Administrativhaft im Asylbereich Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 26. Juni 2018

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Bericht 1

Einleitung

1.1

Ausgangslage

Eine asylsuchende Person, deren Asylgesuch abgelehnt und die auch nicht vorläufig aufgenommen wird, muss die Schweiz verlassen. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) verfügt die Wegweisung der betroffenen Person (Art. 44 Asylgesetz1).

Falls Anzeichen dafür bestehen, dass sich eine Person der Wegweisung entziehen will, so kann eine Administrativhaft angeordnet werden, wenn die Wegweisung innert absehbarer Frist durchgeführt werden kann.2 Die Administrativhaft stellt einen Sammelbegriff für verschiedene Haftformen dar (die Vorbereitungshaft nach Artikel 75 Ausländergesetz3, die Ausschaffungshaft nach Artikel 76 AuG, die Ausschaffungshaft wegen fehlender Mitwirkung bei der Beschaffung der Reisedokumente nach Artikel 77 AuG, die Durchsetzungshaft nach Artikel 78 AuG oder die Haft im Dublin-Verfahren nach Artikel 76a AuG). Die verschiedenen Formen der Administrativhaft kommen zu unterschiedlichen Zeitpunkten während der Verfahren zur Anwendung und charakterisieren sich durch unterschiedliche Zweckbestimmungen. Eine Unterscheidung der verschiedenen Haftarten wird im vorliegenden Bericht nur dort vorgenommen, wo dies nötig scheint.4 Als maximale Haftdauer bestimmt Artikel 79 AuG die Dauer von 18 Monaten. Die Voraussetzungen für eine Dublin-Haft wurden im Rahmen der Einführung der sogenannten Dublin III-Verordnung5 verschärft.6 Die Gesetzesanpassungen aufgrund der Dublin III-Verordnung traten am 1. Juli 2015 in Kraft. Wird eine Dublin-Haft angeordnet, so wird deren Dauer an die Maximaldauer nach Artikel 79 AuG angerechnet.7 Die Geschäftsprüfungskommissionen der Eidgenössischen Räte (GPK) erkannten bei der Administrativhaft im Asylbereich Abklärungsbedarf. Die GPK beauftragten deshalb die Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) am 28. Januar 2016, eine entsprechende Evaluation durchzuführen. Die PVK fasste die Ergebnisse der Evaluation in ihrem Bericht vom 1. November 2017 zusammen.

1 2

3 4 5

6 7

Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG; SR 142.31).

Administrativhaft im Asylbereich, Bericht der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle zuhanden der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 1. Nov. 2017, Kap. 2.2.1, S. 12.

Bundesgesetz vom 16. Dez. 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (Ausländergesetz, AuG; SR 142.20).

Die Haftarten sind im Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 2.2.1, S. 12 erläutert.

Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl 2013 L 180/31).

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 2.2.2, S. 13.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 2.2.2, S. 13.

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1.2

Gegenstand der Untersuchung, Kompetenzen und Verfahren der GPK

1.2.1

Gegenstand der Untersuchung

Die Behandlung der Evaluation der PVK wurde der Subkommission EJPD/BK der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK-N) zugewiesen. An der Sitzung vom 23. Juni 2016 beauftragte die Subkommission die PVK, bei der Evaluation folgende Schwerpunkte zu setzen:8 ­

Die Wirksamkeit der Administrativhaft: Kann über die Administrativhaft der Wegweisungsvollzug sichergestellt werden?

­

Die Zweckmässigkeit der kantonalen Anordnung der Administrativhaft.

­

Die angemessene Aufsicht des Bundes über die zweckmässige Anwendung der Administrativhaft.

­

Hinweise zur Rechtmässigkeit der Anwendung der Administrativhaft (soweit möglich).

Die Subkommission äusserte insbesondere den Wunsch, die Situation von minderjährigen Asylsuchenden in Bezug auf die Administrativhaft speziell zu analysieren.

Zudem fasste die PVK den Zusatzauftrag, einen europäischen Vergleich durchzuführen.

Die PVK hat für die statistische Analyse ein externes Mandat an das Büro BASS vergeben. Diese Analyse war auf die Bewertung der Wirksamkeit und Zweckmässigkeit der Administrativhaft ausgerichtet.9 Die PVK führte die restlichen Erhebungen und Auswertungen selbst durch. Unter anderem wurden die rechtlichen Grundlagen, verschiedene weitere Dokumente, Daten von Eurostat und der «Asylum Information Database» analysiert und ca. 50 Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern der Migrationsbehörden aus acht Kantonen und des SEM geführt.

Die Evaluation der PVK stützt sich auf negative Entscheide10 zu Asylgesuchen, die im Zeitraum zwischen 2011 und 2014 ergangen sind. Dies lässt sich damit erklären, dass zur Untersuchung der Wirksamkeit der Administrativhaft bei der Aus- und Wegweisung eine gewisse Zeit nach dem Entscheid zugewartet werden muss, damit der Ausreisestatus von abgewiesenen Asylsuchenden analysiert werden kann.11 Dabei wurde eine Zeitspanne von 18 Monaten gewählt, weil sich gemäss den Aussagen der PVK nach dieser Dauer ein «relativ stabiles Ergebnis des Wegweisungsvollzugs» einstellt.12 Dass negative Asylentscheide untersucht werden, welche zwischen 2011 und 2014 gefällt wurden, bedeutet zweierlei: Erstens konnten die Auswirkungen der Flüchtlingskrise vom Sommer und Herbst 2015 nicht berücksich8 9 10

11 12

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 1.1, S. 5.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 1.2.2, S. 8.

Es gibt verschiedene Arten von negativen Entscheiden. Die für die Evaluation der PVK massgebenden Entscheide sind in Abschnitt 2 aufgeführt. Neben diesen gibt es den Asyl-Widerruf und die Aufhebung der vorläufigen Aufnahme. Da diese beiden Arten in der Praxis vergleichsweise selten vorkommen, wurden sie von der Evaluation nicht berücksichtigt.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 3.1.1, S. 15.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 3.1.1, S. 15, Fn. 17.

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tigt werden. Zweitens betrifft es den Zeitraum vor Inkraftsetzung der Dublin III-Verordnung, weshalb insbesondere die verschärften Voraussetzungen zur Anordnung einer Dublin-Haft für die allermeisten Fälle noch keine Gültigkeit hatten und sich in den Evaluationsresultaten nur begrenzt widerspiegeln. Im untersuchten Zeitraum wurden insgesamt 61 677 negative Asylentscheide gefällt.13

1.2.2

Verfahren und Kompetenzen des Bundes

Bei der Administrativhaft im Asylbereich stellt sich insbesondere die Frage nach der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen und damit auch nach der Kompetenz der GPK. Gemäss Artikel 121 Bundesverfassung14 ist «die Gesetzgebung über die Ein- und Ausreise, den Aufenthalt und die Niederlassung von Ausländerinnen und Ausländern sowie über die Gewährung von Asyl» Sache des Bundes. Gestützt auf diese Verfassungsbestimmung hat der Gesetzgeber das AsylG erlassen.

Über die Gewährung oder Verweigerung von Asyl entscheidet das SEM (Art. 6a AsylG). Wenn das SEM ein Asylgesuch ablehnt oder nicht darauf eintritt, verfügt es in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und ordnet den Vollzug an (Art. 44 AsylG).

Der Vollzug des AsylG obliegt grundsätzlich dem Bundesrat (Art. 119 AsylG). Artikel 46 AsylG sieht jedoch vor, dass für den Vollzug der Wegweisungsverfügung ­ und damit der Wegweisung an sich ­ der jeweilige Zuweisungskanton zuständig ist.

Die Rechtsgrundlage für den Dublin-Vollzug bei illegalem Aufenthalt findet sich in Artikel 64a Absatz 3 AuG. Das SEM überwacht den Vollzug der Wegweisung und erstellt ein Monitoring dazu (Art. 46 Abs. 3 AsylG). Gemäss Artikel 69 AuG können Personen unter bestimmten Voraussetzungen ausgeschafft werden. Die Ausschaffung wird vom zuständigen Kanton durchgeführt. Sind im Einzelfall die Voraussetzungen für eine Vorbereitungs-, Ausschaffungs-, bzw. Durchsetzungshaft erfüllt, so wird diese von den kantonalen Behörden angeordnet, welche für den Vollzug der Weg- oder Ausweisung zuständig sind (Art. 80 Abs. 1 AuG). Diese Ausführungen zeigen, dass sowohl der Vollzug der Aus- und Wegweisung als auch die damit verbundene Anordnung einer der genannten Haftformen in den Kompetenzbereich der Kantone fallen. Befindet sich eine wegzuweisende Person in einem Empfangsund Verfahrenszentrum (EVZ), kann unter gegebenen Voraussetzungen das SEM eine Haft anordnen (Art. 80 Abs. 1 AuG).15 Neben der dargestellten, rechtlichen Kompetenzordnung geht aus dem Schlussbericht der PVK zudem hervor, dass gemäss dem Selbstverständnis der verschiedenen Akteure die Kantone für die Anordnung der Administrativhaft zuständig sind.16 Wie weiter oben bereits festgehalten wurde, ist der Bund für die Überwachung des Vollzugs zuständig. Diese Aufgabe wird in der Bundesverwaltung durch das SEM wahrgenommen (Art. 46 Abs. 3 AsylG). Das SEM erstellt dabei in Zusammenarbeit 13 14 15 16

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 3.1.1, S. 15.

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV; SR 101).

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.1.3, S. 42.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.1.3, S. 42.

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mit den Kantonen ein Monitoring. Die Bestimmung wurde im Rahmen der Revision des Asylrechts vom 25. September 2015 eingeführt und ist seit dem 1. Oktober 2016 in Kraft. Eine weitergehende Konkretisierung nimmt das AsylG indes nicht vor.

Zudem sieht Artikel 124 Absatz 1 AuG vor, dass der Bund den Vollzug des AuG beaufsichtigt. Da die Administrativhaft im AuG geregelt ist, fällt diese unter die Aufsicht des Bundes.17 Abschliessend ist festzuhalten, dass der Vollzug einer Wegweisung und dabei insbesondere die Anordnung einer Administrativhaft in der Kompetenz der Kantone liegt, dass dem Bund dabei aber verschiedene Möglichkeiten der Aufsicht zustehen. Der Bund beaufsichtigt zum einen den Vollzug des AuG durch die Kantone. Zum anderen überwacht der Bund den Vollzug von Wegweisungsverfügungen im Asylbereich und erstellt zusammen mit den Kantonen ein Monitoring. In diesem Rahmen bewegt sich auch die Zuständigkeit der GPK.

Die Subkommission EJPD/BK der GPK-N befasste sich an der Sitzung vom 13. November 2017 mit dem Evaluationsbericht der PVK. Auf der Grundlage dieser Evaluation beschloss die Subkommission, einen Bericht zuhanden der GPK-N auszuarbeiten. An der Sitzung vom 26. Juni 2018 wurde der Berichtsentwurf mitsamt den darin enthaltenen Empfehlungen von der GPK-N beraten und zuhanden des Bundesrates verabschiedet.

Zudem hat die GPK-N entschieden, den vorliegenden Bericht zusammen mit dem Bericht der PVK und dem dazugehörenden Gutachten zu veröffentlichen. Die GPK-N beurteilt im Folgenden die wichtigsten Feststellungen der PVK und formuliert daraus verschiedene Empfehlungen an den Bundesrat.

2

Feststellungen und Empfehlungen

Die Evaluation der PVK fokussiert sich auf die Administrativhaft im Asylbereich.

Andere ausländerrechtliche Fragestellungen wurden nicht behandelt. Damit eine Administrativhaft im Asylbereich angeordnet werden kann, muss meistens18 ein negativer Asylentscheid vorliegen, der eine Wegweisung der betroffenen Person zur Folge hat. Die PVK hat bei der Erarbeitung der Evaluation zwei Arten von negativen Entscheiden und den Beschluss auf Abschreibung unterschieden19: 1. Bei einem Nichteintretensentscheid (NEE) in einem Dublin-Verfahren kommt das SEM zum Schluss, dass die Schweiz gemäss den Bestimmungen der Dublin III-Verordnung nicht für die Prüfung eines Asylgesuches zuständig ist, da ein anderer Staat das Gesuch prüfen muss (NEE Dublin). 2. Wird ein Asylgesuch ausserhalb des DublinVerfahrens materiell geprüft und abgelehnt oder darauf nicht eingetreten, stellt dies eine Ablehnung/NEE dar (Ablehnung/NEE). Die betroffenen Personen werden in ihren Heimatstaat weggewiesen. 3. Zieht eine Person ihr Asylgesuch zurück bzw.

reist freiwillig in den Herkunftsstaat oder einen sicheren Drittstaat aus, verliert sie 17 18

19

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.1.4, S. 43.

Dies trifft nicht auf die Vorbereitungshaft nach Art. 75 AuG zu: Der Zweck dieser Haftart besteht darin, die Durchführung eines Wegweisungsverfahrens oder eines strafrechtlichen Verfahrens sicherzustellen.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 2.1, S. 11.

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das Aufenthaltsrecht in der Schweiz als asylsuchende Person und das Asylgesuch wird abgeschrieben (Abschreibung des Asylgesuchs). Diese Einteilung hat einen Einfluss auf die durch die Vollzugsbehörden zu wählende Form der Haft.

Die PVK hält in ihrem Schlussbericht folgende Erkenntnisse fest: ­

Die Administrativhaft ist wirksam, ihr Einsatz setzt aber eine gute internationale Zusammenarbeit voraus.20

­

Kantonale Unterschiede werfen Fragen nach der Rechtmässigkeit auf (Anordnung der Haft, Haftdauer, Minderjährige).21

­

Eine stärkere Wahrnehmung der Aufsichtsfunktion durch den Bund bietet Chancen, birgt aber auch Risiken.22

­

Die Datenverwaltung des SEM ist ineffizient, fehleranfällig und von beschränktem Nutzen.23

Der vorliegende Bericht der GPK-N befasst sich nachfolgend mit diesen Erkenntnissen und gibt diese soweit wieder, wie es für die Bewertung durch die GPK-N notwendig ist.

2.1

Die Erfassung untergetauchter Personen

Um die Wirksamkeit der Administrativhaft eruieren zu können, wurden 61 677 negative Asylentscheide daraufhin untersucht, ob die betroffenen Personen aus der Schweiz ausgereist sind oder nicht:24 47 % der Betroffenen reisten kontrolliert aus der Schweiz aus. Bei 8 % wurde der negative Asylentscheid in einen legalen, meist temporären Aufenthaltsstatus umgewandelt. 25 % sind unkontrolliert abgereist. Diese Personen sind als untergetaucht zu betrachten. Bei den restlichen 20 % ist der Ausreisestatus offen.

Daraus geht hervor, dass Personen mit einem negativen Asylentscheid in vier Kategorien eingeteilt werden können:25

20 21 22 23 24 25

­

Kontrollierte Abreise: Diese kann selbständig oder unter Zwang (sog. Rückführungen) erfolgen. Dabei wird das Datum, die Art der Ausreise und das Bestimmungsland von den Behörden festgehalten.

­

Legalisierung: Der Aufenthalt wird vorübergehend legalisiert oder es wird eine Härtefallregelung angewandt.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 3, S. 14 ff. und Kap. 7.1, S. 52.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 4, S. 25 ff., Kap. 5, S. 32 ff. und Kap. 7.2, S. 52 f.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6, S. 39 ff. und Kap. 7.3, S. 53 f.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.2, S. 44 und Kap. 7.4, S. 55.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 3.1.1, S. 15.

Administrativhaft im Asylbereich, Mandat «Quantitative Datenanalysen», Büro BASS, Schlussbericht vom 16. Okt. 2017, S. 31 f.

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­

Unkontrollierte Abreise: Besteht zwischen den betroffenen Personen und den Behörden über einen gewissen Zeitraum hinweg kein Kontakt, so werden diese als «unkontrolliert abgereist» registriert. Es handelt sich hierbei lediglich um ein Indiz. Unkontrolliert abgereiste Personen sind demnach abgetaucht, können sich aber noch ­ ohne Kenntnis der Behörden ­ in der Schweiz aufhalten.

­

Offener Ausreisestatus: Dies betrifft jene Personen, die 18 Monate nach dem negativen Entscheid weder kontrolliert ausgereist, noch unkontrolliert abgereist sind und deren Aufenthalt nicht legalisiert wurde. Es handelt sich somit um einen Sammelbegriff für jene Personen, welche nicht von einer der anderen Kategorien erfasst sind.

Gemäss der Evaluation werden im Einzelfall Personen der Kategorie «unkontrollierte Abreise» nicht konsequent erfasst, was dazu führe, dass keine verlässlichen Angaben über untergetauchte Personen möglich seien.26 Das Büro BASS hat einen Vergleich zwischen den Angaben in ZEMIS und jenen des «Monitorings Nothilfe» vorgenommen. Aus diesem Vergleich ging hervor, dass 41 % der Personen mit einem offenen Ausreisestatus irgendwann im Anschluss an den negativen Asylentscheid ­ nach einer Frist von 30 Tagen ­ Nothilfe bezogen haben und sich dementsprechend weiterhin in der Schweiz befanden. Die Mehrheit der Personen mit einem offenen Ausreisestatus hat nach dem negativen Asylentscheid jedoch nie Nothilfe bezogen. Ein Grossteil dieser Personen dürfte somit untergetaucht sein. Das Untertauchen wird jedoch nicht immer im Zentralen Migrationsinformationssystem (ZEMIS) registriert, nicht einmal dann, wenn die Kantone dies melden. Zudem bestehe in Bezug auf die Meldung keine einheitliche Praxis.27 Umgekehrt wiesen bei den unkontrolliert abgereisten Personen 9 % nach der Registrierung der unkontrollierten Abreise einen Nothilfebezug auf. Diese unkontrolliert abgereisten Personen sind somit zu einem gewissen Zeitpunkt wieder aufgetaucht, was in der Datenbank jedoch nicht erfasst worden ist.28 Dies bedeutet, dass die Kategorie der «unkontrollierten Abreise» die effektiven Verhältnisse nicht korrekt widerspiegelt.

26 27 28

Administrativhaft im Asylbereich, Mandat «Quantitative Datenanalysen», Büro BASS, Schlussbericht vom 16. Okt. 2017, S. 32.

Administrativhaft im Asylbereich, Mandat «Quantitative Datenanalysen», Büro BASS, Schlussbericht vom 16. Okt. 2017, S. 42.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 3.1.1, S. 16; Administrativhaft im Asylbereich, Mandat «Quantitative Datenanalysen», Büro BASS, Schlussbericht vom 16. Okt. 2017, S. 43 f.

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Empfehlung 1

Untergetauchte Personen erfassen

Die GPK-N lädt den Bundesrat ein, mit geeigneten Mitteln dafür zu sorgen, dass untergetauchte Personen als solche erfasst werden, die Meldepraxis der Kantone beim Untertauchen von Personen vereinheitlicht wird und die Meldungen tatsächlich im ZEMIS registriert werden. Dabei ist auch zu prüfen, ob die Daten zum Nothilfebezug zur Erfassung untergetauchter Personen systematisch herangezogen werden sollen.

Sie fordert den Bundesrat im Weiteren auf, die Bezeichnung «unkontrollierte Abreise» zu präzisieren, so dass sie nicht mehr für untergetauchte Personen verwendet wird.

Das Ziel dieser Empfehlung ist es in erster Linie, sicherzustellen, dass verlässliche Angaben über die Anzahl an untergetauchten Personen gemacht werden können.

Eine einheitliche Meldepraxis durch die Kantone soll ermöglichen, dass untergetauchte Personen besser erfasst werden. Die GPK-N erachtet den Begriff der «unkontrollierten Abreise» als irreführend, weil diese Kategorie auch Personen erfasst, welche nicht abgereist sind.

2.2

Die Wirksamkeit der Administrativhaft

Gemäss den Erkenntnissen der PVK stellt die Administrativhaft ein wirksames Mittel des Vollzugs von negativen Asylentscheiden dar.29 Die Ergebnisse der PVK zeigen zunächst auf, dass eine Unterteilung der 61 677 abgewiesenen Asylsuchenden nach Art des negativen Entscheides sinnvoll ist, da sich hierbei beträchtliche Unterschiede ergaben.30 44 % aller negativen Entscheide waren NEE-Dublin (dies entspricht 26 973 Entscheiden), 38 % sonstige Nichteintretensentscheide und abgelehnte Asylgesuche (Ablehnungen/NEE; 23 699 Entscheide). 18 % der Asylgesuche wurden abgeschrieben (11 005 Abschreibungen).31 Von den 61 677 abgewiesenen Asylsuchenden im untersuchten Zeitraum wurden 12 227 Personen mindestens einmal in Haft genommen.32 Die Haftquote liegt bei 19,8 %.33

29 30 31 32 33

Siehe dazu Fn. 20 Zur Aufteilung nach Form der Haft siehe Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 3.2.1, S. 21.

Zur Aufteilung nach Form der Haft siehe Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 3.2.1, S. 21.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 3.2.1, S. 20.

Administrativhaft im Asylbereich, Mandat «Quantitative Datenanalysen», Büro BASS, Schlussbericht vom 16. Okt. 2017, S. 20 f.: In wenigen Fällen wurden Personen mehrmals inhaftiert (9 % der Inhaftierungen).

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Die Haftquoten unterscheiden sich stark nach der Art des negativen Entscheids: NEE Dublin 39 % und Ablehnungen/NEE 7 %.34 85 % aller 12 227 Haftanordnungen fallen auf NEE Dublin. Personen, welche in Dublin-Haft genommen wurden, reisten in 99 % der Fälle aus. Dies zeigt, dass die Administrativhaft bei NEE Dublin sehr wirksam ist. Dagegen reisten nur 28 % aller Personen mit NEE Dublin, die nicht inhaftiert wurden, aus.35 Die Erfolgsquote ­ also die tatsächliche Ausreise nach einer Haft ­ bei den anderen Fällen (Ablehnung/NEE) liegt bei 69 % und damit erheblich tiefer als bei den Dublin-Fällen. Im Vergleich zu der Anzahl Weggewiesener (Ablehnung/NEE), die nicht inhaftiert werden, liegt die Zahl der Ausreisenden nach einer Haft aber immer noch fast doppelt so hoch.36 Der doch beträchtliche Unterschied zwischen NEE Dublin und Ablehnung/NEE lässt sich sowohl in Bezug auf die Anordnung als auch auf die Erfolgsquote erklären. Die Vorhersehbarkeit des Vollzugs der Wegweisung ist eines der zentralen Elemente, um eine Person überhaupt inhaftieren zu dürfen. Dies ist bei Dublin-Staaten viel öfters der Fall, da diese, wenn deren Zuständigkeit gegeben ist, verpflichtet sind, jene Personen zurückzunehmen. Deshalb finden im Dublin-Verfahren mehr Inhaftierungen statt und die Ausreise- bzw. «Erfolgsquote» hiernach liegt aufgrund der Pflicht zur Rück- bzw. Übernahme denn auch entsprechend höher.

Demnach hängt die Wirksamkeit der Administrativhaft von der internationalen Zusammenarbeit ab.37 Dieser Umstand geht aus der Evaluation der PVK auch bei Rückreisen in den Herkunftsstaat hervor. Rückkehrhilfeprogramme38 und Migrationspartnerschaften erhöhen allgemein die Wahrscheinlichkeit einer kontrollierten Ausreise. Bei Staaten, welche mit der Schweiz ein Rückübernahmeabkommen abgeschlossen haben, konnte für die Ausreisen nach einer Haft kein positiver Effekt des Abkommens nachgewiesen werden.39 Eine Administrativhaft kann nur angeordnet werden, wenn die Wegweisung tatsächlich möglich ist, da ansonsten der Zweck der Haft nicht erfüllt ist und die Haft demzufolge nicht angeordnet werden darf.40 Das Bundesgericht hielt hierzu fest, dass mit genügender Wahrscheinlichkeit feststehen muss, dass der Vollzug einer 34

35 36

37 38

39 40

Siehe dazu Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 3.2.1, S. 21: Verschiedene kantonale Migrationsbehörden gaben an, dass Dublin-Fälle fast «systematisch» inhaftiert wurden. Die Haftquote bei NEE Dublin dürfte sich seit der Einführung der Dublin III-Verordnung geändert haben, was sich aber noch nicht auf die untersuchten Zahlen niedergeschlagen hat.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 3.2.2, S. 22 f.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 3.2.3, S. 23: Gemäss dem Bericht der PVK schwanken diese Zahlen sehr stark, so dass die Zahlen bzgl. der freiwilligen Ausreise von Jahr zu Jahr variieren.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 7.1, S. 52.

Bei Rückkehrhilfeprogrammen ist jedoch zu beachten, dass Art. 64 der Asylverordnung 2 über Finanzierungsfragen (AsylV 2, SR 142.312) eine Rückkehrhilfe für jene Personen ausschliesst, welche die Mitwirkungspflicht im Asylverfahren grob verletzen. Dabei sind auch Personen betroffen, welche wegen fehlender Mitwirkung in Administrativhaft genommen wurden und die deshalb nicht zu einer Rückkehrhilfe berechtigt sind.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 3.2.3, S. 24.

SEM, Handbuch Asyl und Rückkehr, Artikel G5: Die Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, S. 4.

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Wegweisung innert absehbarer Frist durchführbar ist.41 Dies bedeutet, dass die Anordnung einer Administrativhaft direkt davon abhängt, ob die betroffene Person innert absehbarer Frist in den jeweiligen Herkunftsstaat zurückgeschickt werden kann. In den von der PVK geführten Gesprächen mit den kantonalen Migrationsbehörden kam zum Ausdruck, dass die Migrationszusammenarbeit in der Aussenpolitik zu wenig Gewicht erhalte.42

2.3

Unterschiede in der kantonalen Anordnung der Administrativhaft und beim Ergebnis des Wegweisungsvollzugs

Sowohl bei der Anordnung einer Administrativhaft als auch beim Ergebnis des Wegweisungsvollzugs bestehen zwischen den einzelnen Kantonen teilweise grosse Unterschiede. Im Durchschnitt wird schweizweit ungefähr jede fünfte Person mit einem negativen Asylentscheid zu einem gewissen Zeitpunkt inhaftiert (ca. 20 %).

Eine Aufschlüsselung nach Kantonen zeigt auf, dass die Spanne in diesem Bereich gross ist. So liegt diese Quote im Kanton Genf bei 11 % und im Kanton Obwalden bei 46 %.43 Zum Teil sind strukturelle Merkmale (Geschlecht, Alter, etc.) dafür verantwortlich. Die grossen kantonalen Unterschiede bleiben jedoch auch bei den von strukturellen Merkmalen bereinigten Zahlen bestehen.44

2.3.1

Die Anordnung der Administrativhaft

Bei Ablehnungen/NEE weisen der Kanton Genf und der Kanton Tessin eine Haftquote von 4 %, der Kanton Obwalden eine solche von 28 % auf. Nach Abzug der strukturell bedingten Unterschiede, die sich auch durch die Zuteilung der abgewiesenen Asylsuchenden auf die Kantone (bezüglich Alter, Geschlecht und Herkunft) erklären lassen, liegt die Haftquote für den Kanton Obwalden bei 20 %, während sich jene des Tessins und von Genf nicht ändert. Bei den NEE Dublin liegen die Quoten höher, jedoch bleibt ebenfalls ein grosser Unterschied. So inhaftierte der Kanton Genf in 23 % und der Kanton Obwalden in 67 % der Fälle.45 Auch hier bleibt bei der Berücksichtigung struktureller Merkmale die Haftquote beim Kanton 41

42 43 44 45

BGE 127 II 168, E. 2b; siehe zur bundesgerichtlichen Rechtsprechung auch BGer 2C_287/2017 vom 13. Nov. 2017: Die Voraussetzungen zur Anordnung einer der verschiedenen Arten der Administrativhaft sind nicht in jedem Fall deckungsgleich.

So kann eine Durchsetzungshaft auch angeordnet werden, wenn eine Ausschaffung nicht möglich ist (BGer 2C_287/2017 E. 4.3). Sie ist nur dann «unzulässig, wenn [...]

eine selbständige Ausreise und pflichtgemässe Ausreise nicht möglich ist».

Die Subkommission EJPD/BK der GPK-S befasst sich mit der Thematik der Interdepartementalen Struktur zur internationalen Migrationszusammenarbeit (IMZ).

Administrativhaft im Asylbereich, Mandat «Quantitative Datenanalysen», Büro BASS, Schlussbericht vom 16. Okt. 2017, S. 22 und Anhang, S. 91.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 4.2, S. 29.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 4.2, S. 28 f.: Die PVK hält zudem fest, dass die Daten bei vier Kantonen lückenhaft seien und deshalb nicht verlässlich aufgeführt werden können. Es sind dies die Kantone Neuenburg, Schaffhausen, Thurgau und Waadt.

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Genf annähernd unverändert (24 %), während jene des Kantons Obwalden auf 61 % sinkt.

Das bedeutet, dass sich die grossen kantonalen Unterschiede grösstenteils nicht auf strukturelle Merkmale stützen lassen, was den Schluss zulässt, dass sich die Praxis der Kantone bei der Anwendung der Administrativhaft unterscheidet. Dies wird nun auch für die Ergebnisse im Wegweisungsvollzug analysiert.

2.3.2

Die Unterschiede beim Ergebnis des Wegweisungsvollzugs

Beim Wegweisungsvollzug von NEE Dublin bestehen zwischen den verschiedenen Kantonen praktisch keine Unterschiede. Die Quote der Ausreisen nach einer Inhaftierung liegt bei allen sehr hoch (97 % bis 100 %). Die strukturell bereinigten Angaben bei Ablehnungen/NEE zeigen dahingegen ein anderes Bild: Hier liegt zwischen den Kantonen wiederum ein grosser Unterschied vor. So reisen im Kanton Wallis nur 52 %, im Kanton Genf 80 % der inhaftierten Personen aus. Gemäss der Evaluation der PVK bedeutet dies, dass die Administrativhaft in einigen Kantonen zweckmässiger eingesetzt wird als in anderen Kantonen.46 Dies zeigt sich auch daran, dass die Anordnung einer Administrativhaft die Wahrscheinlichkeit einer Ausreise je nach Kanton unterschiedlich stark erhöht.47 Zwischen den Kantonen liegen auch grosse Differenzen vor, was die kontrollierte Ausreise bei einem negativen Entscheid (35 % bis 60 %), die Legalisierungen des Aufenthaltsstatus (6 % bis 13 %), die unkontrollierte Abreise (18 % bis 33 %) und die Personen mit einem offenen Ausreisestatus (12 % bis 28 %) betrifft.

Die Quote der kontrollierten Ausreisen hängt kaum von strukturellen Faktoren ab, sondern viel stärker von der Häufigkeit der Administrativhaft: Die Häufigkeit der Haft erklärt bei den NEE Dublin etwa zwei Fünftel und bei den Ablehnungen/NEE rund die Hälfte der kantonalen Unterschiede.48 Bei den Wegweisungen in den Heimatstaat ist der Effekt der Administrativhaft auch deshalb so stark, weil Kantone mit häufigerer Haftanwendung auch mehr selbständige Ausreisen zu verzeichnen haben.

Ob dies auf eine abschreckende Wirkung der Haft zurückzuführen oder eher eine Folge davon ist, dass dem Wegweisungsvollzug in diesen Kantonen insgesamt eine höhere Priorität mit entsprechendem Ressourceneinsatz eingeräumt wird, geht aus der Evaluation der PVK nicht hervor.49 Wie die Kantone die Administrativhaft einsetzen, kann jedoch erst nach der Analyse der Rechtmässigkeit im folgenden Abschnitt abschliessend beurteilt werden.

46 47 48 49

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 4.2, S. 30.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 4.2, S. 30.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 4.2, S. 31.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 4.1.2, S. 27 f.

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2.3.3

Die Frage der Rechtmässigkeit

Die kantonalen Unterschiede bei der Anordnung der Haft und den Ergebnissen des Wegweisungsvollzugs sind zu einem grossen Teil auf die unterschiedliche Anwendungspraxis der Kantone zurückzuführen.50 Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob diese kantonalen Unterschiede rechtmässig sind. Dabei kommt insbesondere der Verhältnismässigkeit ein grosses Gewicht zu.

Die Evaluation der PVK hält fest, dass die maximale Haftdauer im Sinne von Artikel 79 AuG im untersuchten Zeitraum nie überschritten wurde, was auch auf die kürzere Haftdauer für Minderjährige zutreffe.51 Bei der Länge der Haftdauer bestehen jedoch auch Unterschiede in der Praxis der Kantone.

Die Vorschriften zu den verschiedenen Haftformen sehen jeweils ein Beschleunigungsgebot vor, so dass die verschiedenen Massnahmen umgehend zu treffen sind bzw. über die Aufenthaltsberechtigung ohne Verzug zu entscheiden ist (Art. 75 Abs. 2, Art. 76 Abs. 4, Art. 77 Abs. 3 AuG). Das Beschleunigungsgebot wird von den Kantonen ebenfalls unterschiedlich ausgelegt und angewandt.52 Da es sich bei der Anordnung einer Administrativhaft um einen Freiheitsentzug handelt, wird direkt in das Grundrecht auf Bewegungsfreiheit (Art. 10 Abs. 2 Bundesverfassung53) eingegriffen. Dieser Eingriff in das Grundrecht muss verhältnismässig sein, da er ansonsten nicht gerechtfertigt werden kann (Art. 36 Abs. 3 BV).

Das Prinzip der Verhältnismässigkeit verlangt, dass die Haft geeignet, erforderlich und zumutbar sein muss.54 Der Bericht der PVK kommt zum Schluss, dass die Anordnung der Haft wohl nicht in jedem Fall erforderlich gewesen sei, da ein gewisser Anteil an Personen auch ohne Haft ausgereist wäre bzw. hätte zurückgeführt werden können.55 In diesem Zusammenhang spielt die unterschiedlich hohe Haftquote in den verschiedenen Kantonen eine wichtige Rolle. Diese teilweise grossen kantonalen Unterschiede lassen darauf schliessen, dass auch das Verhältnismässigkeitsprinzip durch die kantonalen Vollzugsbehörden unterschiedlich interpretiert und angewandt wird. Diese Unterschiede widerspiegeln sich auch darin, zu welchem Zeitpunkt innerhalb des Verfahrens eine Haft angeordnet wird. Oft geschieht dies bereits bevor die Rechtskraft des negativen Entscheids eintritt.56 Aufgrund der Resultate der PVK kann die GPK-N nicht ausschliessen, dass in gewissen Fällen dem
Verhältnismässigkeitsprinzip nicht genügend Rechnung getragen wurde und dementsprechend die Inhaftierung nicht rechtmässig war. Allerdings würde eine abschliessende Beurteilung der Rechtmässigkeit die Prüfung des Einzelfalls bedingen. Dies ist jedoch nicht Aufgabe der GPK und der PVK.

50 51 52 53 54 55 56

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 4.2, S. 31 f.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 5.1, S. 32.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 5.1, S. 33.

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. Apr. 1999 (BV, SR 101).

Epiney, Art. 36 BV N 54 ff., in: Waldmann/Belser/Epiney (Hrsg.), Bundesverfassung, Balser Kommentar.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 5.2, S. 33.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 5.2, S. 34; Administrativhaft im Asylbereich, Mandat «Quantitative Datenanalysen», Büro BASS, Schlussbericht vom 16. Okt. 2017, S. 22 und Anhang, S. 28 ff.

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Vor dem Hintergrund des Prinzips der Rechtsgleichheit (Art. 8 BV) und der Tatsache, dass mit der Anwendung einer Administrativhaft in ein Grundrecht eingegriffen wird, werfen die aufgezeigten, teils grossen kantonalen Unterschiede wesentliche Fragen auf. Denn die betroffenen Personen haben keinerlei Einfluss bei der Verteilung der Asylbewerber auf die Kantone, was jedoch gerade in Bezug auf die Anordnung einer Administrativhaft aufgrund der unterschiedlichen Praxis für den Einzelnen grosse Konsequenzen haben kann.

Die Anordnung einer Dublin-Haft wird in der Schweiz nur auf Antrag hin richterlich überprüft (Art. 80a Abs. 3 AuG). In Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich findet eine richterliche Haftüberprüfung automatisch statt.57 In diesem Sinne sind die Verfahrensrechte in der Schweiz vergleichsweise schwach ausgestaltet.58 Eine Harmonisierung der Praxis in den Kantonen konnte bisher durch das SEM mittels seines Dialogs mit den Kantonen nicht erreicht werden.

Empfehlung 2

Harmonisierung bei der Anordnung und beim Vollzug der Administrativhaft

Die GPK-N fordert den Bundesrat auf, im Rahmen seiner Kompetenz und seiner Aufsichtsfunktion gemäss Artikel 124 Absatz 1 AuG auf eine stärkere Harmonisierung der kantonalen Praxis bei der Anordnung und dem Vollzug der Administrativhaft im Dialog mit den Kantonen hinzuwirken, so dass diese zweckmässig und unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben eingesetzt wird.

Insbesondere strebt er im Rahmen seiner Kompetenzen an, dass dem Prinzip der Verhältnismässigkeit bei der Einschränkung der Bewegungsfreiheit und damit bei der Anordnung der Administrativhaft im Einzelfall ausreichend Rechnung getragen wird.

Empfehlung 3

Prüfung der gesetzlich vorgesehenen Haftüberprüfung

Die GPK-N fordert den Bundesrat auf, zu prüfen, ob die Rechtsgrundlagen der Haftüberprüfung zweckmässig sind und einen genügenden Grundrechtsschutz gewährleisten.

2.4

Minderjährige

Im Bereich der Administrativhaft bei Minderjährigen stellt sich die Frage nach den rechtlichen Grundlagen und insbesondere nach der Rechtmässigkeit einer Inhaftierung von Minderjährigen. Der Kinderschutz im Rahmen der Zwangsmassnahmen

57 58

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 5.2, S. 34.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 5.2, S. 34.

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im Ausländerrecht war bereits Gegenstand eines Berichtes der GPK-N aus dem Jahre 2006.59 Minderjährige können ab 15 Jahren in Administrativhaft genommen werden. Die rechtliche Grundlage hierzu findet sich in Artikel 80 Absatz 4 AuG, wonach die Anordnung einer Administrativhaft gegenüber Kindern ausgeschlossen ist, die das 15. Altersjahr noch nicht zurückgelegt haben. Zudem ist die maximale Haftdauer bei minderjährigen Personen auf zwölf Monate beschränkt (Art. 79 Abs. 2 AuG). Im untersuchten Zeitraum wurden 200 Personen innerhalb der ersten 18 Monate nach einem negativen Asylentscheid zu einem Zeitpunkt inhaftiert, zu dem sie noch minderjährig waren. Die Evaluation der PVK zeigt auf, dass die Mehrheit der inhaftierten minderjährigen Personen das 15. Altersjahr noch nicht zurückgelegt haben.60 Bei den unter 15-jährigen Personen handelt es sich vorwiegend um Minderjährige in Begleitung, welche vermutlich im Familienverbund inhaftiert wurden.61 In diesem Zusammenhang fällt auf, dass gemäss den ursprünglich erfassten Daten die Mehrheit der Kantone gar keine Minderjährigen unter 15 Jahren inhaftiert und 89 % sämtlicher inhaftierter Minderjährige unter der gesetzlichen Altersgrenze auf den Kanton Bern zurückfallen.62 Auch die Haftquote ist in diesem Kanton hoch (14 % bei unbegleiteten, 12 % bei begleiteten Minderjährigen) gemessen an den Zahlen anderer Kantone.63 Aufgrund der Verwaltungskonsultation zum vorliegenden Bericht hat das SEM verschiedene Einträge im ZEMIS aus dem Jahr 2016 genauer untersucht.

Gemäss der Stellungnahme des SEM handle es sich dabei überwiegend um Fehlerfassungen bzw. Fehlbuchungen durch die Kantone im ZEMIS.64 Es konnte jedoch nicht abschliessend geklärt werden, wie Inhaftierungen im Familienverbund und insbesondere mitinhaftierte Kinder unter 15 Jahren registriert werden bzw. bisher registriert worden sind.65 Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass die erwähnten statistischen Angaben durch eine allenfalls unterschiedliche Buchungspraxis der Kantone beeinflusst sind.

Unbegleitete Minderjährige werden nur unwesentlich weniger oft inhaftiert als Erwachsene. Dies gilt sowohl bei NEE Dublin als auch bei Ablehnungen/NEE.66 Die Ausreisequote bei unbegleiteten Minderjährigen nach einer Ablehnung/NEE ist

59

60 61 62 63 64

65 66

Kinderschutz im Rahmen der Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, Bericht der GPK-N vom 7. Nov. 2006 (BBl 2007 2521) und Stellungnahme des Bundesrates vom 16. März 2007 (BBl 2007 2539).

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 5.3, S. 35.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 5.3, S. 35 f.

Administrativhaft im Asylbereich, Mandat «Quantitative Datenanalysen», Büro BASS, Schlussbericht vom 16. Okt. 2017, S. 79.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 5.3, S. 37.

Aufgrund der schriftlichen Stellungnahme des SEM vom 12. April 2018 in der Verwaltungskonsultation, in der das SEM die Fehlerfassungen geltend gemacht hat, entschied die Subkommission EJPD/BK der GPK-N eine Anhörung mit Vertretern des SEM durchzuführen, um offene Fragen klären zu können. Diese Anhörung fand an der Sitzung der genannten Subkommission vom 8. Mai 2018 statt.

Vgl. auch Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 5.3, S. 35, Fn. 21.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 5.3, S. 37.

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zudem tiefer als jene von Erwachsenen, was zeigt, dass deren Inhaftierung nur bedingt zweckmässig ist.67 Aus folgenden Gründen scheint die Inhaftierung minderjähriger Personen problematisch: Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention)68 sieht in Artikel 37 explizit vor, dass ein Freiheitsentzug bei einem Kind nur als letztes Mittel angewandt werden darf. Der Begriff des Kindes wird durch Artikel 1 Kinderrechtskonvention als Person definiert, welche das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Zudem darf ein Freiheitsentzug nur für die kürzeste angemessene Zeit angeordnet werden (Art. 37 Bst. b Kinderrechtskonvention). Diese Vorgaben finden sich auch in den betreffenden Richtlinien der Europäischen Union, welche als Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands auch für die Schweiz gelten.69 Bei der Inhaftierung von Minderjährigen in Begleitung von Erwachsenen wird oft das Kindeswohl als «Haftgrund» für die minderjährige Person geltend gemacht.70 Gerade in diesem Zusammenhang gilt es aber strengere Voraussetzungen an die Verhältnismässigkeit der Inhaftierung zu stellen, was sowohl für Minderjährige als auch für die Begleitpersonen gelten muss. Dementsprechend ist eine Haft für diese Gruppe von Personen nur als letztes Mittel in Betracht zu ziehen.

Empfehlung 4

Inhaftierung von Minderjährigen

Die GPK-N fordert den Bundesrat auf, die gesetzlichen Vorgaben einzuhalten und dafür zu sorgen, dass Minderjährige unter 15 Jahren nicht in Administrativhaft genommen werden. Für den Vollzug der Wegweisung von Familien sind alternative Möglichkeiten zu prüfen und zu fördern. Bei Minderjährigen über 15 Jahren ist sicherzustellen, dass die Haft lediglich als letztes Mittel und stets zweckmässig eingesetzt wird.

Die GPK-N fordert den Bundesrat auf, die vom SEM geltend gemachten Fälle der Fehlerfassungen von minderjährigen Personen unter 15 Jahren in Zusammenarbeit mit den Kantonen aufzuarbeiten, der GPK-N hierzu Bericht zu erstatten und ihr im Detail darzulegen, wie die Kantone Inhaftierungen im Familienverbund und insbesondere mitinhaftierte Kinder unter 15 Jahren registrieren.

Zudem bitten die GPK-N den Bundesrat aufzuzeigen, wie den rechtlichen Vorgaben des Völkerrechts (insbesondere der Kinderrechtskonvention) bei der Inhaftierung von minderjährigen Personen Rechnung getragen wird.

67 68 69

70

Administrativhaft im Asylbereich, Mandat «Quantitative Datenanalysen», Büro BASS, Schlussbericht vom 16. Okt. 2017, S. 83.

Übereinkommen vom 20. Nov. 1989 über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention; SR 0.107).

Vgl. hierzu die Bestimmungen der Richtlinie der EU zur Rückführung: Art. 17 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dez. 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl 2008 L 349/98). Zudem enthält die Dublin III-Verordnung in Art. 28 Abs. 4 weitere Vorgaben.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 5.3, S. 35 und Kap. 7.2, S. 53.

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Empfehlung 5

Haftplätze für minderjährige Personen

Die GPK-N fordert den Bundesrat auf, auf die Einrichtung entsprechender, für Minderjährige über 15 Jahren im Sinne der Vorgaben der Kinderrechtskonvention und ihre Begleitpersonen geeigneter Haftplätze hinzuwirken, damit sichergestellt werden kann, dass Minderjährige nur in solchen untergebracht werden.71 Der Bundesrat soll der GPK-N zudem aufzeigen, welche Voraussetzungen für Haftplätze für Minderjährige gelten, welcher Stellenwert der Kinderrechtskonvention hierbei zukommt, wo Minderjährige derzeit untergebracht sind/werden und wie der Bundesrat die Aufsicht in diesem Bereich wahrnimmt.

Die Schweiz bzw. die Kantone werden wegen den Haftbedingungen bei der Administrativhaft immer wieder gerügt.72 Vor diesem Hintergrund begrüsst die GPK-N die Anstrengungen des Bundes im Rahmen der Subventionierung beim Bau und bei der Einrichtung von Haftanstalten. Die subventionsrechtlichen Bestimmungen geben vor, dass die gesetzlichen und völkerrechtlichen Vorgaben eingehalten werden müssen. Dadurch werden auch die Recht- und Zweckmässigkeit der Anwendung der Administrativhaft gefördert.73

2.5

Die Datenverwaltung des Bundes

Damit der Bund seine Aufsichtsfunktion im Sinne von Artikel 124 AuG tatsächlich wahrnehmen kann, benötigt er Informationen. Eine frühere Evaluation der PVK aus dem Jahr 200574 hatte dazu geführt, dass der Bundesrat die Kantone verpflichtete, dem SEM verschiedene Informationen zur Administrativhaft zu melden.75 Im Rahmen der neuen Evaluation hat die PVK analysiert, ob die Eintragungen zur Administrativhaft im ZEMIS mit den Tagespauschalen übereinstimmen, welche vom Bund ausgerichtet werden. Gewisse Kantone sind aufgrund beträchtlicher Abweichungen von der Analyse ausgeschlossen worden, wobei es für die Mehrzahl der Fälle keine Erklärung für diese Ungereimtheiten gibt.76

71

72

73 74 75 76

Die Schweiz hat zu Art. 37 Buchstabe c Kinderrechtskonvention einen Vorbehalt angebracht: Diese Bestimmung konkretisiert unter anderem die Haftbedingungen bei der Inhaftierung von Kindern und fordert insbesondere, dass Kinder getrennt von Erwachsenen unterzubringen sind, falls nicht ein anderes Wohl des Kindes dies trotzdem erfordert.

Der Vorbehalt der Schweiz stellt klar, dass diese Trennung nicht ausnahmslos gewährleistet wird.

Siehe dazu Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 5.4, S. 38; auch Universal Periodic Review of Switzerland, 3rd Cycle: Contribution of the Platform of Swiss Human Rights NGOs, S. 6.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.3.3, S. 50 f.

Anwendung und Wirkung der Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, Bericht der GPK-N vom 24. Aug. 2005 auf der Grundlage einer Evaluation der PVK (BBl 2006 2579).

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.2.1, S. 44.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.2.1, S. 44.

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Ein erster Schwachpunkt in der Datenverwaltung besteht darin, dass nicht klar ist, wann die Haft im System zu erfassen ist, weil eine klare Frist dazu fehlt.77 Gemäss dem Schlussbericht der PVK werden diese Daten häufig erst nach Haftende erfasst, was die geringe Bedeutung widerspiegelt, die dem Eintrag beigemessen wird.78 Auch das SEM erfasse eine selbst angeordnete Haft in EVZ nicht im ZEMIS.79 Neben weiterer Schwächen bei der Datenerfassung werden insbesondere Diskrepanzen zwischen der Rückerstattung der Haftkosten und den Informationen durch das SEM zwar festgestellt, aber weder gemeldet noch korrigiert und damit nicht im ZEMIS erfasst.80 Dies führt dazu, dass die Informationen im System nicht die realen Gegebenheiten wiedergeben und das SEM folglich die Kosten für eine Haft zurückerstattet, auch wenn sie in ZEMIS nicht oder falsch eingetragen ist. Damit fehlen finanzielle Anreize für eine korrekte Erfassung.

Werden Minderjährige inhaftiert, so sind die kantonalen Behörden verpflichtet, zu melden, ob eine Rechtsvertretung eingesetzt worden ist (Art. 15a Abs. 2 Verordnung über den Vollzug der Weg- und Ausweisung sowie der Landesverweisung von ausländischen Personen (VVWAL)81). Gemäss den Informationen der PVK wurde diese Meldung bisher nicht systematisch erstattet.82 Bei den verschiedenen vorhandenen Datensätzen und Datensystemen hat die PVK festgestellt, dass sehr viele Doppelspurigkeiten und zum Teil Medienbrüche vorkommen, was zu einem beträchtlichen Mehraufwand führe und Fehlerquellen berge.83 Oftmals werden Daten in verschiedene Systeme eingetragen, wobei die Verknüpfungen zwischen diesen Systemen nicht immer funktionieren, so dass teilweise gar falsche Personen miteinander verknüpft werden. Dies führt dazu, dass die Einträge von Hand kontrolliert werden müssen.84 Der Begriff des Medienbruchs meint, dass gewisse Daten, welche elektronisch erfasst sind, auf Papier übermittelt und anschliessend wieder elektronisch aufgenommen werden.

All diese Mängel führen schliesslich auch dazu, dass das SEM die Daten bzw. das Datensystem nur in beschränktem Mass nutzen kann.85 Die GPK-N ist der Überzeugung, dass zuverlässige Daten eine wichtige Voraussetzung für die Harmonisierung bzw. die Angleichung der kantonalen Praktiken bei der Anordnung der Administrativhaft sind, wie dies in Empfehlung 2 gefordert wird. Verlässliche Angaben sind auch für den Gesetzgeber von grosser Bedeutung.

77 78 79 80

81 82

83 84 85

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.2.1, S. 44.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.2.1, S. 44.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.2.1, S. 44.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.2.1, S. 45: Erstens kann eine Ausschaffungshaft, welche auf eine Vorbereitungshaft folgt, im ZEMIS nicht am selben Tag eingetragen werden, wie die Vorbereitungshaft endet, obwohl dies in der Praxis meist der Fall ist. Zweitens kennt das System keine automatische Fehleranzeige, etwa wenn die maximale Dauer einer Haft überschritten wird.

Verordnung vom 11. Aug. 1999 über den Vollzug der Weg- und Ausweisung sowie der Landesverweisung von ausländischen Personen (VVWAL; SR 142.281).

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.2.1, S. 45: Die PVK weist gelichzeitig aber daraufhin, dass in diesem Bereich bereits Verbesserungen seitens des EJPD geplant seien.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.2.2, S. 45 f.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.2.2, S. 46.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.2.3, S. 46.

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In diesem Zusammenhang gilt es zu erwähnen, dass ein Informatikprojekt zur Verbesserung der Datenerfassung und -bearbeitung beim Wegweisungsvollzug zwar gestartet, jedoch wieder sistiert wurde.86 Die Gründe für die Sistierung sind der GPK-N jedoch unbekannt.

Empfehlung 6

Eine effiziente Datenverwaltung

Die GPK-N fordert den Bundesrat auf, sicherzustellen, dass die Daten im Bereich der Administrativhaft korrekt erfasst werden. Zudem sind die bestehenden Systeme dahingehend zu revidieren oder gegebenenfalls zu ersetzen, als dass sie eine effiziente Datenverwaltung erlauben und das SEM den grösstmöglichen Nutzen daraus ziehen kann, um die Aufsicht gemäss Artikel 124 AuG tatsächlich wahrnehmen und das Monitoring im Sinne von Artikel 46 Absatz 3 AsylG durchführen zu können.

Insbesondere soll der Bundesrat im Rahmen seiner Kompetenzen das Ziel verfolgen, dass die Kantone Inhaftierungen im Familienverbund für jedes Familienmitglied, insbesondere auch für mitinhaftierte Kinder unter 15 Jahren, eindeutig und einheitlich erfassen.

2.6

Das Monitoring des Bundes

Das bereits mehrmals erwähnte Monitoring zum Wegweisungsvollzug im Asylbereich weist ebenfalls verschiedene Schwächen auf. Aus den Gesprächen, welche die PVK mit Vertretern des SEM geführt hatte, ging hervor, dass das Monitoring nicht als eigentliches Instrument der Überwachung angesehen wird, was der Auffassung durch die Kantone widersprechen dürfte.87 Ein Problem des Monitorings liegt etwa darin, dass nicht sämtliche negativen Entscheide berücksichtigt werden88 und der kantonal unterschiedlichen strukturellen Zusammensetzung der abgewiesenen Asylsuchenden (zum Beispiel Alter, Geschlecht, Herkunft, Sprache, etc.) nicht genügend Rechnung getragen wird.89 Empfehlung 7

Vollständiges, systematisches und effizientes Monitoring

Der Bundesrat sorgt dafür, dass das Monitoring gemäss Artikel 46 Absatz 3 AsylG überprüft wird und die Voraussetzungen geschaffen werden, damit in Zusammenarbeit mit den Kantonen ein vollständiges, systematisches und effizientes Monitoring möglich ist.

Voraussetzung für ein effizientes Monitoring ist, dass die Datenverwaltung im Sinne von Empfehlung 6 verbessert wird.

86 87 88 89

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.2.3, S. 46.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.3.2, S. 49.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.3.2, S. 49.

Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 6.3.2, S. 49.

7528

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Die GPK-N begrüsst in diesem Zusammenhang ausserdem die per 1. Oktober 2016 eingeführten finanziellen Sanktionen bei Nichtvollzug von Wegweisungen, soweit bei den betroffenen Fällen die Verhältnismässigkeit der für den Vollzug notwendigen Massnahmen gewährleistet gewesen wäre. Die GPK-N erhofft sich hiervon eine Harmonisierung der kantonalen Anwendungspraxis der Administrativhaft.

3

Schlussfolgerungen und weiteres Vorgehen

Der Vergleich mit Staaten aus der EU90 bestätigt, dass die Schweiz anteilsmässig mehr Wegweisungen vollzieht als andere Staaten dies tun. Die Evaluation zeigte zudem, dass die verschiedenen Formen der Administrativhaft ein wirksames Instrument darstellen, um Entscheide auf Wegweisung tatsächlich zu vollziehen.

Nichtsdestotrotz kommt die GPK-N zum Schluss, dass in verschiedenen Bereichen teils ein erheblicher Optimierungsbedarf besteht.

Die Kategorisierung der abgewiesenen Asylbewerber im ZEMIS als «unkontrolliert abgereist» vermag in der Praxis nicht zu überzeugen, da diese Bezeichnung die tatsächlichen Gegebenheiten nicht widerspiegelt und die Registrierung zudem lückenhaft ist. Gegenwärtig ist es nicht möglich, zu eruieren, wie viele Personen tatsächlich untertauchen. Der Rückgriff auf die Daten der Nothilfe zeigt nämlich auf, dass sich zahlreiche Personen in der Schweiz aufhalten, obwohl diese im System als «unkontrolliert abgereist» registriert sind.

Ein Freiheitsentzug, wie dies bei einer Administrativhaft der Fall ist, stellt einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff in die Freiheiten der betroffenen Person dar, der in jedem Einzelfall verhältnismässig sein muss. Nicht zuletzt aufgrund dieser Tatsache gilt es, die grossen Unterschiede bei der Anordnung einer Administrativhaft in den Kantonen zu reduzieren und die Praxis einander anzugleichen. Die GPK-N sieht in diesem Zusammenhang vor allem in Bezug auf die sehr unterschiedliche Anwendung des Prinzips der Verhältnismässigkeit Handlungsbedarf.

Die Inhaftierung von Minderjährigen wirft einerseits Fragen der Rechtmässigkeit und andererseits Fragen nach den für Minderjährige angemessenen Haftbedingungen auf. Die rechtlichen Bestimmungen verbieten die Inhaftierung von Kindern unter 15 Jahren. Trotzdem wird diese Gruppe von Minderjährigen in einigen Kantonen, gemäss den registrierten Daten aber vor allem im Kanton Bern, immer wieder ­ gerade im Familienverbund ­ inhaftiert, was rechtswidrig sein dürfte. Die vom SEM geltend gemachten Fehlerfassungen durch die Kantone inhaftierter Minderjähriger unter 15 Jahren bedürfen vor diesem Hintergrund einer raschen Klärung. Zudem gilt es für jene Minderjährigen, die inhaftiert werden dürfen, bedarfsgerechte Haftplätze zur Verfügung zu stellen.

Die Datenverwaltung in Bezug auf die Administrativhaft weist
teilweise gravierende Mängel auf. Damit das SEM die Aufsicht über die Administrativhaft gemäss Artikel 124 AuG tatsächlich wahrnehmen und das Monitoring gemäss Artikel 46 Absatz 3 AsylG durchführen kann, müssen verlässliche Daten zum Wegweisungs90

Vgl. dazu Bericht der PVK vom 1. Nov. 2017 zuhanden der GPK-N, Kap. 3.1.2, S. 16 ff.

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vollzug zur Verfügung stehen. Mögliche Fehlerquellen, welche in den jetzigen Systemen vorhanden sind, gilt es auf ein Minimum zu reduzieren.

Die GPK-N ersucht den Bundesrat, zu den Feststellungen und Empfehlungen dieses Berichts sowie zum Evaluationsbericht der PVK bis zum 28. September 2018 Stellung zu nehmen und ihr mitzuteilen, mit welchen Massnahmen und bis wann er die Empfehlungen umsetzen will.

26. Juni 2018

Im Namen der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats Der Vize-Präsident: Erich von Siebenthal Die Sekretärin: Beatrice Meli Andres Der Präsident der Subkommission EJPD/BK: Alfred Heer Der Sekretär der Subkommission EJPD/BK: Stefan Diezig

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Abkürzungsverzeichnis AsylG

Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG; SR 142.31)

AuG

Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (Ausländergesetz, AuG; SR 142.20)

BASS

Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien

BGE

Entscheid des Schweizerischen Bundesgerichts

BK

Bundeskanzlei

BV

Bundesverfassung vom 18. April 1999 (BV; SR 101)

E.

Erwägung

EJPD

Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement

EVZ

Empfangs- und Verfahrenszentrum

GPK

Geschäftsprüfungskommissionen

GPK-N

Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates

Hrsg.

Herausgeber

Kap.

Kapitel

N

Note/Randnote

NEE

Nichteintretensentscheid

PVK

Parlamentarische Verwaltungskontrolle

SEM

Staatssekretariat für Migration

SR

Systematische Rechtssammlung des Bundes

VVWAL

Verordnung vom 11. Aug. 1999 über den Vollzug der Wegund Ausweisung sowie der Landesverweisung von ausländischen Personen (VVWAL; SR 142.281)

ZEMIS

Zentrales Migrationsinformationssystem

Ziff.

Ziffer

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