie bereits in ihren Heimatstaat zurückgekehrt ist. Diesfalls kann der Heimatstaat darum ersucht werden, beide Strafen, die ursprüngliche und die mit dem neuen Urteil ausgesprochene, zu vollstrecken. Da aber, wie bereits gemäss Zusatzprotokoll, Abwesenheitsurteile nicht unter die Bestimmung fallen, muss auch das Urteil im Zusammenhang mit der neuen Straftat in Anwesenheit der betroffenen Person oder eines Verteidigers ihrer Wahl ergangen sein.8 Die geltenden Modalitäten für die Zusammenarbeit gemäss Zusatzprotokoll, namentlich die Möglichkeit des Urteilstaats, den Heimatstaat um Vornahme vorsorglicher Massnahmen zu ersuchen, damit die verurteilte Person sich nicht aus dessen Hoheitsgebiet entfernen kann, bleiben unverändert.

Art. 2

(Änderung von Art. 3 Abs. 1, 3 Bst. a und 4 des Zusatzprotokolls; Verurteilte Personen, die der Ausweisung oder Abschiebung unterliegen)

Artikel 2 sieht verschiedene Änderungen mit Bezug auf die Überstellung verurteilter Personen vor, die der Ausweisung oder Abschiebung unterliegen. Die bereits im Zusatzprotokoll verwendete Formulierung «verurteilte Personen, die der Ausweisung oder Abschiebung unterliegen» soll dabei der unterschiedlichen Terminologie in den verschiedenen Mitgliedstaaten des Europarats Rechnung tragen. Unter die Bestimmung fallen Sanktionen von Gerichten und Anordnungen von Verwaltungsbehörden, infolge derer die betroffene Person zu einem bestimmten Zeitpunkt das Hoheitsgebiet des Urteilsstaates verlassen muss. Ist die Schweiz Urteilsstaat, so handelt es sich um im schweizerischen Recht statuierte Landesverweisungen, Ausund Wegweisungen.

8

Vgl. Rapport explicatif, Ziff. 17.

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Auf die Notwendigkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen der Sanktion, die der Freiheitsstrafe zugrunde liegt, und dem Entscheid oder der Anordnung, wonach die betroffene Person nach der Entlassung aus der Haft den Urteilsstaat verlassen muss, wird verzichtet (Änderung von Art. 3 Abs. 1 des Zusatzprotokolls). Massgebend ist einzig, dass die Person den Urteilsstaat nach verbüsster Haft ohnehin verlassen müsste, womit sich die Resozialisierung in diesem Staat von vornherein nicht erreichen lässt.

Da eine Überstellung der verurteilten Person auch gegen ihren Willen erfolgen kann, sind Regelungen zu ihrem Schutz wie die Gewährung des rechtlichen Gehörs besonders wichtig. Entsprechend sieht das Zusatzprotokoll vor, dass die Meinung der verurteilten Person zur beabsichtigten Überstellung eingeholt, geprüft und berücksichtigt werden muss; die entsprechende Stellungnahme ist dem Vollstreckungsstaat9 dabei zusammen mit dem Ersuchen um Übernahme der Strafvollstreckung zuzustellen. Das Änderungsprotokoll klärt die Situation für den Fall, dass sich die betroffene Person weigert, eine Stellungnahme abzugeben. Auch dann soll gemäss der neuen Fassung von Artikel 3 Absatz 3 Buchstabe a des Zusatzprotokolls eine Überstellung grundsätzlich möglich sein. Der Urteilsstaat legt seinem Ersuchen diesfalls eine Erklärung bei, wonach die betroffene Person die Abgabe einer Stellungnahme verweigert. Nach wie vor wird dieser Person aber in jedem Fall die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme eingeräumt, die im Hinblick auf die geplante Überstellung zu berücksichtigen ist. Ihr rechtliches Gehör bleibt somit gewahrt.

Eine weitere Bestimmung zum Schutz der betroffenen Person ist das bereits im Zusatzprotokoll statuierte, im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen übliche Spezialitätsprinzip. Dieses sieht vor, dass der Vollstreckungsstaat die Person für andere Straftaten als diejenigen, derentwegen die zu vollstreckende Sanktion verhängt wurde, nur unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls verfolgen, aburteilen, in Haft halten oder einer sonstigen Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit unterwerfen darf; eine dieser Voraussetzungen ist die Genehmigung durch den Urteilsstaat. Das Änderungsprotokoll führt neu eine Frist für den entsprechenden Entscheid ein: Grundsätzlich soll der Urteilsstaat diesen spätestens
innert dreier Monate seit Eingang des Ersuchens fällen (Änderung von Art. 3 Abs. 4 Bst. a des Zusatzprotokolls).

Artikel 3 Absatz 4 Buchstabe b des Zusatzprotokolls wird dahingehend geändert, dass der Spezialitätsschutz auch dann entfällt, wenn die betroffene Person 30 Tage nach ihrer endgültigen Entlassung den Vollstreckungsstaat nicht verlassen hat (oder in der Folge dorthin zurückgekehrt ist). Diese Frist, die bisher 45 Tage betrug, wurde im Interesse der Straffung des Verfahrens gekürzt. Sie entspricht derjenigen, die bereits im Vierten Zusatzprotokoll zum Auslieferungsübereinkommen 10 statuiert ist.

9

10

In der Regel ist dies der Heimatstaat; vgl. die entsprechenden Ausführungen in der Botschaft vom 1. Mai 2002 betreffend das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen des Europarats über die Überstellung verurteilter Personen sowie eine Änderung des Rechtshilfegesetzes, BBl 2002 4353 f.

Viertes Zusatzprotokoll vom 20. Sept. 2012 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen; SR 0.353.14

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Art. 3

Unterzeichnung und Ratifikation

Eine Vertragspartei des Übereinkommens, die das Zusatzprotokoll bislang nicht ratifiziert hat, kann dieses nach Auflage des vorliegenden Änderungsprotokolls und bis zu dessen Inkrafttreten nur ratifizieren, wenn sie auch das Änderungsprotokoll ratifiziert. Damit wird vermieden, dass eine Vertragspartei neu nur das Zusatzprotokoll in seiner bisherigen Fassung, aber ohne die Änderungen ratifiziert (Art. 3 Abs. 2).

Art. 4

Inkrafttreten

Voraussetzung für das Inkrafttreten des Änderungsprotokolls ist die Ratifikation, Annahme oder Genehmigung durch alle Vertragsparteien des Zusatzprotokolls.

Art. 5

Vorläufige Anwendung

Artikel 5 ermöglicht die vorläufige Anwendung des Änderungsprotokolls bereits vor seinem Inkrafttreten. Dabei geht es vorliegend nicht um die vorläufige Anwendung durch den Bundesrat gemäss Artikel 7b des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 199711 (RVOG), sondern um die Anwendung des Instruments durch die Schweiz nach seiner Genehmigung durch die eidgenössischen Räte, bevor es nach seinem Artikel 4 in Kraft tritt.

Die möglichst rasche Anwendung im Verhältnis zu gleichgesinnten Staaten liegt im Interesse der Schweiz. Der Bundesrat wird daher bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde gestützt auf Artikel 5 eine Erklärung abgeben, wonach die Schweiz die Bestimmungen des Änderungsprotokolls vor dessen Inkrafttreten im Verhältnis zu anderen Staaten anwenden wird, die ebenfalls eine solche Erklärung abgegeben haben (siehe Art. 1 Abs. 3 des Entwurfs des Bundesbeschlusses).

3

Auswirkungen

3.1

Finanzielle, personelle und andere Auswirkungen auf den Bund

Das Änderungsprotokoll wird auf Bundesebene weder zu finanziellen Mehrkosten noch zu Einsparungen führen und hat keine personellen oder anderen Auswirkungen zur Folge.

11

SR 172.010

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3.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Auf die Kantone wird die Ratifizierung des Änderungsprotokolls keine nennenswerten Auswirkungen haben. Einsparungen wie auch allfällige Mehrkosten aufgrund der Tatsache, dass das Änderungsprotokoll im Verhältnis zur bestehenden Situation punktuelle Erleichterungen für Überstellungen im Fall der späteren Landesverweisung oder der Aus- oder Wegweisung bringt, dürften im Gesamtbild vernachlässigbar sein.

Auf Gemeinden, urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete lässt die Ratifizierung des Änderungsprotokolls keine Auswirkungen erwarten.

3.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft, Gesellschaft, Umwelt und andere Auswirkungen

Die Ratifizierung des Änderungsprotokolls durch die Schweiz hat keine Auswirkungen auf die Volkswirtschaft, die Gesellschaft, die Umwelt oder andere Auswirkungen.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung und zu Strategien des Bundesrates

4.1

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 27. Januar 201612 zur Legislaturplanung 2015­2019 noch im Bundesbeschluss vom 14. Juni 201613 über die Legislaturplanung 2015­2019 angekündigt. Die Genehmigung des Änderungsprotokolls durch die zuständigen Instanzen des Europarats war zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Legislaturplanung noch ausstehend.

Die rasche Ratifikation des neuen Instruments durch die Schweiz ist indessen ein logischer Schritt, wird mit diesem Protokoll, das unter massgeblicher Mitbeteiligung der Schweiz zustande kam, doch das bisherige Instrumentarium in diesem Bereich modernisiert und an aktuelle, auch schweizerische, Bedürfnisse angepasst.

4.2

Verhältnis zu Strategien des Bundesrates

Die Zusammenarbeit mit ihren Partnern in Europa, unter anderem im Rahmen des Europarats, ist für die Schweiz namentlich vor dem Hintergrund grenzüberschreitender Herausforderungen und Bedrohungen, die gemeinsame Lösungen erforderlich machen, aussenpolitisch von grosser Bedeutung. Dies trifft, wie die Aussenpoliti12 13

BBl 2016 1105 BBl 2016 5183

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sche Strategie 2016­201914 festhält, unter anderem auf den Bereich der Kriminalitätsbekämpfung zu. Die aktive Beteiligung an den Arbeiten des Europarats zu neuen Strafrechtsübereinkommen ist fester Bestandteil der Strategie des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV)15, wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 7a Abs. 1 RVOG) oder es sich nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag von beschränkter Tragweite handelt (Art. 7a Abs. 2 RVOG).

Im vorliegenden Fall gibt es keine gesetzliche oder völkerrechtliche Grundlage für die Zuständigkeit des Bundesrates. Gemäss Artikel 8a IRSG kann der Bundesrat selbstständig nur bilaterale Abkommen über die Überstellung verurteilter Personen abschliessen, die den Grundsätzen des Überstellungsübereinkommens folgen müssen, sich also auf die Überstellung auf Wunsch der betroffenen Person beschränken.

Dies ist hier nicht der Fall. Angesichts des Gegenstands und der Tragweite, namentlich der direkten Auswirkungen auf die Individualrechte der betroffenen Personen, kann das Änderungsprotokoll auch nicht als völkerrechtlicher Vertrag von beschränkter Tragweite qualifiziert werden.

Nach dem Gesagten ist gemäss Artikel 166 Absatz 2 BV die Bundesversammlung für die Genehmigung des Änderungsprotokolls vom 22. November 2017 zuständig.

5.2

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder wenn deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Artikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 200216 sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, 14

15 16

Aussenpolitische Strategie 2016­2019, Bericht des Bundesrates über die Schwerpunkte der Legislatur, S. 15, Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten, www.eda.admin.ch > Das EDA > Strategie und Umsetzung der Aussenpolitik SR 101 SR 171.10

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die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten.

Das Änderungsprotokoll enthält Regelungen, die sich auf die Rechtsstellung von Einzelpersonen auswirken und als wichtige rechtsetzende Bestimmungen zu qualifizieren sind. Dies betrifft insbesondere die neu geschaffene Möglichkeit der stellvertretenden Strafvollstreckung durch den Heimatstaat der verurteilten Person auch in Fällen, in denen sich diese Person legal und nicht durch Flucht dorthin begeben hat.

Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Protokolls vom 22. November 2017 zur Änderung des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen ist daher dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen.

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