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Botschaft des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend das Strafnachlassgesuch des Weichenwärters Heinrich S c h n e i d e r , von Jona, Kts. St. Gallen.

(Vom 24. Mai 1877.)

Tit. !

Mit Beschluß vom 21. August 1876 haben wir in Anwendung von Art. 74 des Bundesgesezes über das Bundesstrafrecht die Untersuchung und Beurtheilung einer Gefährdung des Eisenbahnbetriebes, welche am 2. Januar 1876 auf der Station Flawyl stattfand, den Gerichten des Kantons St. Gallen überwiesen.

In Folge dessen wurden mit Urtheil des Bezirksgerichtes Untertoggenburg vom 2. Dezember 1876 Weichenwärter J a k o b S c h l u m p f von Oberhelferswyl und H e i n r i c h S c h n e i d e r von Jona, gewesener Güterexpedient und Stationsgehülfe in Flawyl, der fahrläßigen Gefährdung des Eisenbahnbetriebes für schuldig erklärt und in Anwendung von Art. 67, litt, b des Bundesstrafgesezes der erstere in eine Gefängnißstrafe von 2 Monaten und 200 Franken Buße, der leztere in eine Gefängnißstrafe von 14 Tagen und 100 Franken Buße und beide solidarisch zur Bezahlung der Kosten verurtheilt.

Mit Bezug auf Jakob ' Schlumpf ist dieses Urtheil vollzogen, indem derselbe die 2 Monate Gefängnißstrafe, sowie weitere 40 Tage

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Gefangenschaft anstatt der Buße, die er nicht bezahlen konnte (Art. 8 des Bundesstrafgesezes), ausgestanden hat. H e i n r i c h S c h n e i d e r dagegen bezahlte nur die Buße und stellt nun an die Bundesversammlung das Gesuch, daß ihm die Gefängnißstrafe auf dem Wege der Begnadigung erlassen werden möchte.

In Folge dessen haben wir die Ehre, Ihnen folgenden Bericht zu erstatten: Laut Fahrtenplan der Vereinigten Schweizerbahnen mußten die von St. Gallen und Wyl kommenden ersten Personenzüge um 6 Uhr 30 Minuten Morgens auf der Station Flawyl kreuzen. Am 2. Januar 1876 traf der Zug III von Wyl einige Minuten früher ein und stand auf dem durchgehenden Hauptgeleise, während der Zug II, von St. Gallen kommend, die Station auf dem Nebengeleise hätte passiren sollen. Schlumpf, welcher die Weiche finden leztern zu bedienen hatte, befand sich jedoch nicht auf seinem Posten und die Weiche selbst war auf das Hauptgeleise, also gegen den Zug III gestellt. Dies wurde von dem Lokomotivführer erst unmittelbar vor der Weiche bemerkt. Er gab sofort die Nothsignale und that alles Mögliche, um den Zug anzuhalten; allein der Zusammenstoß konnte nicht mehr verhütet werden. Die Reisenden kamen ohne Schädigungen davon. Dagegen wurde ein Gepäkkondukteur zwischen Maschine und Wagen hinunter geworfen und erlitt einige leichte Quetschungen, und der Lokomotivführer des Zuges II wurde in Folge seiner Ueberanstrengung auf der Maschine für sechs Wochen dienstuntauglich. Die Schädigungen am Material beziffert die Bahndirektion auf beiläufig 4700 Franken.

Beide Züge konnten nach einem Aufenthalt von anderthalb Stunden, der Zug II mit einer Hülfsmaschine, die Fahrt weiter fortsezen.

In der Untersuchung gestand Weichenwärter Schlumpf ein, daß er an dem fraglichen Morgen sich verschlafen habe. Was den Stationsgehülfen Schneider betrifft, so hatte derselbe auf das spezielle Gesuch des Stationsverwalters Wiget übernommen, an dessen Stelle die Empfangnahme der Frühzüge vom 2. Januar zu besorgen, allein unterlassen, sich darüber Gewißheit zu verschaffen, ob die Weichen richtig bedient seien. Die Anklage wurde daher in erster Linie gegen Schlumpf und Schneider gerichtet.

Aber auch der Lokomotiv- und der Zugführer des Zuges II, sowie die Lokomotiv- und Zugführer und der Heizer des Zuges III wurden unter Anklage gestellt, die erstern,
weil sie in die Station eingefahren seien, obwohl sie noch außerhalb derselben bemerkt haben müssen, daß das Signallicht auf der Weiche des Schlumpf nicht brenne, und die leztern, weil sie unterlassen haben, von

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·diesem leztern Umstände Anzeige zu machen, und weil sie ihre Posten verlassen haben.

Das Gericht ging bei Erlaß seines Urtheiles von der Ansicht AUS, daß den Weichenwärter Schlumpf die Hauptschuld treffe, daß aber Schneider ebenfalls strafbar sei, weil auch er einer Pflichtversäumniß sich schuldig gemacht habe. Dabei komme dann zu Gunsten des Schneider mildernd in Betracht, daß er während eines .kurzen entscheidenden Momentes in eine Verwiklung verschiedenartiger Pflichten gerathen sei und daß er nur als Stellvertreter des Stationsvorstandes und auf dessen Gesuch den Dienst versehen habe. Die übrigen Angeklagten wurden freigesprochen.

Das Begnadigungsgesuch des Heinrich Schneider wird von Herrn Fürsprech Suter in St. Gallen im Wesentlichen begründet wie folgt: Es könne dem Schneider keine böse Absicht und nicht einmal Leichtfertigkeit vorgeworfen werden, sondern höchstens Mangel an der nöthigen Geistesgegenwart und an Routine in einem Dienstzweige, der nicht zu seinen regelmäßigen Funktionen gehört und den er an jenem Morgen nur aus Gefälligkeit gegen seinen Chef übernommen habe. Der Unfall sei lediglich das Resultat «hier Reihe verschiedenartiger Verumständungen. Schon die Organisation und Administration des Dienstes auf der ziemlich bedeutenden Station Flawyl seien mangelhaft und entsprechen nicht den Anforderungen für die Sicherheit des Verkehres. Der Stationsverwalter sei ein fünfundsiebenjähriger Mann, welcher öfters in den Fall komme, seine Gehülfen, namentlich für die Frühzüge, um momentane Vertretung ersuchen zu müssen. Dem Stellvertreter liege dann der ganze Dienst ob : Kasse, Telegraph, Beaufsichtigung des Personals, sowie die Empfangnahine und Absendung der sich kreuzenden Züge. Einer solchen Aufgabe könne aber ein einziger Beamter unmöglich in allen Richtungen genügen. Gerade am Morgen des 2. Januar habe Schneider den Dienst ganz allein besorgen müssen und sei namentlich durch einen außergewöhnlichen Andrang an der Kasse so sehr in Anspruch genommen worden, daß er keine Zeit gefunden, auch noch die Weichen zu kontroliren. Sodann sei der zweite Gehülfe auf eine andere Station beordert gewesen, und der Portier, welcher sonst meistens den Weichendienst beaufsichtige, habe seinen Freisonntag gehabt und deßhalb, obwohl auf der Station anwesend, auf die Stellung der Weichen nicht Acht
gegeben. Endlich habe der Zufall auch darin mitgespielt, daß das Fahrpersonal des Zuges von Wyl, welcher doch weit gegen die Weiche des Schlumpf vorgefahren sei, übersehen habe, daß die Weiche nicht bedient sei.

Ebenso haben auch der Lokomotiv- und Zugführer des St. Galler Auges, trozdem diese Weiche nicht beleuchtet gewesen, nicht daran

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Dem Petenten wird das Zeugniß ausgestellt, daß er einen unbescholtenen Leumund genossen und daß gegen ihn keine polizeilichen Klagen eingegangen seien.

Wir fügen diesem Berichte bei, daß Schneider seit 1862 im Bahndienste gestanden ist und nach seiner eigenen Darstellung wiederholt die nämlichen Funktionen versehen mußte. Er hätte daher schon aus Routine und ohne Anwendung besonderer Sorgfalt seinen Pflichten genügen können. Es scheint aber, daß er diese Pflichten überhaupt nicht sehr strenge genommen hat, da er während seiner Dienstzeit von der Verwaltung 30 Male im Ganzen mit 44 Franken für kleinere üienstfehler gebüßt werden mußte, wovon 2 Bußen mit je 3 Franken nebst Androhung der Entlassung wegen wiederholter unentschuldigter Abwesenheit vom Posten. Wir theilen du her die Ansicht der Regierung von St. Gallen, daß die von dem Petenten zur Begründung seines Begnadigungsgesuches geltend gemachten Umstände von dem urtheilenden Richter wohl schon ihre gebührende Berüksichtigung gefunden haben müssen, und schließen angesichts des Umstandes, daß die sich mehrenden Eisenbahnunfälle eine strenge Handhabung des Strafgesezes im Interesse der Reisenden absolut nothwendig machen, mit dem A n t r a g e : Es sei auf das Begnadigungsgesuch des Heinrich Schneider nicht einzutreten.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommensten Hochachtung.

B e r n , den 24. Mai 1877.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Vizepräsident:

Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schiess.

Bundesblatt. 29. Jahrg. Bd. III.

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Bericht des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung über das Begnadigungsgesuch des Théodore Ganioz von Sitten.

(Vom 2. Juni 1877.)

Tit. !

Mit Urtheil des korrektionellen und kriminellen Gerichtes des Bezirkes Martigny vom 23. August vorigen Jahres wurde Théodore G a n i o z von Sitten , ehemals Oberinstruktor der Milizen und Kommandant der Gendarmerie des Kantons Wallis, gegenwärtig Arbeiter in einer Cigarrenfabrik zu Vivis, in Anwendung von Art. 3 des Bundesgesezes vom 30. Juli 1859, betreffend die Werbung und den Eintritt in fremden Kriegsdienst, wegen Anwerbung dreier junger Leute in den holländisch - indischen Militärdienst zu einem Monat Gefängniß, 20 Fr. Buße und zur Einstellung im Aktivbürgerrechte auf die Dauer von einem Jahre, sowie zur Bezahlung von zwei Dritteln der Prozeßkosten verurtheilt. Sein Mitangeklagter Louis Délez, Notar in Sitten, wurde dagegen Mangels hinreichenden Beweises von Strafe freigesprochen, immerhin aber zur Bezahlung des lezten Drittels der Kosten verfällt. In dem Urtheile ist konstatirt, daß gegen Ganioz vollständiger und gesezlicher Beweis der Anklage vorliege, dabei aber als strafmildernder Umstand in Betracht gezogen, daß er kein Vermögen besize und den Unterhalt seiner noch kleinen und mutterlosen Kinder lediglich durch seine Arbeit" bestreiten müsse.

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Botschaft des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend das Strafnachlassgesuch des Weichenwärters Heinrich Schneider, von Jona, Kts. St. Gallen.

(Vom 24. Mai 1877.)

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16.06.1877

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158-162

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