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Kreisschreiben des

Bundesrates an die Kantonsregierungen betreffend Erleichterung der Stimmabgabe bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen.

t Vom 16. Mars 1925.)

Getreue, liebe Eidgenossen !

Unser Politisches Departement hat Ihnen unterm 14. Januar 1924 Kenntnis gegeben von dem im Nationalrat zur Annahme gelangten Postulat des Herrn Dr. Sträuli (Winterthur), durch welches der Bundesrat eingeladen worden ist, zu prüfen, ob und in welcher Weise die Ausübung des Stimm- und Wahlrechtes in eidgenössischen Angelegenheiten erleichtert werden könne. Nachdem alle Kantone sich zu den Anregungen dieses Postulates geäussert haben, gelangen wir zu der bestimmten Ansicht, dass an eine völlig einheitliehe bundesrechtliche Verwirklichung der von Herrn Dr. Sträuli geäusserten Wünsche nicht gedacht werden kann. Nicht nur gehen die verschiedenen Anschauungen zu weit auseinander, sondern es wird vielfach geltend gemacht, dass eine bundesrechtliche Reglementierung auf diesem Gebiete tiefeingreifende Änderungen in den gesetzlich festgelegten kantonalen Abstimmungs- und Wahlvorschriften nach sich ziehen müsste.

Jede einheitliche Regelung im Sinne des Postulates Sträuli würde, als bundesrechtlicher ^Eingriff in autonome kantonale Abstimmungsnormen, auf grossen Widerstand etoasen. Wir erinnern daran, dass Vereinheitlichungsbestrebungen auf diesem Gebiete schon zweimal in der Volksabstimmung unterlegen sind, und halten solche, über die gegenwärtige Bundesgesetzgebung hinausgehende Bestrebungen, welche in die kantonale Gesetzgebungssphäre eingreifen würden, auch heute noch als aussichtslos.

Das Postulat des Herrn Dr. Sträuli stellt uns in erster Linie vor die Frage, ob an dem Verbot der Stellvertretung in Art. 8 des Bundesgesetzes betreffend die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen vom 19. Juli 1872 und an der bisherigen Auslegung dieses Verbotes festgehalten werden soll. Die Umfrage ergibt nun, dass die grosse Mehrheit der Kantone sich für die Beibehaltung dieses Verbotes ausspricht, da es einen Schutz bilde gegen Stimmenfang und Missbräuche aller Art. Auch wir schliessen uns

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dieser Ansicht an, wobei wir auf der vom Bundesrat schon früher vertretenen Anschauung beharren, dass Art. 8 cit. die Übergabe des Stimmzettels durch irgendwelche Boten und auch dio Beförderung durch die Post von vornherein aussehliesst. Eine Änderung auf diesem Gebiete könnte unseres Brachtens nur im Gesetzgebungswege durchgeführt werden; wir halten jedoch eine solche Gesetzesrevision als unerwünscht, indem wir durchaus auf dem Boden stehen, dass nur das persönliche Erscheinen des Bürgers an der Urne jene angedeuteten Gefahren auszuschliessen vermöge.

Von Seiten eines Kantons wird beantragt, es sei eine Erleichterung im Wege der Revision von Art. 3 des zitierten Bundesgesetzes in dem Sinne herbeizufuhren, dass jedem Kanton die Möglichkeit eingeräumt werde, seine stimmfähigen Einwohner zur Stimmabgabe in jeder beliebigen Gemeinde des Kantons zuzulassen. Demgegenüber erscheint uns ein Festhalten an dem Grundsätze, dass der Burger sein Stimmrecht nur an e i n e m Orte, an seinem ordentlichen Wohnorte, ausüben kann, dringend geboten. Die Freizügigkeit, das Stimmdomizil beliebig zu wechseln, -- auch wenn man sie auf die einzelnen Kantonsgebiete beschränken wollte -- wurde zweifellos die Gefahr von Missbräuchen in sich schliessen, schon deshalb, weil es alsdann jedem Stimmenden frei stände, sich zur Stimmabgabe in eine Gemeinde zu begeben, wo er völlig unbekannt ist.

Wenn wir demnach aus innern Gründen, sowie mit Rücksicht auf die in Kraft bestehenden kantonalen Erlasse, davon absehen, eine Revision des Bundesgesetzes von 1872 in Aussicht zu nehmen, so halten wir anderseits dafür, dass nichts entgegenstehe, die Anregungen des Herrn Dr. Sträuli, soweit sie sich im Rahmen der bestehenden Bundesgesetzgebung durchführen lassen, in denjenigen Kantonen zu verwirklichen, wo hierfür ein Bedürfnis sich geltend macht.

In erster Linie steht es den Kantonen frei, im Sinne des ßundesgesetzes vom 30. März 1900 die ,,Samstagsurne"1 weiter auszubauen ; wir glauben, dass dem Sinne dieses Gesetzes kein Eintrag geschieht, wenn der ,,Vorabend"1 des Abstimmungstages von Samstag mittags 12 Uhr an gerechnet wird ; die Möglichkeit, bereits am frühen Nachmittag des Vortages zur Urne zu gehen, bedeutet zweifellos eine wesentliche Erleichterung der Stimmabgabe.

Einzelne Kantonalgesetze sehen vor, dass unter gewissen
Voraussetzungen und Kautelen ein Stimmberechtigter, der verhindert ist, an der Urne zu stimmen, vorher den Stimmzettel in verschlossener Enveloppe, unter Vorweisung oder Abgabe des Stimmrechtsausweises, dem Gemeindepräsidenten oder einem Gemeindebureau übergeben kann ; der Stimmzettel wird alsdann verschlossen in die Urne gelegt. Dieses Verfahren, das der Bundesgesetzgebung unbekannt ist, kann unseres Erachtens nur während

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derjenigen Zeit zugelassen werden, die im allgemeinen für die Urnenabstimmung offensteht: d. h. von Mittag 12 Uhr des Vortages an. Die f r ü h e r e Entgegennahme solcher Stimmzettel würde einen Einbruch bedeuten in den von der Bundesgesetzgebung festgehaltenen Grundsatz, dass die Abstimmung in der ganzen Eidgenossenschaft gleichzeitig stattfinden soll. Bei Einführung dieses Verfahrens muss dafür Sorge getragen werden, dass dadurch dem Âbstimmungsgeheimnis keinerlei Abbruch geschieht.

Was sodann die Anregung betrifft, den Kranken und Invaliden, welche sich nicht zur Urne begeben können, die Möglichkeit zu verschaffen, an den Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen, so muss aus den oben entwickelten Gründen die Übersendung der Stimmzettel durch Vermittlung der Post, eines Boten oder des Spitalpersonals ausser Betracht fallen. Dagegen erscheint es zulässig, dass auf Wunsch eines Kranken eine Abordnung des Wahl- baw. Abstimmungsbureaus dessen Stimmzettel in seiner Wohnung unter Verwendung einer verschlossenen Urne entgegennimmt.

Dasselbe kann auch geschehen gegenüber Spitalinsassen, sofern sie in der Gemeinde, wo sich der Spital befindet, stimmberechtigt sind.

In Zusammenfassung dieser Ausführungen gelangen wir zu folgenden Ergebnissen : Eine Revision der Gesetzgebung über die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen zum Zwecke einer Erleichterung der Stimmabgabe halten wir für unangebracht und im gegenwärtigen Zeitpunkte undurchführbar; dagegen erachten wir es als erwünscht, dass die Kantone von denjenigen Erleichterungen, die im Rahmen der bestehenden Bundesgesetzgebung zulässig erscheinen, Gebrauch machen. Wir rechnen hierzu folgende Massnahmen: Ausbau der ,,Samstagsurne", wobei eine Aufstellung der Urnen von 12 Uhr mittags des Vortages an eintreten kann.

Einräumung der Erlaubnis, dass in Gemeinden, wo die Urne am Vortage nur während des spätem Abends oder gar nicht aufgestellt wird, ein Stimmberechtigter, der an der Stimmabgabe zur festgesetzten Zeit aus wesentlichen Gründen verhindert ist, seinen verschlossenen Stimmzettel von 12 Uhr mittags des Vortages an einem Gemeindebeamten abgeben kann. Das Abstimmungsgeheimnis muss dabei gewahrt bleiben.

Einführung des Verfahrens, dass ein Invalider oder Kranker, der in seiner Wohngemeinde -- sei es zu Hause oder in einem Spital -- verpflegt wird, das
Begehren stellen kann, dass sein Stimmzettel durch eine Abordnung des Wahl- bzw. Abstimmungsbureaus abgeholt werde.

Erleichterungen der Stimmabgabe, welche über die vorstehend aufgeführten Massnahmen hinausgehen und den Rahmen der Bundesgesetzgebung überschreiten, können bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen nicht eingeräumt werden, und wir müssen die bestimmte Erwartung

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aussprechen, dass, wo solche weitergehende Erleichtertingen in den kantonalen Gesetzen vorgesehen sind, sie für bundesrechtliche Wahlen und Abstimmungen keine Anwendung finden.

Wir benutzen auch diesen Anlass, Sie, getreue, liebe Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 16. März 1925.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates,

D e rB u n d e s p r ä s i d e n t :

Musy Der Vizekanzler : Kaeslin.

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Volksabstimmung vom 24. Mai 1925 über

das Volksbegehren um Aufnahme eines Artikels 34quater in die Bundesverfassung betreffend Invaliditäts-. Alters- und Hinterbliebenenversicherung (Initiative Rothenberger).

In den Monaten Januar und Februar 1920 ist dem Bundesrate folgendes, von '78,990 Schweizerbürgern, deren Stimmberechtigung amtlich beglaubigt ist, unterzeichnetes Volksbegehren eingereicht worden: ,,In die Bundesverfassung ist folgender Artikel 34quater aufzunehmen : Der Bund wird auf dem Wege der Gesetzgebung die Invalidi täts- die Alters- und Hinterbliebenenversicherung einführen.

Er kann sie allgemein oder für einzelne Bevölkerungsklassen obligatorisch erklären.

Die Durchführung erfolgt unter Mitwirkung der Kantone oder auch von öffentlichen und privaten Versicherungskassen.

Zur Erleichterung der Durchführung dieser Aufgabe errichtet der Bund einen Fonds. Diesem Fonds sind als erste Einlage 250 Millionen Franken zuzuführen, welche dem Erträgnis der Kriegsgewinnsteuern sofort nach Annahme des gegenwärtigen Verfassungsartikels entnommen werden. Lit. A, Ziffer 2, des Bundesbeschlusses vom 14. Februar 1919 wird in diesem Sinne abgeändert.

Das Begehren ist gemäss gesetzlicher Vorschrift an die Bundesver-sammlung weitergeleitet worden. Unterm 5. Oktober 1920/6. Dezember 1922 hat die Bundesversammlung beschlossen, das Volksbegehren dem Volke und den Ständen mit dem Antrage auf Verwerfung zur Abstimmung vorzulegen.

Wer die vorgeschlagene Verfassungsbestimmung annehmen will, hat mit ,,Ja", wer sie dagegen im Sinne des Antrages der Bundesversammlung verwerfen will, hat mit ,,Nein" zu stimmen.

B e r n , den 19. März 1925.

Im Auftrage des Schweiz. Bundesrates: Die Bundeskanzlei.

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Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen betreffend Erleichterung der Stimmabgabe bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen. (Vom 16. März 1925.)

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25.03.1925

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