13.105 Botschaft zur Genehmigung und zur Umsetzung des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen vom 29. November 2013

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf eines Bundesbeschlusses über die Genehmigung des Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen und über dessen Umsetzung (BG zum Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen sowie Änderungen von Strafgesetzbuch, Strafprozessordnung, Militärstrafgesetz und Militärstrafprozess).

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, die folgenden parlamentarischen Vorstösse abzuschreiben: 2011 M 08.3915

Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen.

Ratifizierung (N 24.11.09, Gadient; S 2.3.11)

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

29. November 2013

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ueli Maurer Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2013-1510

453

Übersicht Mit dieser Botschaft wird die Genehmigung des Internationalen Übereinkommens der Vereinten Nationen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen beantragt. Das Übereinkommen verfolgt das Ziel, die schwere Menschenrechtsverletzung des Verschwindenlassens umfassend zu bekämpfen. Die Vorlage enthält zusätzlich die für die Umsetzung des Übereinkommens notwendigen gesetzlichen Bestimmungen.

Ausgangslage Weltweit lassen Regierungen unliebsame Personen «verschwinden». Allein der UNO wurden in den letzten 20 Jahren weltweit über 50 000 Fälle von mutmasslichem Verschwindenlassen gemeldet. Tausende dieser Fälle sind nach wie vor ungeklärt, und die Angehörigen leiden unter der Ungewissheit über den Verbleib der verschwundenen Personen. Auch in der Schweiz leben Angehörige von Menschen, die im Ausland Opfer eines Verschwindenlassens wurden. Mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. Dezember 2006 zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen nimmt sich erstmals ein international verbindliches Vertragswerk dieser Thematik an. Das Übereinkommen versteht unter «Verschwindenlassen» jeden Freiheitsentzug, der durch Vertreter oder mit Billigung eines Staates geschieht und gefolgt ist von der Weigerung, den Freiheitsentzug anzuerkennen sowie den Aufenthaltsort der betroffenen Person bekannt zu geben.

Inhalt der Vorlage Mit dieser Vorlage wird die Genehmigung des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen beantragt. Das Übereinkommen hat zum Ziel, dieses schwerwiegende Verbrechen zu bekämpfen und konsequent zu verfolgen. Dieses Anliegen entspricht der Überzeugung der Schweiz. Die Schweiz hat daher aktiv an der Ausarbeitung des Übereinkommens mitgewirkt und dieses am 19. Januar 2011 unterzeichnet. Die Schweizer Rechtsordnung wird dem Übereinkommen in weiten Teilen bereits gerecht. Für die innerstaatliche Umsetzung sind aber in einzelnen Bereichen Gesetzesänderungen notwendig, die ebenfalls Gegenstand dieser Vorlage sind. Im Zentrum stehen dabei zum einen die Schaffung eines neuen Tatbestands, der das Verschwindenlassen als eigenständiges Delikt unter Strafe stellt. Zum andern soll die gesetzliche Grundlage für die Errichtung eines Netzwerks zwischen Bund und Kantonen geschaffen werden, welches das rasche Auffinden von Personen in einem Freiheitsentzug ermöglicht. Von einem zentralen Register wird hingegen abgesehen.

454

Inhaltsverzeichnis Übersicht

454

1

Grundzüge des Übereinkommens 1.1 Ausgangslage 1.1.1 Begriff und Phänomen des Verschwindenlassens 1.1.2 Entstehung des Übereinkommens 1.1.3 Verhältnis zu bestehenden internationalen Instrumenten 1.2 Überblick über den Inhalt des Übereinkommens 1.2.1 Pönalisierung 1.2.2 Prävention 1.2.3 Umsetzung 1.3 Ergebnisse aus dem Vernehmlassungsverfahren 1.3.1 Haltung der Kantone 1.3.2 Haltung der übrigen Vernehmlassungsteilnehmenden 1.4 Erledigung parlamentarischer Vorstösse 1.5 Würdigung

457 457 457 458 459 460 460 460 460 461 461 462 462 463

2

Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln des Übereinkommens 2.1 Verbot und Definition des Verschwindenlassens 2.2 Strafbarkeit 2.3 Zuständigkeit zur Ausübung der Gerichtsbarkeit und internationale Zusammenarbeit 2.4 Freiheitsentzug, Informations- und Beschwerderechte 2.5 Datenschutz, Verfahrensführung, Ausbildung 2.6 Opferschutz 2.7 Besonderer Schutz von Kindern 2.8 Institutionelle Bestimmungen 2.9 Schlussbestimmungen

463 464 465

3

466 472 477 478 481 482 484

Ausführungen zur Umsetzungsgesetzgebung 3.1 Ausgangslage 3.2 Die beantragte Neuregelung 3.2.1 Explizite Pönalisierung des Verschwindenlassens im StGB 3.2.2 Errichtung eines Netzwerkes 3.2.3 Erlass eines Umsetzungsgesetzes 3.3 Bewertung der Umsetzungsgesetzgebung 3.4 Erläuterungen zur Änderung des Strafrechts 3.5 Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Umsetzungsgesetzes (BG zum Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen)

484 484 485

4

Erklärung über die Zuständigkeit des Ausschusses

497

5

Auswirkungen des Übereinkommens und der Umsetzungserlasse

498

485 485 486 486 486

492

455

6

Verhältnis zur Legislaturplanung und zu nationalen Strategien des Bundesrats

499

7

Rechtliche Aspekte 7.1 Verfassungsmässigkeit 7.2 Erlassform

499 499 500

Bundesbeschluss über die Genehmigung und die Umsetzung des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (Entwurf)

501

Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen

509

456

Botschaft 1

Grundzüge des Übereinkommens

1.1

Ausgangslage

1.1.1

Begriff und Phänomen des Verschwindenlassens

Der Begriff des Verschwindenlassens bezeichnet ein globales Phänomen: Eine dem Staat unliebsame Person wird von staatlichen Organen oder dem Staat nahestehenden Organisationen festgenommen und an einen unbekannten Ort verschleppt.

Obwohl Indizien vorliegen oder Zeugen den Hergang bestätigen können, bestreiten die staatlichen Akteure gegenüber den Angehörigen, dass der Person die Freiheit entzogen worden ist. Somit sind keine Informationen über das Schicksal der Person erhältlich; sie «verschwindet» gewissermassen und steht nicht mehr unter dem Schutz des Rechts. Weder sie selber, noch ihre Angehörigen haben eine Möglichkeit, rechtlich gegen diesen Freiheitsentzug vorzugehen. Nicht selten folgt dem Verschwindenlassen Folter oder Tötung. Historische Beispiele gibt es viele. So ordnete 1942 in Deutschland die nationalsozialistische Regierung die spurlose Verschleppung von mutmasslichen Regimegegnern an. In den 1970er- und 1980erJahren erlangte das Verschwindenlassen von Personen tragische Berühmtheit, als in den Militärdiktaturen in Lateinamerika Regimegegner von Einsatztruppen abgeholt, gefangen gehalten und oft getötet wurden. Auch noch heute ist das Verschwindenlassen, insbesondere im Kontext von politischen Umstürzen und internen bewaffneten Konflikten, verbreitet. In jüngerer Zeit haben Fälle von Verschwindenlassen zudem im Kontext des «Kriegs gegen den Terrorismus» zugenommen, indem Terrorismusverdächtige zu geheimen Haftorten im Ausland fortgeschafft wurden. Der UNO-Arbeitsgruppe für erzwungenes oder unfreiwilliges Verschwinden (UNOArbeitsgruppe Verschwindenlassen) sind über 50 000 Fälle aus Ländern aller Weltregionen bekannt, viele davon sind bis heute nicht aufgeklärt.

Mit dem Internationalen Übereinkommen vom 20. Dezember 20061 zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (Übereinkommen) nimmt sich erstmals ein international verbindliches Vertragswerk dieser Thematik an. Das Übereinkommen erfasst dabei nicht sämtliche Konstellationen, in denen eine Person verschwindet. Der Begriff des Verschwindenlassens im Sinne des Übereinkommens bezieht sich ausschliesslich auf Freiheitsentzüge, die durch Vertreter eines Staates oder mit dessen Billigung geschehen und gefolgt sind von der Weigerung, den Freiheitsentzug anzuerkennen sowie den Aufenthaltsort der Person bekannt zu geben. In diesem
Sinne stellt das Verschwindenlassen einen schwerwiegenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen dar. Verletzt werden elementare Menschenrechte wie das Recht auf Schutz vor willkürlichem Freiheitsentzug, das Recht auf ein faires Verfahren sowie oft das Recht auf Leben und das Recht auf Schutz vor Folter, unmenschlicher und entwürdigender Behandlung. Doch auch den Angehörigen wird grosses Leid zugefügt: Die Ungewissheit über den Verbleib eines nahestehenden Menschen, die oft über Jahre andauert, bedeutet einen schweren Eingriff in die psychische Unversehrtheit.

1

International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance (CED).

457

1.1.2

Entstehung des Übereinkommens

Dem heute vorliegenden Übereinkommen gehen jahrzehntelange Bemühungen der UNO zur Bekämpfung des Verschwindenlassens voraus. So gab die UNO-Generalversammlung erstmals im Jahr 1978 in einer Resolution2 ihrer Besorgnis über die zahlreichen und wiederkehrenden Fälle von Verschwindenlassen Ausdruck. 1980 setzte die damalige Menschenrechtskommission die UNO-Arbeitsgruppe Verschwindenlassen ein, die bis heute tätig ist. Ihr Mandat umfasst die Hilfestellung für Angehörige bei der Aufklärung mutmasslicher Fälle sowie die regelmässige Berichterstattung. Weiter verabschiedete die UNO-Generalversammlung 1992 nach mehrjährigen Verhandlungen eine Deklaration über den Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen3. Dieser Erklärung kam zwar kein rechtsverbindlicher Charakter zu, doch bildete sie einen wichtigen Ausgangspunkt für die Ausarbeitung des nun vorliegenden, rechtlich verbindlichen Instruments.

Das Projekt einer neuen Konvention wurde 2001 an die Hand genommen, als die damalige Menschenrechtskommission auf Initiative von Frankreich einer Arbeitsgruppe einen entsprechenden Auftrag erteilte. Die Schweizer Delegation beteiligte sich aktiv an den Verhandlungen und setzte sich zum einen dafür ein, den Vertragstext völkerrechtskonform auszugestalten, und zum anderen, eine möglichst hohe Vereinbarkeit mit der nationalen Rechtsordnung zu erreichen. Besonders intensiv debattiert wurde die Frage der Rechtsnatur des Übereinkommens und die Ausgestaltung des Vertragsorgans. Die Schweiz hatte den Vorschlag eingebracht, kein eigenständiges Übereinkommen zum Verschwindenlassen zu verfassen, sondern das Instrument als Zusatzprotokoll zum Internationalen Pakt vom 16. Dezember 19664 über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II) auszugestalten. Dies hätte erlaubt, an einige einschlägige, bereits im UNO-Pakt II garantierte Rechte anzuknüpfen und bestehende Synergien zu nutzen. Der Vorschlag wurde von vielen Staaten unterstützt. Aus Gründen der höheren Visibilität einer neuen Konvention wandten sich aber insbesondere die lateinamerikanischen Staaten, Frankreich und Organisationen der Zivilgesellschaft dagegen. Als Kompromiss wurde das Instrument zwar als eigenständiges Übereinkommen ausgestaltet und ein eigenes Vertragsorgan, ein Ausschuss, eingesetzt. Im Übereinkommen wurde dann aber vorgesehen, dass die
Vertragsstaaten frühestens vier und spätestens sechs Jahre nach Inkrafttreten des Übereinkommens eine Konferenz abhalten. Diese soll dazu dienen, die Wirkungsweise des Ausschusses zu überprüfen und, falls es sich als nötig erweisen würde, die Aufgaben des Ausschusses einer anderen Stelle zu übertragen (Art. 27 des Übereinkommens).

Die Verhandlungen dauerten verhältnismässig kurz. Die Arbeitsgruppe schloss ihre Arbeit am 23. September 2005 ab und legte dem in der Zwischenzeit gegründeten Menschenrechtsrat einen Entwurf vor. Schliesslich verabschiedete die UNO-Generalversammlung am 20. Dezember 2006 den heute vorliegenden Vertragstext. Mit der zwanzigsten Ratifikation trat das Übereinkommen am 23. Dezember 2010 in Kraft. Mittlerweile ist es von 93 Staaten unterzeichnet und von 40 Staaten ratifiziert worden.5 Zu Letzteren gehören neben zahlreichen lateinamerikanischen Staaten 2 3 4 5

458

Am 20. Dezember 1978 von der UNO-Generalversammlung angenommen (Res. 33/173).

Am 18. Dezember 1992 von der UNO-Generalversammlung angenommen (Res. 47/133).

SR 0.103.2 Stand Oktober 2013.

auch Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Belgien, Spanien und die Niederlande. Während Deutschland von der Einführung eines neuen Straftatbestands, der das Verschwindenlassen als eigenständiges Delikt unter Strafe stellen würde, absieht, hat Frankreich eine entsprechende Bestimmung erlassen. In Österreich ist zurzeit ein Gesetzesprojekt mit gleicher Zielsetzung hängig.

1.1.3

Verhältnis zu bestehenden internationalen Instrumenten

Das Verschwindenlassen war bereits vor der Ausarbeitung des Übereinkommens völkerrechtlich erfasst: ­

Aus verschiedenen Menschenrechten können implizit Garantien zum Schutz vor dem Verschwindenlassen abgeleitet werden, namentlich aus dem Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit, dem Recht auf ein faires Verfahren, dem Recht auf Freiheit vor Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe sowie dem Recht auf Leben.

Diese Bestimmungen werden jedoch der Tatsache nicht gerecht, dass auch die Angehörigen als Opfer zu betrachten sind. Auch ist die Praxis der jeweils zuständigen Organe, welche die Einhaltung dieser Menschenrechte überprüfen, unterschiedlich. Ein einheitlicher Schutz ist somit nicht garantiert, da die bestehenden universell verbindlichen Menschenrechtsübereinkommen kein explizites Menschenrecht auf Schutz vor dem Verschwindenlassen statuieren.

­

Bereits vor dem Inkrafttreten des Übereinkommens existierten internationale Regelwerke, die sich explizit der Thematik des Verschwindenlassens annahmen: Zum einen die erwähnte UNO-Deklaration von 19926, zum anderen auch eine Konvention der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die «Inter-American Convention on Forced Disappearance of Persons»7 die im März 1996 in Kraft trat und von 14 Staaten ratifiziert wurde8. Da die UNO-Deklaration nicht rechtsverbindlich ist und die Konvention der OAS als regional ausgerichtetes Vertragswerk nur wenige Staaten bindet, fehlt diesen beiden Instrumenten jedoch der universell verbindliche Charakter.

­

Im internationalen Strafrecht wurde das Verschwindenlassen von Personen zudem im Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 19989 (Römer Statut) mit der Qualifizierung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit explizit unter Strafe gestellt. Vom Römer Statut sind aber ausschliesslich Akte erfasst, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen werden. Gegen vereinzelte Fälle von Verschwindenlassen bietet es keinen Schutz.

Insgesamt wurde somit dieser Normbestand dem Phänomen des Verschwindenlassens nicht gerecht. Das vorliegende Übereinkommen schliesst insoweit eine wichtige Lücke, als es dem Verschwindenlassen als komplexe und multiple Menschen6 7 8 9

Siehe Fussnote 3.

Am 6. September 1994 von der Generalversammlung der OAS angenommen.

Stand Oktober 2013.

SR 0.312.1

459

rechtsverletzung Rechnung trägt, einzelne Fälle von Verschwindenlassen erfasst und die Verletzung der Menschenrechte der Angehörigen ausdrücklich thematisiert.

1.2

Überblick über den Inhalt des Übereinkommens

1.2.1

Pönalisierung

Das Übereinkommen sieht ein absolutes Verbot des Verschwindenlassens vor. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, Fälle des Verschwindenlassens zu ermitteln und Verantwortliche vor Gericht zu stellen. Insbesondere muss das Verschwindenlassen im nationalen Recht als schwere Straftat erfasst und mit angemessener Strafe bedroht werden. Teilnahme und Versuch sind ebenfalls unter Strafe zu stellen, und es sind angemessene Verjährungsfristen bei der Strafverfolgung anzusetzen.

Um die Straflosigkeit über die Landesgrenzen hinaus zu verhindern, sieht das Übereinkommen eine Ausdehnung der strafrechtlichen Gerichtsbarkeit vor. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, alle Täter und Täterinnen, die sich auf ihrem Hoheitsgebiet aufhalten, ungeachtet des Tatorts oder der Nationalität des Täters oder der Täterin zu verfolgen oder auszuliefern. Besteht erwiesenermassen die Gefahr, dass eine Person in ihrem Heimatland Opfer eines Verschwindenlassens wird, so darf sie nicht dorthin abgeschoben werden.

1.2.2

Prävention

Einen weiteren Schwerpunkt des Übereinkommens bildet die Prävention. Die Vertragsstaaten müssen die Bedingungen, Zuständigkeiten und Verfahren für den rechtmässigen Freiheitsentzug bestimmen. Sie verpflichten sich sicherzustellen, dass Register oder amtliche Akten mit bestimmten Mindestinformationen geführt werden.

Nahestehenden Personen ist der Zugang zu Mindestinformationen über den Verbleib der betroffenen Person zu gewährleisten. Zur Sicherung dieser Rahmenbedingungen verlangt das Übereinkommen Massnahmen in der Ausbildung sowie die Verhinderung von relevantem Fehlverhalten, wie etwa die Behinderung oder Verschleppung von Rechtsbehelfen oder die Verletzung bestimmter Auskunftspflichten.

Schliesslich sieht das Übereinkommen vor, dass Betroffenen zusätzlich zum Recht auf Wiedergutmachung auch das Recht zukommt, die Wahrheit über das Schicksal und den Verbleib der verschwundenen Personen zu erfahren. Kindern als besonders verletzlichen Opfern des Verschwindenlassens wird eine eigene Bestimmung gewidmet. Diese verlangt insbesondere eine rechtliche Möglichkeit, Adoptionen zu überprüfen und, falls sie auf Verschwindenlassen beruhen, rückgängig zu machen.

1.2.3

Umsetzung

Neben den Kernbestimmungen im ersten Teil des Übereinkommens, welche die Pönalisierung und die Prävention betreffen, enthält das Übereinkommen zwei weitere Teile. Diese widmen sich der Umsetzung (Teil II) und den Schlussbestimmungen (Teil III). Es wird ein von den Vertragsstaaten gewählter, zehnköpfiger und unabhängiger Ausschuss eingerichtet. Der Ausschuss hört Angehörige von Verschwun460

denen an und ersucht Vertragsstaaten um entsprechende Angaben oder erbittet einen Besuch vor Ort. Die Behandlung von individuellen Mitteilungen und von zwischenstaatlichen Beschwerden ist darüber hinaus möglich, wenn Vertragsstaaten die diesbezügliche Kompetenz des Ausschusses explizit mit einer Erklärung anerkennen.

Im Gegensatz zu anderen Menschenrechtskonventionen werden die Vertragsstaaten nicht zur periodischen Berichterstattung verpflichtet. Vorgesehen ist lediglich ein Bericht über die Umsetzung zwei Jahre nach der Ratifikation des Übereinkommens.

Der Ausschuss ist weiter berechtigt, die Vertragsstaaten zusätzlich zu diesem einmaligen Bericht um Angaben zur Umsetzung des Übereinkommens zu ersuchen.

1.3

Ergebnisse aus dem Vernehmlassungsverfahren

Am 19. Dezember 2012 eröffnete der Bundesrat auf Antrag des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ein Vernehmlassungsverfahren über die Ratifizierung des Übereinkommens und dessen Umsetzung im nationalen Recht. Die Vernehmlassung dauerte bis zum 8. April 2013.

Insgesamt gingen beim EDA 48 Stellungnahmen zur Vernehmlassungsvorlage ein.10 Es äusserten sich sämtliche Kantone, zwei kantonale Konferenzen, fünf Parteien, zwei gesamtschweizerische Dachverbände, die Bundesanwaltschaft sowie zwölf Organisationen und andere interessierte Kreise. Von den direkt begrüssten Vernehmlassungsadressaten verzichteten zudem fünf ausdrücklich auf eine Stellungnahme.

Die überwiegende Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden (42) begrüsst vollumfänglich oder zumindest im Grundsatz die Absicht des Bundesrates, das Übereinkommen zu ratifizieren. Eine Minderheit (6) steht der Zielsetzung und dem Zweck des Abkommens zwar nicht grundsätzlich negativ gegenüber, erachtet dessen Ratifizierung durch die Schweiz aber als unnötig und unverhältnismässig.

1.3.1

Haltung der Kantone

Die Kantone wurden zwischen September und Dezember 2009, noch vor der Unterzeichnung des Übereinkommens, ein erstes Mal konsultiert. Diese Vorkonsultation ergab, dass zahlreiche Kantone die Unterzeichnung des Übereinkommens befürworteten, auch wenn mit gesetzlichen Anpassungen und Mehraufwand zu rechnen sei.

Andere Kantone, vielfach der Einschätzung der Konferenz der Kantonalen Justizund Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) folgend, sprachen sich jedoch gegen eine Unterzeichnung aus. Im Vordergrund standen Bedenken betreffend die mutmasslichen Mehrkosten der damals diskutierten Einführung einer zentralen Registerführung, die neuartigen Informations- und Beschwerderechte von Angehörigen sowie die allfälligen Auswirkungen des statuierten Non-RefoulementGrundsatzes bei Gefahr des Verschwindenlassens. Aufwand und Nutzen stünden zudem in einem unvernünftigen Verhältnis.

10

www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2012 > Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten

461

Der Vorschlag zur Umsetzung des Übereinkommens, wie er der Vernehmlassungsvorlage zugrunde liegt, hat die Bedenken der Kantone aufgenommen. Die KKJPD wurde dabei für die Ausarbeitung des Umsetzungsmodells «Netzwerk» mit einbezogen (vgl. Ziff. 3.2.2).

In ihren Vernehmlassungsantworten begrüssen denn auch 21 Kantone die Ratifizierung ausdrücklich oder stehen ihr nicht entgegen. Einige dieser Kantone weisen explizit darauf hin, dass sie der Vorlage zum Zeitpunkt der Vorkonsultation kritisch gegenüber gestanden seien, jedoch nun, da ein Umsetzungsvorschlag vorliege, der ihren Bedenken Rechnung trage, positiv eingestellt seien. Fünf Kantone erachten eine Ratifizierung aufgrund bereits ausreichender Gesetzgebung als überflüssig und lehnen diese daher ab.

Die Schaffung eines neuen Straftatbestands wird von fast allen Kantonen begrüsst.

Auch die Netzwerklösung stösst auf grosse Zustimmung. Lediglich ein Kanton lehnt sie explizit ab. Betreffend die konkrete Formulierung des Tatbestands und dessen systematischer Einordnung bestehen unterschiedliche Auffassungen. Hinsichtlich der Ausgestaltung des Daten- und Persönlichkeitsschutzes im Kontext der Netzwerklösung und mit Blick auf konkrete Fragen der Umsetzung fordern einzelne Kantone punktuelle Änderungen.

1.3.2

Haltung der übrigen Vernehmlassungsteilnehmenden

Die in der Bundesversammlung vertretenen politischen Parteien, die sich im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens geäussert haben, stehen der Ratifikation des Übereinkommens mit Ausnahme der SVP positiv gegenüber (CVP, EVP, FDP, SP).

Die Dachverbände, Organisationen und weiteren interessierten Kreise sprechen sich ausnahmslos für die Ratifikation aus. Sowohl die Schaffung eines neuen Tatbestandes als auch die Netzwerklösung werden überwiegend begrüsst.

1.4

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Die zentrale Bedeutung des Übereinkommens und die Wünschbarkeit der raschen Unterzeichnung und Ratifizierung waren bereits Gegenstand verschiedener parlamentarischer Vorstösse.11 Am 1. März 2010 übergaben zudem mehrere Parlamentsmitglieder und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen dem Bundesrat eine durch 9000 Unterschriften gestützte Petition, die den umgehenden Beitritt zum Übereinkommen forderte. Die Motion Gadient vom 18. Dezember 200812, die den Bundesrat aufforderte, das Übereinkommen so rasch wie möglich zu ratifizieren, 11

12

462

Anfrage Müller Geri vom 8. Dezember 2008 (08.5416 «Übereinkommen über das Verschwindenlassen von Personen»), Interpellation Rielle Jean-Charles vom 17. Dezember 2008 (08.3862 «Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen»), Motion Gadient Brigitta vom 18. Dezember 2008 (08.3915 «Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen. Ratifizierung»), Anfrage Rechsteiner Paul vom 11. Dezember 2009 (09.1174 «Uno-Konvention gegen das Verschwindenlassen von Personen»).

08.3915 «Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen. Ratifizierung».

wurde im Nationalrat am 24. November 2009 und im Ständerat am 2. März 2011 angenommen. Diese Motion kann mit dieser Botschaft und der beantragten Ratifizierung abgeschrieben werden.

1.5

Würdigung

Der Bundesrat erachtet das Verschwindenlassen als schwerwiegendes Verbrechen.

Er ist überzeugt, dass die internationalen Bestrebungen, das Verschwindenlassen zu bekämpfen, die Unterstützung der Schweiz verdienen. Diese Überzeugung hat den Bundesrat nach Konsultation der Kantone dazu bewogen, das Übereinkommen am 19. Januar 2011 zu unterzeichnen.

In der Schweiz sind bisher keine Fälle von Verschwindenlassen bekannt geworden.

Doch leben auch in der Schweiz Angehörige von Personen, die im Ausland Opfer eines Verschwindenlassens wurden. Das Übereinkommen ist somit in dieser Hinsicht für die Schweiz von Bedeutung. Mit Blick auf die Ratifikation steht freilich der Beitrag an die weltweite Bekämpfung des Verschwindenlassens im Zentrum. Eine möglichst universelle Ratifikation aller Staaten ist wichtig, um mit gegenseitiger Rechtshilfe die konsequente Verfolgung dieses Verbrechens zu erreichen.

Die Unterzeichnung des Übereinkommens entspricht der innenpolitischen Überzeugung der Schweiz und ihrem traditionellen weltweiten Engagement für die Menschenrechte. Ein Entscheid gegen die Ratifikation hätte hingegen negative Konsequenzen für die Positionierung der Schweiz im internationalen Umfeld: Die Reputation der Schweiz als aktiver und glaubwürdiger Akteur mit einer ausgeprägten humanitären Tradition könnte leiden. So könnte die Schweiz insbesondere andere Staaten nicht glaubwürdig auffordern, ihrerseits das Verschwindenlassen zu bekämpfen.

Das Übereinkommen ist inhaltlich dicht und detailliert. Aus der Verhandlungsgeschichte ergibt sich, dass gewisse Bestimmungen auf das grosse Engagement von Staaten, die in ihrer Vergangenheit Verschwindenlassen kannten, sowie der jeweiligen Opferorganisationen zurückgehen. Einige der Bestimmungen im Übereinkommen sind daher nicht auf die Schweiz zugeschnitten. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass für die Umsetzung des Übereinkommens pragmatische Wege gefunden werden müssen, um einerseits das Schutzziel des Übereinkommens zu verwirklichen, andererseits aber auch den bestehenden Strukturen und den Gegebenheiten in der Schweiz gerecht zu werden.

2

Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln des Übereinkommens

Das Schweizer Rechtssystem kennt im Hinblick auf den Freiheitsentzug von Personen bereits heute umfassende Rechtsgarantien. Trotz dieser grundsätzlichen Übereinstimmung mit dem Hauptanliegen des Übereinkommens genügt jedoch das Schweizer Recht der komplexen Natur des Verschwindenlassens noch nicht in allen Teilen. Um das Übereinkommen sachgerecht umzusetzen, besteht daher punktuell Gesetzgebungsbedarf. Wie erwähnt, hat die fachtechnische Befragung der Kantone ergeben, dass Befürchtungen bestehen, die Ratifikation könnte zu einem unverhält-

463

nismässigen Aufwand in personeller und finanzieller Hinsicht führen. Diesem Anliegen wurde bei den Umsetzungsarbeiten Rechnung getragen.

Die nachstehenden Ausführungen folgen der Systematik des Übereinkommens. Die Artikel des Übereinkommens sind nach Sachthemen gruppiert. Die Erläuterungen beziehen sich zum einen auf den Inhalt des Übereinkommens und zum anderen auf die entsprechenden Vorkehrungen des Schweizer Rechts. Die Analyse ergibt, dass in zwei Bereichen Gesetzgebungsbedarf besteht: zum einen im Bereich der Pönalisierung des Verschwindenlassens als eigenständiges Delikt und zum andern im Bereich der Registerführung und der Informations- und Beschwerderechte von Angehörigen (vgl. Ziff. 3.2.1 und 3.2.2).

2.1

Verbot und Definition des Verschwindenlassens

Art. 1 und 2

Verbot und Begriffselemente

Artikel 1 des Übereinkommens hält fest, dass niemand dem Verschwindenlassen unterworfen werden darf ­ und zwar auch dann nicht, wenn aussergewöhnliche Umstände wie beispielsweise Krieg oder innenpolitische Instabilitäten vorherrschen.

Dieses Verbot des Verschwindenlassens und der Ausschluss von Rechtfertigungsgründen bilden den Kern des Übereinkommens. Artikel 2 des Übereinkommens definiert den Begriff des Verschwindenlassens, wie er für das ganze Übereinkommen gilt. Massgebend sind die folgenden vier Aspekte: (1) Eine Person wird ihrer Freiheit beraubt, (2) dies geschieht entweder durch den Staat oder im Auftrag, mit Unterstützung oder Duldung des Staates, (3) jede Information über das Schicksal dieser Person oder ihren Verbleib wird verweigert, und (4) die Person wird dem Schutz des Gesetzes entzogen. Der Geltungsbereich umfasst dabei jedes Verschwindenlassen, unabhängig davon, ob es sich um eine Einzeltat oder um eine systematische Praxis handelt. Damit geht das Übereinkommen deutlich weiter als das Römer Statut, das sich auf Verstösse beschränkt, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) begangen werden. Im innerstaatlichen Recht ist daher eine neue strafrechtliche Bestimmung zu diesem Tatbestand, zusätzlich zu derjenigen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Umsetzung des Römer Statuts, erforderlich (vgl. Ziff. 3.4 zu Art. 185bis E-StGB).

Art. 3

«Verschwindenlassen» ohne staatliche Beteiligung

Artikel 3 des Übereinkommens bezieht sich auf das «Verschwindenlassen» durch nichtstaatliche Akteure und ohne Beteiligung des Staates. Danach müssen die Vertragsstaaten Massnahmen ergreifen, um die Täter solcher Handlungen zu bestrafen.

Diese Konstellation gilt jedoch nicht als Verschwindenlassen im Sinne des Übereinkommens. Für die Schweiz sind hierzu keine Rechtsanpassungen nötig: Die Bestimmungen gegen Freiheitsberaubung und Entführung gemäss Artikel 183 und 184 des Strafgesetzbuchs13 (StGB) stellen sicher, dass entsprechende Handlungen strafrechtlich verfolgt werden.

13

464

SR 311.0

2.2 Art. 4, 5 und 7

Strafbarkeit Pönalisierung und Strafandrohung

Artikel 4 des Übereinkommens verpflichtet die Vertragsstaaten, das Verschwindenlassen im Sinne von Artikel 2 des Übereinkommens unter Strafe zu stellen. Wie bereits erwähnt, genügt Artikel 264a Absatz 1 Buchstabe e StGB, der infolge der Umsetzung des Römer Statuts ins StGB eingefügt wurde, diesem Erfordernis nicht.

Die weitere Analyse des geltenden Rechts zeigt zudem, dass im bestehenden Strafrecht zwar einzelne Elemente des Verschwindenlassens abgedeckt sind ­ der Vierte Titel des Strafgesetzbuchs schützt beispielsweise die Freiheit aller Personen, auch wenn die Verstösse durch öffentliche Angestellte begangen werden ­ hingegen sind andere wichtige Elemente im geltenden Recht nur unzureichend geregelt. Dazu gehören insbesondere die Weigerung, den Freiheitsentzug anzuerkennen und die Absicht, die Person dem Schutz des Rechts zu entziehen: Die Verweigerung jeder Information über das Schicksal einer Person wird zwar durch die Tatbestände unter dem Achtzehnten Titel des Strafgesetzbuchs (strafbare Handlungen gegen die Amtsund Berufspflicht), insbesondere Artikel 312 StGB (Amtsmissbrauch), teilweise abgedeckt. Der Schutz der vom Übereinkommen erfassten Elemente ist jedoch nur rudimentär, und es ist nur die Amtsausübung einer Schweizer Behörde erfasst.

Zudem werden die Rechte der Angehörigen nur sehr indirekt geschützt. Gerade die Rechte der Angehörigen sind jedoch vom Verschwindenlassen mit betroffen: In vielen Fällen wird mindestens in Kauf genommen, dass ihnen grosses seelisches Leid zufügt wird, zum Beispiel um Widerstandsbewegungen zu zerschlagen oder die Opposition in der Bevölkerung zum Schweigen zu bringen. Das Übereinkommen präzisiert ausdrücklich, dass die Angehörigen von verschwundenen Personen ebenfalls zu den Opfern gehören, wenn sie als unmittelbare Folge eines Verschwindenlassens geschädigt worden sind (Art. 24 Abs. 1 des Übereinkommens).

Der im Übereinkommen verwendete Begriff des Verschwindenlassens bedingt also, dass im Schweizer Strafgesetzbuch zwei Rechtsgüter umfassender geschützt werden müssen. Zum einen geht es darum, ungeachtet der geltenden Rechtsordnung (Schweiz oder Ausland), den Anspruch jedes Individuums auf Anerkennung als Rechtssubjekt gegenüber dem Staat strafrechtlich zu schützen: Jede Person hat Anspruch auf einen minimalen Rechtsschutz im Falle eines Freiheitsentzugs
und dieser darf in keinem Fall verweigert werden. Zum anderen geht es darum, die Rechte zu garantieren, die den Angehörigen aus ihren Beziehungen zu der verschwundenen Person erwachsen. Dazu gehört namentlich das Recht auf Auskunft über das Schicksal der verschwundenen Person. Damit die Schweizer Rechtsordnung den Verpflichtungen aus dem Übereinkommen gerecht wird, ist daher ein neuer Straftatbestand erforderlich. Die Einführung eines neuen Straftatbestands hat zudem auch eine gewisse Signalwirkung.

Artikel 5 des Übereinkommens weist darauf hin, dass völkerrechtliche Normen betreffend Verbrechen gegen die Menschlichkeit weiterhin Gültigkeit haben. Die Umsetzung des Übereinkommens durch die Schweiz berührt deshalb die Regelungen, welche die Schweiz zur Umsetzung des Römer Statuts erlassen hat, nicht.

Die Strafandrohung, die mit der neuen Bestimmung im StGB vorgesehen wird (vgl.

Ziff. 3.4 zu Art. 185bis E-StGB), entspricht den Anforderungen in Artikel 7 des

465

Übereinkommens, der eine angemessene Strafe fordert. Im Übrigen gelten die allgemeinen Regeln der Strafzumessung des Strafgesetzbuches (Art. 47­48a StGB).

Art. 6

Strafrechtliche Verantwortung, insbesondere der Vorgesetzten

Neben der Ahndung der üblichen Formen der Teilnahme und Ausführung einer Straftat (Anstiftung, Gehilfenschaft und Versuch nach Art. 6 Abs. 1 Bst. a des Übereinkommens) behandelt das Übereinkommen auch die strafrechtliche Verantwortung der Vorgesetzten (Art. 6 Abs. 1 Bst. b des Übereinkommens). Vorgesetzte sollen dann zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie (a) von der Tat wussten oder hätten wissen müssen, (b) eine Kontrolle über die mit dem Verschwindenlassen zusammenhängenden Tätigkeiten haben und (c) nicht alle in ihrer Macht stehenden Massnahmen zur Bekämpfung der Tat sowie zur Strafverfolgung der Täter und Täterinnen ergriffen haben.

Im Schweizer Recht werden diese Kriterien bereits erfüllt, da sich bei einem engen Zusammenhang zwischen dem Verschwindenlassen und dem Verantwortungsbereich der Vorgesetzten aus deren Aufsichtspflicht eine Garantenstellung ergibt und das Begehen einer Tat durch Unterlassen unter Strafe gestellt ist (Art. 11 StGB).

Art. 8

Verjährung

Artikel 8 Absatz 1 des Übereinkommens verpflichtet die Vertragsstaaten, sicherzustellen, dass für das Delikt angemessene Verjährungsfristen bestehen, d.h. solche, die der ausserordentlich schweren Natur des Delikts und dessen Charakter als Dauerdelikt gerecht werden. Die neue strafrechtliche Bestimmung trägt dem Aspekt des Dauerdelikts Rechnung. Das Übereinkommen verlangt hingegen nicht, dass das Verschwindenlassen als unverjährbare Straftat ausgestaltet wird. Aufgrund der allgemeinen Regeln für die Verjährung (Art. 97 Abs. 1 Bst. b StGB) liegt die Verjährungsfrist für die neue Bestimmung, die ins StGB eingeführt werden soll, bei 15 Jahren. Sie beginnt, um dem Charakter des Delikts als Dauerdelikt gerecht zu werden, mit dem Zeitpunkt der Beendigung der Straftat zu laufen (Art. 98 Bst. c StGB).

Artikel 8 Absatz 2 des Übereinkommens bezieht sich auf das Recht eines wirksamen Rechtsbehelfs vor Ablauf der Verjährungsfrist (vgl. Ziff. 2.4).

2.3

Zuständigkeit zur Ausübung der Gerichtsbarkeit und internationale Zusammenarbeit

Art. 9

Zuständigkeit zur Ausübung der Gerichtsbarkeit

Artikel 9 des Übereinkommens will die strafrechtliche Verfolgung der Täter sicherstellen und beschreibt mit Blick auf dieses Ziel drei Konstellationen, in denen die Vertragsstaaten ihre Zuständigkeit zur Ausübung der Gerichtsbarkeit über die Straftat des Verschwindenlassens begründen müssen. Dabei entspricht Artikel 9 des Übereinkommens weitgehend Artikel 5 des Übereinkommens vom 10. Dezember 198414 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende 14

466

SR 0.105

Behandlung oder Strafe (Folterübereinkommen), das von der Schweiz bereits ratifiziert wurde. Mit Blick auf die drei Konstellationen stellt sich die Rechtslage in der Schweiz wie folgt dar ­

Die erste Konstellation (Art. 9 Abs. 1 Bst. a des Übereinkommens) entspricht dem Territorialitäts- sowie dem Flaggenprinzip, die im Schweizer Recht schon in Artikel 3 Absatz 1 StGB sowie in Artikel 97 Absatz 1 des Luftfahrtgesetzes vom 21. Dezember 194815 und Artikel 4 Absatz 2 des Seeschifffahrtsgesetzes vom 23. September 195316 verwirklicht sind.

­

Die zweite Konstellation (Art. 9 Abs. 1 Bst. b und c des Übereinkommens) umschreibt das aktive und passive Personalitätsprinzip (Täter bzw. Opfer hat Schweizer Staatsangehörigkeit); das passive Personalitätsprinzip gilt aber laut Übereinkommen nur, wenn der Vertragsstaat es für angebracht hält, sich für zuständig zu erklären. Diese beiden Prinzipien sind auch im Schweizer Recht vorgesehen. Artikel 7 Absatz 1 StGB sieht dabei zwei zusätzliche Erfordernisse vor: Der Täter muss sich in der Schweiz befinden (oder wegen dieser Straftat an die Schweiz übergeben werden) und die Straftat muss im Staat, wo sie begangen wurde, strafbar sein (Prinzip der doppelten Strafbarkeit). Zudem können gemäss Artikel 6 StGB im Ausland begangene Taten verfolgt werden, wenn sich die Schweiz durch ein internationales Übereinkommen zu deren Verfolgung verpflichtet hat. Dieser Artikel sieht ebenfalls das Prinzip der doppelten Strafbarkeit und die Anwesenheit des Täters in der Schweiz vor.

­

Die dritte Konstellation (Art. 9 Abs. 2 des Übereinkommens) entspricht dem eingeschränktenUniversalitätsprinzip: Der Vertragsstaat muss seine Zuständigkeit begründen können, wenn sich ein Verdächtiger auf seinem Territorium aufhält und weder einem anderen Staat noch der internationalen Strafgerichtsbarkeit übergeben werden kann. Auch solche Fälle sind durch Artikel 6 StGB abgedeckt, immer unter Vorbehalt der doppelten Strafbarkeit.

Es ist darauf hinzuweisen, dass die Bedingung der doppelten Strafbarkeit nicht erfordert, dass die betreffende Tat in demjenigen Staat, in dem sie begangen wurde, von einer Strafbestimmung erfasst wird, die explizit das Verschwindenlassen unter Strafe stellt. Es genügt, wenn die fraglichen Handlungen strafbar sind (wenn sie z.B.

gemäss Strafrecht des betroffenen Staates als Entführung oder Amtsmissbrauch gelten).

Um sicher zu stellen, dass das Schweizer Recht die Verpflichtungen aus dem Übereinkommen vollumfänglich erfüllt, sind gesetzliche Vorkehrungen vorgesehen.

Damit soll die neue Straftat des Verschwindenlassens unabhängig von der Strafbarkeit im Staat, in dem sie begangen wurde, verfolgt werden können (vgl. Ziff. 3.4 zu Art. 185bis E-StGB).

Art. 10

Provisorische Massnahmen

Artikel 10 des Übereinkommens betrifft die Massnahmen, mit denen die Anwesenheit des Verdächtigen im Hinblick auf die Strafverfolgung oder Auslieferung sicher15 16

SR 748.0 SR 747.30

467

gestellt werden soll. Die Vertragsstaaten verfügen hier über einen gewissen Ermessensspielraum. Sie sind jedoch nach Artikel 10 Absatz 1 des Übereinkommens gehalten, Massnahmen anzuordnen, um die Flucht der Verdächtigen zu verhindern.

In der Schweiz ist im Auslieferungsverfahren die Verhaftung der Angeschuldigten bereits die Regel (Art. 47 Abs. 1 des Rechtshilfegesetzes vom 20. März 198117, IRSG). Die Schweizer Behörden weichen nur ausnahmsweise und in begründeten Fällen davon ab.18 Auch die Pflicht zur Feststellung des Sachverhalts, die in Artikel 10 Absatz 2 des Übereinkommens festgehalten ist, gilt in der Schweiz in jedem Strafverfahren als allgemeiner Grundsatz (vgl. insbesondere Art. 6 und 139 der Strafprozessordnung19, StPO). Bei der Verhaftung zum Zwecke der Auslieferung sind zudem vorläufige Massnahmen möglich, wie zum Beispiel die Sicherstellung von Gegenständen und Vermögenswerten, die als Beweismittel dienen können, oder die Durchsuchung von Räumlichkeiten (Art. 45 IRSG). Ausserdem können im Rahmen der Rechtshilfe sehr rasch vorläufige Massnahmen ergriffen werden (Art. 18 IRSG).

Schliesslich garantiert das Übereinkommen mit Artikel 10 Absatz 3 dem Verdächtigen konsularischen Schutz. Eine solche Klausel ist auch in anderen Staatsverträgen enthalten, welche die Schweiz ratifiziert hat. Diese klassischen Minimalrechte sind z.B. in Artikel 36 des Wiener Übereinkommens vom 24. April 196320 über konsularische Beziehungen umschrieben: Inhaftierte müssen über ihre Rechte aufgeklärt werden und dürfen mit dem zuständigen Vertreter ihres Staates verkehren, d.h.

insbesondere Besuch erhalten.

Die Schweizer Rechtsordnung wird damit den Anforderungen von Artikel 10 des Übereinkommens gerecht.

Art. 11

Prinzip des «aut dedere, aut iudicare»

Artikel 11 des Übereinkommens verankert die auf internationaler Ebene seit vielen Jahren geltende Maxime des «aut dedere, aut iudicare». Sie verpflichtet den um Auslieferung ersuchten Staat, entweder ein Auslieferungsverfahren einzuleiten oder ein Strafverfahren aufzunehmen, wenn er die verdächtige Person nicht ausliefert.

Damit soll die Straflosigkeit des Täters oder der Täterin verhindert werden.

Dies bringt für die Schweiz keine Neuerungen mit sich. Wenn die Schweiz ein Auslieferungsgesuch erhält, ist sie zuerst auf Informationen des ersuchenden Staates angewiesen. Anschliessend werden drei Konstellationen unterschieden: Die Schweiz kann ein Auslieferungsverfahren eröffnen, oder sie kann die Auslieferung verweigern und selbst ein Strafverfahren eröffnen, oder sie kann, wenn die Auslieferung nicht gewährt wird, auf Ersuchen des Tatortstaates anstelle dieses Staates die Strafgewalt ausüben (Artikel 85­93 IRSG). Die Auslieferung ist insbesondere in folgenden drei Fällen nicht zulässig:21 erstens, wenn die Mindestanforderungen an den Schutz der unter anderem in der Europäischen Menschenrechtskonvention22 (EMRK) und im UNO-Pakt II gewährten Verfahrensrechte in Verbindung mit 17 18 19 20 21 22

468

SR 351.1 Vgl. insbesondere BGE 109 IV 159.

SR 312.0 SR 0.191.02 Vgl. auch Art. 13 Abs. 6 des Übereinkommens und Art. 2 IRSG.

Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, SR 0.101.

Artikel 13 Absatz 6 des Übereinkommens nicht gewährleistet sind; zweitens, wenn die gesuchte Person in einen Staat ausgeliefert werden soll, in dem ihr Folter oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung droht (Art. 25 der Bundesverfassung23, BV); drittens, wenn die gesuchte Person die Schweizer Staatsangehörigkeit besitzt und der Auslieferung nicht zustimmt (Art. 7 IRSG).

Artikel 11 Absatz 3 des Übereinkommens, der das faire Verfahren betrifft, findet sich in zahlreichen internationalen Übereinkommen24. Die Schweizer Rechtsordnung gewährleistet diesen Schutz bereits in Artikel 29 Absatz 1 und Artikel 30 Absatz 1 der BV und konkretisiert ihn unter anderem in der Strafprozessordnung (Art. 3 StPO) und im IRSG (vgl. insbesondere Art. 2, 37 und 38 IRSG).

Art. 12

Anzeigerecht und Untersuchungspflicht

Artikel 12 des Übereinkommens betrifft das Recht zur Anzeige sowie die Pflicht der Staaten, entsprechende Untersuchungen durchzuführen. Die Regeln zum Strafverfahren in der Schweiz entsprechen den Anforderungen des Übereinkommens. Sie bieten insbesondere Gewähr, dass Strafverfahren ohne Verzögerung zum Abschluss gebracht werden (Art. 5 Abs. 1 StPO) und die Strafbehörden von Amtes wegen alle bedeutsamen Tatsachen abklären (Art. 6 Abs. 1 StPO).

Art. 13

Auslieferung

Artikel 13 Absatz 1 des Übereinkommens verlangt für den Zweck der Auslieferung die «Entpolitisierung» der Straftat des Verschwindenlassens. Damit soll verhindert werden, dass die Vertragsstaaten einem Auslieferungsgesuch entgegen halten können, beim Verschwindenlassen handle es sich um ein politisches Delikt. Die Schweiz hat bereits mehrere Abkommen ratifiziert, die eine solche Klausel enthalten.25 Die Bestimmung ist direkt anwendbar und geht dem Landesrecht vor.26 Dies entspricht Artikel 1 Absatz 1 IRSG, der dem Völkerrecht den Vorrang einräumt, ausser wenn sich aus den landesrechtlichen Bestimmungen eine weitergehende Pflicht zur Rechtshilfe ergibt.

Weil die Schweiz die Auslieferung nicht vom Bestehen eines Vertrages abhängig macht, findet nicht Artikel 13 Absatz 4, sondern Absatz 5 des Übereinkommens auf die Schweiz Anwendung, wonach das Verschwindenlassen unter Vertragsstaaten als eine der Auslieferung unterstehende Straftat anerkannt werden muss. Auch hier besteht kein weiterer Umsetzungsbedarf, da die Bestimmungen direkt anwendbar sind und dem Landesrecht vorgehen27. Hinzuweisen ist zudem auf Artikel 3 Absatz 1 IRSG, der den Geltungsbereich der Ausnahme für politische Straftaten in verschiedener Hinsicht einschränkt. Die entsprechende Rechtsprechung des Bundes23 24 25

26

27

SR 101 Vgl. z.B. Art. 9 und 10 UNO-Pakt II sowie Art. 5 und 6 EMRK.

Vgl. insbesondere Art. 1 ff. des Europäischen Übereinkommens vom 27. Januar 1977 zur Bekämpfung des Terrorismus (SR 0.353.3) und Art. 14 des Internationalen Übereinkommens vom 9. Dezember 1999 zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus (SR 0.353.22).

Vgl. BGE 137 IV 33, insbesondere E. 2.2.2 S. 40 f. Für die herrschende Lehre: Zimmermann Robert, La coopération judiciaire internationale en matière pénale, dritte Auflage, 2009, Ziff. 737, S. 693 und die dort zitierte Rechtsprechung.

Siehe Fussnote 26.

469

gerichts ist restriktiv, insbesondere bei der Anwendung des Verhältnismässigkeitsprinzips.28 Artikel 13 Absatz 6 des Übereinkommens beinhaltet eine übliche Klausel zu den Modalitäten der Auslieferung im Rahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen und bestimmt, dass die Auslieferung dem Recht des ersuchten Vertragsstaats oder den Auslieferungsverträgen unterliegt. Dies ist in der Schweizer Rechtsordnung vorgesehen: Auslieferungen werden gemäss den geltenden bi- und multilateralen Verträgen und den relevanten Bestimmungen des IRSG abgewickelt. Damit werden Personen vor Verfahren geschützt, die den Betroffenen nicht einen gewissen Mindestschutz gewähren.

Artikel 13 Absatz 7 des Übereinkommens ist eine übliche Nichtdiskriminierungsklausel: Bestehen Gründe für die Annahme, dass mit dem Auslieferungsgesuch in erster Linie die Verfolgung einer Person aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der Religion, der Staatsangehörigkeit, der ethnischen Herkunft, der politischen Anschauung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe angestrebt wird, so kann der ersuchte Staat die Zusammenarbeit verweigern. Damit wird verhindert, dass der ersuchte Staat Verfahren unterstützt, in denen der verdächtigen Person kein hinreichender Schutz gewährt wird. Aufgrund dieser Norm können Rechtshilfeersuchen nicht nur nach der Art der Straftat, sondern auch nach dem Motiv für das Gesuch geprüft werden, womit Missbräuche vermieden werden können.

Art. 14 und 15

Internationale Zusammenarbeit in der Rechtshilfe

Artikel 14 Absatz 1 des Übereinkommens statuiert die in internationalen Instrumenten über die Rechtshilfe in Strafsachen übliche Pflicht zur Zusammenarbeit. Diese Bestimmung ist für die Schweiz nicht mit weiterem Umsetzungsbedarf verbunden.

Artikel 14 Absatz 2 des Übereinkommens hält fest, dass die Rechtshilfe jeweils dem anwendbaren Vertragsrecht beziehungsweise dem innerstaatlichen Recht untersteht.

Bei der Anwendung von schweizerischem Recht kann die Gewährung der Rechtshilfe ganz oder teilweise den Bedingungen von Artikel 80p IRSG unterworfen werden.

Der Grundsatz der Spezialität nach Artikel 67 IRSG schützt die vom Rechtshilfeersuchen betroffene Person. Artikel 15 des Übereinkommens statuiert weiter die Pflicht zur Zusammenarbeit auch bei der Unterstützung der Opfer des Verschwindenlassens (zum Opferschutz vgl. Ziff. 2.6).

Art. 16

Garantie des Non-Refoulement

Artikel 16 des Übereinkommens sieht ausdrücklich vor, dass keine Person in einen Staat ausgewiesen, abgeschoben, übergeben oder ausgeliefert werden darf, in dem die Gefahr des Verschwindenlassens besteht. Diese Verpflichtung steht im Einklang mit bestehendem Schweizer Recht. Folgende Konstellationen sind zu unterscheiden.

­

28

470

Auslieferung und Ausweisung: Für die Auslieferung ergibt sich aus Artikel 2 Buchstabe a IRSG, dass einem Auslieferungsbegehren nicht entsprochen wird, wenn Gründe für die Annahme bestehen, dass das Verfahren im Ausland nicht den Verfahrensgrundsätzen der EMRK und des UNO-Pakts II Vgl. dazu und die dort zitierte Rechtsprechung: Zimmermann Robert (siehe Fussnote 26), S. 567 ff.

entspricht oder, wenn nach Buchstabe d das Verfahren andere grobe Mängel aufweist, einschliesslich der Möglichkeit, dass im fraglichen Fall im Ausland gar kein Verfahren existiert. Massgeblich für die Einschätzung sind zudem nicht nur die rechtlichen Grundlagen des betreffenden Staates, sondern auch deren Umsetzung in der Praxis.29 Bereits vor einer allfälligen Ratifikation des Übereinkommens ist die Auslieferung einer Person, die Opfer eines Verschwindenlassens werden könnte, damit nicht zulässig.

Betreffend Ausweisungen von Schweizer Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern statuiert Artikel 25 Absatz 1 BV ein absolutes Verbot.

29 30

31 32 33

­

Abschiebung und Übergabe: Die in Artikel 16 des Übereinkommens erwähnten Begriffe der Abschiebung oder Übergabe an einen anderen Staat werden im Schweizer Recht mit «Ausschaffung» umschrieben und umfassen die zwangsweise Beendigung der Anwesenheit einer Ausländerin oder eines Ausländers. Artikel 25 Absatz 3 BV sieht ein umfassendes Verbot der Ausschaffung einer Person in einen Staat vor, in dem ihr Folter oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung droht. Dieses Ausschaffungsverbot ergibt sich ebenfalls aus Artikel 3 EMRK und ist in zahlreichen bi- und multinationalen Verträgen begründet (vgl. auch Art. 3 des Folterübereinkommens). Aufgrund des absoluten Charakters von Artikel 3 EMRK unterliegt es keinen Ausnahmen und Einschränkungen, selbst wenn die betreffende Person eines Verbrechens beschuldigt wird.30 Ergänzt wird das Ausschaffungsverbot durch das Rückschiebungsverbot für Flüchtlinge in Artikel 25 Absatz 2 BV. Von diesem flüchtlingsrechtlichen NonRefoulement-Verbot ist auch die Bedrohung der Freiheit erfasst. Es findet sich ebenfalls in Artikel 33 der Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 195131 und in Artikel 5 Absatz 1 des Asylgesetzes vom 26. Juni 199832 (AsylG) verankert und stellt Völkergewohnheitsrecht mit zwingendem Charakter dar.33 Bereits unter geltendem Recht ist daher die Ausschaffung einer Person, der im Zielstaat ein Verschwindenlassen droht, nicht zulässig.

­

Ermittlung der «stichhaltigen Gründe»: Artikel 16 Absatz 2 des Übereinkommens legt fest, wie die in Absatz 1 genannten stichhaltigen Gründe ermittelt werden, die zur Annahme führen, dass die Gefahr des Verschwindenlassens besteht: Die zuständigen Behörden haben in ihre Erwägungen einzubeziehen, ob im betreffenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte oder schwerer Verletzungen des humanitären Völkerrechts herrscht. Diese Verpflichtung entspricht Artikel 3 Absatz 2 des Folterübereinkommens, das die Schweiz bereits ratifiziert hat. Bei der Aus- und Wegweisung von Ausländerinnen und Ausländern berücksichtigen in der Schweiz die rechtsanwendenden Behörden die Schutzgarantien von Artikel 3 EMRK (Non-RefoulementPrinzip). Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ergibt sich, dass dabei das «tatsächliche Risiko» einer BBl 1976 II 478, zu Art. 2­4 IRSG.

Vgl. beispielsweise EGMR i.S. D. Soering gegen Grossbritannien vom 7.7.1989, Ser.A.

Nr. 161 Ziff. 89, EGMR i.S. Chahal gegen Grossbritannien vom 15.11.1996, EGMR 1996-V, Ziff. 79 ff.

Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge; SR 0.142.30.

SR 142.31 Statt vieler: BGE 111 Ib 68 E. 2a S. 70.

471

unmenschlichen Behandlung berücksichtigt werden muss.34 Das tatsächliche Risiko bezieht sich dabei auf eine bestehende «objektive Gefahr», einer gegen Artikel 3 EMRK verstossenden Behandlung unterworfen zu werden.

2.4

Freiheitsentzug, Informations- und Beschwerderechte

Art. 17 Abs. 1 und Abs. 2 Bst. a­e sowie Art. 21

Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs

Mit Artikel 17 Absatz 1 des Übereinkommens wird ein absolutes Verbot für geheime Inhaftierungen statuiert. Absatz 2 führt die weiteren Voraussetzungen für die Ausgestaltung des Freiheitsentzugs aus: Die Vertragsstaaten müssen sicherstellen, dass die Bedingungen für den Freiheitsentzug gesetzlich vorgesehen, der Kontakt zur Familie und einem Rechtsbeistand gewährleistet und der Zugang für die gesetzlich befugten Behörden gegeben ist. Artikel 21 des Übereinkommens hält zudem fest, dass auch die Freilassung aus dem Freiheitsentzug auf einem geregelten Verfahren beruhen muss, das unter anderem die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen schützt.

Diese Voraussetzungen erfüllt das Schweizer Recht bereits. Artikel 31 Absatz 1 BV hält fest, dass einer Person die Freiheit nur «in den vom Gesetz selbst vorgesehen Fällen und auf die im Gesetz vorgeschriebene Weise» entzogen werden darf.

Absatz 2 statuiert weiter die Aufklärungspflicht, das Recht auf die Haftüberprüfung und das Recht, seine Angehörigen über den Freiheitsentzug benachrichtigen zu lassen. Artikel 8 Absatz 2 des Bundesgesetzes vom 20. März 200935 über die Kommission zur Verhütung von Folter sieht zudem ausdrücklich vor, dass die Kommission jederzeit und unangemeldet Zugang zu sämtlichen Haftorten hat. Gleiches gilt für den vom Ministerkomitee des Europarats gewählten Ausschuss zur Verhinderung von Folter (CPT).

Das Recht auf einen Rechtsbeistand ­ ein Ausfluss des Rechts auf rechtliches Gehör ­ beinhaltet auch das Recht, mit seinem Rechtsbeistand kommunizierten zu können (Art. 29 Abs. 2 BV, zudem Art. 5 und 6 EMRK). Dieser verfassungsrechtliche Mindeststandard wird in der einschlägigen Gesetzgebung weiter konkretisiert: ­

Das Strafprozessrecht garantiert insbesondere das Recht auf einen Rechtsbeistand und verpflichtet die Behörde, die Angehörigen einer festgenommenen Person unter Vorbehalt von gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen unverzüglich zu benachrichtigen (Art. 127 und 214 StPO).

­

Das Militärstrafverfahren sieht das Recht auf einen Rechtsbeistand vor (Art. 109 f. Militärstrafprozess vom 23. März 197936, MStP). Eine vorläufig festgenommene Person ist zudem berechtigt, umgehend ihre Angehörigen zu benachrichtigen oder benachrichtigen zu lassen und einen Rechtsbeistand über die vorläufige Festnahme und deren Gründe zu orientieren (Art. 55 Abs. 3 MStP). Für das militärstrafrechtliche Disziplinarstrafverfahren, in dem als Sanktion u. a. Arrest von längstens 10 Tagen Dauer ausgesprochen

34 35 36

472

EGMR, EZAR, 933 Nr. 1 § 111 = EuGRZ 1989, 314; EZAR 933 Nr. 3 § 113.

SR 150.1 SR 322.1

werden kann (Art. 190 Militärstrafgesetz vom 13. Juni 192737, MStG), regeln die Artikel Artikel 200 und 206 ff. MStG die Einzelheiten.

­

Das neue Erwachsenenschutzrecht gewährt Personen im Rahmen der fürsorgerischen Unterbringung das Recht, eine Vertrauensperson beizuziehen, und sieht vor, dass die betroffene Person oder eine ihr nahestehende Person jederzeit um Entlassung ersuchen kann (Art. 432 und 439 des Zivilgesetzbuchs38, ZGB).

­

Das Ausländergesetz vom 16. Dezember 200539 (AuG) und das Asylgesetz sehen verschiedene Formen von Freiheitsentzügen vor: die Festhaltung (Art. 73 AuG), die Vorbereitungshaft (Art. 75 AuG), die Ausschaffungshaft (Art. 76 AuG), die Ausschaffungshaft wegen fehlender Mitwirkung bei der Beschaffung der Reisepapiere (Art. 77 AuG), die Durchsetzungshaft (Art. 78 AuG) und die Festhaltung am Flughafen oder in einem Ausschaffungsgefängnis (Art. 22 AsylG). Das Ausländergesetz garantiert das Recht der betroffenen Personen, mit ihrem Rechtsvertreter und mit Familienangehörigen zu kommunizieren (Art. 81 Abs. 1 AuG). Für die im Asylgesetz vorgesehene Festhaltung im Flughafen findet die Minimalgarantie gemäss Artikel 31 Absatz 2 BV Anwendung. Das Asylgesetz enthält in diesem Kontext weiter eine Delegationsnorm, wonach der Bundesrat den Zugang zur Rechtsberatung und -vertretung in den Empfangsstellen und Flughäfen regeln kann (Art. 17 Abs. 4 AsylG). Mit Artikel 7a Absatz 2 der Asylverordnung 1 vom 11. August 199940 (AsylV 1) hat der Bundesrat von dieser Befugnis Gebrauch gemacht.

Das Recht von Ausländerinnen und Ausländern, mit ihren Konsularbehörden zu verkehren, ergibt sich in der Schweiz insbesondere aus Artikel 36 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen und ist in Artikel 81 AuG und Artikel 214 Absatz 1 Buchstabe b StPO vorgesehen. Der Zugang zu den Haftorten ist gesetzlich befugten Behörden in der Schweiz erlaubt.

Art. 17 Abs. 2 Bst. f Beschwerde gegen die Rechtmässigkeit eines Freiheitsentzugs Artikel 17 Absatz 2 Buchstabe f des Übereinkommens verpflichtet die Vertragsstaaten, in ihrer Gesetzgebung einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen den Freiheitsentzug vorzusehen. Dieses Beschwerderecht soll bei Verdacht auf Verschwindenlassen nicht nur derjenigen Person zustehen, der die Freiheit entzogen wird, sondern auch allen Personen mit einem berechtigten Interesse, wie etwa den Verwandten dieser Person. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass eine Person, die Opfer eines Verschwindenlassens wird, ihr Beschwerderecht gerade nicht selber ausüben kann. Das angerufene Gericht muss unverzüglich über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs entscheiden und die Freilassung der Person anordnen, wenn der Freiheitsentzug nicht rechtmässig ist. Die Rechtslage in der Schweiz stellt sich wie folgt dar:

37 38 39 40

SR 321.0 SR 210 SR 142.20 SR 142.311

473

­

Verfahrensgarantien der Personen, denen die Freiheit entzogen worden ist: Im schweizerischen Recht geniessen Personen, denen die Freiheit entzogen wird, den Schutz von starken Verfahrensgarantien. Artikel 31 Absatz 3 BV sieht namentlich vor, dass jede Person, die in Untersuchungshaft genommen wird, Anspruch darauf hat, unverzüglich einer Richterin oder einem Richter vorgeführt zu werden; die Richterin oder der Richter entscheidet dann, ob die Person weiterhin in Haft gehalten oder freigelassen wird. Diese Garantien sind in verschiedenen Verfahrensgrundlagen konkretisiert (vgl. z.B. die Art. 220­228 StPO für Untersuchungshaft im Rahmen eines Strafverfahrens, die Art. 55, 59 und 108 MstP für das Militärstrafverfahren oder Art. 44 und die 46­48 IRSG für das Auslieferungsverfahren). Die beschuldigte Person kann jederzeit ohne Aufsicht mit der Verteidigung verkehren (vgl. insbesondere Art. 223 Abs. 2 StPO). Auch im Bereich des Zivilrechts sieht das neue Erwachsenenschutzrecht einen umfassenden Rechtsschutz vor. Gemäss Artikel 439 ZGB kann die betroffene Person gegen Anordnungen im Rahmen der fürsorgerischen Unterbringung schriftlich das zuständige Gericht anrufen. Die Beschwerde muss nicht begründet werden (Art. 450e ZGB).

Die gerichtliche Überprüfung ist schliesslich auch im Ausländergesetz für die ausländerrechtliche Administrativhaft vorgesehen, sie obliegt in diesem Kontext den kantonalen Gerichten, mit Möglichkeit des Rekurses an das Bundesgericht. Verfügt das Bundesamt für Migration eine Festhaltung am Flughafen gestützt auf Artikel 22 AsylG, so steht der Weg an das Bundesverwaltungsgericht offen.

­

Beschwerderechte der nahestehenden Personen: Das Schweizer Recht kennt im Rahmen der fürsorgerischen Unterbringung ein Beschwerderecht nicht nur der betroffenen Person, sondern auch der nahestehenden Personen (Art. 450 ZGB). Der Begriff der nahestehenden Person ist weit auszulegen.

Es handelt sich dabei um eine Person, welche die betroffene Person gut kennt und kraft ihrer Eigenschaften sowie kraft ihrer Beziehungen zu dieser als geeignet erscheint, deren Interessen zu wahren. Neben den Eltern, den Kindern und den Ehegatten oder Partnern können sich beispielsweise auch der Beistand, die Ärztin, der Priester, die Sozialarbeiterin oder eine andere Vertrauensperson gegen die fürsorgerische Unterbringung der betroffenen Person wehren. Neben dem Beschwerderecht haben nahestehende Personen auch das Recht, für die betroffene Person jederzeit ein Gesuch um Entlassung aus der Unterbringung zu stellen (Art. 426 Abs. 4 ZGB).

Abgesehen von diesem zivilrechtlichen Verfahren sehen die verschiedenen Prozessordnungen in Verfahren, die zu einem Freiheitsentzug führen können, kein spezifisches Beschwerderecht für Angehörige vor. Gestützt auf den neu zu schaffenden Straftatbestand des Verschwindenlassens werden sich Angehörige aber direkt mit einer Strafanzeige an die Staatsanwaltschaft wenden können (Art. 301 i. V. m. Art. 12 Bst. b StPO), wenn sie den Verdacht hegen, dass ein Freiheitsentzug im Sinne eines Verschwindenlassens vorliegt. Die Strafverfolgungsbehörde ist in der Folge verpflichtet festzustellen, ob der Verdacht gerechtfertigt ist, und insbesondere zu prüfen, ob der mutmassliche Freiheitsentzug rechtmässig war. Erfolgt die Anzeige aus Unkenntnis nicht an die örtlich zuständige kantonale Behörde, so sind die Behörden zur Weiterleitung verpflichtet (Art. 39 StPO). Zum Verschwindenlassen gehört die Weigerung anzuerkennen, dass der Person die Freiheit

474

entzogen wurde, und allgemein die Verweigerung jeder Auskunft über ihr Schicksal. Abgesehen von der Tatsache, dass dadurch die verschwundene Person dem Schutz des Gesetzes entzogen wird, stellt dies eine erhebliche Beeinträchtigung der Interessen und im konkreten Fall allenfalls sogar der psychischen Integrität der Angehörigen dar und verletzt so Rechtsgüter, die mit der neuen Strafbestimmung (Art. 185bis E-StGB) geschützt werden sollen. Dadurch sind die Angehörigen direkt verletzt, und somit geschädigte Personen im Sinne von Artikel 115 StPO. So können sie im Strafverfahren als Privatkläger eigene Rechte geltend machen, einschliesslich des Rechts auf Beschwerde. Die Botschaft vom 23. April 200841 über die Änderung von Bundesgesetzen zur Umsetzung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs enthält eine gleich lautende Äusserung betreffend der Konstellation, dass das Verschwindenlassen im Rahmen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfolgt.

Das Schweizer Recht ist in diesem Bereich mit dem Übereinkommen vereinbar.

Art. 17 Abs. 3

Pflicht zur Register- und Aktenführung

Gemäss Artikel 17 Absatz 3 des Übereinkommens müssen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass ein oder mehrere amtliche Register und/oder amtliche Akten über die Personen, denen die Freiheit entzogen ist, geführt und auf dem neuesten Stand gehalten werden. Diese müssen auf Ersuchen umgehend allen Gerichten oder anderen zuständigen Behörden oder Einrichtungen, die dazu rechtlich befugt sind, zur Verfügung gestellt werden. Sinn und Zweck dieser Bestimmung ist, dass einerseits rasch Auskunft gegeben werden kann, wo sich eine gesuchte Person befindet, und andererseits sichergestellt ist, dass das Schicksal einer Person nachvollziehbar ist (das «Recht auf Wahrheit», insbesondere auch für die Angehörigen). Um dies zu gewährleisten, legt das Übereinkommen fest, welche Angaben mindestens ­ in den Registern oder den Akten ­ erfasst werden müssen. Es schreibt jedoch nicht vor, welche Daten in den Registern und welche Daten in den Akten geführt werden müssen. Mit Blick auf die Rechtslage in der Schweiz ergibt sich Folgendes:

41

­

Aktenführung: Bisher werden in der Schweiz die Akten weitgehend kantonal und dezentral, das heisst in den betreffenden Institutionen, geführt. Hier bestehen, wie unter anderem die fachtechnische Befragung im Vorfeld der Unterzeichnung des Übereinkommens ergeben hat, Unterschiede in der konkreten Handhabung. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die grundlegenden Daten, wie sie Artikel 17 Absatz 3 des Übereinkommens vorsieht, bereits heute in den Akten erfasst werden. Das geplante Umsetzungsgesetz wird zudem im Sinne grösstmöglicher Transparenz die Pflicht der Behörden festhalten, ab Inkrafttreten des Übereinkommens sämtliche geforderte Daten zu erfassen, (vgl. Ziff. 3.5 zu Art. 3 des Umsetzungsgesetzes).

­

Registerführung: In der Schweiz existiert heute kein einheitliches Register, in dem sämtliche Freiheitsentzüge aufgeführt wären. Gewisse Informationen über Freiheitsentzüge ergeben sich aus bestehenden Registern (StrafregisterInformationssystem VOSTRA, Zentrales Migrationsinformationssystem ZEMIS u.a.). In anderen Bereichen, wie etwa im Erwachsenenschutzrecht, sind die Behörden verpflichtet, im Fall einer Beschwerde alle Informationen BBl 2008 3864 3925

475

an eine zentrale Behörde zu übergeben. Zudem besteht auch kein zentralisiertes System für die Suche nach vermissten Personen. Menschen, die eine nahestehende Person suchen, wenden sich an verschiedene Dienste: auf kantonaler Ebene unter anderem an die lokalen Polizeiposten, auf Bundesebene an den Dienst Nachforschungen nach vermissten Personen im Bundesamt für Polizei sowie an diverse nichtstaatliche Stellen, darunter der Suchdienst des Schweizerischen Roten Kreuzes. Zwischen den staatlichen und den privaten Stellen existiert zwar eine informelle, jedoch keine institutionalisierte Zusammenarbeit.

In diesem Bereich besteht insofern Handlungsbedarf, als dass die zuständigen Bundes- und kantonalen Behörden überprüfen müssen, ob in ihren amtlichen Akten, und, wo vorhanden, Registern, diese grundlegenden Daten erfasst werden (vgl.

Ziff. 3.5 zu Art. 3 des Umsetzungsgesetzes). Es ergibt sich hingegen keine Pflicht zur Errichtung von neuen Registern.

Art. 18 und 20

Zugang zu Informationen über den Freiheitsentzug

Gemäss Artikel 18 des Übereinkommens müssen die Vertragsstaaten allen Personen, die ein schutzwürdiges Interesse haben ­ beispielsweise den Verwandten, die befürchten ein Angehöriger sei Opfer eines Verschwindenlassens geworden ­ gewisse genau definierte Informationen zu den Umständen des Freiheitsentzugs geben (insbesondere den Zeitpunkt und Ort des Freiheitsentzugs sowie den Namen der anordnenden Behörde). Artikel 20 Absatz 1 des Übereinkommens sieht jedoch vor, dass ­ vorausgesetzt die gesuchte Person ist dem Schutz des Rechtes nicht entzogen ­ Auskünfte unter strikten Bedingungen verweigert werden können, insbesondere um die Privatsphäre oder die Sicherheit der festgehaltenen Person oder eine laufende strafrechtliche Untersuchung zu schützen. In diesem Fall muss gemäss Artikel 20 Absatz 2 des Übereinkommens das Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf gewährleistet sein. Die Schweizer Rechtsordnung sieht heute verschiedentlich Informationsrechte vor: ­

Im Bereich des Strafprozessrechts sind nach Artikel 214 StPO die Strafbehörden bei einer Festnahme verpflichtet, die Angehörigen zu informieren, sofern der Untersuchungszweck die Benachrichtigung nicht verbietet oder die betroffene Person sie nicht ausdrücklich ablehnt. Hingegen sind die Behörden im Bereich des Strafvollzugs nicht verpflichtet, Angehörige oder andere Personen von sich aus zu informieren. Auskunftsgesuche können abgewiesen werden, wenn die Auskunftserteilung nicht vereinbar ist mit dem Recht der festgehaltenen Person auf Selbstbestimmung und Privatsphäre. Das Strafrecht sieht im Fall einer Verweigerung der Auskunft jedoch keinen Rechtsbehelf vor.

­

Der Zugang zu Informationen bei der fürsorgerischen Unterbringung ist bereits gesetzlich vorgesehen. Wenn die betroffene Person gewisse Tatsachen geheim halten möchte, kann das Gericht die Parteirechte der übrigen Verfahrensbeteiligten einschränken, was zur Einschränkung des rechtlichen Gehörs der Angehörigen führen kann. Dies ist aber gemäss dem Übereinkommen zulässig (Art. 20 Abs. 1 des Übereinkommens). Da die Angehörigen im Verfahren als Partei auftreten können (Art. 439 ZGB), ist ein mit dem Übereinkommen vereinbares Informationsrecht gewährleistet.

476

­

Das Ausländerrecht verpflichtet die Kantone, dafür zu sorgen, dass eine von der inhaftierten Ausländerin oder dem inhaftierten Ausländer bezeichnete Person in der Schweiz benachrichtigt wird (Art. 81 Abs. 1 AuG). Daraus lässt sich jedoch kein Anspruch auf Benachrichtigung ableiten.

Das geltende Recht entspricht damit den Anforderungen des Übereinkommens nicht in allen Teilen: Will die Person im Strafvollzug, im strafprozess-, militär- oder ausländerrechtlichen Freiheitsentzug ihre Angehörigen nicht informieren, so wird dieser Entscheid vom Schweizer Recht respektiert und den Angehörigen steht kein Rechtsmittel zur Verfügung, um eine Informationsverweigerung gerichtlich überprüfen zu lassen. In diesem Bereich sind daher legislative Vorkehrungen erforderlich (vgl. Ziff. 3.5 zu Art. 6 und 7 des Umsetzungsgesetzes).

2.5

Datenschutz, Verfahrensführung, Ausbildung

Art. 19

Datenschutz

Artikel 19 des Übereinkommens betrifft den Umgang mit Personendaten. Er sieht vor, dass die im Rahmen der Suche nach einer vermissten Person gesammelten Daten nur zum Zweck der Suche verwendet werden dürfen. Das Übereinkommen untersagt es den Behörden also, die gesammelten Daten für andere Zwecke, insbesondere zur Verfolgung von anderen Straftaten, zu verwenden. Artikel 19 präzisiert zudem, dass die Verwendung der Daten im Einklang mit den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der Menschenwürde stehen muss. Alle Bundes- und Kantonsbehörden, insbesondere die neu zu schaffenden Koordinationsstellen des Bundes und der Kantone, sind verpflichtet, diese Bestimmung einzuhalten.

Die Vorgaben für den Datenschutz im Schweizer Recht entsprechen den Anforderungen des Übereinkommens: Aus Artikel 13 Absatz 2 BV ergibt sich bereits, dass jede Person vor Datenmissbrauch geschützt ist. Für die Bundesbehörden hält das Bundesgesetz vom 19. Juni 199242 über den Datenschutz (DSG) in Artikel 4 Absatz 3 fest, dass Daten ausschliesslich für den Zweck bearbeitet werden dürfen, der bei der Beschaffung angegeben wurde oder gesetzlich vorgesehen ist. Die weiteren detaillierten Regelungen (vgl. für die Grundsätze Art. 4 und 16­25 DSG) stellen sicher, dass mit der Datenbearbeitung nicht in ungerechtfertigter Weise in die Grundrechte eingegriffen wird. Für die zu errichtende Koordinationsstelle des Bundes hält das geplante Umsetzungsgesetz die Erfordernisse des Datenschutzes explizit fest (vgl. Ziff. 3.5 zu Art. 9 des Umsetzungsgesetzes). Die Vorgaben für die kantonalen Behörden ergeben sich aus den kantonalen Datenschutzgesetzen.

Art. 22

Verhinderung und Verschleppung der Verfahren

Mit Artikel 22 verpflichtet das Übereinkommen die Vertragsstaaten präventiv und repressiv gegen die Behinderung und Verschleppung der vorgesehenen Rechtsbehelfe, gegen Versäumnisse im Bereich der Registerführung sowie gegen ungerechtfertigte Auskunftsverweigerungen vorzugehen. Diesem Anliegen verschafft die Schweizer Rechtsordnung bereits Geltung. Artikel 29 BV statuiert als Minimalgarantien unter anderem das Verbot der Rechtsverweigerung und der Rechtsverzö42

SR 235.1

477

gerung. Dies wird in der einschlägigen Gesetzgebung konkretisiert. Weiter sind auch disziplinar- und strafrechtliche Normen anwendbar (insbesondere Art. 312 StGB, falls die Tat vorsätzlich erfolgt mit dem Ziel, einem anderen einen Nachteil zuzufügen).

Art. 23

Ausbildung

Im Sinne einer präventiven Massnahme verlangt Artikel 23 des Übereinkommens, dass Personen, die in ihrer amtlichen Funktion mit Fällen von Verschwindenlassen in Berührung kommen könnten, entsprechend zu schulen sind. Mit der Umsetzung des Modells «Netzwerk» kann sichergestellt werden, dass die zuständigen Stellen auf kantonaler und auf Bundesebene entsprechend über das Übereinkommen und seinen Inhalt informiert sind. Zudem wird mit der Einführung der neuen Strafnorm der Tatbestand des Verschwindenlassens in die entsprechenden Ausbildungen Eingang finden. Wie von Artikel 23 Absatz 2 des Übereinkommens gefordert, wird der neu einzuführende Straftatbestand explizit Anordnungen und Anweisungen von Vertretern des Staates unter Strafe stellen, durch die ein Verschwindenlassen vorgeschrieben oder genehmigt wird.

2.6

Opferschutz

Art. 24

Opferhilfe

Artikel 24 des Übereinkommens trifft Regelungen betreffend die Opfer des Verschwindenlassens. Die Verpflichtungen der Vertragsstaaten zum Schutz der Opfer sind im Vergleich zu bestehenden Menschenrechtsinstrumenten sehr weitgehend.

Von zentraler Bedeutung sind der weite Opferbegriff und die starke Ausgestaltung der Rechte der Opfer. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Erfahrungen der lateinamerikanischen Staaten zu lesen, die eine systematische Praxis des Verschwindenlassens kannten und ihre Vergangenheit in dieser Hinsicht aufarbeiten mussten. In den Verhandlungen des Übereinkommens haben entsprechende Forderungen von Vereinen der Angehörigen und Opfern des Verschwindenlassens Eingang gefunden.

Als Opfer gelten gemäss Artikel 24 Absatz 1 des Übereinkommens nicht nur die verschwundene Person, sondern auch alle anderen natürlichen Personen, die als unmittelbare Folge des Verschwindenlassens geschädigt wurden. Wie bereits ausgeführt, schliesst das Übereinkommen damit eine völkerrechtliche Lücke. Bisher erhielten die einer verschwundenen Person nahestehenden Personen völkerrechtlich nicht den nötigen Schutz.

Im Schweizer Recht werden mit der Einführung des neuen Artikel 185bis E-StGB verschwundene Personen grundsätzlich als Opfer im Sinne des Opferhilfegesetzes vom 23. März 200743 (OHG) und zudem als geschädigte Person und Opfer im Sinne von Artikel 115 Absatz 1 und Artikel 116 Absatz 1 StPO gelten. Diesbezüglich stellen sich keinerlei Probleme.

43

478

SR 312.5

Betreffend weiterer Opfer ist das Übereinkommen grosszügig: Zu den «Opfern» gehört jede Person, die als unmittelbare Folge des Verschwindenlassens geschädigt wurde. In der Debatte um diesen Opferbegriff wurde hervorgehoben, dass damit den nationalen Behörden ein Spielraum gewährt werden soll, auch andere Betroffene als lediglich die Ehepartner und Kinder zu erfassen. Im Schweizer Recht sind nebst jeder Person, die unmittelbar in ihrer physischen oder psychischen Integrität verletzt worden ist, unter dem OHG und der StPO auch ausdrücklich der Ehegatte oder die Ehegattin des Opfers, die Kinder und Eltern sowie andere Personen, die ihm in ähnlicher Weise nahestehen zur Opferhilfe berechtigt (Art. 1 Abs. 2 OHG und Art. 116 Abs. 2 StPO). Mit dem neu zu schaffenden Straftatbestand werden betroffene Angehörige zudem als geschädigte Personen und, in bestimmten Fällen, als Opfer angesehen. Daraus ergibt sich, dass der Opferbegriff im Schweizer Recht zwar enger umschrieben ist als im Übereinkommen. Jedoch garantiert die Schweizer Regelung, dass alle Personen, die dem Opfer nahestehen, Anspruch auf Opferhilfe haben.

Artikel 24 Absätze 2 und 3 des Übereinkommens verpflichtet die Vertragsstaaten, Massnahmen zu ergreifen, damit jedes Opfer die Wahrheit über die Umstände des Verschwindenlassens erfährt. Daraus ergibt sich für die Schweiz kein unmittelbarer Umsetzungsbedarf: Mit der Untersuchungspflicht der Behörden im Strafbereich und den Informationsrechten der Betroffenen und Angehörigen (vgl. Ziff. 2.3 und 2.4) wird dem Anliegen dieser zwei Absätze entsprochen.

Gemäss Artikel 24 Absatz 4 des Übereinkommens muss der Vertragsstaat den Opfern ein Recht auf Wiedergutmachung und umgehende Entschädigung gewähren.

In Absatz 5 wird dieses Recht näher umschrieben. Es umfasst die Restitution, die Rehabilitation, die Genugtuung und die Garantie der Nichtwiederholung. Während sich der Begriff der Restitution dabei insbesondere auf die Wiederherstellung der Rechtsstellung vor dem Verschwindenlassen bezieht (Recht auf Freiheit, Rückkehr an den Wohnort, Rückerstattung des Eigentums usw.), zielt der Begriff der Rehabilitation insbesondere auf medizinische und psychologische Leistungen. Der Begriff der Genugtuung umfasst neben den geldwerten auch immaterielle Leistungen.

Die Rechte von Opfern im Allgemeinen sind in der
Schweiz stark ausgestaltet und erstrecken sich sowohl auf Straftaten im Inland als auch im Ausland. Die Garantie der Nichtwiederholung wird in der Schweizer Rechtsordnung mit der Strafverfolgung, der gerichtlichen Überprüfbarkeit aller Handlungen der Behörden, der Gewaltentrennung sowie dem Abschluss von internationalen Verträgen und der Überwachung ihres Vollzugs umgesetzt. Für die weiteren der genannten Aspekte ist nach dem Begehungsort der Tat und dem Wohnsitz der Opfer zu unterscheiden: ­

44

Opfer einer Tat, die in der Schweiz begangen wurde: Wird eine Person Opfer eines in der Schweiz begangenen Verschwindenlassens, so ist diese Handlung dem Staat zurechenbar. Das Opfer wird sich daher auf das Verantwortlichkeitsgesetz vom 14. März 195844 (VG) oder die entsprechenden kantonalen Gesetze stützen können, um eine Wiedergutmachung im Sinne des Übereinkommens zu erhalten. Zudem ist auch das OHG anwendbar: Personen, die durch eine in der Schweiz begangene Straftat unmittelbar in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität beeinträchtigt wurden, haben gestützt auf das OHG Anspruch auf Beratung und Unterstützung SR 170.32

479

durch die Beratungsstellen sowie auf Soforthilfe und längerfristige Hilfe durch Beratungsstellen (Art. 12­16 OHG), Entschädigungen (Art. 19­21 OHG) und Genugtuungen (Art. 22 und 23 OHG). Den Opfern stehen ausserdem besondere Schutzrechte gemäss StPO zu (für einen unvollständigen Katalog der Opferrechte vgl. Art. 117 StPO). Auch die dem Opfer nahestehenden Personen haben Anspruch auf Opferhilfe. Zu erwähnen sind des Weiteren die in der StPO vorgesehenen Schutzmassnahmen für Personen, die aufgrund ihrer Mitwirkung im Verfahren einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben oder ihre körperliche Integrität ausgesetzt sind (Art. 149 und 150 StPO). Auch die Schutzmassnahmen des Bundesgesetzes vom 23. Dezember 201145 über den ausserprozessualen Zeugenschutz, das am 1. Januar 2013 in Kraft getreten ist, kommen zur Anwendung.

­

Opfer einer Tat, die im Ausland begangen wurde: Wird eine Person, die Wohnsitz in der Schweiz hat (im Zeitpunkt der Tat sowie im Zeitpunkt der Gesuchstellung um Opferhilfe vgl. Art. 17 OHG), im Ausland Opfer einer Straftat, so hat sie keinen Anspruch auf Leistungen gestützt auf das Verantwortlichkeitsgesetz des Bundes oder entsprechende kantonale Gesetze.

Gemäss OHG hat sie Anspruch auf Dienstleistungen der Beratungsstellen (Beratung, Soforthilfe, längerfristige Hilfe; siehe oben). Entschädigungen und Genugtuung können in dieser Konstellation hingegen nicht gewährt werden (Art. 3 OHG). Gleiches gilt für die Angehörigen der Opfer. Die Leistungen werden in der Schweiz erbracht. Da das OHG subsidiär zur Anwendung kommt, wird nur Hilfe geleistet, wenn der Staat, in dem die Straftat begangen wurde, keine oder keine genügenden Leistungen erbringt (Art. 4 und Art. 17 Abs. 2 OHG). Den Opfern stehen auch die besonderen Schutzrechte gemäss StPO zu (für einen unvollständigen Katalog der Opferrechte vgl. Art. 117 StPO). Der in der StPO für die Opfer vorgesehene Schutz kommt zum Tragen, wenn der Täter auf Schweizer Staatsgebiet verhaftet und vor Gericht gestellt wird.

Für Personen, die im Ausland Opfer einer Straftat werden und keinen Wohnsitz in der Schweiz haben, sieht das Opferhilfegesetz hingegen keine Leistungen vor. Sinn und Zweck des Übereinkommens scheinen dies jedoch auch nicht zu verlangen. Die Rechte der Opfer richten sich in erster Linie an denjenigen Staat, dessen Opfer sie geworden sind.

Absatz 6 von Artikel 24 des Übereinkommens verpflichtet die Staaten, Massnahmen zu treffen für die Rechtsstellung von Personen, deren Schicksal noch nicht hat aufgeklärt werden können. Die Schweizer Rechtsordnung kennt keinen spezifischen Status für «Verschwundene» im Sinne des Übereinkommens, jedoch besteht die Möglichkeit einer Verschollenenerklärung (Art. 35­38 ZGB).

Weiter hält Artikel 24 Absatz 7 des Übereinkommens die Staaten an, das Recht auf die Bildung von Vereinigungen zu gewährleisten, deren Zielsetzung die Aufklärung und Unterstützung von Opfern des Verschwindenlassens ist. Die Vereinigungsfreiheit ist in Artikel 23 BV umfassend garantiert und in den Artikeln 60­79 ZGB konkretisiert. Vereinigungen im Sinne von Artikel 24 des Übereinkommens können daher in der Schweiz jederzeit gegründet werden. Für die Schweiz sind keine weiteren Umsetzungsmassnahmen notwendig.

45

480

SR 312.2

2.7

Besonderer Schutz von Kindern

Art. 25

Besonderer Schutz von Kindern

Artikel 25 des Übereinkommens schliesst eine Lücke im bestehenden Völkerrecht, indem Kinder im Kontext des Verschwindenlassens einen besonderen Schutz erfahren. Die Staaten werden erstens verpflichtet, die unrechtmässige Entziehung von Kindern unter Strafe zu stellen sowie Verfahren zur Überprüfung von Adoptionen vorzusehen. Zweitens müssen sie Massnahmen ergreifen, um Kindern, die Opfer eines Verschwindenlassens geworden sind, in ihre Herkunftsfamilien zurückzuführen. Für sämtliche Regelungen soll gemäss Artikel 25 Absatz 5 des Übereinkommens das Wohl des Kindes vorrangig berücksichtigt werden.

Zum gezielten Schutz von Kindern verlangt das Übereinkommen insbesondere, dass die Vertragsstaaten die unrechtmässige Entziehung von Kindern, die Opfer eines Verschwindenlassens sind, sowie das Fälschen, Verbergen und Vernichten von Dokumenten, welche die wahre Identität dieser Kinder bescheinigen, unter Strafe zu stellen.

Die Schweizer Rechtsordnung wird diesen Anforderungen bereits gerecht: Bei einer unrechtmässigen Entziehung von Kindern können verschiedene Bestimmungen des Strafgesetzbuchs zur Anwendung gelangen: Artikel 183 Absatz 2 StGB schützt Personen unter 16 Jahren ausdrücklich gegen Entführung. Zudem stellt Artikel 220 StGB die Entziehung einer minderjährigen Person und die Weigerung, eine minderjährige Person dem Inhaber des Obhutsrechts zurückzugeben, unter Strafe. Schliesslich deckt Artikel 219 StGB Fälle ab, in denen jemand eine minderjährige Person unter Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht in ihrer körperlichen oder seelischen Entwicklung gefährdet. Dokumente, welche die wahre Identität einer Person bescheinigen, sind zudem als Urkunden zu betrachten, deren Fälschung oder Unterdrückung (inkl. Vernichtung) gemäss den Artikeln 251­254 StGB strafbar ist.

Auch ausländische Dokumente fallen unter diese Bestimmungen (Art. 255 StGB).

Nach Artikel 25 Absatz 4 des Übereinkommens müssen Vertragsstaaten, die ein System der Adoption oder eine andere Form der Unterbringung von Kindern anerkennen, gesetzliche Verfahren vorsehen, um das Adoptions- oder Unterbringungsverfahren zu überprüfen und gegebenenfalls jede Adoption oder Unterbringung von Kindern, die auf einem Verschwindenlassen beruht, aufzuheben.

Artikel 268a ZGB sieht eine umfassende Untersuchungspflicht für die Behörden vor,
bevor eine Adoption ausgesprochen wird. Gemäss den Artikeln 269 ZGB kann eine Adoption vor Gericht angefochten werden, wenn die Zustimmung ohne gesetzlichen Grund nicht eingeholt wurde. Die Möglichkeit zur Anfechtung steht deshalb unter anderem biologischen Eltern offen, denen das Kind unrechtmässig entzogen wurde. Mit Blick auf das Kindeswohl sind für die Anfechtung einer Adoption feste Fristen vorgesehen: sechs Monate ab Entdeckung des Anfechtungsgrundes und in jedem Falle zwei Jahre ab der Adoption. Eine Anfechtungsklage nach Ablauf dieser Frist ist aber ­ analog zu den Artikeln 256c, 260c und 263 ZGB ­ möglich, wenn wichtige Gründe die Verspätung rechtfertigen.46 Eine Adoption aufgrund eines Verschwindenlassens fällt in diese Kategorie. Wie in Artikel 25 Absatz 5 des Übereinkommens gefordert, stellt das Schweizer Recht sicher, dass dem Wohl des Kindes 46

Vgl. dazu BGE 112 II 296.

481

erste Priorität eingeräumt wird: Die Einleitung eines Verfahrens zur Aufhebung der Adoption kann abgelehnt werden, wenn das Wohl des Kindes durch die Aufhebung der Adoption ernstlich beeinträchtigt würde. Das Schweizer Recht ist also auch in diesem Punkt mit dem Übereinkommen vereinbar.

Mit Blick auf internationale Adoptionen gilt für die Schweiz zudem das Haager Übereinkommen vom 29. Mai 199347 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption. Dessen Artikel 4 Buchstaben c Ziffer 2 und d Ziffer 3 sehen vor, dass die Zustimmung zu einer Adoption unbeeinflusst und in der gesetzlich vorgeschriebenen Form erteilt werden muss.

Mithin bildet eine Adoption aufgrund eines Verschwindenlassens einen Grund für die Aufhebung einer Adoption.

Das Schweizer Recht ist folglich auch in diesem Punkt mit dem Übereinkommen vereinbar.

2.8

Institutionelle Bestimmungen

Art. 26­28

Errichtung eines Ausschusses

Artikel 26 bis 28 des Übereinkommens sehen die Errichtung eines Ausschusses über das Verschwindenlassen vor. Der Ausschuss besteht aus zehn unabhängigen und sachverständigen Experten, die unter Berücksichtigung der geographischen Verteilung von den Mitgliedsstaaten gewählt werden. Artikel 26 des Übereinkommens regelt die Einzelheiten der Wahl, der Amtszeit und der Mittel. Artikel 27 des Übereinkommens bestimmt, dass die Vertragsstaaten frühestens vier und spätestens sechs Jahre nach Inkrafttreten des Übereinkommens die Wirkungsweise des Ausschusses überprüfen, um aufgrund der ersten Erfahrungen Anpassungen zu ermöglichen (vgl.

Ziff. 1.1.2). Der Ausschuss wird mit Artikel 28 des Übereinkommens verpflichtet, mit allen geeigneten Organen, Dienststellen, Sonderorganisationen und Fonds der UNO sowie den einschlägigen internationalen und staatlichen Einrichtungen zusammenzuarbeiten und sich insbesondere mit den Vertragsorganen der UNOPakte zu koordinieren.

Art. 29

Verpflichtungen der Staaten

Artikel 26 Absatz 9 des Übereinkommens verpflichtet die Vertragsstaaten zur Zusammenarbeit mit dem Ausschuss. Bezüglich des Überwachungsmechanismus ist das Übereinkommen sehr schlank gehalten: Im Gegensatz zu anderen UNO-Übereinkommen sieht es keine periodische Berichterstattung vor. Die Staaten sind nach Artikel 29 des Übereinkommens lediglich verpflichtet, innert zwei Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens für den betreffenden Staat einen Bericht über die Umsetzungsmassnahmen zu erstellen. Der Ausschuss wird zudem ermächtigt, den Bericht zu prüfen und allenfalls Empfehlungen abzugeben. Weiter ist der Ausschuss gemäss Artikel 29 Absatz 4 des Übereinkommens berechtigt, die Vertragsstaaten um zusätzliche Angaben zur Umsetzung des Übereinkommens zu ersuchen. Damit wird gewissermassen ein Ad-hoc-Berichterstattungsverfahren eingerichtet.

47

482

SR 0.211.221.311

Art. 30­36

Verfahren vor dem Ausschuss

Artikel 30 bis 34 des Übereinkommens regeln die Verfahren vor dem Ausschuss.

Dabei wird unterschieden zwischen Verfahren, die auf alle Vertragsstaaten Anwendung finden (Art. 30, 33 und 34 des Übereinkommens) und Verfahren, die eine vorgängige Erklärung des Vertragsstaats erfordern, wonach er die Zuständigkeit des Ausschusses für dieses Verfahren anerkennt (Art. 31 und 32 des Übereinkommens).

Artikel 35 des Übereinkommens hält fest, dass der Ausschuss nur für Fälle zuständig ist, die nach Inkrafttreten des Übereinkommens für den betreffenden Staat begonnen haben; es gilt also ein Rückwirkungsverbot. Für die Publikation des jährlichen Berichts statuiert Artikel 36 des Übereinkommens, dass der Ausschuss Staaten vorab informiert, falls er eine Stellungnahme zu ihrem Staat abzugeben beabsichtigt. Es lassen sich drei Verfahren auseinanderhalten: ­

Obligatorische Verfahren (Art. 30, 33 und 34): Artikel 30 des Übereinkommens ermöglicht jeder Individualperson, die ein berechtigtes Interesse hat, in dringenden Fällen beim Ausschuss ein Suchverfahren einzuleiten. Stellt sich der Antrag nicht als unbegründet, missbräuchlich, bereits bei einem Untersuchungsorgan hängig oder mit dem Übereinkommen unvereinbar heraus und ist der Fall der zuständigen nationalen Behörde vorgängig vorgelegt worden, so ersucht der Ausschuss den betreffenden Staat um Angaben über die Situation der gesuchten Person. Der Ausschuss wird ermächtigt, mit dem Vertragsstaat zusammenzuarbeiten sowie diesem Empfehlungen abzugeben, um das Schicksal der Person aufzuklären. Zudem informiert er den Antragssteller über seine Kommunikation mit dem Vertragsstaat. Das obligatorische Verfahren dient damit humanitären Zielen: Die verschwundene Person soll möglichst rasch aufgefunden und die Angehörigen informiert werden.

Artikel 33 des Übereinkommens berechtigt den Ausschuss zudem, bei zuverlässigen Hinweisen auf schwerwiegende Verletzungen des Übereinkommens einen angekündigten Besuch im betreffenden Staat durchzuführen.

In Artikel 34 des Übereinkommens wird schliesslich vorgesehen, dass der Ausschuss die Generalversammlung in Kenntnis setzen kann über eine systematische Praxis des Verschwindenlassens in einem Vertragsstaat. Damit verfügt der Ausschuss über Kompetenzen, die es in dieser Form im UNOSystem bisher nicht gibt.

­

Fakultatives Mitteilungsverfahren (Art. 31): Hat ein Vertragsstaat eine entsprechende Erklärung abgegeben, so ist der Ausschuss nach Artikel 31 auch zuständig, Mitteilungen von betroffenen Personen oder ihren Angehörigen entgegenzunehmen. Im Gegensatz zum obligatorischen Verfahren steht hier nicht der humanitäre Aspekt, sondern die internationale Verantwortlichkeit des Staates im Zentrum. Artikel 31 Absatz 2 des Übereinkommens bestimmt die Zulässigkeitsvoraussetzungen: Den Anforderungen vermögen insbesondere anonyme und missbräuchliche Mitteilungen nicht zu genügen. Zudem verlangt das Übereinkommen, dass derselbe Fall nicht in einem anderen internationalen Untersuchungsverfahren geprüft wird und die innerstaatlichen wirksamen Rechtswege ausgeschöpft worden sind. Ist die Mitteilung gültig, so ist der Ausschuss zuständig für die Prüfung. Er unterbreitet die Mitteilung dem betroffenen Staat zur Stellungnahme. In einer geschlossenen Sitzung wird der Fall vom Ausschuss behandelt. Er informiert die betroffenen Personen sowie den Vertragsstaat über seine Schlussfolgerung. Auch in diesem Verfahren hat der Ausschuss weiter das Recht, den Vertragsstaat zu 483

vorläufigen Massnahmen aufzufordern mit dem Ziel, Schaden für die Betroffenen abzuwenden.

­

2.9

Fakultatives Staatenmitteilungsverfahren (Art. 32): Ebenfalls mit der Abgabe einer entsprechenden Erklärung kann jeder Vertragsstaat die Zuständigkeit des Ausschusses für Staatenmitteilungen anerkennen. Damit wird der Ausschuss zur Prüfung von Mitteilungen ermächtigt, mit denen ein Vertragsstaat den Ausschuss informiert, ein anderer Vertragsstaat komme seinen Verpflichtungen aus dem Übereinkommen nicht nach. Voraussetzung ist, dass beide Staaten eine Erklärung gestützt auf Artikel 32 abgegeben haben.

Schlussbestimmungen

Schliesslich enthält Teil III des Übereinkommens (Art. 37­45) Schlussbestimmungen. Gemäss Artikel 37 bleiben zum Schutz von Personen vor dem Verschwindenlassen besser geeignete Bestimmungen unberührt. Die Artikel 38­40 regeln den Beitritt und die Ratifikation des Übereinkommens sowie deren Notifikation. Gemäss Artikel 39 tritt das Übereinkommen dreissig Tage nach Hinterlegung der zwanzigsten Ratifikations- oder Beitrittsurkunde in Kraft. Dies war am 23. Dezember 2006 der Fall. Für alle Staaten, die dem Übereinkommen nach diesem Datum beitreten oder es ratifizieren, tritt das Übereinkommen dreissig Tage nach Hinterlegung der jeweiligen Urkunde in Kraft. Für föderalistische Staaten hält Artikel 41 des Übereinkommens fest, dass dieses ohne Einschränkungen für alle Gliedstaaten gilt. Bei Streitigkeiten über die Anwendung und Auslegung des Übereinkommens entscheidet ein Schiedsgericht oder, falls sich die Streitparteien nicht über dessen Ausgestaltung einigen können, der Internationale Gerichtshof in Den Haag (Art. 42 Abs. 1).

Die Staaten können bei der Unterzeichnung oder Ratifizierung eine Erklärung abgeben, dass sie sich durch diese Bestimmung nicht gebunden sehen (Art. 42 Abs. 2).

Mit Blick auf das internationale Recht hält Artikel 43 des Übereinkommens fest, dass die Bestimmungen des humanitären Völkerrechts, einschliesslich der Genfer Konventionen und der Zusatzprotokolle unberührt bleiben. Änderungen des Vertragstextes können von jedem Vertragsstaat vorgeschlagen werden und werden im Anschluss vom Generalsekretär der Vereinten Nationen allen Vertragsstaaten zur Annahme vorgelegt. Jede Änderung bedarf einer Zweidrittelsmehrheit (Art. 44). Das Übereinkommen sieht keine Kündigungsmöglichkeit vor. Hingegen ist es Vertragsstaaten unbenommen, Vorbehalte vorzubringen, solange sie mit Ziel und Zweck des Übereinkommens vereinbar sind.

3

Ausführungen zur Umsetzungsgesetzgebung

3.1

Ausgangslage

Aus dem oben Dargestellten ergibt sich, dass die Ratifikation des Übereinkommens für die Schweiz punktuell mit Gesetzgebungsbedarf verbunden ist. Dieser betrifft insbesondere das explizite Unterstrafestellen des Verschwindenlassens und die Umsetzung der Informations- und Beschwerderechte der Angehörigen.

484

3.2

Die beantragte Neuregelung

3.2.1

Explizite Pönalisierung des Verschwindenlassens im StGB

Wie bereits erwähnt, geht das Übereinkommen deutlich weiter als Artikel 264a StGB, der für die Schweizer Rechtsordnung das Verschwindenlassen so umsetzt, wie es vom Römer Statut vorgesehen ist. Diese Bestimmung beschränkt sich auf Verstösse, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) begangen werden. Das Übereinkommen erfasst aber darüber hinaus weitere Fälle von Verschwindenlassen.

Daher soll das Strafgesetzbuch mit einem eigenständigen Tatbestand über das Verschwindenlassen ergänzt werden, der dem Schutzziel des Übereinkommens entspricht. Weiter sind entsprechende Änderungen in der Strafprozessordnung, im Militärstrafgesetz und im Militärstrafprozess nötig.

3.2.2

Errichtung eines Netzwerkes

Neben den strafrechtlichen Aspekten erfordert das Schutzziel des Übereinkommens Vorkehrungen, um sicherzustellen, dass Angehörigen bei einem Verdacht auf Verschwindenlassen rasch und zuverlässig darüber Auskunft gegeben werden kann, ob sich eine Person im Freiheitsentzug befindet.

Wie bereits ausgeführt, fehlt es in der Schweiz heute an einem zentralen Register, welches das rasche Auffinden von Personen im Freiheitsentzug ermöglichen würde.

Es stellt sich daher die Frage, ob in der Schweiz ein solches Register geschaffen werden soll. Der Bundesrat befasste sich in der Beantwortung der Motion Burkhalter vom 12. Dezember 2005 (05.3773) «Zentrale Datenbank über inhaftierte Personen» bereits in anderem Kontext (effizientere Strafverfolgung) mit einer ähnlichen Frage und führte damals aus, dass ein solches Register gemäss damaligen Schätzungen beim Bund Investitionskosten von rund 1,1 Millionen Franken sowie jährliche Kosten von rund 700 000 Franken verursachen würde. Bei den Kantonen würden Kosten von jährlich rund 2,6 Millionen Franken anfallen. Der Bundesrat erachtete das Kosten-Nutzen-Verhältnis als ungünstig; ein entsprechendes Projekt wurde daher nicht an die Hand genommen. Im vorliegenden Kontext müssten neben den strafrechtlichen auch alle anderen Arten von Freiheitsentziehungen im Zentralregister erfasst werden (insbesondere fürsorgerische Unterbringung und administrative Haft). Es wäre daher mit deutlich höheren als den damals veranschlagten Kosten zu rechnen. Die bestehenden Suchdienste schätzen, dass jährlich nicht mehr als zwei Dutzend Anfragen Personen betreffen, die sich in einem Freiheitsentzug befinden.

Mit Blick auf diese geringe Zahl erwarteter Anfragen scheint die Schaffung eines zentralen Registers für alle Arten von Freiheitsentziehungen daher in technischer, finanzieller und praktischer Hinsicht nicht verhältnismässig.

Das Übereinkommen erwähnt ausdrücklich «ein oder mehrere Register und/oder Akten», die geführt werden müssen (Art. 17 Ziff. 3). Daher kann das Schutzziel auch mit einer dezentralen Datenerfassung verwirklicht werden. Vor dem Hintergrund des Gesagten wird daher vorgesehen, ein «Netzwerk» zu errichten. Dieses setzt sich aus Koordinationsstellen der Kantone und einer Koordinationsstelle des Bundes zusammen. Besteht ein Verdacht auf Verschwindenlassen und muss daher der Verbleib einer Person geklärt werden, so kontaktiert die Koordinationsstelle des 485

Bundes die kantonalen Koordinationsstellen und, falls erforderlich, diejenigen Stellen des Bundes, die Freiheitsentzüge vollziehen. Diese prüfen in den kantonalen Registern oder mittels Nachfrage bei den jeweilig zuständigen Behörden, ob sich die gesuchte Person in einer kantonalen Einrichtung befindet. Sie erteilen der Koordinationsstelle des Bundes so rasch als möglich Auskunft darüber, ob sie den Verbleib der Person klären konnten. Gegebenenfalls geben sie auch den Ort des Freiheitsentzugs und die Behörde an, die den Freiheitsentzug angeordnet hat, sowie den Gesundheitszustand der betroffenen Person. Damit wird sichergestellt, dass innerhalb der bestehenden Strukturen in der Schweiz der Informationsfluss effizient und zuverlässig sichergestellt ist.

3.2.3

Erlass eines Umsetzungsgesetzes

Die Errichtung des Netzwerks und, damit verbunden, die Auskunftsrechte der Angehörigen sowie die Einführung eines Rechtsbehelfs bedürfen einer expliziten gesetzlichen Grundlage. Dieses Anliegen lässt sich aber nicht in ein bereits bestehendes Bundesgesetz integrieren. Notwendig ist daher ein separates Umsetzungsgesetz, das der gesetzlichen Verankerung des Netzwerks dient.

3.3

Bewertung der Umsetzungsgesetzgebung

Die Einführung eines eigenständigen Tatbestands des Verschwindenlassens setzt die Forderung nach dem expliziten Unterstrafestellen des Verschwindenlassens für die Schweiz um. Die Vernehmlassungsteilnehmer haben sich mit grosser Mehrheit für die Schaffung eines neuen Tatbestandes ausgesprochen.

Mit dem vorliegenden Umsetzungsgesetz liegt zudem ein schlankes Gesetz vor, das die nötige Grundlage schafft, um ein Netzwerk zwischen Bund und Kantonen zu errichten und die Bearbeitung der Daten zu regeln. Inhaltlich geht der Erlass aber nicht über das hinaus, was die Umsetzung des Übereinkommens nötig macht. Diese Umsetzung des Übereinkommens durch das Errichten eines Netzwerks ist im Vernehmlassungsverfahren auf grosse Zustimmung gestossen.

Aus Sicht des Bundesrats liegt mit der vorgeschlagenen Umsetzungsgesetzgebung eine Lösung vor, welche in pragmatischer Weise sicherstellt, dass das Übereinkommen in einer den Schweizer Gegebenheiten entsprechenden Weise umgesetzt wird.

3.4

Erläuterungen zur Änderung des Strafrechts

Art. 64 Abs. 1bis Einleitungssatz E-StGB Das Verschwindenlassen muss wie die Entführung oder die Freiheitsberaubung in der Liste der Straftaten in Artikel 64 Absatz 1bis StGB erwähnt werden, die mit lebenslänglicher Verwahrung geahndet werden, sofern die übrigen in diesem Artikel erwähnten Bedingungen erfüllt sind.

486

Art. 185bis E-StGB Wie bereits dargelegt (vgl. Ziff. 2.1 und 2.2), bedingt die Umsetzung des Übereinkommens eine neue Bestimmung im Strafgesetzbuch, mit der das Verschwindenlassen unter Strafe gestellt wird.

Die neue Bestimmung, Artikel 185bis E-StGB stellt das Verschwindenlassen explizit unter Strafe. Damit schützt sie grundsätzlich zwei Rechtsgüter: Zum einen soll sie gewährleisten, dass Personen, denen die Freiheit vom Staat entzogen wird, weiterhin unter dem Schutz des Gesetzes stehen und insbesondere über Verfahrensgarantien verfügen. Zum anderen soll sichergestellt werden, dass die Angehörigen einer Person, der die Freiheit entzogen wird, Auskunft über deren Schicksal erhalten (dieses Recht ergibt sich aus der Achtung der Privatsphäre und der Familienbeziehungen).

Damit soll ihnen das seelische Leid und die Verzweiflung erspart werden, die durch das Verschwindenlassen und die damit verbundene Unsicherheit entstehen. Die Angehörigen sind insoweit ebenfalls als Opfer der Straftat des Verschwindenlassens zu betrachten. Dies wird auch bereits in der Botschaft vom 23. April 200848 über die Änderung von Bundesgesetzen zur Umsetzung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs präzisiert. Folglich müssen ihnen die Verfahrensrechte eingeräumt werden, die sich aus diesem Status ergeben.

Aus systematischer Sicht wird die neue Bestimmung in den Vierten Titel des Strafgesetzbuchs integriert. Verschwindenlassen ist im Wesentlichen geprägt durch eine unrechtmässige Freiheitsberaubung, die gepaart ist mit der Verheimlichung des Schicksals der Person, der die Freiheit entzogen wurde. Es teilt also mit der Freiheitsberaubung und der Entführung (Art. 183 StGB) das Merkmal des Freiheitsentzugs. Andere Verstösse unter demselben Titel kombinieren ebenfalls die Einschränkung der Bewegungsfreiheit mit einem anderen Merkmal (Menschenhandel, Geiselnahme). Trotz der Nähe des Verschwindenlassens zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist es nicht sachgerecht, diesen Tatbestand in den Zwölften Titelbis des Strafgesetzbuchs zu integrieren, in dem solche Verbrechen geregelt sind. Dem neuen Tatbestand von Artikel 185bis E-StGB fehlt das Merkmal des allgemeinen oder systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung, er kann daher nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten. Obwohl verschiedentlich im
Vernehmlassungsverfahren angeregt wurde, den neuen Tatbestand im Zwölften Titelbis unterzubringen, hält daher der Bundesrat an der Einordnung im Vierten Titel fest.

Da im Strafgesetzbuch bereits eine Bestimmung zum Verschwindenlassen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit existiert, orientiert sich die Formulierung des neuen Straftatbestands so weit als möglich an deren Struktur: Es wird unterschieden zwischen zwei verschiedenen Tatvarianten, die auf den im Folgenden umschriebenen vier Tatbestandselementen beruhen. Die Tatbestandselemente sind nicht in allen Details deckungsgleich mit der Definition des Verschwindenlassens, wie sie in Artikel 2 des Übereinkommens statuiert wird. Mit Blick auf die Einheitlichkeit des Strafgesetzbuches ist jedoch wichtig, dass die beiden Tatbestände des Verschwindenlassens in Artikel 264a StGB und in Artikel 185bis E-StGB abgesehen vom Erfordernis des systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung nicht voneinander abweichen. Daher wurde an dieser Formulierung so weit als möglich festgehalten.

48

BBl 2008 3864 3925

487

Der Straftatbestand des Verschwindenlassens umfasst grundsätzlich vier Elemente: (a) Eine Person wird ihrer Freiheit beraubt, (b) der Staat hat den Auftrag dazu gegeben oder die Tat gebilligt, (c) jede Information über das Schicksal dieser Person oder ihren Verbleib wird verweigert und (d) die Täter haben die Absicht, die Person dadurch dem Schutz des Gesetzes zu entziehen. Das Verbrechen des Verschwindenlassens wird meist von mehreren Personen gemeinsam begangen. Mit der vorgeschlagenen Bestimmung sollen sowohl diejenigen, die am Freiheitsentzug beteiligt sind, wie auch diejenigen, welche die Auskunft über die betroffene Person verweigern, bestraft werden; die einzelnen Täter müssen Kenntnis vom jeweils anderen Aspekt des Tatbestands haben.

Tatbestandselement Freiheitsentzug: In Analogie zum Wortlaut des Übereinkommens wird der Begriff des Freiheitsentzugs in Artikel 185bis E-StGB allgemein ausgelegt und schliesst die spezifischeren Begriffe des Übereinkommens (Festnahme, Entzug der Freiheit, Entführung) mit ein, die auch im Römer Statut erwähnt werden (Art. 7 Abs. 2 Bst. i).

Tatbestandselement Beteiligung des Staates: Als Menschenrechtsverletzung setzt Verschwindenlassen eine Beteiligung des Staates voraus. Diese Beteiligung kann als Auftrag oder als Billigung erfolgen. Verschiedene Konstellationen sind auseinanderzuhalten: ­

Beteiligung des Staates: Typischerweise handeln öffentliche Angestellte (oder vom Staat beauftragte Private) im Auftrag eines Vorgesetzten oder mit dessen Einverständnis. Der Vorgesetze verkörpert in dieser Konstellation die Beteiligung des Staates. Handeln öffentliche Angestellte auf eigene Initiative und ohne Auftrag, so fallen sie ebenfalls unter die Strafnorm, da sie aufgrund der Befugnisse oder des Handlungsspielraums, die sie dank ihrer Funktion geniessen und die es ihnen erlauben, eine Person verschwinden zu lassen, bis zu einem gewissen Grad den Staatswillen verkörpern. Sie handeln insoweit im Namen des Staates. Der Begriff der Billigung ist weit genug gefasst, um die Aspekte der Ermächtigung und der Duldung mit einzuschliessen. Das Übereinkommen (wie auch das Römer Statut) erwähnt zudem noch die Unterstützung. Diese setzt immer eine Billigung voraus, wenn auch nur eventualvorsätzlich. Auch diese Konstellation ist durch die vorgeschlagene Bestimmung abgedeckt.

­

Beteiligung von politischen Organisationen: Fälle von Verschwindenlassen können auch in einem politischen Umfeld auftreten, in dem die Autorität des Staates geschwächt ist. Damit in diesen Kontexten nicht eine Regelungslücke entsteht, muss ergänzt werden, dass der Auftrag oder die Zustimmung zu einem Verschwindenlassen auch von einer politischen Organisation ausgehen kann. Dabei geht es insbesondere darum, nichtstaatliche Akteure mitzuerfassen, die de facto die Macht ausüben oder ein bestimmtes Gebiet kontrollieren. Dies entspricht der Auslegung des Begriffs der politischen Organisation, die im Römer Statut im Zusammenhang mit einem ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung ausgeführt wird. Artikel 2 des Übereinkommens verlangt streng genommen keine Ausdehnung der Anwendbarkeit auf politische Organisationen. Eine solche Ausdehnung erlaubt jedoch, auch die Erfordernisse aus Artikel 3 des Übereinkommens angemessen zu berücksichtigen. Aus diesem Grund sowie mit dem Ziel, den neuen Tatbestand eng an die entsprechende Bestimmung des Römer Statuts anzulehnen, sollen daher bei der Umsetzung im Schweizer

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Recht auch politische Organisationen als Akteure mit erfasst sein. Die Aktivitäten von rein kriminellen Gruppen fallen hingegen weiterhin unter die bereits geltenden Bestimmungen des StGB.

Tatbestandselement Auskunftsverweigerung: Der Aspekt der Auskunftsverweigerung bildet das typischste Merkmal des Verschwindenlassens: die Weigerung, jedwelche Angaben über das Schicksal der verschwundenen Person oder deren Verbleib zu machen. Die daraus resultierende Unsicherheit kann schwerwiegende Auswirkungen auf die Angehörigen haben (und im Falle einer systematischen Praxis in der Bevölkerung ein allgemeines Klima der Angst nähren). Zudem wird die Person durch das Fehlen jeglicher Information dem Schutz des Gesetzes entzogen, insbesondere weil weder die Angehörigen noch das Rechtssystem feststellen können, ob und unter welchen Umständen der Freiheitsentzug stattgefunden hat.

Schliesslich führt das Verschwindenlassen zu einer stillen Verschwörung, welche die Strafbarkeit erschwert: Da jede Spur der verschwundenen Person verwischt wird, kann danach in einem Strafverfahren ihr Schicksal nicht mehr festgestellt werden.

Die Auskunftsverweigerung bildet deshalb sowohl eine erhebliche Beeinträchtigung des Rechts der Angehörigen, über das Schicksal der Opfer informiert zu werden, als auch des Rechtsschutzes, auf den jede Person Anspruch hat. Folgenden Punkten ist besondere Aufmerksamkeit zu schenken: ­

Inhalt der Auskunft («Verbleib» und «Schicksal»): Der Begriff des Schicksals umfasst nicht nur den Tod der verschwundenen Person, sondern auch alle wesentlichen Ereignisse, die ihr zustossen, insbesondere ihre Verhaftung und deren Umstände. Die Weigerung, Auskunft über das Schicksal einer Person zu geben, umfasst also auch die im Übereinkommen ausdrücklich erwähnte «Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen».

­

Qualifizierung der Auskunftsverweigerung: Eine Auskunftsverweigerung muss qualifiziert sein, damit der Kreis der potenziellen Täter besser definiert werden kann. Die Strafbarkeit der Verweigerung ergibt sich einerseits aus dem Verstoss gegen eine gesetzliche Verpflichtung, also der Beeinträchtigung des öffentlichen oder privaten Interesses, das vom Gesetz geschützt wird. Dieser Weg wurde auch bei der Umsetzung des Römer Statuts im deutschen Recht gewählt.49 Andererseits ist eine Weigerung auch tatbestandmässig, wenn sie im Auftrag des Staates geschieht und damit eine Verbindung zwischen dem Täter und der Staatsmacht besteht. Der Täter ist also an einer kriminellen Handlung beteiligt, die eben gerade durch den Missbrauch dieser Macht gekennzeichnet ist.

Tatbestandselement Entzug des Schutzes des Gesetzes: Der Freiheitsentzug, gefolgt von der Verweigerung von Angaben über das Schicksal oder den Verbleib der Person, hat zur Folge, dass diese Person dem Schutz des Gesetzes entzogen wird.

Der Entzug des Schutzes des Gesetzes muss vom Täter beabsichtigt sein, unabhängig davon ob er am Akt des Freiheitsentzugs selbst oder an der Verweigerung von Informationen über das Schicksal der Person oder deren Verbleib beteiligt ist.

Dabei müssen zwei Konstellationen unterschieden werden, je nachdem, ob der Freiheitsentzug von Anfang an die gesetzlichen Grundlagen respektiert oder nicht.

In der ersten Konstellation ist eine Person dem Schutz des Gesetzes entzogen, wenn ein Freiheitsentzug, der ursprünglich den gesetzlichen Anforderungen genügte, nicht 49

Vgl. §7 Abs. 1, Ziff. 7, Völkerstrafgesetzbuch (Deutschland).

489

mehr rechtmässig ist, weil er über die in nationalen oder internationalen Normen vorgesehene Dauer hinaus andauert (in diesem Sinne spricht der französische Gesetzestext von «période prolongée»). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Haft dem Gericht absichtlich nicht innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Frist mitgeteilt wird. Der Begriff der «längeren Zeit» darf daher nicht als objektives Kriterium einer längerdauernden Zeitspanne verstanden werden, sondern als eine Dauer, welche die im anwendbaren Gesetz vorgesehene Dauer des betreffenden Freiheitsentzugs überschreitet. Hingegen ist das Tatbestandselement nicht gegeben, wenn der Freiheitsentzug dem gesetzlichen Ablauf der Verfahrensstufen (vgl. u.a. die Art. 215, 219, 224 und 225 StPO) folgt, auch wenn er zu Beginn während kurzer Zeit noch nicht von einem Richter genehmigt worden ist. In der zweiten Konstellation, wenn der Freiheitsentzug von Anfang an unrechtmässig ist, gilt der Entzug des Schutzes des Gesetzes als von Anfang an gegeben.

Bestrafung: Die im neuen Artikel 185bis StGB vorgeschlagene Strafe von ein bis zwanzig Jahren entspricht der Strafandrohung für Geiselnahme (Art. 185 StGB) oder für Freiheitsberaubung und Entführung unter erschwerenden Umständen (Art. 184 StGB). Die Mindeststrafe von einem Jahr entspricht zudem der Strafe bei weniger schweren Fällen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 264a Abs. 3 StGB).

Der Straftatbestand des Verschwindenlassens ist an sich schon sehr schwer: Das Verschwindenlassen dient der Absicht, die Existenz einer Person zu verneinen, und hat weitgehende Auswirkungen, da der Person dadurch de facto jede rechtsstaatliche Garantie entzogen wird. Diese Absicht sowie die Verweigerung jeglicher Auskunft über das Schicksal der betroffenen Person sind die charakteristischen Merkmale des Verschwindenlassens, die es von der Freiheitsberaubung und der Entführung unterscheiden (Art. 183 StGB). Das Verschwindenlassen bildet somit eine schwerere Tatbestandsform.

Die Einführung einer milderen Form des Verschwindenlassens ist nicht erforderlich.

Die Regeln des allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs (insb. Art. 48 Bst. a Ziff. 4 und Bst. d StGB) reichen in diesem Kontext aus. Das Parlament hat aus dem gleichen Grund auf eine Milderungsklausel zur Straftatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit
(Art. 264a Abs. 1 Bst. e StGB) verzichtet. Auch ein qualifizierter Tatbestand muss nicht eingeführt werden: Mit Artikel 264a Absatz 1 Buchstabe e StGB besteht bereits ein qualifizierter Tatbestand, wenn das Verschwindenlassen im Rahmen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit begangen wird.

Universalitätsprinzip: Wie schon erörtert, entsprechen die allgemeinen Zuständigkeitsregeln im Bereich der Strafgerichtsbarkeit den Anforderungen des Übereinkommens nicht in allen Teilen. Der Grundsatz der doppelten Strafbarkeit bildet hier eine Einschränkung. Obwohl dieser einen wichtigen Aspekt des Legalitätsprinzips darstellt, ist die Beibehaltung dieser Einschränkung bei Fällen des Verschwindenlassens nicht gerechtfertigt, da es sich hier um sehr schwerwiegende Tatbestände handelt, die in verschiedenen Regionen der Welt regelmässig verübt werden. Wie bei einigen anderen Straftatbeständen wie Geiselnahme (Art. 185 StGB) und Verstümmelung weiblicher Genitalien (Art. 124 StGB) sieht der Gesetzesentwurf in Artikel 185bis Absatz 2 E-StGB eine besondere Klausel vor, welche das Erfordernis der doppelten Strafbarkeit bei der Verfolgung von im Ausland begangenen Verstössen ausschliesst. Die Schweiz wird so aufgrund des Universalitätsprinzips zuständig für die Verfolgung von im Ausland begangenen Verstössen, wenn sich der Täter in der Schweiz befindet und nicht ausgeliefert wird. Die neue Bestimmung präzisiert, 490

dass der Grundsatz «ne bis in idem» und das Anrechnungsprinzip zur Anwendung kommen (Art. 7 Abs. 4 und 5 StGB).

Zuständigkeit zur Ausübung der Gerichtsbarkeit: Der neue Straftatbestand fällt gemäss den allgemeinen verfassungsrechtlichen Regeln für die Strafverfolgung in der Schweiz unter die Gerichtsbarkeit der Kantone (Art. 123 Abs. 2 BV). In der Vernehmlassung wurde vereinzelt vorgeschlagen, die Bundesanwaltschaft für zuständig zu erklären, unter anderem mit Verweis auf die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wie bereits ausgeführt, wird das Verschwindenlassen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit weiterhin unter Artikel 264a StGB strafbar bleiben. Mit Artikel 185bis E-StGB wird nun die Grundlage geschaffen, um auch Fälle von Verschwindenlassen, die sich nicht im Rahmen eines systematischen Angriffs ereignen, zu bestrafen. Aus der Sicht des Bundesrates ist es sachgerecht, diese Fälle der Kompetenz der Kantone zu unterstellen. Bei Vorwürfen gegen innerstaatliche Behörden scheint es aufgrund der bundesstaatlichen Kompetenzregelung am einfachsten, wenn der betreffende Kanton die Untersuchungen vornehmen kann. Sollte es sich um ein Missverständnis handeln, so könnte dies zudem vom betroffenen Kanton leicht aufgeklärt werden. Auch wenn es um einzelne Taten im Ausland gehen sollte, verfügen die Kantone über die entsprechende Erfahrung in der Verfolgung von Auslandtaten. Bereits heute sind sie in gewissen Fällen zuständig für die Verfolgung von Delikten, welche im Ausland begangen werden, so beispielsweise bei einer Tötung einer Schweizerin oder eines Schweizers im Ausland. Bei der Umsetzung des Folterübereinkommens wurde daher der gleiche Ansatz gewählt und die Kompetenz bei den Kantonen belassen.

Art. 260bis Abs. 1 Bst. fbis E-StGB Aufgrund der Art und Schwere der Straftat ähnelt das Verschwindenlassen einer Geiselnahme (Art. 185 StGB). Deshalb soll es in den Katalog der Straftaten aufgenommen werden, die Gegenstand von strafbaren Vorbereitungshandlungen gemäss Artikel 260bis Absatz 1 StGB sein können. Dort finden sich auch die Straftatbestände der Freiheitsberaubung oder der Entführung, zu denen das Verschwindenlassen einen qualifizierten Tatbestand bildet.

Zudem sind Fälle von Verschwindenlassen typischerweise geplant und setzen voraus, dass die
Täter gemeinsam handeln. Mit der Pönalisierung von strafbaren Vorbereitungshandlungen können zum Beispiel Vorbereitungshandlungen zur Entführung oder Inhaftierung von verschwundenen Personen abgedeckt werden (z.B. Einrichtung von geheimen Haftzentren). Dazu gehören auch organisatorische Massnahmen zur Verschleierung der Tatsache, dass der verschwundenen Person die Freiheit entzogen wurde.

Art. 269 Abs. 2 Bst. a und 286 Abs. 2 Bst. a E-StPO Artikel 185bis E-StGB muss wie Artikel 185 StGB (Geiselnahme) in der Liste der Straftaten erwähnt werden, bei denen eine Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Art. 269 Abs. 2 StPO) oder eine verdeckte Ermittlung (Art. 286 Abs. 2 StPO) angeordnet werden kann.

491

Art. 151d und 171 Abs. 1 Bst. ibis E-MStG Es ist vorgesehen, analog zum Strafgesetzbuch eine neue Bestimmung gegen das Verschwindenlassen in das Militärstrafgesetz vom 13. Juni 1927 (MStG) aufzunehmen (Art. 151d). Zudem wird nach dem Muster von Artikel 260bis Absatz 1 StGB der Katalog der Straftaten, die Gegenstand von strafbaren Vorbereitungshandlungen sein können (Art. 171b Abs. 1 MStG), durch einen Verweis auf die Bestimmung gegen das Verschwindenlassen, d.h. Artikel 151d MStG, ergänzt. Für diese Änderungen wird auf die vorausgehenden Erläuterungen zum Strafgesetzbuch verwiesen.

Abs. 70 Abs. 2 E-MStP Analog zur Strafprozessordnung muss im Militärstrafprozess (MStP) auch der neue Artikel 151d MStG in der Liste der Straftaten erwähnt werden, bei denen eine Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Art. 70 Abs. 2 MStP) angeordnet werden kann. Für die verdeckte Ermittlung, die in 73a MStP geregelt ist, ist hingegen keine Anpassung erforderlich, da dieser Artikel auf den erwähnten Artikel 70 MStP verweist.

3.5

Art. 1

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Umsetzungsgesetzes (BG zum Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen) Gegenstand

Das vorgeschlagene Bundesgesetz zum Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen dient der Umsetzung des Übereinkommens. Dies wird in Artikel 1 explizit festgehalten.

Art. 2

Definition

Mit der Umschreibung, wer im Sinne dieses Gesetzes als «verschwunden» gilt, wird der Geltungsbereich des Gesetzes bestimmt. Die Umschreibung grenzt den Begriff des Verschwindenlassens vom umgangssprachlichen Begriff ab und legt vier Wesensmerkmale fest, die kumulativ gegeben sein müssen: ­

Erstens muss der Person die Freiheit entzogen werden. Mit dieser Formulierung sind grundsätzlich alle Formen der Freiheitsentzüge gemeint, das heisst insbesondere Freiheitsentzüge im Zusammenhang mit Straf- und Massnahmenvollzug, strafprozessualen Massnahmen, Kindes- oder Erwachsenenschutz, Administrativverfahren und militärrechtlichen Verfahren. Aus dem Schutzziel des Übereinkommens ergibt sich, dass es sich dabei um Formen des geschlossenen Freiheitsentzugs handeln muss.

­

Zweitens präzisiert die Bestimmung, dass der Freiheitsentzug auf das Handeln des Staates, d.h. einer Schweizer Behörde, zurückgehen muss.

­

Drittens bildet die Verweigerung über das Schicksal oder den Verbleib der Person Auskunft zu geben, ein weiteres konstitutives Element.

­

Viertens wird die Person dem Schutz des Gesetzes entzogen.

492

Da es im vorliegenden Artikel nicht um eine Strafbarkeitsvoraussetzung geht, unterscheidet sich die Umschreibung von Artikel 2 des Umsetzungsgesetzes in zwei Punkten vom Tatbestand, wie ihn Artikel 185bis E-StGB vorsieht: Zum einen sind vom Geltungsbereich des vorliegenden Gesetzes nur Freiheitsentzüge erfasst, welche auf das Verhalten einer Schweizer Behörde zurückgehen. Zum anderen stellt die vorliegende Bestimmung nicht auf die Absicht der Behörde ab, eine Person für längere Zeit dem Schutz des Gesetzes zu entziehen.

Art. 3

Aktenführungs- und Auskunftspflicht

Artikel 3 des Umsetzungsgesetzes statuiert die Pflicht, die in Artikel 17 Absatz 3 des Übereinkommens genannten Daten in amtlichen Akten zu erfassen. Es handelt sich dabei um die folgenden Daten: ­

die Identität der Person, der die Freiheit entzogen ist;

­

der Tag, die Uhrzeit und der Ort, an dem der Person die Freiheit entzogen wurde, und die Behörde, die der Person die Freiheit entzogen hat;

­

die Behörde, welche die Freiheitsentzug angeordnet hat, und die Gründe für den Freiheitsentzug;

­

die Behörde, die für die Überwachung des Freiheitsentzugs zuständig ist;

­

der Ort des Freiheitsentzugs, der Tag und die Uhrzeit der Aufnahme an diesem Ort und die für diesen Ort zuständige Behörde;

­

Angaben zum Gesundheitszustand der Person, der die Freiheit entzogen ist;

­

im Fall des Todes während des Freiheitsentzugs die Umstände und die Ursache des Todes und der Verbleib der sterblichen Überreste;

­

der Tag und die Uhrzeit der Freilassung oder Verlegung an einen anderen Ort des Freiheitsentzugs, der Bestimmungsort und die für die Verlegung zuständige Behörde.

Das Erfassen dieser Daten ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Respektierung der Informationsrechte der Angehörigen. Der Hinweis auf Artikel 17 Absatz 3 des Übereinkommens dient der Transparenz, damit die betroffenen Behörden des Bundes und der Kantone die entsprechenden Vorkehrungen treffen können. Für den Begriff des Freiheitsentzugs gilt das zu Artikel 2 des Umsetzungsgesetzes Ausgeführte. Gleichzeitig hält Artikel 3 des Umsetzungsgesetzes fest, dass die betreffenden Behörden verpflichtet sind, die Daten auf Anfrage der jeweilis zuständigen Koordinationsstelle übermitteln.

Art. 4

Netzwerk

Artikel 4 des Umsetzungsgesetzes statuiert die Errichtung des Netzwerks und hält Bund und Kantone an, je eine Koordinationsstelle zu benennen. Auf Seite des Bundes scheint es mit Blick auf Synergieeffekte sinnvoll, den Suchdienst «Nachforschungen nach vermissten Personen» im Bundesamt für Polizei mit dieser Aufgabe zu betrauen. Wie bereits erwähnt, behandelt diese Stelle bereits heute Anfragen nach vermissten Personen. Sie verfügt daher über Erfahrung im Bereich der Personensuche und ist gut vernetzt mit anderen Suchdiensten. Aus Gründen der Organisationsflexibilität soll die Koordinationsstelle des Bundes jedoch nicht im Gesetz genannt, sondern durch den Bundesrat eingesetzt werden. Das Gesetz hält ebenfalls keine 493

Einzelheiten fest, was die Koordinationsstellen auf Kantonsebene betrifft. Deren konkrete Ausgestaltung und administrative Eingliederung liegt in der Kompetenz der Kantone. Mit Blick auf das Netzwerk muss sichergestellt sein, dass die kantonale Koordinationsstelle in der Lage ist, die in Artikel 5 Absatz 4 des Umsetzungsgesetzes geforderten Informationen innert kurzer Zeit an die Koordinationsstelle des Bundes zu übermitteln.

Für die Funktionsweise des Netzwerks überträgt das Gesetz in Absatz 3 dem Bundesrat die Kompetenz, die weiteren Details zu regeln. Dies betrifft insbesondere die Modalitäten der Zusammenarbeit mit den Kantonen sowie die Fristen und die Kommunikationsmittel. Daraus werden sich auch die Pflichten der kantonalen Koordinationsstellen in detaillierterer Weise ergeben. Da die Suche nach einer verschwundenen Person rasch erfolgen muss, wird der Bundesrat möglichst kurze Fristen festzulegen haben. Das Gesetz hält weiter fest, dass die Abläufe unter Einbezug der Kantone definiert werden sollen, womit einem im Vernehmlassungsverfahren mehrfach geäusserten Anliegen Rechnung getragen wird.

Art. 5

Informationsgesuch

Artikel 5 des Umsetzungsgesetzes bildet die gesetzliche Grundlage für die Einreichung eines Informationsgesuchs. Voraussetzung für die Suche im Netzwerk ist gemäss Absatz 1 ein Informationsgesuch von Personen, die eine nahestehende Person vermissen und ein Verschwindenlassen befürchten. Der Begriff der nahestehenden Personen ist im Sinne des Übereinkommens weit auszulegen. Neben den Angehörigen gehören weitere Personen dazu, die aufgrund ihrer Beziehungsnähe zur inhaftierten Person ein legitimes Interesse an Informationen haben, so etwa Rechtsvertreter. Das Gesuch kann auch von Angehörigen mit Wohnsitz im Ausland ausgehen. Gemäss Absatz 2 ist eine Begründung des Gesuchs erforderlich. Damit soll die Koordinationsstelle des Bundes ausschliessen können, dass es sich um eine missbräuchliche Anfrage handelt.

Art. 6

Suche im Netzwerk

Absatz 1 hält fest, dass die Anfrage im Netzwerk initiiert wird, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich die gesuchte Person in einem Freiheitsentzug befindet. Die Koordinationsstelle des Bundes teilt zu diesem Zweck den kantonalen Koordinationsstellen Name, Geburtsdatum und Nationalität der gesuchten Person mit. Falls es aufgrund der Umstände der betreffenden Anfrage nötig erscheint, kontaktiert die Koordinationsstelle des Bundes ebenfalls die für Freiheitsentziehungen zuständigen Behörden des Bundes.

Absatz 2 bestimmt, dass die kantonalen Koordinationsstellen oder gegebenenfalls die zuständigen Bundesbehörden der Koordinationsstelle des Bundes unverzüglich mitteilen, ob sich die gesuchte Person in einem Freiheitsentzug befindet oder nicht.

Befindet sich die Person in einem Freiheitsentzug, so informiert die kantonale Koordinationsstelle, oder gegebenenfalls die zuständige Bundesbehörde, die Koordinationsstelle des Bundes zudem über den Aufenthaltsort, die Behörde, die den Freiheitsentzug angeordnet hat und den Gesundheitszustand der gesuchten Person (Abs. 3).

Mit dieser erweiterten Informationspflicht wird einem im Vernehmlassungsverfahren mehrfach geäusserten Anliegen Rechnung getragen. Wie bereits erwähnt, erhält der Bundesrat die Kompetenz, unter Einbezug der Kantone, die Fristen zu regeln.

494

Aus dem Schutzzweck des Übereinkommens ergibt sich, dass sich die Suche auf Institutionen des geschlossenen Freiheitsentzugs beschränkt.

Absatz 4 präzisiert zudem, dass die Koordinationsstelle des Bundes unverzüglich über die Auslösung einer Suche entscheidet und die Gesuchstellenden entsprechend informiert. Hierdurch wird dem Interesse der Angehörigen, rasch Gewissheit zu erlangen, Rechnung getragen. Die Gesuchstellerin oder der Gesuchsteller kann zudem fordern, dass die Koordinationsstelle des Bundes ihren Entscheid, keine Suche einzuleiten, in Form einer Verfügung eröffnet. Davon erfasst ist auch die Konstellation, in der die Koordinationsstelle untätig bleibt und damit keinen Entscheid über die Suche trifft. Die Verfügung muss begründet sein und bildet ein Anfechtungsobjekt im Sinne der Bundesrechtspflege.

Art. 7

Erteilung von Informationen

Artikel 7 des Umsetzungsgesetzes bildet den eigentlichen Kern der Umsetzung der Informationsrechte der Angehörigen und der nahestehenden Personen. Dabei orientiert sich die Regelung an den Wertungen des geltenden Rechts, das die Persönlichkeitsrechte von Personen im Freiheitsentzug achtet und insbesondere eine Verweigerung der Informationserteilung schützt.

Das Umsetzungsgesetz sieht daher vor, dass die gesuchte Person durch die Koordinationsstelle des Bundes über die Suche informiert wird. Die Koordinationsstelle des Bundes klärt zudem ab, ob die betroffene Person in die Erteilung von Informationen an die gesuchstellende Person einwilligt. Ist dies der Fall, so wird der Gesuchsteller entsprechend informiert. Fehlt die Einwilligung oder liegen Ausschlussgründe gemäss Artikel 214 Absatz 2 StPO vor (vgl. sogleich unten), so schafft das Gesetz die Grundlage dafür, dass den Gesuchstellern mitgeteilt werden kann, dass die gesuchte Person nicht im Sinne des Übereinkommens verschwunden ist.

Diese Regelung geht insofern über das geltende Recht hinaus, als damit unter Umständen ein Rückschluss darüber gezogen werden kann, ob die Person einer Freiheitsentziehung unterworfen ist. Doch bildet die Regelung gleichzeitig das Minimum, um dem Anliegen des Übereinkommens Rechnung zu tragen, wonach besorgte Angehörige nicht im Ungewissen über das Schicksal der ihnen nahestehenden Personen gelassen werden dürfen.

Im Vernehmlassungsverfahren rief diese Regelung unterschiedliche Reaktionen hervor. Einige Vernehmlassungsteilnehmer äusserten Besorgnis betreffend den Persönlichkeitsschutz und forderten, dass die Antwort auf ein Informationsgesuch ­ mit Ausnahme eines positiven Bescheids ­ immer gleich lauten müsse, nämlich dass die Person nicht im Sinn des Übereinkommens verschwunden sei und keine weiteren Informationen erteilt werden könnten. Andere Vernehmlassungsteilnehmer begrüssten, dass die Einwilligung der betroffenen Person vorbehalten bleibt und betrachteten die gesetzliche Grundlage als genügend.

Der Bundesrat erachtet die in Artikel 7 des Umsetzungsgesetzes getroffene Regelung als sachgerecht. Zum einen wird mit der nuancierten Antwort dem im Übereinkommen geforderten Anspruch der nahestehenden Personen, Informationen über das Schicksal der Person zu erhalten, unter weitestgehender Achtung des Persönlichkeitsschutzes
angemessen Rechnung getragen. Zum andern wird mit dem Umsetzungsgesetz eine gesetzliche Grundlage für die Erteilung dieser Informationen geschaffen, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt. Schliesslich liegt 495

es auch im Interesse des Staates, bei einem Verdacht auf ein Verschwindenlassen, der wegen der fehlenden Einwilligung des Betroffenen nicht widerlegt werden kann, den Angehörigen trotzdem eine gewisse Sicherheit zu geben, um so weiteren Verfahren vorzubeugen.

Artikel 7 Absatz 3 des Umsetzungsgesetzes sieht zudem im Einklang mit Artikel 20 Absatz 1 des Übereinkommens vor, dass die Erteilung von Informationen gemäss Artikel 214 Abs. 2 StPO verweigert werden kann, wenn der Untersuchungszweck in einem Strafverfahren dies verbietet. Diese Regelung bildet eine Ausnahme vom Grundsatz, dass die Angehörigen unverzüglich über einen Freiheitsentzug informiert werden müssen. Der Entscheid liegt bei der zuständigen kantonalen Strafverfolgungsbehörde und ist für die Koordinationsstelle des Bundes bindend.

Weiter bestimmt Artikel 7 Absatz 3, dass die Koordinationsstelle die entsprechenden Informationen in Form einer Verfügung eröffnet.

Art. 8

Rechtsschutz

Laut Artikel 8 des Umsetzungsgesetzes richtet sich der Rechtsschutz nach den allgemeinen Bestimmungen über die Bundesrechtspflege. Verfügungen der Koordinationsstelle des Bundes können deshalb mit Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht angefochten werden. Die Anforderung des Übereinkommens ­ Gewährleistung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf ­ ist also erfüllt.

Das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht ist im Verwaltungsverfahrensgesetz vom 20. Dezember 196850 (VwVG) geregelt (vgl. Art. 37 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 200551, VGG). Grundsätzlich haben die Parteien das Recht auf Einsichtnahme in die Akten. Allerdings findet unter gewissen Umständen Artikel 27 VwVG Anwendung, der es der Behörde erlaubt, die Einsichtnahme zu verweigern, wenn wesentliche private Interessen die Geheimhaltung erfordern.

Damit wird verhindert, dass Angehörige aufgrund ihres Rechts auf Einsichtnahme erfahren, wo und weshalb die betroffene Person festgehalten wird, obwohl diese keine Informationserteilung wünschte.52 Gegen Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts kann Beschwerde beim Bundesgericht eingelegt werden (vgl. Art. 86 Abs. 1 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 200553, BGG). Auch in diesem Fall ermächtigt das Gesetz das Gericht, von einem Beweismittel unter Ausschluss der Parteien Kenntnis zu nehmen, wenn es zur Wahrung überwiegender öffentlicher oder privater Interessen notwendig ist (Art. 56 Abs. 2 BGG).

Art. 9

Datenschutz

Artikel 9 des Umsetzungsgesetzes umreisst die Voraussetzungen, unter denen die Koordinationsstelle des Bundes Personendaten bearbeiten darf. Die Bearbeitung dieser Daten ist zulässig, sofern ein Zusammenhang mit der Person im Freiheitsentzug besteht und dies für die Erfüllung der Aufgaben der Koordinationsstelle erforderlich ist. Absatz 2 verweist auf Artikel 18 des Übereinkommens, der bereits einen 50 51 52 53

496

SR 172.021 SR 173.32 Vgl. BGE 125 I 257.

SR 173.110

ausformulierten Datenkatalog enthält. Artikel 9 des Umsetzungsgesetzesbildet zudem die gesetzliche Grundlage für das Führen einer Datensammlung im Sinne von Artikel 3 Buchstabe g DSG. Auf der Grundlage dieser Datenbank leitet die Koordinationsstelle des Bundes die Anfragen an die kantonalen Koordinationsstellen und, falls nötig, an die für Freiheitsentziehungen zuständigen Behörden des Bundes weiter. Diese beschränken sich ihrerseits darauf, die Koordinationsstelle des Bundes zu informieren, ob sie die gesuchte Person gefunden haben, und auf die in Artikel 6 Absatz 2 des Umsetzungsgesetzes erwähnten Angaben. Wurde die Person gefunden, so erhalten die anderen kantonalen Koordinationsstellen den Bescheid, dass die Suche beendet ist. Die Weiterleitung von Personendaten wird damit auf ein Minimum reduziert.

Der Bundesrat wird ermächtigt, die weiteren Einzelheiten zu regeln, insbesondere die Daten zu definieren, die ­ zusätzlich zu den in Artikel 18 des Übereinkommens vorgesehenen Daten ­ bearbeitet werden dürfen, um nach den vermissten Personen zu suchen. Im Weiteren wird der Bundesrat beauftragt, die Dauer der Datenaufbewahrung zu bestimmen und die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, um insbesondere den unbefugten Zugang zur Datenbank zu verhindern.

4

Erklärung über die Zuständigkeit des Ausschusses

Für die Schweiz stellt sich die Frage, ob sie mit der Ratifizierung auch eine Erklärung über die Zuständigkeit des Ausschusses nach den Artikeln 31 und 32 des Übereinkommens abgeben will. Bisher haben 16 Länder die Zuständigkeit des Ausschusses für das fakultative Mitteilungsverfahren anerkannt und 17 Länder die Zuständigkeit für Staatenverfahren.54 Neben einigen lateinamerikanischen Staaten und Mali gehören zu diesen Staaten auch Deutschland, Frankreich, Österreich, Spanien, Belgien und die Niederlande. Da das Übereinkommen erst kürzlich in Kraft getreten ist, hat der Ausschuss bisher noch keine Verfahren abgeschlossen.

Der Bundesrat erachtet es als wichtig, dass wirksame Kontrollinstrumente als unablässiges Mittel zur Förderung der Durchsetzung der Menschenrechte eingerichtet werden. Die Schweiz hat daher in den letzten Jahrzehnten die fakultativen Mitteilungsverfahren von drei Kernübereinkommen der UNO anerkannt, diejenigen des Ausschusses gegen Folter (CAT), des Ausschusses für die Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD) und des Ausschusses für die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW). Zurückhaltender ist die Schweiz hingegen mit Blick auf die Ratifizierung von Instrumenten, welche die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte betreffen. Die Schweiz vertritt in diesen Bereichen die Haltung, dass diese Rechte vornehmlich programmatischer Natur sind und keine einklagbaren Ansprüche begründen.

Das fakultative Mitteilungsverfahren vor dem Ausschuss über das Verschwindenlassen CED betrifft hingegen nicht den Themenkomplex der Justiziabilität von Sozialrechten, der diese Zurückhaltung nahelegen würde. Das Verfahren gleicht vielmehr dem Mechanismus des CAT, der von der Schweiz bereits ratifiziert wurde. Eine Überschneidung mit anderen internationalen Untersuchungs- oder Streitregelungsverfahren der gleichen Art, zum Beispiel mit dem CAT, ist im Übrigen ausgeschlossen: Nach Artikel 31 Absatz 2 Buchstabe c des Übereinkommens erklärt der Aus54

Stand Oktober 2013.

497

schuss eine Mitteilung für unzulässig, wenn dieselbe Sache bereits in einem anderen internationalen Untersuchungs- oder Streitbeilegungsverfahren der gleichen Art geprüft wird (sog. Kumulationsverbot). Auch wenn die Relevanz des vorliegenden Verfahrens und dessen Durchsetzungskraft für die Schweiz insgesamt eher gering erscheinen mögen, trägt dessen Annahme durch eine grösstmögliche Anzahl von Staaten ­ einschliesslich der Schweiz ­ weltweit zu einem besseren Schutz der Menschenrechte bei. Auf internationaler Ebene würde die Schweiz mit der Anerkennung des Staatenbeschwerdeverfahrens über eine rechtliche Grundlage verfügen, um bei Vertragsstaaten, die das Übereinkommen missachten, konkret zu intervenieren. Im Vernehmlassungsverfahren hat sich lediglich ein Vernehmlassungsteilnehmer explizit gegen die Anerkennung geäussert.

Aus diesen Gründen schlägt der Bundesrat vor, mit der Ratifikation des Übereinkommens die entsprechende Erklärung abzugeben, dass die Schweiz die Zuständigkeit des Ausschusses für das fakultative Mitteilungs- und das fakultative Staatenbeschwerdeverfahren anerkennt. Die Vertretung der Schweiz vor dem Ausschuss ist, analog der Vertretung vor anderen internationalen Spruchkörpern im Bereich des Menschenrechtsschutzes, dem Bundesamt für Justiz zu übertragen.55

5

Auswirkungen des Übereinkommens und der Umsetzungserlasse

Das Übereinkommen hat weder für den Bund noch für die Kantone unmittelbare finanzielle Auswirkungen. Die Kosten des Ausschusses über das Verschwindenlassen werden vom allgemeinen Budget der Vereinten Nationen getragen.

Da das vorliegende Umsetzungskonzept keine Einrichtung eines zentralen Registers erfordert, fallen keine nennenswerten Infrastrukturkosten an. Die Umsetzung bedingt jedoch mit Blick auf die Erstellung des «Netzwerks» einen gewissen administrativen Mehraufwand. Auf Stufe Bund ist die Beauftragung des Suchdienstes «Nachforschungen nach vermissten Personen» im Bundesamt für Polizei als Koordinationsstelle des Bundes für den Aufbau des Netzwerks und dessen Betreiben sowie für die eigentliche Betreuung der Anfragen mit geringem zusätzlichem personellem Bedarf verbunden. Zu rechnen ist mit einer 50-Prozent-Stelle. Auf Ebene der Kantone müssen mit Blick auf die Schaffung der kantonalen Koordinationsstellen ebenfalls gewisse administrative Vorkehrungen getroffen werden. Allerdings ist aufgrund der kleinen zu erwartenden Zahl von Anfragen davon auszugehen, dass die Kantone nicht mit einem grossen Mehraufwand rechnen müssen. Zudem werden in einzelnen Kantonen gewisse Anpassungen erforderlich sein, um sicherzustellen, dass die in Artikel 17 Absatz 3 genannten Daten in jedem Fall erfasst werden. Bund und Kantone werden festzulegen haben, in welcher Form sie die Vertraulichkeit beim Austausch von Personendaten betreffend inhaftierte Personen sicherstellen werden. Das Umsetzungsgesetz sieht hier vor, dass der Bund die Einzelheiten zusammen mit den Kantonen regeln wird.

55

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Vgl. Art. 7 Abs. 9 der Organisationsverordnung vom 17. November 1999 für das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement, SR 172.213.1.

6

Verhältnis zur Legislaturplanung und zu nationalen Strategien des Bundesrats

Die Vorlage war bereits in der Botschaft vom 23. Januar 200856 zur Legislaturplanung 2007­2011 und im Bundesbeschluss vom 18. September 200857 über die Legislaturplanung 2007­2011 angekündigt. Das Vernehmlassungsverfahren konnte jedoch erst vom 21. Dezember 2012 bis zum 8. April 2013 durchgeführt werden.

Daher ist die Vorlage nochmals in der Botschaft vom 25. Januar 201258 zur Legislaturplanung 2011­2015 und im Bundesbeschluss vom 15. Juni 201259 über die Legislaturplanung 2011­2015 angekündigt.

7

Rechtliche Aspekte

7.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 200260; Art. 7a Abs. 1 des Regierungsund Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 199761). Schliesst der Bund einen völkerrechtlichen Vertrag ab, so ist dieser für den Bund rechtlich bindend mit der Folge, dass sich der Bund für allfällige Verletzungen von Vertragsbestimmungen völkerrechtlich verantworten muss. Innerstaatlich erstreckt sich die Verbindlichkeit von völkerrechtlichen Verträgen gleichermassen auf den Bund und die Kantone.

Der Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf die innerstaatliche Kompetenzordnung: Für den Vollzug der vertraglichen Bestimmungen bleiben Bund und Kantone gemäss der verfassungsrechtlichen Aufgabenteilung zuständig. Dem Bund obliegt jedoch nach Artikel 49 Absatz 2 BV die Pflicht, über die Einhaltung und Umsetzung durch die Kantone zu wachen.

Mit der Ratifikation des Übereinkommens verpflichtet sich die Schweiz, das Verschwindenlassen unter Strafe zu stellen und weitere Massnahmen zur Prävention zu treffen. Die Kompetenzordnung zwischen Bund und Kantonen bleibt unberührt.

Der Bund verfügt über die Kompetenzen, um die notwendigen Gesetzesbestimmungen zu erlassen: Gemäss Artikel 123 Absatz 1 BV ist der Bund zuständig für die Gesetzgebung in Strafsachen, gemäss Artikel 122 Absatz 1 BV für die Gesetzgebung in Zivilsachen und gemäss Artikel 121 Absatz 1 BV für die Gesetzgebung im Ausländerbereich.

56 57 58 59 60 61

BBl 2008 753, hier 807 und 826 BBl 2008 8544, hier 8549 BBl 2012 481, hier 497, 556 und 611 BBl 2012 7155, hier 7159 SR 171.10 SR 172.010

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7.2

Erlassform

Das Übereinkommen ist nicht kündbar und bedingt Gesetzesänderungen. Der Ratifikationsbeschluss unterliegt daher dem fakultativen Referendum gemäss Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 1.

Nach Artikel 141a BV können die Verfassungs- oder Gesetzesänderungen, die der Umsetzung eines völkerrechtlichen Vertrags dienen, der dem Referendum untersteht, in den Genehmigungsbeschluss aufgenommen werden. Die im Entwurf vorgeschlagenen Gesetzesbestimmungen dienen der Umsetzung des Übereinkommens und ergeben sich unmittelbar aus den darin enthaltenen Verpflichtungen. Der Entwurf der Umsetzungserlasse kann deshalb in den Genehmigungsbeschluss aufgenommen werden.

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