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Bundesratsbeschluss über

den Rekurs von Fr. Dolder und J. Hoffmann, in Weggis, betreffend Kassation der Ersatzwahl in den Großen Rat des Kantons Luzern vom 20. Juni 1897.

(Vom 27. Mai 1898.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t ,

hat über den Rekurs von Fr. Dold er und J. H o f f m an n, in Weggis, betreuend Kassation der Ersatzwahl in den Großen Rat des Kantons Luzern, vom 20. Juni 1897, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß

gefaßt:

A.

In thatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Am 20.

wahl in den 481 Bürger Zimmermann

Juni 1897 fand im Wahlkreis Weggis eine ErsatzGroßen Rat des Kantons Luzern statt. Es nahmen an der Wahl teil ; Korporationspräsident Kaspar erhielt 241 Stimmen und wurde als gewählt erklärt.

n.

Gegen dieses Wahlergebnis rekurrierten am 30. Juni Fr.

Dolder, Jost Hoffmann und Genossen an den Großen Rat des Kantons Luzern ; sie verlangten Kassation der Wahl und Anordnung

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eines neuen Wahlganges, weil zwei stimmberechtigte Bürger, Bapt. Zimmermann und Joh. Saxer, in das Stimmregister nicht eingetragen worden waren und deshalb ihr Stimmrecht nicht ausüben konnten.

III.

Mit Beschluß vom 8. September 1897, den Beschwerdeführern durch die Staatskanzlei am 4. Oktober zugestellt, wies der Große Rat die Kassationsbeschwerde als unbegründet ab, in Erwägung, daß die Wahl nach gesetzlicher Vorschrift erfolgt sei und daß die gegen die Gültigkeitserklärung der Wahl erhobene Wahlbeschwerde gemäß §§ 13 und 14 des Gesetzes über Wahlen und Abstimmungen nicht begründet sei.

IV.

Gegen diesen Beschluß haben Fr. Dolder und J. Hoffmann mit Eingabe vom 6. November 1897 an den Bundesrat rekurriert; sie beantragen : es sei der Entscheid des Großen Rates des Kantons Luzern vom 8. September und damit die Wahl des Kaspar Zimmermann zum Mitglied des Großen Rates aufzuheben, bis zum Entscheide jedoch die Wahl vorderhand zu sistieren. Als Kassationsgrund wird, gestützt auf eine Bescheinigung der Gemeinderatskanzlei von Vitznau, der Umstand angeführt, daß der seit Jahren in Vitznau wohnhafte und daselbst im Stimmregister eingetragene Johann Saxer irrtümlicherweise auf Neujahr 1897 aus dem Stimmregister gestrichen worden ist und deshalb ohne sein Zuthun und Wissen am 20. Juni nicht zur Stimmabgabe zugelassen wurde.

Die Stimmberechtigung des Saxer ist vom Gemeinderate von Vitznau ohne weiteres anerkannt worden, denn noch am gleichen 20. Juni beschloß derselbe, Saxer für künftige Wahlen in das Stimmregister einzutragen. Das Stimmregister war also vorher unrichtig und diese Unrichtigkeit war für den Ausgang der Wahlverhandlung vom 20. Juni entscheidend. Denn, wenn Saxer hätte stimmen können, so hätte der als gewählt Erklärte, da Saxer ihm seine Stimme nicht geben wollte, das absolute Mehr nicht erreicht. Es ist unzulässig, einen Bürger ohne sein Wissen um sein Stimmrecht zu bringen ; in einer solchen Unregelmässigkeit liegt nach Luzerner Verfassung und Gesetz ein Kassationsgrund ; dies ergiebt sich daraus, daß jeder Stimmberechtigte von Amtes wegen in das Stimmregister einzutragen ist und daß letzteres noch 14 Tage n a c h der Wahl zur Einsicht offen stehen soll (§§ 9 und 15 des Gesetzes über Wahlen und Abstimmungen).

681 V.

Der Große Rat des Kantons Luzern, vertreten durch sein Bureau, stellt in seiner Antwort vorn 31. Dezember 1897 den Antrag, der Bundesrat wolle auf den Rekurs nicht eintreten, eventuell denselben als unbegründet abweisen.

Aus den einläßlichen Bestimmungen des Luzerner Gesetzes über Wahlen und Abstimmungen vom 29. November 1892, sowie aus den im Großen Rate gepflogenen Beratungen geht deutlich hervor, daß den Bürgern ein Rekurs wegen Ausschluß vom Stimmregister nur innerhalb bestimmter, peremtorischer Fristen eingeräumt ist, und daß nach Ablauf derselben die Kassation der Wahlverhandlung wegen Unrichtigkeit des Stimmregisters nicht mehr verlangt werden kann.

Indem der Große Rat das Gesetz in diesem Sinne interpretiert hat, ist er weder mit kantonalem Verfassungsrecht, noch mit Bundesrecht in Widerspruch getreten ; seine Entscheidung entzieht sich somit der Nachprüfung des Bundesrates.

Die materielle Prüfung der Beschwerde läßt es übrigens zweifelhaft erscheinen, ob Saxer in Vitznau stimmberechtigt war; er wurde nicht irrtümlich, wie der Gemeindeschreiber erklärt, aus dem Register gestrichen, sondern weil er von Vitznau weggezogen war.

VI.

In ihrer Replik vom 24. Februar 1898 bemerken die Rekurrenten, daß es sich vorliegenden Falles um Verfassungsrecht, nicht um Interpretation eines kantonalen Gesetzes handle und daß durch Gesetzesinterpretation ein verfassungsmäßiges Recht des Bürgers nicht aufgehoben werden könne. Die Rekurrenten halten daran fest, daß Saxer in Vitznau stimmberechtigt war ; derselbe gab allerdings im Jahre 1896 seine Stelle in Vitznau auf, um in Weggis in ein Dienstverhältnis zu treten, er behielt aber sein Domizil in Vitznau. Der Regierungsrat hat übrigens in früheren Entscheiden die Praxis befolgt, das Beschwerderecht auch nach der Wahlverhandlung anzuerkennen.

VII.

Das Bureau des Großen Rates des Kantons Luzevn beruft sieht in seinen Eingaben vom 14. März und 15. Mai 1898 gegenüber den thatsächlichen Behauptungen der Rekurrenten bezüglich des Stimmrechts Saxers auf eine Erklärung des Gemeinderates von

682 Vitznau vom 7. Dezember 1897, aus welcher sich ergiebt, daß nachdem Saxer seit Frühjahr 1896 nicht mehr in Vitznau arbeitete, allgemein gesagt und geglaubt wurde, er sei fortgezogen, und daß er deshalb bei Aufstellung des allgemeinen Stimmregisters Anfang 1897 nicht mehr eingetragen wurde; auf Saxers Reklamation hat es sich herausgestellt, daß er seine Schriften nie erhoben hatte, und er ist daher am 26. Juni 1897 wieder auf das besondere Stimmregister gesetzt worden.

In rechtlicher Beziehung liegt im großrätlichen Rekursentscheid allerdings eine Gesetzesinterpretation vor, die sich der Nachprüfung des Bundesrates entziehe, \venn auch die Abweisung nur ganz allgemein durch die Verweisung auf das Wahlgesetz begründet ist.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: Das luzernische Gesetz über Wahlen und Abstimmungen vom 29. November 1892 schreibt die Anfertigung eines allgemeinen Stimmregisters am Anfange jedes Jahres und eines besonderen Stimmregisters in der dritten Woche vor jeder Wahl oder Abstimmung vor. Nach § 29 der Luzerner Verfassung sollen bei jeder Wahl oder Abstimmung die Stimmregister 14 Tage vorher und 14 Tage nachher auf der Gemeinderatskanzlei jedem Stimmberechtigten zur Einsieht aufliegen. Denjenigen, welchen der Gemeinderat die Auftragung auf die Stimmliste verweigert, sollen spätestens bis fünf Tage vor der Abstimmung motivierte ,,Abschläge"' ausgefertigt werden. Der Rekurs gegen einen solchen Abschlag kann innert zehn Tagen beim Regierungsrat eingereicht werden. -- In Ausführung dieser Bestimmung schreibt § 13, Absatz 2, des Gesetzes über Wahlen und Abstimmungen vom 29. November 1892 vor, daß die Entscheide des Gemeinderates über die Gesuche um Auf- und Abtragung sieben Tage vor der Abstimmung zu erlassen und fünf Tage vor der Wahl oder Abstimmung den Gesuehstellern, sowie denjenigen schriftlich zuzufertigen sind, deren Auftragung oder Streichung verfügt ' wird. ,,Gegen die gemeinderätliche Entscheidung kann an den Regierungsrat rekurriert werden. Reklamationen, die so spät einlangen, daß sie vor der Wahl oder Abstimmung nicht mehr geprüft werden können, sind auf den Kassationsweg zu verweisen"1.

Der Große Rat des Kantons Luzern hat in seiner angefochtenen Entscheidung diese letztere Bestimmung dahin ausgelegt, daß die Unrichtigkeit des Stimmregisters nur dann zur Kassation einer

683 Wahl oder Abstimmung führen kann, wenn dieser Beschwerde.grund vor der Wahlverhandlung im Rekurswege innerhalb der verfassungsmäßig vorgeschriebenen Fristen geltend gemacht worden ist, was im vorliegenden Falle nicht geschah.

Die Rekurrenten dagegen behaupten, diese Auslegung sei sowohl mit dem Gesetze als mit der vom Regierungsrate befolgten Praxis im Widerspruch und, abgesehen davon, sei es unzulässig, ·daß ein Bürger ohne sein Zuthun infolge Versehens der Behörde um sein Stimmrecht gebracht werde.

Was die vom Großen Rate des Kantons Luzern angenommene Interpretation des Luzerner Wahlgesetzes betrifft, so kann sich die Prüfung des Bundesrates gemäß Art. 189, Abs. 4, des Gesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege nur darauf beziehen, ob dieselbe mit Bundesrecht oder kantonalem Verfassungsrecht im Widerspruch stehe. Die Rekurrenten erklärten die angeführte Gesetzesauslegung als unvereinbar mit der Verfassungsbestimmung, daß die Stimmregister auch 14 Tage nach der Wahl oder Abstimmung zur Einsicht aufliegen sollen. Allein mit Unrecht, denn diese Vorschrift kann sehr wohl den Zweck haben, den Bürgern Gelegenheit zu geben, zu konstatieren, ob alle diejenigen, die an ·der Wahl thatsächlich teilgenommen, hierzu berechtigt waren.

Die von den Rekurrenten angeführten Entscheide des Regierungsrates des Kantons Luzern sind allerdings nach der betreffenden Wahl oder Abstimmmung gefällt worden, aber auf Beschwerden hin, die vor diesem Zeitpunkt erhoben worden waren, sie stehen somit mit dem großrätlichen Entscheide nicht im Widerspruch. Die Praxis des Regierungsrates über den fraglichen Punkt vor Erlaß des jetzt geltenden Gesetzes vom 29. November 1892 .scheint nicht feststehend gewesen zu sein (vgl. Bundesratsbeschluß vom 16. Januar 1892 i. S. Fuchs und Genossen; Bundesbl. 1892, I, 427 f.). Seit dem Inkrafttreten des Wahlgesetzes fällt dagegen «in regierungsrätlicher Entscheid vom Februar 1894 in Sachen der Kirchgemeindewahlen in Reußbühl in Betracht, mit welchem ein erster Wahlgang wegen Unrichtigkeit des Stimmregisters kassiert wurde, trotzdem diese Unrichtigkeit nicht vor der Wahl im Rekursweg geltend gemacht worden war. Allein indem sich der Große Rat des Kantons Luzern im angefochtenen Entscheide zu einer hiervon abweichenden Auffassung bekennt, kann ihm eine willkürliche Handhabung
des Gesetzes nicht vorgeworfen werden ; vielmehr muß es der höheren Instanz zustehen, gegebenen Falles einer ihr unrichtig scheinenden Rechtsprechung der untern Instanz entgegenzutreten.

684 Es ist endlich die von den Rekurrenten, wenn auch nicht mit diesen Worten, aufgeworfene Frage zu prüfen, ob das verfassungsmäßig garantierte Stimmrecht des Bürgers nicht dadurch beeinträchtigt werde, daß er ohne sein Wissen vom Stimmregister gestrichen werden kann. Der Einwand richtet sich gegen das luzernische Gesetz selbst, bezw. gegen die demselben vom Großen Rate zu teil gewordene Auslegung.

Das Gesetz sieht kein besonderes Verfahren vor für die Fälle, wo ein Bürger von Amtes wegen vom Stimmregister gestrichen wird; der Bürger wird hiervon nicht in Kenntnis gesetzt. Wenn sich der Stimmberechtigte somit, um sicher zu geben, durch Einsichtnahme des Stimmregisters vor jeder Wahl oder Abstimmung vergewissern muß, daß er noch eingetragen ist, so wird ihm hiermit eine sehr weitgehende Vigilanz zugemutet. Allein solche Streichungen von Stimmberechtigten werden doch kaum, auch wo sie sich als unberechtigt herausstellen, ohne jede Veranlaßung seitens des Eingetragenen vorgenommen werden ; und deshalb können weder das gesetzliche, die Herstellung der Stimmregister bezweckende Verfahren im allgemeinen, noch die damit gegebene Rechtsfolge, daß der nicht eingetragene Bürger durch Unterlassung der gesetzlichen Schritte zur Erwirkung der Auftragung der Ausübung seines Stimmrechtes vorübergehend verlustig geht, als eine Verletzung des verfassungsmäßigen Stimmrechtes angesehen werden.

Demnach wird erkannt: Der Rekurs wird als unbegründet abgewiesen.

B e r n , den 27. Mai 1898.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t : Ruffy.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Eingier.

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Bundesratsbeschluss über den Rekurs von Fr. Dolder und J. Hoffmann, in Weggis, betreffend Kassation der Ersatzwahl in den Großen Rat des Kantons Luzern vom 20. Juni 1897. (Vom 27. Mai 1898.)

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1898

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25

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08.06.1898

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679-684

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