zu 04.018 Kantonsverfassung Graubünden. Gewährleistung Bericht der Staatspolitischen Kommission des Ständerates vom 24. Mai 2004

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, die Staatspolitische Kommission des Ständerates unterbreitet Ihnen ihren Bericht über die Gewährleistung der Verfassung des Kantons Graubünden. Sie beantragt, dem Entwurf des Bundesrates für den Bundesbeschluss über die Gewährleistung zuzustimmen.

24. Mai 2004

Im Namen der Kommission Der Präsident: Jean Studer

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Bericht 1

Das Wesentliche in Kürze

Die Stimmberechtigten des Kantons Graubünden haben in den Volksabstimmungen vom 18. Mai und 14. September 2003 die totalrevidierte Kantonsverfassung angenommen. Mit Botschaft vom 5. März 2004 unterbreitet der Bundesrat der Bundesversammlung den Entwurf des Bundesbeschlusses über die Gewährleistung der Verfassung des Kantons Graubünden (BBl 2004 1107).

Der Bundesrat kommt zwar in seiner Botschaft zur Schlussfolgerung, dass sämtliche Verfassungsbestimmungen die Voraussetzungen für die Gewährleistung erfüllen. Er bringt aber unter Bezugnahme auf Äusserungen in der Wissenschaft Zweifel an der Verfassungsmässigkeit des Majorzsystems für Parlamentswahlen zum Ausdruck (BBl 2004 1115). Diese Einschätzung stösst auf den entschiedenen Widerspruch der Staatspolitischen Kommission (SPK) des Ständerates. Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung dieser Frage für künftige Gewährleistungen und u.U. auch für die künftige Rechtsprechung des Bundesgerichts hat die Kommission beschlossen, die Verfassungsmässigkeit von Majorzwahlen in einem eigenen schriftlichen Bericht zu bekräftigen. Bestätigen auch die Eidg. Räte in ihren Debatten diese Beurteilung, so sind die Zweifel des Bundesrates in der vorliegenden Botschaft als irrelevant für die künftige Gewährleistungspraxis und für die künftige Praxis des Bundesgerichts zu betrachten. Zuständig für die Gewährleistung der Kantonsverfassungen ist nämlich gemäss Artikel 172 Absatz 2 der Bundesverfassung (BV) die Bundesversammlung, nicht der Bundesrat.

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Zur Gewährleistung der Kantonsverfassungen im Allgemeinen

Nach Artikel 51 Absatz 1 BV gibt sich jeder Kanton eine demokratische Verfassung.

Diese bedarf der Zustimmung des Volkes und muss revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt. Nach Absatz 2 des gleichen Artikels bedürfen die Kantonsverfassungen der Gewährleistung des Bundes. Die Gewährleistung wird erteilt, wenn sie dem Bundesrecht nicht widersprechen. Erfüllt eine kantonale Verfassung diese Anforderungen, so muss sie gewährleistet werden; erfüllt eine kantonale Verfassungsnorm eine dieser Voraussetzungen nicht, so ist die Gewährleistung zu verweigern.

Die Überprüfung der Kantonsverfassungen auf ihre Bundesrechtskonformität erfolgt also ausschliesslich nach dem Kriterium der Rechtmässigkeit; politische Zweckmässigkeitsüberlegungen sind in diesem Rahmen nicht zulässig.

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Zur Verfassungsmässigkeit von Majorzwahlen im Besonderen

Nach Artikel 27 Absatz 2 der Verfassung des Kantons Graubünden erfolgt die Wahl des Grossen Rates nach dem Mehrheitswahlverfahren und nach Artikel 27 Absatz 3 bilden die Kreise die Wahlkreise. Ausser Graubünden wenden auch die Kantone Appenzell Ausserhoden, Appenzell Innerrhoden und Uri das Majorzwahlsystem ganz oder teilweise für ihre Parlamentswahlen an.

Die Botschaft des Bundesrates hält vorerst fest: «Nach bisheriger Praxis und herrschender Lehre (...) verbietet das Bundesrecht es den Kantonen nicht, für die Parlamentswahlen ein reines Majorzsystem einzuführen» (BBl 2004 1114). Im Weiteren weist der Bundesrat ausführlich auf Stimmen in der Lehre hin, welche das Majorzsystem als «undemokratisch» kritisieren und behaupten, das Proporzwahlrecht habe sich «als landesweiter Standard» herausgebildet. Die SPK betrachtet zwar derartige Hinweise auf wissenschaftliche Diskussionen in einer Gewährleistungsbotschaft durchaus als nützlich. Die SPK kann aber nicht nachvollziehen, warum der Bundesrat sich in der Folge selbst zu Zweifeln an der Verfassungsmässigkeit des Majorzwahlsystems veranlasst sieht: «Insofern ist die Verfassungsmässigkeit des Majorzsystems für Parlamentswahlen als rechtlich zweifelhaft einzustufen» (BBl 2004 1115). Zwar sei das Majorzwahlsystem bisher vorbehaltlos als bundesrechtskonform beurteilt worden. «Eine Änderung dieser Praxis sollte aus Gründen von Treu und Glauben nicht ohne Ankündigung erfolgen». Gemäss der vor der Kommission abgegebenen Erklärung des Vertreters des Bundesrates beabsichtigte dieser zwar mit diesen Formulierungen keineswegs eine solche Ankündigung, sondern wollte lediglich das Parlament zur Klärung veranlassen, ob eine solche Praxisänderung angezeigt sein könnte. Aus dem Argumentationsgang in der Botschaft kann aber doch die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der Bundesrat mit seiner Botschaft zur Bündner Verfassung eine Praxisänderung für den nächsten Anwendungsfall ankünden will.

Diese «Ankündigung» kann allerdings nur dann als erfolgt gelten, wenn die Bundesversammlung als für die Gewährleistung zuständige Bundesbehörde ihr nicht ausdrücklich widerspricht. Die SPK des Ständerates tut dies mit diesem Bericht in der Hoffnung, dass die Debatten in den Räten diese Auffassung bestätigen werden.

Massgebend zur Beurteilung der Bundesrechtskonformität eines
Majorzwahlsystems bei Parlamentswahlen kann einzig Artikel 51 Absatz 1 BV sein, welcher von den Kantonen eine «demokratische Verfassung» verlangt. Es ist in keiner Weise ersichtlich, wie das Majorzwahlsystem als «undemokratisch» im Sinne von Artikel 51 Absatz 1 BV beurteilt werden könnte. Dieses Wahlsystem findet nicht nur weltweit in zahlreichen unbestritten als «demokratisch» geltenden Staaten, sondern auch in der Schweiz auf Bundesebene Anwendung (Art. 47­51 des Bundesgesetzes über die politischen Rechte, SR 161.1). Die Mitglieder des Ständerates werden in allen Kantonen mit einer Ausnahme nach dem Majorzsystem gewählt. In den Kantonen und Gemeinden wird das Majorzsystem traditionsgemäss vor allem in kleineren, ländlich geprägten Gebieten angewendet, wo die Kandidierenden in der Regel den meisten Wahlberechtigten persönlich bekannt sind. Die Persönlichkeit der Kandidierenden steht bei diesen Wahlen im Vordergrund; ihre Parteizugehörigkeit spielt keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Das Majorzwahlsystem wird vor allem auch dort angewendet, wo die zahlenmässig beschränkte Bevölkerung eines kleineren Gebietes mit ausgeprägter eigener Identität Anspruch auf Repräsentation im 3637

übergeordneten Rahmen und damit Anspruch auf einen eigenen Wahlkreis erhebt ­ wie z.B. im Kanton Graubünden mit seinen Talschaften.

Das Proporzwahlsystem hat demgegenüber unter den Bedingungen des schweizerischen politischen Systems zweifellos dort seine Vorteile, wo eine grössere Bevölkerungszahl eine grössere Zahl von Repräsentantinnen und Repräsentanten in ein Parlament abordnen kann. Das Proporzwahlsystem ist hier besser geeignet, um das möglichst gleiche Gewicht der Stimmkraft jedes Wahlberechtigten und damit eine repräsentative Zusammensetzung des Parlamentes zu gewährleisten.

Die Abwägung, ob in einem konkreten Anwendungsfall die Vorteile des einen oder des anderen Wahlsystems überwiegen, ist nicht immer einfach, wie gerade die entsprechenden heftigen Auseinandersetzungen im Kanton Graubünden zeigen.

Diese Abwägung muss aber durch die betroffenen Bürgerinnen und Bürger selbst vorgenommen werden können. Würde der Bund, sei es auf dem Wege über die Gewährleistung der Kantonsverfassung oder auf dem Wege über die Beurteilung von Stimmrechtsbeschwerden das Proporzwahlsystem als allein zulässiges Wahlsystem erklären, so wäre dies ein schwer wiegender Eingriff in die kantonale Organisationsautonomie. Damit würde bestimmten Kantonen aufgezwungen, dass sie den Parteien eine viel grössere Bedeutung als bisher geben müssen, oder dass sie bevölkerungsmässig schwächere Gemeinden und Talschaften ihrer eigenen Wahlkreise und damit ihrer Vertretung im kantonalen Parlament berauben.

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