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Aus den Verhandlungen der schweiz. Bundesversammlung.

(Vom l. August 1863.)

Rach Erledigung aller Traktanden, m.t Ausnahme des Büdgets und der Jnragew.iss..r..orrektionsfrage , hat die am 6. Jnli d. J. zusammengetretene Bundesversammlung unter obstehendem Tage ihre ord..nlliche Sommersession geschlossen.

Die vom Präsidenten des Ständerathes, Herrn H ä b e r l i n , gehaltene Schlußrede lautet aiso :

"Tit. !

.,Verl,.ällnissmässig die meiste Zeit hat die .Bundesversammlung auf das , , G e f e z über Niederlassungsverhältnisse" verwendet, welches jedoch schlu.sslich von dem Ständerathe. verworfen worden ist. Dieses Votum dürste dem schweizerischen Wolke leicht befremdlich erscheinen, nach..

dem die beiden Rätl)... zu wiederholten Malen ein solches Gesez ausdrüklieh verlangt und auch das Eintreten aus den von. Bundesrathe vorgelegten Entwurf mit überwiegenden Mehrheiten beschlossen hatten. Es moge daher Jhrem Präsidenten znm Schlösse vergonnt sein, zur Verhütnng von Missverständnissen kurz zu bezeiehuen, bis zu welchem Punkte eine Mehrheit vorhanden war nnd ans welchem funkte sie znlezt sich nicht n..ehr vorfand.

Allgemein ist zugegeben, dass gegenwärtig grelle Uebelstände vorhanden sind, deren Beseitigung wünsehbar wäre. Die grosse Anzahl der schweizerischen Niedergelassenen entbehrt nämlich einer k l a r e n R e c h t s stellung. J.. eiuer Reihe der wichtigsten Beziehungen des bsseutliehen und des Privatrechtes wird das Hol.,eitsrecht über dieselben sowol von ihrem Heimats- wie von ihrem Riederlassungskanton in Anspruch genonnuen. Daraus ist nicht bloss für die Riedergelasseuen, sondern anch für das gesammte übrige Publikum, das mit ihnen in. Verkehr steht, ein Zustand gefährlicher Reehtsunsicherheit entstanden, dessen Beseitigung also durch a l l g e m e i n e L a n d e s i n t e r e s s e n g e f o r d e r t ist.

Aus .Diesem Znstande entwikelten sieh sodann als weitere Uebel S t r e i t i g k e i t e u aller A r t theils unter deu Kantonen selbst, theils zwischen den Niedergelassenen und jenen Kautonen, beziehungsweise Gemeinden, theils endlich zwischen den Niedergelassenen und dritten Vrivaten. Diese Streitigkeiten erzeugten ein neues Uebel in den R e k u r s e n , welche in den eidgenossisehen Rätheu endlose, von Jahr zu Jahr steh vermehrende Debatten

293 veranlagten, und deren Entscheidung endlich gewöhnlich die G e s e z g e b u n g d e r b e t h e i l i g t e n K a u t o n e s e l b s t stark e r s c h ü t t e r t e .

All' das zusammengenommen liess allmälig den jezigen Zustand als eine wahre .Landeskalamität erscheinen, welcher, so weit moglieh, ein End^ zu machen, man allseitig entschlossen schien.

,,Bestrittener war im Schosse der Räthe d i e Frage, ob der Bund zu maßgebendem Einschreiten die . K o m p e t e n z und den B e r u f habe.^ Jndess s^teu sich die Rathe, abermals mit grossen Mehrheiten, über dieses Bedenken hinweg, da es nicht einleuchten wollte, ^dass der Bund gegenüber einem solchen Zustande z u G u n s t e n d e r v o n i h m g a r a u t i r t e u R i e d e r l a s s u n g s s r e i h e i t Nichts thnn dürfe, und ^.gle.ch. in der Verfassung selbst sich auch noch formelle Anhaltspunkte sür die .Kompetenz darboten. Rad.. den Artikeln 5 und 6 derselben sind die v e r s a s s u n g s m a s s i g e n R e c h t e der B ü r g e r , und zwar die bundes. emass wie die kantonal festgestellten, gewährleistet g l e i c h d e n R e eh t e n u n d ^B e s u g n i s s e n , w e l ch e d a s V o l k d e n B e h o r .^ den ü b e r t r a g e n hat. J.. Folge dessen sind die Bundesbehörden eben-

sowol. berechtigt als verpflichtet, in Kollifionssällen zwischen den gegen-

seiligen .Ansprüchen zu entscheiden, und somit nothigenfalls die Kautonalsouveränetät zu Gunsten ^er Bundesantorität oder das .Gebiet ihrer Anwendbarkeit im Verhältniss der Kantone unter fich in so w e i t zu begränzen nn.^ zn ordnen, als Dolches zum ..^ehuze theils jener individuellen, theils der Sonveränetät.^Rechte der Kartone selbst nothwen^ig erfunden wird.

..Bei dieser Operation wird nun freilich stets ein gewisses freies Ermessen Vlaz greifen müssen , wobei sich der Einflnss der jeweiligen politisehen Zeitriehtnng geltend macht.

Bei Anlass der Frage der B..^ steurung der Handelsreisenden , bei Vrüsnng der Fnhrex-Reglemente ein^elner Kantone u. a. m. wurde die G e w e r b s s r e i h e i t in einem derselben günstigsten ^inue interpretirt, obwol der gegensäzliche J n h a l t dieses Grundsa^s ^u der Gesezgebungshoheit der Kantone in .^er Bu..desversassuug e^en so .^euig zum Voraus defiuirt war, als dieses mit Bezug anf das im Art. 4t derselben gewahrleistete Recht der freien Niederlassung in allen Beziehungen der ^all ist. .

,,Dasselbe ist in vollstem Masse zu Gunsten der V r e s s s r e i h e i t geschehen. J^u gleichen Geiste sind das Bnndesgesez betreffend ^die g e m i s c h t e n Ehen, vom 3. Dezember l85l), so.vie das Rachtragsgesez zu demselben, vom 3. Hornnng 1862, erlassen worden, welche wol kan^n schon im Jahr l 84.^ unter ,,...en dem Bunde vorbehaltenen Massregeln sür Handhabung der öffentlichen Ordnung und des Friedens unter den Konfessionen^ vorgesehen waren.

Hätte die Bundesverfassung , zum Unterschied von allen übrigen Grundgesezen der Welt , in ^ihrer Entwiklnng durch .^ie Gesezgebung und Brax^is von jedem Einflusse veränderter Zeitanschauungen und Bedürfnisse, wie sie h i e r , in den eidgenössischen

294 Räthen, verbeten sind, bewahrt werden sollen, so hätten eben jene Grnudsa^ Bestimmungen entweder in dieselbe überall nicht aufgenommen oder in ihrem J..l..alt und Unisang genauer präeisirt werden sollen, als es woi nut .Absicht nicht geschehen ist. Den Kantonen bleibt immerhin die Sehuzwehr, dass eben dieser Entwiklungsprozess nicht ol..ne die Mitw i r k u n g der K a n t o n e s e l b s t , d. h. ihrer Vertreter in diesem Rathe, vor sich gehen kann.

,,Man hat freilich, Tit. l dem Stäuderalhe schon den .^orwurs machen wollen, als ob er diessfalls seine b e s o n d e r e M i s s i o n nicht erfülle. Es mag die keineswegs engherzige Art, wie der Ständerath bisher zu Be- .

sehlüssen und Massregeln im J n t e r e s s e der i n d i v i d u e l l e n R e c h t e der B ü r g e r mitgewirkt und vielleicht vorzugsweise gerade auch zu dem Gesezesprojekte über das Riederlafsnngswesen mit den Jmpuls gegeben hat, allerdings eine bürokratische Denkungsart und gewisse politische Barteibestrebungen unangenehm berührt haben ; es mag die materielle Riehtigkeit dieser oder jener Entscheidung mit Grund bezweifelt werden. Allein es wären Missgrisse solcher Art im schlimmsten Falle noch eher zu ertragen im Hinblik darauf, dass am Ende deren Effekt stets der Freih e i t zu Statten kam, o.....e dass die Kanto..alsouver..netät in einer il..rer Lebensbedingnugen angetastet worden wäre, während umgekehrt, wollte der Ständerath das n a t i o n a l e E l e m e n t in seiner Entwiklung gemäss den .Anfordernden des ösfentliehen Geistes und den Bedürfnissen des realen Lebens ^unterdrüken oder ungebührlieh hemmen, dadurch unter Umständen vielleicht geradezu der dauerhafte Bestand des Zweikammersystems, dieser vortrefflichen Justitution der neuen Bundesverfassung , in Frage gestellt werden konnte. ^.ür die Autonomie der Kantone und die politische Gesundheit unserer offentliehen Zustände überhaupt droht eine näher liegende Gefahr darin , .venn in m a t e r i e l l e n und v o l k s w i r t hs c h a s t l i e h e n F r a g e n jene Gebiete von dem Bnnde eingenommen werden wollten, welche der freien Selbstbestimmung der Kantone und der Brivatthätigkeit angehoren ; wenn die Kantone fortfahren sollten, sich eines theiles jener Aufgaben zu entledigen, welche reeht eigentlich das selbstständige Gemeinwesen eharakterisiren, und damit auch die entsprechenden Hoheitsreehte an die Eentralgewalt zu entaussern, w o d n r e h die K a n -

t o n e allmälig in e i n e Art von^ A b h ä n g i g k e i t z n dem

Bunde und d i e s e r s e l b s t i n e i n e S e h u l d e n l a s t h i n e i n g e g e r a t h e n m ü s s t e . Eben so fand (um nach dieser Abschweifung anf das Thema ^..rükzul.ommen), der Einwurs, als ob die Kantonalsouveräne^ tat dur.h Erlass eines G e s e z e s ganz besonders beeinträchtigt würde, nicht hinreichenden Anklang, da anderseits wol mit Recht daraus hiugewiesen wurde, dass der je^ige gese.^lose Zustand, zumal für -ie Ansprüche des ^ationalitätsprinzips, viel weniger Garantie gewähre, und dass eine seste Ordnung dieser Verhältnisse mit einer klaren B.^ei.huung d.^r streiti-

g...n .^onver^in..^.^^^^^.^^ im Gr..m^e sür Alle sichernder sei.

295 ,, Waren fowol über Bedürfnis.. und .Kompetenz zu einem solchen Geseze entschiedene Mehrheiten vorhanden , so war diess nicht minder der Fall bezüglich der .^lrt, wie z w i s c h e n den .Ansprüchen des Riederl a s s u n g s - u n d H . ^ i m ^ t k a n t o n s d i e e i n z e l n e n M a t e r i e n ausg e s c h i e d e n w u r d e n . Es wurden die mehr dem Gebiete des ofsent^iehen Rechtes sich nähernden Steuer-, Vormun.^schasts- und Konknrsverhältnisse dem Riederlassungskantone , dagegen die ^dem Familien- und Erbrechte angehorigen Verhältnisse dem Heimatskantone zugewiesen, wobei namentlich auch den konfessionellen Anschauungen und dem Rechte der Frauen die gebührende Rüksieht geschenkt wnrde. Wenn dessen ungeachtet zulezt doeh die Verwerfung des Ganzen erfolgte , so rührt diese augenscheinlich nicht daher, dass die Mehrheit ihre grundsäzlichen Standpunkte ausgegeben hätte, sondern vielmehr nur daher, daß im Lause der Verhandlungen sieh den ansängliehen prinzipiellen Gegnern noch kleine Minderheiten beigesellten, welche durch den Entscheid bei einzelnen Mater.ien ihre Jnteressen verlezt fühlten. Es besteht daher die schliessliche Mehrheit ans einer Zusammensezung von grundsäzlich einander widersprechenden und nur zufällig vereinigten Minderheiten.

,,Diese ledere T hat s a eh e nun kann auch die Freunde des Gesezes beruhigen. ^..enn es geht daraus hervor, dass der mehrerwähnte Verwerfungbeschluss w.^l richtiger als blosser . . ^ e r t a g u n g s b e s c h luss bezeichnet wird, als eine .^lrt von Waffenstillstand, der im Grunde beiden Parteien zusagen kann, da er der Hoffnung Raum lässt, dass demselben zu des .Vaterlandes Wohl bald ein dauernder ^riedensschluss nachfolgen werde .^

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