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4207 Bericht dea

Buiidesrates an die Bundesversammlung über die Initiative des Kantons Neucnburg betreffend die Einführung einer eidgenössischen Alters- und Hinterlassenenversicherung.

(Vom 24. Februar 1942.)

Herr Präsident!

Hochgeehrte Herren!

Der Grosse Eat des Kantons Neuenburg hat in seiner Sitzung vom 6. No^ vernber 1941 mit 54 Stimmen ohne Opposition den nachfolgenden Beschluss gefasst: Der Grosse Bat des Kantons Neuenburg, gestützt auf das Initiativrecht des Art, 98 der Bundesverfassung, ladet die eidgenössischen Behörden ein, unverzüglich die Einführung einer Alters- und Hinterlassenenversicherung zu prüfen.

Ausser den in Art. 344u»ter vorgesehenen Finanzquellen (Tabaksteuer und gebrannte Wasser) soll die Finanzierung durch die Einnahmen der Lohn- und Verdienstausfallkassen erfolgen*

Der Staatsrat des Kantons Neuenburg leitete diesen Beschluss am 14. November 1941 an den Bundesrat weiter.

Wir beehren uns, Ihnen über das Initiativbegehren des Kantons Neuenbürg wie. folgt Bericht zu erstatten: I.

Die verfassungsmässige Grundlage für die eidgenössische Altersversicherung bildet nach wie vor der Art. 34luater der Bundesverfassung. Am 6. Dezember 1981 hat das Schweizervolk das Ausführungsgesetz zu diesem Verfassungsartikel (vom 17. Juni 1931) verworfen. In den ersten Jahren nach Ablehnung dieser Vorlage konnte nicht daran gedacht werden, eine neue Vorlage einzubringen. Hingegen ist, unter dem Zwange der Verhältnisse, seither immer stärker der Weg der Fürsorge beschritten worden. Dazu kam, dass die verfassungsmässig für die Altersversicherung reservierten Mittel (aus Tabak und Alkohol) durch das Fiskalnotrecht seit 1984 der Bundeskasse überwiesen wurden. Dadurch wurden der Altersversicherung die finanziellen Grundlagen

100 zum Teil entzogen. Der bestehende Altersversicherungsfonds blieb, da ihm vorübergehend keine Zinsen mehr gutgeschrieben wurden, ungefähr auf derselben Höhe stehen und beträgt heute rund 286 Millionen Franken. Zusammengefaßt ergibt sich seit der Verwerfung der Versicherungsvorlage auf eidgenössischem Boden die folgende Entwicklung: 1. Am 13. Oktober 1933 beschloss die Bundesversammlung das erste Finanzprogramm, Nach Art. 29 dieses Erlasses ist der Ertrag der Belastung des Tabaks und der Anteil des Bundes an den Einnahmen aus der fiskalischen Belastung gebrannter Wasser vom 1. Januar 1984 hinweg vorübergehend für die allgemeinen Bedürfnisse des Bundes zu verwenden. Anderseits stellte der Bund den Kantonen und der Stiftung für das Alter für die Dauer des Beschlusses, d. h. bis zum 81. Dezember 1987, jährlich 8 Millionen Franken zu Unterstützungszwecken zur Verfügung. Diese Ordnung ist in ihrem Hauptinhalt unverändert in das Finanzprogramm vom 81. Januar 1986 hinübergenommen worden, mit der blossen Einfügung der Vorschrift, dass der genannte Betrag dem Fonds für die Alters- und Hinterlassenenversicherung zu entnehmen und diesem keine Zinsen mehr gutzuschreiben seien.

Der Bundesbeschluss betreffend die Verlängerung des Fiskalnotrechts für das Jahr 1938 sah die Weiterführung der Alters- und Hinterlasseneiifürsorge in gleicher Weise vor. Mit Wirkung vom 1. Januar 1989 bildete der in der Volksabstimmung vom 27. November 1988 gutgeheissene Bundesbeschluss betreffend die Übergangsordnung des Finanzhaushaltes vom 80. September 1938 auf die Dauer von drei Jahren die eidgenössische Eechtsgrundlage der Alters- und Hinterlassenenfürsorge. Die genannte Verfassungsbestimmung lautet : Vom 1. Januar 1989 bis zum 31. Dezember 1941 fliesst der Ertrag der fiskalischen Belastung des Tabaks und gebrannter Wasser in die Bundeskasse.

Während dieser Zeit leistet der Bund Beiträge in der Hohe von jährlich 18 Millionen Franken an die Kantone sowie an gemeinnützige, auf das ganze Gebiet der Eidgenossenschaft sich erstreckende Fürsorgeeinrichtungen und Alters- und Hinterlassenenversichemngen. Die Kantone können die ihnen zufallenden Beiträge teilweise ihren allgemeinen Alters- und Hinterlassenenversicherungsanstalten zuweisen. Im übrigen dürfen diese Beiträge nur für bedürftige Greise, Witwen und Waisen und ältere und aus
wirtschaftlichen Gründen dauernd arbeitslos gewordene Personen schweizerischer Nationalität verwendet und nicht als Armenunterstützung behandelt werden. Über die Vollziehung dieser Übergangsbestimmung beschliesst die Bundesversammlung.

Während der gleichen Zeit ist das Vermögen des Fonds für die eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung, soweit es nicht in Wertpapieren angelegt ist, zum Diskontsatz der Schweizerischen Nationalbank zu verzinsen.

2. Auf Grund dieser verfassungsmässigen Bestimmung hat die Bundesversammlung mit Beschluss vom 21. Juni 1989 über den Vollzug der genannten Übergangsbestimmung Beschluss gefasst. Nach Art. 2 des genannten Beschlusses ist die Verteilung des gemäss der Übergangsbestimmung zur Verfügung stehenden Betrages von 18 Millionen Franken jährlich wie folgt vorgenommen worden:

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Millionen Pranken an die Kantone zur Unterstützung bedürftiger Greise, Witwen und Waisen, sowie zur Unterstützung älterer, bedürftiger Arbeitsloser, beides in einem Verhältnis, das der Bundesrat auf Grund der Zahl der Greise, Witwen und Waisen und der Zahl der von der kantonalen Zentralstelle ausgeschiedenen altern Arbeitslosen zu bestimmen hat; 1,5 Million » an die Schweizerische Stiftung «Für das Alter» sowie 0,5 » » an die Schweizerische Stiftung «Für die Jugend», zur Ausrichtung von Unterstützungen im Rahmen der bisherigen Tätigkeit der beiden Stiftungen; l » » an den Bundesrat zur Unterstützung von Altersund Hinterlassenenversicherungen im Sinne des Art. l dieses Beschlusses.

8. Am 80. April 1940 hat der Bundesrat Beschluss gefasst über Massnahmen zur Tilgung der ausserordentlichen Wehraufwendungen und zur Ordnung des Finanzhaushaltes des Bundes. Art. 9 dieses Beschlusses bestimmt betreffend «Leistungen des Bundes an die Alters- und Hinterlassenenversicherung und -fürsorge» folgendes: In den Jahren 1942 bis 1945 stellt der Bund für die Alters- und Hinterlassenenversicherung und -fürsorge zur Verfügung: a, 18 Millionen Pranken aus allgemeinen Mitteln; b. den Bundesanteil am Reinertrag der Alkoholverwaltung nach Tilgung des Bundesanteils an deren Ausgabenüberschüssen; o. den Zinsertrag aus dem Fonds für die Alters- und Hinterlassenenversicherung.

Während der gleichen Zeit fliesst der Ertrag der fiskalischen Belastung des Tabaks in die Bundeskasse und wird das Guthaben des Fonds für die Alters- und Hinterlassenenversicherung bei der eidgenössischen Staatskasse zum Diskontsatz der Schweizerischen Nationalbank verzinst.

4. Zufolge der zunehmenden Teuerung und der daraus sich ergebenden Notwendigkeit der Erhöhung der Leistungen an die bedürftigen Greise, Witwen und Waisen sah sich der Bundesrat veranlasst, die auf Grund des Art. 9 des Bundesratsbeschlusses vom 30. April 1940 für die Zwecke der Altersversicherung und -fürsorge zur Verfügung stehenden Mittel völlig den Zwecken der Altersfürsorge zur Verfügung zu stellen. Am 24. Dezember 1941 hat der Bundesrat die beiden Bundesratsbeschlüsse über Alters- und Hinterlassenenfürsorge und über Fürsorge für ältere Arbeitslose gefasst.

a. Art. l des Bundesratsbeschlusses über Alters- und Hinterlassenenfürsorge bestimmt, dass von den gemäss Art. 9 des Bundesratsbeschlusses vom 30, April 1940 für die Zwecke der Alters- und Hinterlassenenversicherung und -fürsorge zur Verfügung stehenden Mitteln der Fürsorge für die Greise, Witwen und Waisen zugewiesen werden: 19 Millionen Franken den Kantonen zur Ausrichtung von Fürsorgebeiträgen an bedürftige Greise, Witwen und Waisen;

102 2,6 Millionen Franken der Schweizerischen Stiftung für das Alter zur Ausrichtung von Pursorgebeiträgen an bedürftige Greise; 750 000 Franken der Schweizerischen Stiftung für die Jugend zur Gewährung von Fürsorgebeiträgen an bedürftige Hinterlassene im Rahmen der bisherigen Tätigkeit der Stiftung.

Weitere allfällig zur Verfügung stehende, aber nicht verwendete Mittel werden in Reserve gestellt und dem Spezialfonds für die Alters- und Hinterlassenerversicherung gutgeschrieben. Über solche Beträge kann im Bedarfsfalle durch den Bundesrat für die in Art. 9 des Bundesratsbeschlusses vom 30. April 1940 genannten Zwecke verfügt werden.

Hinsichtlich der Versicherung wird in Art. 8 des zitierten Bundesratsbeschlusses gesagt: i Kantone, die eine allgemeine staatliche Alters- oder Invaliden- undHinterlassenenVersicherung oder, unabhängig von diesem Beschluss, eine staatliche Altersfürsorge geschaffen haben, sind mit Zustimmung des eidgenössischen Voliswirtschaftsdeparteinents befugt, einen angemessenen Teil ihres Betrefmisses für die Speisung eiper solchen Einrichtung zu verwenden.

Mit Zustimmung des eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements können die Kantone unter besonderen Voraussetzungen und Bedingungen einen Teil der ihnen gemäss diesem Bundesratsbeschluss zukommenden Mittel für die Schaffung einer allgemeinen, staatlichen Altersversicherung reservieren.

b. In dem Bundesratsbeschluss vom 24. Dezember 1941 über Fürsorge für ältere Arbeitslose wird in Art. 2 bestimmt, dass der Bundesbeitrag an die Kantone 80 % der entsprechend den Bundesvorschriften ausgerichteten Fürsorgeleistungen beträgt. Die gesamten Bundesbeiträge dürfen jährlich sechs Millionen Franken nicht übersteigen.

n.

1. Die unter dem vorstehenden Abschnitt dargelegte Entwicklung der Altersversicherung und -fürsorge in der Schweiz seit der Verwerfung der Versicherungsvorlage vom Jahre 1931 zeigt, dass, gezwungen durch die Verhältnisse, der Weg der Versicherung immer mehr verlassen und der Weg der Fürsorge immer stärker beschritten wurde. Die Entwicklung hat tatsächlich dazu geführt, dass alle zurzeit für die Zwecke der Altersversicherung zur Verfügung stehenden Mittel (eingeschlossen die Fondszinsen) zugunsten der Fürsorge verwendet werden müssen, wenn man den an sie gestellten Anforderungen gerecht werden will.

Wir stehen somit vor der Tatsache, dass auf Grund der verfassungsmässig für die Zwecke der Altersversicherung zur Verfügung stehenden Mittel tatsächlich kerne solchen für die Zwecke der Versicherung frei sind. Dazu kommt, dass grundsätzlich die Einnahmen aus dem Tabak in die Bundeskasse fhessen.

Dieser Zustand ist bis Ende 1945 gesetzlich festgelegt. Es ist somit auf Grund dieser Situation nicht möglich, während der Dauer der geltenden gesetzlichen Bestimmungen an die Realisierung eines Projektes über die Altersversicherung zu denken..

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2. Hinsichtlich der Frage der Heranziehung der Lohn- und Verdienstausfallkassen für die Zwecke der Altersversicherung können wir uns beschränken, auf die Ausführungen in unserem Bericht vom 24. Februar 1942 über den Vorschlag des Kantons Genf betreffend die Umgestaltung der Ausgleichskassen für die Lohn- und Verdienstersatzordnung für die Zwecke der Altersfürsorge hinzuweisen.

III.

Auf Grund dieser verschiedenen Erwägungen müsste wohl zurzeit die Schaffung eines neuen Projektes für eine eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung als verfrüht bezeichnet werden. Es bleibt wohl auf diesem Gebiet nichts anderes übrig, als die Entwicklung etwas abzuwarten. Wir haben nicht verfehlt, das ganze Problem am 4./5. März 1941 einer Konferenz von Wirtschaftsexperten vorzulegen. Wenn im Kreise der Experten auch durchaus die Wünschbarkeit der Schaffung einer Alters- und Hinterlassenenversicherung betont wurde, so wurde doch anderseits hervorgehoben, dass den dringenden Fragen der Wirtschaft, der Arbeitsbeschaffung und der Arbeitslosenfiirsorge für die Kriegszeit die Priorität zukommen soll. Die gleiche Auffassung vertreten auch die beiden AuMchtskommissionen für die Lohnund Verdienstersatzordnung. Trotzdem zurzeit die Lage für ein neues Projekt für eine Alters- und Hinterlassenenversicherung nicht günstig zu beurteilen ist, haben wir doch die Auffassung, dass dieses Problem weiter verfolgt werden muss. Wir werden nicht verfehlen, zu gegebener Zeit darauf zurückzukommen und den eidgenössischen Bäten entsprechend Antrag zu stellen.

Antrag: Auf die Initiative des Kantons Neuenburg vom 6. November 1941 betreffend Wiederaufnahme der Studien über die Einführung einer Alters- und Hinterlassenenversicherung und die Heranziehung der Lohn- und Verdienstausfallkassen für diesen Zweck sei zurzeit nicht einzutreten.

Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherang unserer vollkommenen Hochachtung.

Bern, den 24. Februar 1942.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Etter.

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Der Vizekanzler:

Leimgruber.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Initiative des Kantons Neuenburg betreffend die Einführung einer eidgenössischen Alters- und Hinterlassenenversicherung. (Vom 24. Februar 1942.)

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05.03.1942

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