Bericht des Bundesrates über die revidierte Europäische Sozialcharta In Erfüllung des Postulats 10.3004 der Aussenpolitischen Kommission des Ständerates «Vereinbarkeit der revidierten Europäischen Sozialcharta mit der schweizerischen Rechtsordnung» vom 12. Januar 2010 vom 2. Juli 2014

Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Am 12. Januar 2010 hat die Aussenpolitische Kommission des Ständerates (APKSR) ein Postulat eingereicht, in dem der Bundesrat beauftragt wurde, einen Bericht über die Vereinbarkeit der revidierten Europäischen Sozialcharta mit der schweizerischen Rechtsordnung und über die Zweckmässigkeit einer möglichst raschen Unterzeichnung und Ratifizierung vorzulegen. Das Postulat wurde am 8. März 2010 vom Ständerat angenommen und dem Bundesrat überwiesen.

Wir unterbreiten Ihnen hiermit den Bericht und versichern Sie, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

2. Juli 2014

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Didier Burkhalter Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2014-0775

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Übersicht Der vorliegende Bericht erfüllt das Postulat 10.3004, in dem der Bundesrat beauftragt wurde, einen Bericht über die Vereinbarkeit der revidierten Europäischen Sozialcharta (CSE) mit der schweizerischen Rechtsordnung und über die Zweckmässigkeit einer möglichst raschen Unterzeichnung und Ratifizierung vorzulegen.

Der Bericht soll konkret aufzeigen, welche Verpflichtungen eingegangen werden können und welche Vorbehalte allenfalls anzubringen sind, damit eine mit dem Schweizer Recht konforme Ratifizierung erfolgen kann.

Die 1961 verabschiedete und 1996 revidierte CSE ist heute das europäische Referenzdokument im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Sie ist zusammen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), welche die bürgerlichen und politischen Rechte schützt, eines der wichtigsten Übereinkommen des Europarates.

Die Schweiz gehört (neben Liechtenstein, Monaco und San Marino) zu den vier der 47 Mitgliedstaaten des Europarates, welche die CSE nicht ratifiziert haben. Um der CSE beitreten zu können, müsste die Schweiz mindestens sechs der neun Kernartikel der Charta anerkennen. Insgesamt vermag die schweizerische Rechtsordnung diese Anforderung zu erfüllen. Zur Klärung offener Fragen haben das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und die direkt betroffenen Bundesämter einen konstruktiven Dialog mit dem Europäischen Ausschuss für soziale Rechte (CEDS) geführt, um genauere Erkenntnisse über seine Praxis und seine Flexibilität bei der Beurteilung der Situation der Schweiz im Falle einer Ratifizierung zu erlangen. Ausserdem ging es darum, den CEDS über das Rechtssystem und die Gesetzgebung der Schweiz zu informieren, namentlich in Bezug auf die schweizerischen Besonderheiten wie das duale System der beruflichen Grundbildung. Aus diesen Gesprächen ging hervor, dass im Hinblick auf die Artikel der CSE, welche die Schweiz anerkennen könnte, keine Unvereinbarkeit mehr besteht. Einerseits neigt der CEDS zu einer Lockerung seiner Praxis und andererseits hat er seinen Ansatz angepasst und berücksichtigt nunmehr die nationale Situation in ihrem Gesamtkontext und gewährt den Vertragsstaaten einen grossen Handlungsspielraum bei der Umsetzung des Vertrags, insbesondere bei Ländern mit einem leistungsfähigen Sozialsystem. Die Bedenken
hinsichtlich der Vereinbarkeit der CSE mit dem dualen System der beruflichen Grundbildung konnten ausgeräumt werden.

Es konnte eine Einigung mit der CEDS gefunden werden, in der anerkannt wird, dass das duale System der beruflichen Grundbildung in der Schweiz Bestandteil des schweizerischen Bildungssystems ist. Das duale System fällt somit nicht unter Artikel 7 CSE (Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz), sondern unter Artikel 10 CSE (Recht auf berufliche Bildung), bei dem es kein Problem darstellt.

Eine Ratifikation der CSE würde die Souveränität der Schweiz und ihre Zuständigkeiten im Bereich der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik nicht beeinträchtigen.

Da die CSE in erster Linie programmatischen Charakter hat, würde die Schweiz auch ihre Entscheidungsgewalt bezüglich der Modalitäten zur Umsetzung der von ihr anerkannten Bestimmungen behalten.

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Der Kontrollmechanismus der CSE unterscheidet sich von demjenigen der EMRK, da kein Individualbeschwerdeverfahren bei einer Gerichtsinstanz vorgesehen ist, die ein verbindliches Urteil fällen könnte. Das Verfahren beruht lediglich auf den regelmässigen Berichten der Vertragsstaaten und einem pragmatischen Dialog mit dem CEDS, dem aus Sachverständigen bestehenden Kontrollorgan der Sozialcharta.

Wenn der CEDS eine Unvereinbarkeit mit den Bestimmungen der CSE feststellt und der betroffene Staat keine Massnahmen folgen lässt, kann der Ministerrat des Europarates als letztes Mittel eine politische und rechtlich unverbindliche Empfehlung an diesen Staat richten. Der institutionalisierte Dialog mit dem CEDS ist mit jenem vergleichbar, den die Staaten, darunter auch die Schweiz, mit den Kontrollorganen der Vereinten Nationen im Bereich der Menschenrechte pflegen.

Die CSE unterscheidet sich von der EMRK auch durch die Tatsache, dass sie «à la carte» ratifiziert werden kann. Um die CSE zu ratifizieren, ist ein Staat nicht verpflichtet, sämtliche Bestimmungen anzuerkennen. Er muss mindestens sechs der neun Kernartikel wählen und vollständig anerkennen. Darüber hinaus muss er eine gewisse Anzahl zusätzlicher Bestimmungen anerkennen, die nicht zum harten Kern gehören.

Die Analyse bezüglich der Vereinbarkeit der CSE mit der schweizerischen Rechtsordnung hat ergeben, dass die Schweiz nicht in der Lage wäre, die Artikel 12 «Das Recht auf soziale Sicherheit», 13 «Das Recht auf Fürsorge» und 19 «Das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand» anzuerkennen.

Die Anerkennung dieser Artikel steht daher nicht zur Diskussion. Die Artikel 1, 5, 6, 7, 16 und 20 hingegen kann die Schweiz ohne Anpassung ihrer Rechtsordnung anerkennen.

Aus rechtlicher Sicht ist heute somit die Anerkennung von sechs der neun Kernartikel möglich. Sobald das Parlament vom vorliegenden Bericht Kenntnis genommen hat, wird der Bundesrat in einem nächsten Schritt zum Grundsatz einer Ratifizierung der CSE Stellung nehmen.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1

Auftrag: Das Postulat 10.3004

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2

Überblick über die parlamentarischen Vorstösse betreffend Ratifikation der Europäischen Sozialcharta

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3

Politische Bedeutung der Europäischen Sozialcharta

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Die von der Europäischen Sozialcharta garantierten Rechte

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5

Die Rechtsnatur der von der Europäischen Sozialcharta garantierten Rechte

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6

Ratifikationsverfahren der Europäischen Sozialcharta

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7

Das Kontrollsystem und die Auswirkungen der Europäischen Sozialcharta auf das innerstaatliche Recht 7.1 Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte 7.2 Der Regierungsausschuss und das Ministerkomitee 7.3 Die Parlamentarische Versammlung des Europarates 7.4 Schlussfolgerung

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8

9

Analyse der Vereinbarkeit des schweizerischen Rechts mit der revidierten Europäischen Sozialcharta 8.1 Kernartikel 8.1.1 Dialog mit dem Europäischen Ausschuss für soziale Rechte 8.1.2 Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen 8.1.3 Zusammenfassender Überblick über die Kernbestimmungen, welche die Schweiz anerkennen kann 8.2 Überblick über die Vereinbarkeit des schweizerischen Rechts mit den Zusatzbestimmungen der CSE Finanzielle und personelle Auswirkungen

10 Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden 10.1 Auswertung der fachtechnischen Befragung der Kantone 10.2 Finanzielle Auswirkungen

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11 Verfassungsmässigkeit

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12 Schlussbemerkung

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Anhänge: I Ablaufschema des Kontrollsystems II Kernartikel der revidierten CSE

5665 5666

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Bericht 1

Auftrag: Das Postulat 10.3004

Am 12. Januar 2010 hat die Aussenpolitische Kommission des Ständerates (APK-SR) das Postulat 10.3004 angenommen, das den Bundesrat beauftragt, einen Bericht über die Vereinbarkeit der revidierten Europäischen Sozialcharta (Charte sociale européenne, CSE) mit der schweizerischen Rechtsordnung und über die Zweckmässigkeit einer möglichst raschen Unterzeichnung und Ratifizierung vorzulegen. Der Bericht soll konkret aufzeigen, welche Verpflichtungen eingegangen werden können und welche Vorbehalte anzubringen sind, damit eine mit dem Schweizer Recht konforme Ratifikation erfolgen kann. Am 24. Februar 2010 hat sich der Bundesrat bereit erklärt, das Postulat anzunehmen. Der Ständerat hat das Postulat am 8. März 2010 überwiesen.

Laut Postulat hätte der Bericht mit Vorteil noch vor Ablauf des Schweizer Präsidiums des Europarats, spätestens aber bis Ende 2010, vorliegen sollen. Das EDA hatte zwar in enger Abstimmung mit den anderen betroffenen Departementen Ende November 2010 einen Berichtsentwurf erarbeitet. Weil mehrere Bereiche, die von der Europäischen Sozialcharta abgedeckt werden, in die Zuständigkeit der Kantone fallen, war eine Befragung der Kantone unumgänglich. Von Dezember 2010 bis 31. März 2011 wurde entsprechend bei den Kantonen eine fachtechnische Befragung durchgeführt. Die Stellungnahmen der Kantone führten zu einer angepassten Version des Berichts, die weitere Abklärungen und Ergänzungen erforderte, um die offenen Punkte zu bereinigen. Das EDA informierte den Bundesrat im September 2011 über seine Absicht, wirtschaftliche Aspekte in den Bericht aufzunehmen und mit dem Europäischen Ausschuss für soziale Rechte (Comité européen des droits sociaux, CEDS) die offenen Fragen bezüglich Vereinbarkeit der Charta mit der schweizerischen Rechtsordnung zu klären. Dieser Meinungsaustausch erwies sich als fruchtbar und führte zu einer Einigung, erforderte jedoch entsprechend mehr Zeit.

2

Überblick über die parlamentarischen Vorstösse betreffend Ratifikation der Europäischen Sozialcharta

Die Schweiz startete ihr Vorhaben, der CSE beizutreten, 1976 mit der Unterzeichnung der ursprünglichen CSE von 1961 durch den Bundesrat. Die Fortsetzung folgte 1983, als der Bundesrat den Räten seine Botschaft betreffend Ratifizierung1 unterbreitete; dann wurde das Vorhaben gestoppt, weil das Parlament eine Ratifizierung ablehnte (1984 und 1987).

1991 wurde der Prozess mit einer parlamentarischen Initiative der sozialdemokratischen Fraktion2 wieder in Gang gesetzt. Ab 1996 wurde intensiv daran gearbeitet und im Parlament darüber debattiert. Schliesslich wurde die Initiative jedoch am 17. Dezember 2004 abgeschrieben. Im Rahmen der Behandlung der parlamentari1 2

BBl 1983 II 1241 91.419 «Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta».

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schen Initiative wurden von der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates zwei Berichte und ein Zusatzbericht der Bundesverwaltung (1996, 2002 und 2004, mit fachtechnischer Befragung der Kantone) angenommen. Sie alle kamen zum Schluss, dass die Ratifizierung der CSE von 1961 und der revidierten CSE von 1996 nicht möglich sei. Die Haupthindernisse lagen bei der Unvereinbarkeit der schweizerischen Rechtsordnung mit Artikel 12 (Recht auf soziale Sicherheit), Artikel 13 (Recht auf Fürsorge) und Artikel 19 (Recht der Wanderarbeiter und ihrer Familien auf Schutz und Beistand). Auch die Antworten auf die fachtechnische Befragung der Kantone liessen keinen positiven Schluss zu.

Im zehnten Bericht des Bundesrates vom 27. Februar 2013 über die Schweiz und die Konventionen des Europarates wurde die revidierte CSE, die im Gegensatz zur ursprünglichen Sozialcharta von 1961 nunmehr als massgebliches Instrument gilt, den nicht ratifizierten Konventionen, die für die Schweiz von Interesse sind, zugeordnet. In Ermangelung einer passenderen Klassifikation wurde die CSE in die Priorität «C» eingeteilt und gilt damit als Übereinkommen, «das für die Schweiz von Interesse wäre, dessen Ratifizierung in naher Zukunft jedoch juristische, politische oder praktische Probleme stellen würde».3

3

Politische Bedeutung der Europäischen Sozialcharta

Der nach dem zweiten Weltkrieg gegründete Europarat will drei Grundwerte miteinander verbinden: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte.

Wenige Monate nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen im Dezember 1948 hatte der Europarat damit begonnen, einen verbindlichen Vertrag zu erarbeiten, der sämtliche Rechte der Allgemeinen Menschenrechtserklärung garantieren sollte. Rasch einig wurden sich die Mitgliedstaaten über die bürgerlichen und politischen Rechte, die in die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 (EMRK) aufgenommen wurden.4 Über die wirtschaftlichen und sozialen Rechte konnte jedoch keine Einigung erzielt werden. 1961 schliesslich wurde die CSE verabschiedet. Dieses Abkommen ist jedoch in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt geworden und steht weit hinter der EMRK zurück, da es kein Individualbeschwerdeverfahren bei einer Justizbehörde vorsieht.

Anlässlich der Erweiterung des Europarates auf den gesamten europäischen Kontinent, d. h. als der erste zentraleuropäische Staat (Ungarn) 1990 der Organisation beitrat, wurde beschlossen, die CSE neu zu lancieren. Bei diesem Reformprozess ging es zunächst um die Kontrollverfahren betreffend CSE-Umsetzung und in einem zweiten Schritt um die substanziellen Rechte, die in der Charta verankert sind.

Ergebnis dieser Reform ist die revidierte CSE von 1996.

An der ersten Europaratskonferenz der Minister für sozialen Zusammenhalt (Moskau, Februar 2009), an der auch die Schweiz teilnahm, wurde unter dem Titel «Investir dans la cohésion sociale ­ Investir dans la stabilité et le bien-être de la société» eine Schlusserklärung zur Förderung der Sozialrechte verabschiedet. Der Europarat wollte damit erreichen, dass alle Mitgliedstaaten die CSE ratifizieren.

3 4

BBl 2013 2145 SR 0.101

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An der zweiten Konferenz für sozialen Zusammenhalt (Istanbul, Oktober 2012) bekräftigten die Minister ihre Unterstützung für die Rechtsinstrumente des Europarates zu den Sozialrechten, insbesondere die CSE, und verpflichteten sich, diese zu ratifizieren.

Heute bildet die CSE zusammen mit der EMRK eines der Hauptinstrumente des Europarates im Bereich der Menschenrechte. Die Verpflichtung zur Ratifikation der beiden Konventionen ist daher eine der Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft im Europarat. Die 47 Mitgliedstaaten des Europarates haben die CSE in der einen oder anderen Version unterzeichnet: 45 haben die revidierte Fassung von 1996 unterzeichnet, die Schweiz und Liechtenstein nur den Text von 1961. 43 Staaten haben die CSE ratifiziert, 30 die revidierte Fassung von 1996 und 13 weitere ausschliesslich die Fassung von 1961. Nur die Schweiz, Monaco, San Marino und Liechtenstein haben die Sozialcharta weder in der Fassung von 1961 noch in jener von 1996 ratifiziert.

In der Schweiz haben sich ein Unterstützungskomitee «Pro Sozialcharta» und die Gewerkschaften beim Bundesrat für eine Ratifikation der CSE eingesetzt. Das Komitee «Pro Sozialcharta» hat seine Tätigkeit seit dem Schweizer Vorsitz im Ministerkomitee des Europarates (November 2009­Mai 2010) verstärkt. Die Schweiz wird ausserdem immer wieder von den Behörden des Europarates auf die CSE angesprochen, weil sie ihr noch nicht beigetreten ist. Dies war auch während des Schweizer Vorsitzes im Ministerkomitee 2009­2010 der Fall sowie anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums der CSE 2011 und bei Veranstaltungen und Besuchen 2013 zur Feier der 50 Jahre Schweizer Mitgliedschaft im Europarat.

Die CSE soll die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte garantieren. Sie umfasst eine grosse Zahl von Sachthemen und anerkennt die Rechte des Individuums in den Bereichen Wohnen, Gesundheit, Bildung, Beschäftigung, soziale Sicherheit und Nichtdiskriminierung.

Die CSE zielt nicht auf eine Harmonisierung oder Koordination der Sozialpolitik der einzelnen Staaten ab. Es liegt in der Kompetenz der Mitgliedstaaten der CSE, mit den Mitteln ihrer Wahl (Gesetze, Kollektivverhandlungen, dezentral oder über zentrale Behörden) ihre eigene Sozialpolitik zu verfolgen. Die CSE formuliert die Grundsätze und Werte, die beachtet werden müssen; die Art ihrer Umsetzung
liegt jedoch in der Verantwortung der einzelnen Staaten.

In der revidierten CSE von 1996 wird der gesellschaftliche Wandel berücksichtigt, der in Europa in den letzten vierzig Jahren stattgefunden hat, und ganz besonders auch die Weiterentwicklung des Völkerrechts, sei dies nun im Bereich des EU- oder des UNO-Rechts. Sie ist damit das wichtigste europäische Instrument in Sachen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Wer also heute von der Sozialcharta spricht, meint die revidierte Charta von 1996. Dies gilt auch für den vorliegenden Bericht, der die Vereinbarkeit der schweizerischen Rechtsordnung mit der revidierten CSE untersucht. Die Präzisierung «revidiert» steht in diesem Bericht nur dort, wo es um Unterschiede zwischen dem ersten und dem zweiten Vertrag geht.

Inhaltlich entspricht die CSE zu gewissen Teilen dem Internationalen Pakt vom 16. Dezember 19665 über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen (UNO-Pakt I, von der Schweiz ratifiziert). Sie enthält auch Bestim-

5

SR 0.103.1

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mungen, die mit der UNO-Kinderrechtskonvention vom 20. November 19896 übereinstimmen, welche die Schweiz ebenfalls ratifiziert hat. Zudem deckt sie gewisse Verpflichtungen ab, welche die Schweiz im Rahmen der Übereinkommen Nr. 87, 98, 100 und 111 der ILO eingegangen ist. Besonders erwähnt werden muss schliesslich die EMRK: Mit ihrer Ratifikation hat sich die Schweiz bereits zur Anwendung gewisser Rechte verpflichtet, die auch in der CSE enthalten sind, wie z. B. das Recht, Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.

4

Die von der Europäischen Sozialcharta garantierten Rechte

Die Ratifizierung der CSE hängt von der vollständigen Anerkennung von sechs der neun sogenannten Kernartikel ab (siehe Anhang II). Sie setzt zudem voraus, dass ein Staat wahlweise eine gewisse Anzahl zusätzlicher Artikel oder Absätze verbindlich anerkennt, wobei gesamthaft die Zahl der anerkannten Artikel und Absätze mindestens 16 Artikel oder 63 Absätze betragen muss (vgl. Ziff. 6).

Der vorliegende Bericht befasst sich in erster Linie mit der Vereinbarkeit der Kernartikel der CSE mit dem schweizerischen Recht, da dieser Punkt bei der Beurteilung der Möglichkeit einer Ratifizierung des Instruments entscheidend ist. Eine Übersicht über die weiteren Artikel der CSE befindet sich am Ende des Berichts (Ziff. 8.2). Sie zeigt, dass die Forderung der Einhaltung einer gewissen Anzahl von Zusatzbestimmungen erfüllt wäre.

Die folgenden neun Artikel bilden den harten Kern der CSE: ­

Artikel 1

­

Artikel 5

Das Recht auf Arbeit Das Vereinigungsrecht

­

Artikel 6

Das Recht auf Kollektivverhandlungen (einschliesslich Streikrecht)

­

Artikel 7

Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz

­

Artikel 12 Das Recht auf soziale Sicherheit

­

Artikel 13 Das Recht auf Fürsorge

­

Artikel 16 Das Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz

­

Artikel 19 Das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand

­

Artikel 20 Das Recht auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts

Die revidierte CSE nimmt in ihren weiteren Bestimmungen (Art. 24­31) neue Rechte auf. Sie umfassen das Recht auf Schutz bei Kündigung; das Recht der Arbeitnehmer auf Schutz ihrer Forderungen bei Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers; das Recht auf Würde am Arbeitsplatz; das Recht der Arbeitnehmer mit Familienpflichten auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung; das Recht der Arbeitnehmerver6

SR 0.107

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treter auf Schutz im Betrieb und Erleichterungen, die ihnen zu gewähren sind; das Recht auf Unterrichtung und Anhörung in den Verfahren bei Massenentlassungen; das Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung; das Recht auf Wohnung.

5

Die Rechtsnatur der von der Europäischen Sozialcharta garantierten Rechte

Der ratifizierende Staat verpflichtet sich, die in Teil I der CSE erklärten Ziele mit allen geeigneten Mitteln zu verfolgen.

In Teil II werden diese allgemeinen Ziele präzisiert und konkretisiert und die Verpflichtungen, welche die Vertragsstaaten durch die Ratifikation eingehen, definiert.

Nur diese Bestimmungen haben normativen Charakter und entscheiden über die rechtliche Tragweite der eingegangenen Verpflichtungen. Daher muss die Frage der Rechtsnatur und der direkten Anwendbarkeit der CSE anhand dieser Bestimmungen analysiert werden.

Schon von ihrer Formulierung her («Die Vertragsparteien erachten sich als gebunden ...») richten sich die CSE-Artikel nicht an Einzelpersonen, die diese gerichtlich einfordern können, sondern an den Gesetzgeber, von dem erwartet wird, dass er die erforderlichen Bestimmungen verabschiedet. Dazu kommt, dass die CSE im Prinzip Rechte anerkennt, die von ihrer Struktur her nicht direkt anwendbar sind, sondern einer detaillierten Regelung bedürfen, um ihre Wirkung zu entfalten. Die CSE beschränkt sich darauf, Ziele festzulegen, und enthält Möglichkeiten, wie diese erreicht werden können. Wenn aber Staaten die von der CSE verlangten Massnahmen nicht ergriffen haben, können die CSE-Bestimmungen auch nicht im Rahmen von Gerichtsverfahren direkt angerufen werden. Es gibt allerdings zwei Bestimmungen in der revidierten CSE, die von dieser Regel abweichen. Gemäss Artikel 6 Absatz 4 anerkennen die Vertragsparteien das Recht auf kollektive Massnahmen einschliesslich des Streikrechts und gemäss Artikel 18 Absatz 4 anerkennen sie das Recht ihrer Staatsangehörigen, das Land zu verlassen, um im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Die CSE sieht eine Kontrolle vor, die auf periodischen Berichten der Vertragsstaaten im Rahmen eines pragmatischen Dialogs beruht. Ziel ist es, die Vertragsstaaten bei der Anwendung der von ihnen anerkannten Bestimmungen zu unterstützen. Im Gegensatz zur EMRK ist in der CSE keine übernationale Gerichtsinstanz vorgesehen, die rechtsverbindliche Urteile fällt und an die Einzelpersonen wegen Verletzung der in der Charta garantierten Rechte Klagen einreichen können.

Die genannten Punkte zeigen, dass die CSE nicht direkt anwendbar ist, im Gegensatz zur EMRK und ihren Zusatzprotokollen, deren Rechte von Einzelpersonen gerichtlich eingeklagt werden können.

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6

Ratifikationsverfahren der Europäischen Sozialcharta

Ein Staat, der einem Abkommen beitreten will, muss dieses gemäss geltender Praxis des Europarates zuerst unterzeichnen und dann seine Ratifikation vornehmen. Die Ratifikation erfordert im Prinzip einen Parlamentsentscheid, was auch in der Schweiz der Fall ist.

Die Unterzeichnung kann entweder vor Beginn des Ratifikationsprozesses oder auch am Ende, also bei der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde, erfolgen.

Die CSE erlaubt eine A-la-carte-Ratifizierung. Anders als bei der EMRK, bei der alle Artikel anerkannt werden müssen, muss ein Staat, der die CSE ratifiziert, angeben, welche Bestimmungen er für sich als bindend erachtet. Um den Staaten einen gewissen Handlungsspielraum zu gewährleisten und um nationalen Gegebenheiten Rechnung zu tragen, erlaubt die CSE dem ratifizierenden Staat, eine bestimmte Anzahl Bestimmungen auszuwählen, die er für sich als bindend anerkennen will. Es ist folglich wichtig, zuerst die Vereinbarkeit mit dem Landesrecht zu prüfen, damit entschieden werden kann, welche Bestimmungen akzeptiert werden können. Dabei sind verschiedene Voraussetzungen zu erfüllen. Für die revidierte CSE gelten folgende Bedingungen: ­

Von den Artikeln 1, 5, 6, 7, 12, 13, 16, 19 und 20, die den harten Kern darstellen, müssen sechs anerkannt werden. Damit sie angerechnet werden, müssen diese Artikel vollumfänglich und vorbehaltslos übernommen werden.

­

Zudem muss der ratifizierende Staat insgesamt entweder 16 der total 31 Artikel von Teil II der revidierten CSE (einschliesslich der 6 Kernartikel) vollständig oder 63 der total 98 nummerierten Absätze von Teil II der revidierten CSE anerkennen.

Es ist möglich, zusätzlich weitere Bestimmungen anzuerkennen. Dabei kann der Staat einzelne Absätze auswählen und sogar Vorbehalte zu bestimmten Punkten anbringen. Dies ist jedoch praktisch die einzige Möglichkeit, Vorbehalte zu formulieren.

Idealerweise sollen die Staaten letztlich alle CSE-Bestimmungen anerkennen. Der Europarat pflegt Kontakte mit den Vertragsstaaten und arbeitet mit ihnen auf eine Anerkennung weiterer Bestimmungen hin. Bis heute haben von allen Staaten, welche die CSE ratifiziert haben, nur zwei sämtliche Bestimmungen von Teil II anerkannt, nämlich Frankreich und Portugal. Alle andern Vertragsstaaten haben ­ unter Einhaltung der im Abkommen festgelegten Mindestvoraussetzungen ­ eine mehr oder weniger ehrgeizige Auswahl getroffen.

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7

Das Kontrollsystem und die Auswirkungen der Europäischen Sozialcharta auf das innerstaatliche Recht

Siehe Anhang I mit dem Ablaufschema des Kontrollsystems der Europäischen Sozialcharta.

7.1

Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte

Der Ausschuss setzt sich aus 15 unabhängigen und unparteiischen Sachverständigen zusammen, die vom Ministerkomitee des Europarates für eine Amtszeit von sechs Jahren gewählt werden; die Amtszeit darf nur einmal verlängert werden. Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte (CEDS) ist im Gegensatz zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte keine Gerichtsinstanz. Er ist jedoch befugt, darüber zu befinden, ob die Rechtslage in den Vertragsstaaten mit der CSE übereinstimmt oder nicht.

Der CEDS kennt zwei Überwachungsmechanismen: ­

Das System nationaler Berichte sieht vor, dass die Vertragsstaaten jedes Jahr einen Bericht über die Umsetzung eines Teils der CSE-Bestimmungen ­ unterteilt in thematische Gruppen von sieben bis neun Artikeln ­ abliefern.

Die nationalen Organisationen, die den internationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen mit Beobachterstatus im Regierungsausschuss (siehe Ziff. 7.2) angehören, können die Berichte einsehen und allfällige Stellungnahmen übermitteln. In einem solchen Fall können die betroffenen Vertragsstaaten antworten und ihre Bemerkungen anbringen.

­

Das Verfahren für Kollektivbeschwerden (Teil IV, Artikel D der revidierten CSE) erlaubt den internationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, den anderen internationalen Nichtregierungsorganisationen mit beratendem Status beim Europarat sowie den repräsentativen nationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, beim CEDS eine Beschwerde vorzubringen, wenn sie meinen, dass die CSE verletzt worden sei. Dieses zweite Verfahren, das im Rahmen eines Zusatzprotokolls 1995 verabschiedet wurde, ist fakultativ und bis heute erst von 15 Vertragsstaaten ratifiziert worden. Die Zustimmung zu diesem Verfahren birgt die Gefahr der Popularklage, die unserem Rechtssystem fremd ist. Der Bundesrat schlägt deshalb vor, bei einer Ratifikation der revidierten CSE auf die Notifikation zu verzichten, dass die Schweiz die Überwachung ihrer Verpflichtungen entsprechend dem Verfahren im Zusatzprotokoll über Kollektivbeschwerden akzeptiert.

In beiden Fällen ist der CEDS befugt zu überprüfen, ob das Recht eingehalten worden ist und ob seine Schlussfolgerungen oder Entscheidungen veröffentlicht worden sind. Wenn der CEDS einen Widerspruch zur CSE feststellt, ist der betroffene Vertragsstaat gehalten, mit geeigneten Mitteln den rechtmässigen Zustand herzustellen. Im System der nationalen Berichte eröffnet der CEDS den betroffenen Vertragsstaaten nach einem pragmatischen Gespräch, das auf Wunsch der Vertragsparteien oder des CEDS durch einen Meinungsaustausch über die nationale Situation, die nationalen Möglichkeiten und die rechtlichen Argumente konkretisiert werden kann, seine Schlussfolgerungen. Der CEDS ist stets darauf bedacht, bewährte nationale 5621

Gewohnheiten nicht durch die Anwendung der CSE-Bestimmungen zu untergraben, namentlich wenn ein Staat grundsätzlich über ein leistungsfähiges Sozialsystem verfügt. Nur in seltenen Fällen erscheint es dem CEDS unmöglich, die Vereinbarkeit der Charta mit den nationalen Gewohnheiten zu gewährleisten.

Dieser Aspekt der Gesprächsmöglichkeit unterscheidet das Verfahren vor dem CEDS von demjenigen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Als Gerichtsinstanz fällt der Menschenrechtsgerichtshof nach Prüfung der Rechtssache ein Urteil.

Nach der Ratifizierung wäre der Austausch, den die Schweiz in diesem Fall mit dem CEDS unterhalten würde, eher mit dem konstruktiven Dialog zu vergleichen, den sie mit den Kontrollorganen der von ihr ratifizierten Menschenrechtsübereinkommen der Organisation der Vereinten Nationen pflegt. Der CEDS legt grossen Wert auf das Subsidiaritätsprinzip und auf nationale Gewohnheiten. Er geht davon aus, dass die Staaten selber am besten in der Lage sind, wirtschaftliche und soziale Rechte umzusetzen. Er greift nur dann aufgrund eines festgestellten Widerspruchs ein, wenn die Umsetzung im Vergleich zu den geltenden Standards über Gebühr mangelhaft ist.

7.2

Der Regierungsausschuss und das Ministerkomitee

Der Regierungsausschuss der Europäischen Sozialcharta und der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit vom 16. April 19647 wird im Anschluss des CEDS aktiv und hat zur Aufgabe, die Entscheidungen des Ministerkomitees vorzubereiten.

Er setzt sich aus Vertreterinnen und Vertretern der CSE-Vertragsparteien zusammen.

Der Regierungsausschuss tagt zweimal pro Jahr. Er wählt aufgrund sozialpolitischer und wirtschaftlicher Erwägungen die Situationen aus, die nicht in Übereinstimmung mit der CSE sind und die seiner Ansicht nach Gegenstand von Empfehlungen des Ministerkomitees sein sollten. Der Regierungsausschuss kann weder auf die rechtliche Beurteilung des CEDS hinsichtlich der Einhaltung der CSE-Verpflichtungen zurückkommen noch seine eigene Auslegung der Tragweite der CSE geben. Mit den betroffenen Staaten findet indes ein Gespräch statt. An den zweimal jährlich stattfindenden Versammlungen können diese darlegen, aus welchen Gründen ihr Recht oder ihre Praxis in sozialer, politischer oder wirtschaftlicher Hinsicht nicht mit der CSE in Einklang steht. Besteht Klärungsbedarf, weil der CEDS in seinen negativen Schlussfolgerungen (Nichtübereinstimmung) ein Landesrecht falsch verstanden hat, können die Staaten auch rechtliche Richtigstellungen anbringen, die der Regierungsausschuss gegebenenfalls berücksichtigt und dem CEDS im Hinblick auf die künftigen Schlussfolgerungen weiterleitet. Die Vertragsstaaten informieren schliesslich den Regierungsausschuss über die Massnahmen, die sie zur Behebung der Nichtübereinstimmung geplant oder bereits eingeleitet haben. Werden die Massnahmen als ungenügend erachtet, kann der Regierungsausschuss zuerst eine Warnung abgeben, bevor er die Angelegenheit dem Ministerkomitee weiterleitet, das eine Empfehlung aussprechen kann.

7

SR 0.831.104

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In einem solchen Fall kann das Ministerkomitee auf der Grundlage des Berichts des Regierungsausschusses und nach der Anhörung der betroffenen Staaten über die Gründe, weshalb eine Erledigung (noch) nicht möglich war, mit einer erforderlichen Zweidrittelmehrheit der Stimmen Empfehlungen an die Vertragsparteien erlassen und die betroffenen Staaten auffordern, die negativen Schlussfolgerungen des CEDS zu beachten und mitzuteilen, welche Massnahmen sie zur Herstellung der Übereinstimmung mit der CSE einzuleiten gedenken. Empfehlungen des Ministerkomitees sind im Verfahren der nationalen Berichte sehr selten. Zwischen 2000 und 2010 erfolgten lediglich drei, zwischen 2010 und 2013 gar keine.

Obwohl sie politisches Gewicht haben, sind die Empfehlungen des Ministerkomitees rechtlich nicht verbindlich. Im Hinblick auf die Anpassung der Situationen, die nicht in Übereinstimmung mit der CSE sind, verfügen die Staaten über viel Ermessensspielraum und praktisch uneingeschränkte Freiheit bei der Wahl der Mittel.

Auch bezüglich der Umsetzung unterscheidet sich das System der Sozialcharta von jenem der EMRK. Stellt der Gerichtshof eine Verletzung der EMRK fest, ist der beklagte Staat rechtlich gehalten, dem Urteil des Gerichtshofes Folge zu leisten. Den Ministerdelegierten, welche die Erfüllung der Gerichtsurteile überwachen, stehen zahlreiche Mittel zur Verfügung, ihn dazu zu zwingen.

7.3

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates organisiert die periodischen Debatten über sozialpolitische Themen, die sie aufgrund der Schlussfolgerungen des CEDS, dem Bericht des Regierungsausschusses und den Resolutionen des Ministerkomitees auswählt.

7.4

Schlussfolgerung

Entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip ist es Aufgabe der Vertragsstaaten, die von ihnen anerkannten CSE-Bestimmungen umzusetzen. Sie sind aufgefordert, proaktiv zu handeln und die CSE bei der Ausarbeitung oder Umsetzung nationaler Gesetze oder im Rahmen ihrer Rechtsprechung einzuhalten.

Die Staaten sind verpflichtet, die Schlussfolgerungen des CEDS zu berücksichtigen und die ihrer nationalen Situation und ihren Möglichkeiten entsprechenden Massnahmen zu ergreifen, um die vom CEDS festgestellten Mängel zu beheben. Wenn sie dies nicht oder nur zögerlich tun, bleibt dem Europarat als letztes bindendes Mittel die politische und rechtlich nicht bindende Empfehlung des Ministerkomitees.

Dieses Instrument wird nur unter ausserordentlichen Umständen ergriffen.

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8

Analyse der Vereinbarkeit des schweizerischen Rechts mit der revidierten Europäischen Sozialcharta

8.1

Kernartikel

8.1.1

Dialog mit dem Europäischen Ausschuss für soziale Rechte

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten, vertreten durch die Direktion für Völkerrecht (DV) sowie die direkt betroffenen Bundesämter (Bundesamt für Justiz BJ, Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bundesamt für Sozialversicherungen BSV, Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI), haben mit dem CEDS Vorgespräche geführt, um die offenen Fragen bezüglich der Kernartikel, welche die Schweiz anerkennen könnte, zu klären. Einerseits ging es darum, den CEDS über das System und die Gesetzeslage in der Schweiz zu informieren, namentlich über besondere und sehr gut funktionierende Aspekte wie das duale Berufsbildungssystem. Andererseits sollte ermittelt werden, wie flexibel der CEDS gewisse Begebenheiten in der Schweiz im Falle einer Ratifizierung beurteilen würde. Beim dualen System der beruflichen Grundbildung bestand nach den Gesprächen eine Vereinbarung, wie der CEDS dieses im Hinblick auf die Sozialcharta einschätzt (vgl. Erläuterungen unter Ziff. 8.1.2 zu Art. 7 Abs. 4 und 5). Die Berichte über diese bilateralen Treffen sind auf der Website des Europarates publiziert.8 Der CEDS hat generell dargelegt, dass er seine Praxis im Verlauf der letzten Jahre mit «auslegenden Feststellungen» («observations interprétatives») gelockert hat. Er wendet die geltenden Standards flexibler an und verzichtet namentlich auf quantitative Anforderungen, um den wirtschaftlichen Gegebenheiten und Zwängen der betrachteten Länder Rechnung zu tragen. Der CEDS strebt nun vielmehr eine ganzheitliche Beurteilung des jeweiligen Staates an, die sämtliche Aspekte berücksichtigt.

2011 erliess der CEDS eine auslegende Feststellung («observation interprétative») zur Begrenzung der Entschädigungen bei missbräuchlichen Kündigungen. Seither hat er seinen Ansatz angepasst und berücksichtigt nun auch die jeweilige nationale Situation und den Gesamtkontext. Diese gelockerte Praxis erlaubte es dem CEDS anlässlich der bilateralen Gespräche, die Situation in der Schweiz bei seiner Beurteilung positiv zu berücksichtigen (weitere Einzelheiten dazu unter Ziff. 8.1.2).

8.1.2 Art. 1

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen Recht auf Arbeit

Vereinbarkeitsanalyse Das «Recht auf Arbeit» ist kein individuelles Recht, das einen Anspruch auf einen staatlich garantierten Arbeitsplatz begründet. Es bedeutet lediglich, dass alle Men-

8

http://hub.coe.int/de/ > Menschenrecht > Europäische Sozialcharta > (ab hier nur noch Englisch) Activities > Seminars/Events > 2013 > 9 September 2013 Bern, Switzerland

5624

schen die Möglichkeit haben müssen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und dank ihrer Arbeitsleistung in Würde zu leben.

Bund und Kantone setzen sich im Rahmen ihrer Sozialziele gemäss Artikel 41 Absatz 1 Buchstabe d der Bundesverfassung (BV)9 dafür ein, «dass Erwerbsfähige ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu angemessenen Bedingungen bestreiten können». Das Recht auf Arbeit ist auch in Artikel 6 des UNO-Pakts I verankert.

Art. 1 Abs. 1 Die Vertragsparteien verpflichten sich gemäss Absatz 1, zwecks Verwirklichung der Vollbeschäftigung die Erreichung und Aufrechterhaltung eines möglichst hohen und stabilen Beschäftigungsniveaus zu einer ihrer wichtigsten Zielsetzungen und Aufgaben zu machen. Es geht hier in erster Linie um die Verpflichtung, zweckdienliche Mittel einzusetzen, und weniger um die Verpflichtung, das Ziel zu erreichen. Einzelpersonen können gegenüber dem Staat kein subjektives Recht auf einen Arbeitsplatz geltend machen. Es war bisher unüblich, dass der CEDS die Situation eines Staates in diesem Punkt als nicht übereinstimmend mit der CSE befunden hätte.

Dieser Absatz stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

Art. 1 Abs. 2 Die Vertragsstaaten verpflichten sich gemäss Absatz 2, das Recht der Arbeitnehmenden, ihren Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen, wirksam zu schützen.

Artikel 1 Absatz 2 deckt die Frage der Zwangs- oder Pflichtarbeit, die in all ihren Formen verboten ist. Die Definition der Zwangs- oder Pflichtarbeit orientiert sich an Artikel 4 EMRK und am Übereinkommen Nr. 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO).

Ein Verstoss gegen das Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit kann zum Beispiel vorliegen, wenn die Annahme eines Arbeitsangebots zur Bedingung für die Gewährung von Arbeitslosenentschädigung gemacht wird und die Verpflichtung zur Annahme des Arbeitsangebots sehr stark ist. Gemäss CEDS umfasst das Recht auf eine frei übernommene Tätigkeit, dass Arbeitslose während einer angemessenen Anfangsphase Angebote ablehnen können, die nicht ihrer beruflichen Qualifikation und Erfahrung entsprechen, ohne den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung zu verlieren (Schlussfolgerungen 2004, Zypern, S. 99/100)10.

Dieses Problem stellt sich im schweizerischen Recht nicht. Artikel
16 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes vom 25. Juni 198211 (AVIG) sieht nämlich vor, dass Arbeitslose ein Arbeitsangebot ablehnen können, das nicht ihrer beruflichen Qualifikation und Erfahrung entspricht, ohne den Anspruch auf Arbeitslosenentschädi-

9 10

11

SR 101 Die technische Regelung der sozialen Sicherheit und die Voraussetzungen für die Auszahlung von Arbeitslosenentschädigungen werden vom CEDS im Rahmen von Artikel 12 CSE gewürdigt (Absatz 1 für bestehendes und Absatz 3 für neues Recht). Voraussetzung ist, dass der fragliche Staat diese Bestimmung ganz oder teilweise akzeptiert hat.

SR 837.0

5625

gung zu verlieren. Die Schweiz hat zudem das Übereinkommen Nr. 29 der ILO ratifiziert.

Der CEDS leitet aus Artikel 1 Absatz 2 CSE und aus dem Verbot von Zwangs- oder Pflichtarbeit auch ab, dass ein ziviler Ersatzdienst anderthalbmal länger dauern darf als der Militärdienst (Schlussfolgerungen XVI-1 Band 2, Polen), dass hingegen eine Dauer von 24 Monaten, die dem Doppelten des Militärdiensts entspricht, das Recht der Arbeitnehmenden, ihren Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen, unverhältnismässig stark einschränkt (Schlussfolgerungen 2002, Rumänien). Das geltende schweizerische Recht ist mit dieser Forderung von Artikel 1 Absatz 2 CSE, wie sie der CEDS interpretiert, vereinbar.

Ausserdem interpretiert der CEDS Artikel 1 Absatz 2 CSE (in Verbindung mit Artikel E Teil V der revidierten CSE: Diskriminierungsverbot) dahingehend, dass die Staaten verpflichtet sind, jegliche direkten oder indirekten Diskriminierungen bei der Beschäftigung rechtlich zu verbieten. Verboten sind alle diskriminierenden Handlungen und Vorschriften, die bei der Rekrutierung und bei den allgemeinen Anstellungsbedingungen eine Rolle spielen können (hauptsächlich Lohn, Ausbildung, Beförderung, Versetzung, Kündigung und andere Benachteiligungen). Der CEDS vertritt die Ansicht, dass Artikel 1 Absatz 2 die Staaten verpflichtet, rechtliche Massnahmen zu treffen, die gewährleisten, dass das Verbot der Diskriminierung effektiv umgesetzt wird. Dazu sind mindestens folgende Massnahmen zu treffen: ­

Bestimmungen in Gesamtarbeitsverträgen, Arbeitsverträgen und internen Betriebsreglementen, die dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung widersprechen, müssen als nichtig erklärt, entfernt, widerrufen, ausser Kraft gesetzt oder geändert werden können.

­

Für Fälle von Diskriminierungsvorwürfen sind angemessene und wirksame Beschwerdeverfahren vorzusehen.

­

Arbeitnehmende, die Beschwerde eingereicht oder vor einem Gericht eine Klage angebracht haben, sind vor Entlassungen und anderen Vergeltungsmassnahmen des Arbeitgebers zu schützen.

­

Für Fälle von Verstössen gegen das Diskriminierungsverbot sind Sanktionen gegen den Arbeitgeber mit genügend abschreckender Wirkung und ausreichende, dem Schaden des Opfers angemessene Wiedergutmachungen vorzusehen (Schlussfolgerungen XVI-1 Band 2, Luxemburg). Falls das nationale Recht keine Wiedereinstellung des entlassenen Opfers vorsieht, muss die Entschädigung den erlittenen Schaden ausreichend und angemessen aufwiegen (Schlussfolgerungen XVI-1 Tome 1, Belgien). Bis 2011 beurteilte der CEDS die Festsetzung eines Höchstbetrags für eine Entschädigung kritisch, weil dies seiner Auffassung nach dazu führen könnte, dass die gewährte Entschädigung nicht im Verhältnis zum erlittenen Schaden steht und für den Arbeitgeber nicht genügend abschreckend wirkt (Schlussfolgerungen XVII2 Band 1, Belgien; Schlussfolgerungen 2008, Band 1, Finnland). In einer auslegenden Feststellung («Observation interprétative») aus dem Jahr 2011 lockerte der CEDS seine Haltung bezüglich des Höchstbetrags für Entschädigungen bei missbräuchlicher Kündigung und hielt fest, dass das Opfer bei einer Begrenzung der Entschädigung für einen erlittenen materiellen Schaden auf anderem Rechtsweg auch für eine immaterielle Unbill einen Schadenersatz fordern können muss (Allgemeine Einleitung zu den Schlussfolgerungen 2011, Januar 2012, Auslegende Feststellung 17, S. 10). Der CEDS

5626

legte in den Gesprächen mit den Schweizer Behörden dar, dass ein Höchstbetrag per se nicht länger als Widerspruch zur CSE beurteilt wird. Vielmehr müsse die Situation in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der nationalen Besonderheiten und im Gesamtkontext betrachtet werden. Neben einem Höchstbetrag zieht der CEDS zusätzliche Möglichkeiten zur Erwirkung eines Schadenersatzes in Betracht, wie z. B. eine zusätzliche Entschädigung wegen Diskriminierung oder die gleichzeitige Einleitung eines Strafverfahrens.12 Diese Lockerung der Praxis wurde von den CEDS-Mitgliedern einstimmig beschlossen, was ein Zeichen der Stabilität für die Zukunft ist.

Das schweizerische Recht sollte grundsätzlich die ersten drei der genannten Bedingungen erfüllen.

Gemäss jüngster Praxis des CEDS ist aber eine Anpassung der Beweislast erforderlich, da die Beweislast in Streitfällen, bei denen eine Diskriminierung geltend gemacht wird, nicht ausschliesslich beim Kläger liegen darf (Schlussfolgerungen 2012, Bosnien-Herzegowina, S. 6; Schlussfolgerungen 2012, Aserbaidschan, S. 6). Im schweizerischen Recht liegt die Beweislast beim Arbeitnehmer. Diese Regel wird aber mehrfach gemildert. Zuerst einmal muss der Kläger im Bereich des Persönlichkeitsschutzes nur beweisen, dass ein Eingriff in die Persönlichkeit vorliegt. Da dieser Eingriff als unrechtmässig vermutet wird, ist es Sache der Gegenpartei zu beweisen, dass der Eingriff gerechtfertigt war. Zudem berücksichtigt die Rechtsprechung bei einer diskriminierenden Kündigung die Schwierigkeit, den Kündigungsgrund und deren kausalen Charakter zu beweisen, da diese subjektiv sind. Sie verlangt deshalb keine Sicherheit, sondern nur eine hohe Wahrscheinlichkeit. Ein Arbeitnehmer kann auch anhand von Indizien zeigen, dass der vom Arbeitgeber angeführte Kündigungsgrund nicht gegeben ist, was ausreicht, um zu vermuten, dass die Kündigung diskriminierenden und missbräuchlichen Charakter hat. Schliesslich gilt für Arbeitsstreitigkeiten bis zu einem Streitwert von 30 000 Franken ein vereinfachtes Verfahren, das durch die soziale Untersuchungsmaxime bestimmt ist (Art. 247 Abs. 2 Bst. b Ziff. 2 der Zivilprozessordnung, ZPO13). Das Gericht muss die schwächere Partei dabei unterstützen, ihre Vorbringen zu formulieren und Beweismittel vorzulegen. Dadurch wird die Beweislast gemildert. Zudem
werden im vereinfachten Verfahren während des ganzen Verfahrens neue Sachverhalte und Beweismittel zugelassen (Art. 229 Abs. 3 ZPO). Es kann also mit gutem Grund angenommen werden, dass die Regelung der Beweislast im schweizerischen Recht den Anforderungen der CEDS-Praxis genügen sollte.

Was das gesetzliche Verbot der Diskriminierung am Arbeitsplatz betrifft, sollte die Vereinbarkeit des schweizerischen Rechts mit Artikel 1 Absatz 2 CSE grundsätzlich ebenfalls kein Problem bilden. Aus arbeitsrechtlicher Sicht ist die Gleichbehandlung gestützt auf den Persönlichkeitsschutz garantiert, wenn einzelne Arbeitnehmer Vorteile nicht erhalten, die den meisten anderen gewährt werden. Eine Diskriminierung aufgrund der Rasse, der Religion oder anderer persönlicher Merkmale ist in der 12

13

Zur Auslegung des CEDS sei auf den «ausführlichen Bericht über das Treffen vom 22. Mai 2012 zwischen einer Schweizer Delegation und dem Europäischen Ausschuss für soziale Rechte in Strassburg», Nr. 2, Seite 7, verwiesen, der als Anhang zum bilateralen Treffen vom 9. September 2013 auf der Website des Europarats publiziert ist (vgl. Fussnote 8).

SR 272

5627

Gesetzgebung nicht ausdrücklich untersagt, kann aber als Eingriff in die Persönlichkeit gelten und damit Anspruch auf Entschädigung verleihen. Diese Regel ist a priori nicht auf direkte Diskriminierung beschränkt und könnte auch indirekte Diskriminierungen umfassen, wie dies der CEDS verlangt.

Die vierte Bedingung gehörte hingegen zu den offenen Fragen, die im Rahmen des Dialogs zwischen den Schweizer Behörden und dem CEDS erörtert wurden. Das schweizerische Recht sieht zurzeit im Falle einer missbräuchlichen Kündigung grundsätzlich keine Wiedereinstellung vor. Ausgenommen sind besondere gesetzliche Regelungen wie etwa im Bundespersonalgesetz vom 24. März 200014 (BPG), das in Artikel 34c (Weiterbeschäftigung der angestellten Person) in der auf den 1. Januar 2014 in Kraft getretenen Fassung festlegt, dass der Arbeitgeber der angestellten Person die bisherige Arbeit anbietet, wenn die Beschwerdeinstanz die Beschwerde gegen eine Verfügung über die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gutgeheissen hat, weil beispielsweise die Kündigung nach Artikel 336 des Obligationenrechts15 (OR), zu der auch die diskriminierende Kündigung gehört (Art. 336 Abs. 1 Bst. a OR), missbräuchlich war oder ausgesprochen wurde, weil die angestellte Person in guten Treuen eine Anzeige erstattet hat (Whistleblowing).

Gemäss Artikel 336a OR darf die Entschädigung bei einer missbräuchlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses den Betrag nicht übersteigen, der dem Lohn für sechs Monate entspricht. Die Entschädigung beinhaltet auch eine Genugtuung. Vorbehalten bleiben ausserordentliche Umstände, in denen eine Entschädigung in Höhe von sechs Monatslöhnen nicht als angemessene Genugtuung gelten kann. Ferner kann eine zusätzliche Entschädigung aus einem anderen Grund als der missbräuchlichen Kündigung geschuldet sein. Zu denken ist dabei an den Schutz der Persönlichkeit, der beleidigende oder degradierende Äusserungen oder falsche und ehrverletzende Auskünfte verbietet (Art. 336a Abs. 2 OR: «Schadenersatzansprüche aus einem anderen Rechtstitel sind vorbehalten»).

Anlässlich der Gespräche mit den Schweizer Behörden äusserte der CEDS, nachdem ihm die aktuelle Rechtslage der Schweiz dargelegt worden war, die Auffassung, diese sei ausreichend, zumal nach seiner neuen Praxis ausschlaggebend sei, dass die Möglichkeit einer zusätzlichen
Genugtuung nicht ausgeschlossen werde.

Weil der CEDS mit seinem neuen ganzheitlichen Ansatz sämtliche Aspekte der nationalen Situation berücksichtigt, müsste er zum Schluss kommen, dass die Arbeitsbedingungen in der Schweiz im internationalen Vergleich sehr vorteilhaft sind16.

Art. 1 Abs. 3 Absatz 3 sieht vor, unentgeltliche Arbeitsvermittlungsdienste für alle Arbeitnehmenden einzurichten oder aufrechtzuerhalten. Gemäss CEDS müssen diese Dienste auch für die Arbeitgeber unentgeltlich sein.

Dieser Absatz stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

14 15 16

SR 172.220.1 SR 220 Siehe dazu den im Oktober 2013 erschienenen Human Capital Report des World Economic Forum (WEF), der 122 Länder anhand von rund 50 Indikatoren untersucht und zum Schluss kommt, dass die Schweiz weltweit die besten Arbeitsbedingungen bietet.

5628

Art. 1 Abs. 4 Die Vertragsstaaten verpflichten sich gemäss Absatz 4, eine geeignete Berufsberatung, Berufsausbildung und berufliche Wiedereingliederung sicherzustellen oder zu fördern.

Dieser Absatz stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

Schlussfolgerung Das geltende schweizerische Recht ist vereinbar mit den Absätzen 1, 3 und 4 von Artikel 1 CSE.

Das geltende schweizerische Recht sollte auch mit Artikel 1 Absatz 2 vereinbar sein.

Die Voreinschätzung der Situation in der Schweiz durch den CEDS, was den Höchstbetrag der Entschädigung bei missbräuchlier Kündigung betrifft, fällt positiv aus. Angesichts der jüngsten Lockerung der Praxis des CEDS ist die schweizerische Regelung für den Höchstbetrag der Entschädigung bei missbräuchlicher Kündigung grundsätzlich mit der CSE vereinbar. Es gibt auch gute Gründe, um zu vermuten, dass die Vereinbarkeit der schweizerischen Regelung für die Anpassung der Beweislast mit der CSE gegeben ist. Das Diskriminierungsverbot scheint den anderen Anforderungen des CEDS zu genügen.

Art. 5 Art. 6

Vereinigungsrecht Recht auf Kollektivverhandlungen

Vereinbarkeitsanalyse Die Artikel 5 und 6 werden zusammen behandelt, weil sie ein untrennbares Ganzes bilden.

Die Mehrheit der Lehre vertritt den Standpunkt, dass die Vereinigungsfreiheit und die Koalitionsfreiheit gemäss Artikel 23 bzw. 28 BV den Anforderungen der Sozialcharta genügen. Gemäss Artikel 28 Absatz 3 BV sind Streiks «zulässig». Die Vereinigungsfreiheit wird ausserdem garantiert durch Artikel 11 EMRK, durch das Übereinkommen Nr. 87 vom 9. Juli 194817 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes sowie durch Artikel 8 des UNO-Pakts I und durch Artikel 22 des Internationalen Pakts vom 16. Dezember 196618 über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II), die alle von der Schweiz ratifiziert wurden.

Die in Artikel 23 und 28 BV verankerten Garantien können gesetzlich beschränkt werden, wenn der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt wird (Art. 36 BV).

Insbesondere kann es das Gesetz bestimmten Kategorien von Personen verbieten zu streiken (Art. 28 Abs. 4 BV). Voraussetzung für eine Streikbeschränkung oder ein Streikverbot ist jedoch ein überwiegendes öffentliches Interesse, zum Beispiel die Sicherstellung der Versorgung mit unverzichtbaren Waren oder Leistungen. Ausserdem darf eine Beschränkung den Kerngehalt der Grundrechte nicht beeinträchtigen (Art. 36 Abs. 4 BV).

17 18

SR 0.822.719.7 SR 0.103.2

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Art. 5 Die Vertragsstaaten verpflichten sich gemäss Artikel 5, die Freiheit der Arbeitnehmenden und Arbeitgeber, örtliche, nationale oder internationale Organisationen zum Schutze ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu bilden und diesen Organisationen beizutreten, zu gewährleisten oder zu fördern und diese Freiheit weder durch das innerstaatliche Recht noch durch dessen Anwendung zu beeinträchtigen. Wie weiter oben bereits erwähnt, ist diese Freiheit auch im schweizerischen Recht verankert.

Der CEDS stellte in einzelnen Schlussfolgerungen seiner alten Praxis fest, dass gemäss Artikel 5 CSE im Fall einer Verletzung des Schutzes gegen diskriminierende Kündigung das Landesrecht eine Sanktion mit einer ausreichend abschreckenden Wirkung für den Arbeitgeber und eine angemessene Wiedergutmachung für die Arbeitnehmerin bzw. den Arbeitnehmer vorsehen müsste. Dies war mit einer nach oben begrenzten Entschädigung nicht vereinbar (Schlussfolgerungen XVIII-I 2006, Band 1, Belgien).

Wie weiter oben zu Artikel 1 Absatz 2 bereits erwähnt, hat der CEDS seine Haltung bezüglich des Höchstbetrags für eine Entschädigung bei missbräuchlicher Kündigung Ende 2011 gelockert. Diese neue Praxis ist auch auf die Entschädigung bei diskriminierender Kündigung im Rahmen von Artikel 5 anwendbar. Anlässlich der Gespräche mit den Schweizer Behörden äusserte der CEDS, nachdem ihm die aktuelle Rechtslage der Schweiz dargelegt worden war, die Auffassung, diese sei ausreichend, zumal nach seiner neuen Praxis ausschlaggebend sei, dass die Möglichkeit einer zusätzlichen Genugtuung nicht ausgeschlossen werde. Unter diesen Umständen kann davon ausgegangen werden, dass diesbezüglich das geltende schweizerische Recht grundsätzlich mit Artikel 5 vereinbar ist.

Art. 6 Abs. 1 Um eine wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsstaaten gemäss Absatz 1, gemeinsame Beratungen zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebern zu fördern. Dieser Absatz stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

Art. 6 Abs. 2 Absatz 2 befasst sich mit Verfahren für freiwillige Verhandlungen zwischen Arbeitgebern (oder ihren Organisationen) und den Arbeitnehmerorganisationen mit dem Ziel, die Beschäftigungsbedingungen durch Gesamtarbeitsverträge zu regeln. Die
Vertragsstaaten verpflichten sich, die Einrichtung solcher Verhandlungsverfahren zu fördern, soweit dies notwendig und zweckmässig ist. Dieser Absatz stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

Art. 6 Abs. 3 Die Vertragsstaaten verpflichten sich gemäss Absatz 3, die Einrichtung und Benutzung geeigneter Vermittlungs- und freiwilliger Schlichtungsverfahren zur Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten zu fördern. Dieser Absatz stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

5630

Art. 6 Abs. 4 Absatz 4 bot früher Anlass für Probleme und war Hauptthema der parlamentarischen Debatten nach 1983, als der Bundesrat den Eidgenössischen Räten seine Botschaft über die Ratifizierung der Sozialcharta unterbreitete. Inzwischen haben jedoch bedeutende Entwicklungen stattgefunden, die sich erheblich auf die Vereinbarkeitsanalyse zu Absatz 4 auswirken, namentlich die Aufnahme des Streikrechts in Artikel 28 der neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999.

Gemäss Absatz 4 anerkennen die Vertragsstaaten das Recht der Arbeitnehmenden und Arbeitgeber auf kollektive Massnahmen einschliesslich des Streikrechts im Fall von Interessenkonflikten. Dieses Recht wird auch Beamtinnen und Beamten zugestanden (vgl. z. B. Schlussfolgerungen XV-1, Band 1, Dänemark, S. 164).

Wie erwähnt gewährt die Bundesverfassung ausdrücklich das Streikrecht, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind. Mit Ausnahme von zwei Kantonen, die dem öffentlichen Personal den Streik verbieten, anerkennen auch alle Kantone und Gemeinden dieses Recht (vgl. dazu Ziff. 10.1). Die Bundesverfassung sieht nur unter drei Bedingungen ein Streikverbot vor. Das Verbot muss gesetzlich verankert sein.

Es muss sich aus Gründen der öffentlichen Ordnung rechtfertigen lassen (nicht nur aus Gründen des öffentlichen Interesses). Es muss schliesslich den Grundsatz der Verhältnismässigkeit respektieren, das heisst, es muss in der Lage sein, das im Interesse der öffentlichen Ordnung angestrebte Ziel zu erreichen, und es darf keine anderen denkbaren Massnahmen geben als ein Verbot. Gemäss Bundesverfassung kann der kantonale Gesetzgeber folglich kein allgemeines Streikverbot für alle öffentlichen Beschäftigten erlassen.

Gesamtarbeitsverträge können einen absoluten Arbeitsfrieden vorsehen, ohne gegen Artikel 6 Absatz 4 der Charta zu verstossen. Dieser Artikel enthält im Zusammenhang mit dem Recht auf kollektive Massnahmen bei Interessenkonflikten einen ausdrücklichen Vorbehalt zu den Verpflichtungen, die sich aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen ergeben könnten.

Was das Streikrecht angeht, scheint das schweizerische Recht nunmehr mit den generellen Anforderungen der CSE vereinbar zu sein. Dass die Bestimmungen zweier Kantone noch nicht mit der Bundesverfassung vereinbar sind und deren Beamtinnen und Beamten grundsätzlich kein Streikrecht gewährt wird,
wäre kein Grund, die CSE nicht zu ratifizieren.

Gemäss den Schlussfolgerungen des CEDS in Bezug auf Artikel 6 Absatz 4 muss ein Streik zudem eine aufschiebende Wirkung auf den Arbeitsvertrag haben. Auch muss für eine Kündigung wegen einer Streikteilnahme ein ausreichend abschreckendes Verbot bestehen (Schlussfolgerungen XVIII-1 Band 1, Belgien). Streikende Arbeitnehmende, die unrechtmässig entlassen wurden, müssen wieder eingestellt oder, falls dies nicht möglich ist, entschädigt werden. Eine solche Entschädigung muss für die Arbeitnehmerin bzw. den Arbeitnehmer eine angemessene Wiedergutmachung darstellen und für den Arbeitgeber eine abschreckende Wirkung haben (Schlussfolgerungen 2006, Band 2, Slowenien).

Im schweizerischen Recht hat das Bundesgericht entschieden, dass die Hauptverpflichtungen eines Arbeitsvertrages während eines Streiks ausser Kraft treten (BGE 125 III 277, E. 3c). Arbeitnehmende, die das Streikrecht wahrnehmen (siehe Art. 28 Abs. 3 BV), sind vor Kündigung geschützt (Art. 336 ff. OR). Eine solche Kündigung gilt als missbräuchlich (Art. 336 Abs. 1 Bst. b OR oder Art. 336 Abs. 2 5631

Bst. a OR für Gewerkschaftsmitglieder). Im Fall einer missbräuchlichen Kündigung sieht das Gesetz eine Entschädigung vor, die vom Gericht festgesetzt wird und die gemäss geltendem Recht den Höchstbetrag von sechs Monatslöhnen nicht übersteigen darf.

Wie weiter oben zu Artikel 1 Absatz 2 bereits erwähnt, hat der CEDS seine Haltung bezüglich des Höchstbetrags für eine Entschädigung bei missbräuchlicher Kündigung Ende 2011 gelockert. Diese neue Praxis ist auch auf eine Entschädigung bei Kündigung wegen Streiks im Rahmen von Artikel 6 Absatz 4 anwendbar. Anlässlich der Gespräche mit den Schweizer Behörden äusserte der CEDS, nachdem ihm die aktuelle Rechtslage der Schweiz dargelegt worden war, die Auffassung, diese sei ausreichend, zumal nach seiner neuen Praxis ausschlaggebend sei, dass die Möglichkeit einer zusätzlichen Genugtuung nicht ausgeschlossen werde. Unter diesen Umständen kann davon ausgegangen werden, dass diesbezüglich das geltende schweizerische Recht grundsätzlich mit den Anforderungen gemäss Artikel 6 vereinbar ist.

Schlussfolgerung Der CEDS hat die Situation in der Schweiz im Hinblick auf den Höchstbetrag für Entschädigungen bei missbräuchlicher Kündigung positiv beurteilt. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass das geltende Schweizer Recht grundsätzlich den Anforderungen entspricht, die sich aus der Auslegung von Artikel 5 und 6 ergeben.

Das allgemeine Streikverbot für Beamte, das in zwei kantonalen Gesetzgebungen vorgesehen ist, bildet kein Hindernis für die Ratifikation der CSE durch die Schweiz. Da diese kantonalen Bestimmungen nicht den Anforderungen der Bundesverfassung entsprechen, können sie unabhängig von einer allfälligen Ratifikation der CSE schon heute nicht mehr angewendet werden.

Insgesamt ist das geltende schweizerische Recht folglich grundsätzlich mit Artikel 5 und 6 CSE vereinbar.

Art. 7

Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz

Artikel 7 betrifft den Schutz von Kindern und Jugendlichen im Schulalter bei der Arbeit. Die Absätze 1 bis 9 regeln den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren im Berufsleben. Absatz 10 verlangt den Schutz vor Gefahren, die nicht unbedingt im Zusammenhang mit einer Arbeit stehen.

Vereinbarkeitsanalyse Art. 7 Abs. 1 Mindestalter für die Zulassung zu einer Beschäftigung Gemäss Absatz 1 ist das Mindestalter für die Zulassung zu einer ­ regelmässigen, festen ­ Beschäftigung auf 15 Jahre festzusetzen. Das Hauptziel dieser Bestimmung, die im Zusammenhang mit Absatz 3 zu lesen ist, besteht darin, das Recht auf Bildung von Kindern im schulpflichtigen Alter zu schützen. Gemäss CEDS-Praxis gilt das Mindestalter für alle Wirtschaftssektoren einschliesslich der Landwirtschaft und aller Betriebsarten einschliesslich der Familienbetriebe und der privaten Haushalte.

5632

Artikel 7 Absatz 1 lässt eine Ausnahme zu. Er erlaubt Jugendlichen unter 15 Jahren die Ausübung leichter Arbeiten, wenn diese weder ihre Gesundheit noch ihre Moral oder ihre Erziehung gefährden. Der CEDS verlangt, dass der Gesetzgeber die als leichte Arbeiten eingestuften Aufgaben präzisiert (Schlussfolgerungen 2006, Band 1, Zypern).

Die Rechtsordnung und die Praxis der Schweiz entsprechen diesen Anforderungen.

Artikel 30 des (Arbeitsgesetzes vom 18. März 196419 (ArG) verbietet die Beschäftigung Jugendlicher vor dem vollendeten 15. Altersjahr. Jugendliche im Alter von über 13 Jahren dürfen unter Einhaltung der Bestimmungen der Jugendarbeitsschutzverordnung vom 28. September 200720 (ArGV 5; vgl. Art. 30 Abs. 2 Bst. a ArG und Art. 8 ArGV 5) zu leichten Arbeiten herangezogen werden.

Situation in Familienbetrieben Eine offene Frage betraf Jugendliche, die in reinen Familienbetrieben arbeiten, welche keine anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen. Diese Jugendlichen sind nicht durch das Arbeitsgesetz, d. h. durch ein vorgeschriebenes Mindestalter, geschützt (Art. 3 Abs. 2 ArGV 5). Die Annahme, dass Jugendliche vor dem 15. Altersjahr regelmässig und fest in einem Familienbetrieb beschäftigt werden, ist allerdings primär theoretisch. Im heutigen Schulsystem der Schweiz schliessen Jugendliche die obligatorische Schule nämlich in der Regel im Alter zwischen 15 und 16 ab. Gemäss dem 2009 in Kraft getretenen und bisher von 15 Kantonen verabschiedeten HarmoS-Konkordat beträgt die obligatorische Schulzeit elf Jahre, wobei die Kinder bei ihrem Eintritt in die Schule zwischen vier und fünf Jahre alt sind.

Selbst wenn in gewissen Fällen Jugendliche unter 15 Jahren aus der Schulpflicht entlassen werden können, darf die kantonale Behörde eine Arbeitsbewilligung im Einzelfall nur im Rahmen der dualen beruflichen Grundbildung oder im Rahmen eines ausserschulischen Förderprogramms für Jugendliche erteilen (vgl. Art. 9 ArGV 5). Wie der CEDS und die Schweizer Behörden anlässlich ihres Dialogs vereinbart haben (vgl. dazu die Ausführungen zu Art. 7 Abs. 4 und 5), fällt die duale berufliche Grundbildung nicht in den Geltungsbereich von Artikel 7 CES.

Situation in landwirtschaftlichen Familienbetrieben Bei landwirtschaftlichen Familienbetrieben stellt sich die Frage der regelmässigen und festen Beschäftigung
nicht. Zum einen gilt heute das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung auch in der Landwirtschaft. Im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) kontrolliert die Stiftung «agriss» missbräuchliche Kinderarbeit und die Mindestaltersbestimmungen von Kindern und Jugendlichen bei der Arbeit auf der Basis des Arbeitsgesetzes in der Landwirtschaft und im Gartenbau.

Zum anderen gelten Arbeiten, die Jugendliche unter 15 Jahren regelmässig zur Unterstützung der Familie erbringen, als leichte Arbeiten, die der CEDS im Sinne von Artikel 7 Absatz 1 zulässt.

Anlässlich des Dialogs zwischen den Schweizer Behörden und dem CEDS wurde die Frage des Mindestalters für die Zulassung zur Beschäftigung erörtert. Der CEDS bestätigte, dass es unbedenklich ist, wenn ein 14-jähriger Jugendlicher während der

19 20

SR 822.11 SR 822.115

5633

Ferien oder in seiner Freizeit im Familienbetrieb «aushilft», solange dadurch seine obligatorische Schulbildung nicht gefährdet wird.21 Der CEDS hat ausserdem seine Praxis im Zusammenhang mit leichten Arbeiten von Jugendlichen während der Ferien tendenziell gelockert. So hat er in einer auslegenden Feststellung («observation interprétative») vom Dezember 2011 bezüglich obligatorischer Ruhezeit während der Schulferien präzisiert, dass bei der Berechnung sämtliche Ferien zu berücksichtigen sind und nicht nur die Sommerferien (Allgemeine Einleitung zu den Schlussfolgerungen 2011, Januar 2012, Auslegende Feststellung Nr. 7, S. 5). Der CEDS wählte damit einen «konkreteren Ansatz für eine gerechte und ausgewogene Beurteilung der sehr unterschiedlichen nationalen Situationen und Gewohnheiten».

Des Weiteren hielt der CEDS in Bezug auf das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung als massgebend fest, dass die Schweiz bei der Umsetzung des von ihr ratifizierten Übereinkommens Nr. 138 vom 26. Juni 197322 über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung keine Schwierigkeiten hat.

Artikel 7 Absatz 1 stellt folglich bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

Art. 7 Abs. 2 Für verschiedene Beschäftigungen, die als gefährlich oder gesundheitsschädlich gelten, hat die CSE das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung auf 18 Jahre festgesetzt. Ausnahmen sind zulässig, wenn die gefährlichen oder gesundheitsschädlichen Arbeiten für die Berufsausbildung der betroffenen Jugendlichen grundlegend sind. Dabei gelten Vorbehalte hinsichtlich einer strengen und kompetenten Begleitung und eines genau festgelegten Zeitrahmens, der für die Ausbildung erforderlich ist.

Dieser Absatz stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem geltenden schweizerischen Recht kein Problem dar. Auch Artikel 4 Absatz 1 der Jugendarbeitsschutzverordnung (ArGV 5) verbietet in allgemeiner Weise die Beschäftigung Jugendlicher unter 18 Jahren für gefährliche Arbeiten. Das SBFI kann mit Zustimmung des SECO für Jugendliche ab 15 Jahren in Bildungsverordnungen Ausnahmen vorsehen, sofern diese Arbeiten für das Erreichen der Ziele der beruflichen Grundbildung unentbehrlich sind (Art. 4 Abs. 4 ArGV 5). Dieses Mindestalter wurde durch Entscheid des Bundesrates vom 25. Juni 2014 von 16 auf 15 Jahre herabgesetzt. Die
revidierte ArGV 5, welche am 1. August 2014 in Kraft tritt, sieht vor, dass die Organisationen der Arbeitswelt (OdA) bei Berufen mit gefährlichen Arbeiten in ihren Bildungsplänen begleitende Massnahmen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes treffen. Diese Massnahmen müssen innerhalb dreier Jahre nach Inkrafttreten der Änderung der ArGV 5 durch die OdA erarbeitet und durch das SBFI genehmigt werden. In den darauffolgenden zwei Jahren überprüfen und ergänzen die Kantone die Bildungsbewilligungen. Das heute geltende Mindestalter von 16 Jahren gilt bis zur Umsetzung aller Massnahmen. Sind diese Massnahmen bis zum Ablauf der 21

22

Zur Auslegung des CEDS sei auf den «ausführlichen Bericht zum Treffen vom 22. Mai 2012 zwischen der Schweizer Delegation und dem Europäischen Ausschuss für soziale Rechte in Strassburg», Nr. 3, Seite 7/8, verwiesen, der als Anhang zum Bericht über das bilaterale Treffen vom 9. September 2013 auf der Website des Europarats publiziert ist (vgl. Fussnote 8).

SR 0.822.723.8

5634

Fristen nicht umgesetzt, dürfen Lernende unter 18 Jahren in der entsprechenden beruflichen Grundbildung keine gefährlichen Arbeiten mehr ausführen. Darüber hinaus kann das SECO im Einzelfall Ausnahmebewilligungen erteilen, sofern dies für das Erreichen der Ziele der beruflichen Grundbildung unentbehrlich ist (Art. 4 Abs. 6 ArGV 5). Auch dies ist mit der entsprechenden Praxis des CEDS vereinbar.

Artikel 7 Absatz 2 stellt folglich bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar. Weil der CEDS gemäss seinem aktuellen Ansatz sämtliche Aspekte berücksichtigt, dürften die Massnahmen im Bereich der Gesundheit und Sicherheit der Lernenden, welche die Herabsetzung des Mindestalters für gefährliche Arbeiten begleiten, die notwendigen Garantien enthalten, um mit der Praxis der CEDS in diesem Bereich vereinbar zu sein.

Art. 7 Abs. 3 Absatz 3 verbietet die Beschäftigung von schulpflichtigen Kindern (leichte Arbeiten), wenn sie dadurch nicht den vollen Nutzen aus der Schulbildung ziehen können.

Der CEDS ist der Auffassung, dass Kindern während der Schulzeit nur beschränkt Zeit zum Arbeiten gewährt werden darf, damit der regelmässige Schulbesuch, die geistige Aufnahmefähigkeit des Kindes und sein persönliches Lernen nicht behindert werden. Dass schulpflichtige Kinder im Alter von 15 Jahren ab sechs Uhr morgens zwei Stunden pro Tag Zeitungen zustellen, verstösst beispielsweise gegen die CSE (Schlussfolgerungen 2011, Band I, Estland). Der CEDS gestattet acht Stunden Arbeit pro Tag für eine Dauer, die weniger als die Hälfte der Sommerferien ausmacht. Die Vertragsparteien müssen während der gesamten Dauer der Schulferien eine obligatorische und zusammenhängende Ruhezeit von nicht weniger als zwei Wochen vorsehen.23 Die Bestimmungen in der ArGV 5 bezüglich Höchstarbeitszeit und Pausen für schulpflichtige Jugendliche gehen in dieselbe Richtung wie die Praxis des CEDS und erscheinen im Hinblick auf die Vereinbarkeit ausreichend restriktiv, zumal der CEDS die nationalen Gewohnheiten heute vermehrt berücksichtigt. Artikel 7 Absatz 3 stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht somit kein Problem dar.

Art. 7 Abs. 4 und 5 Diese beiden Absätze werden gemeinsam behandelt, weil sie Gegenstand einer entscheidenden offenen Frage waren, die dem CEDS anlässlich des Dialogs mit den Schweizer
Behörden zur vorgängigen Beurteilung unterbreitet wurde.

Absatz 4 begrenzt die Arbeitszeit von Arbeitnehmenden unter 18 Jahren entsprechend den Erfordernissen ihrer Entwicklung und insbesondere ihrer Berufsausbildung.

Absatz 5 anerkennt das Recht der jugendlichen Arbeitnehmenden und Berufslernenden auf ein gerechtes Arbeitsentgelt oder eine angemessene Entschädigung. Damit Jugendliche leichter eine Stelle finden, kann der CEDS ein reduziertes Arbeitsentgelt für jugendliche Arbeitnehmende gutheissen, wenn das Entgelt akzeptabel ist.

23

Vgl. weiter oben zu Artikel 7 Absatz 1, Situation in landwirtschaftlichen Familienbetrieben, Allgemeine Einleitung zu den Schlussfolgerungen 2011, Januar 2012, Auslegende Feststellung Nr. 7, S. 5.

5635

Im Zusammenhang mit den etablierten Standards des CEDS bei der Anwendung von Absatz 4 und namentlich Absatz 5 tauchte die Frage der Vereinbarkeit gewisser Aspekte des dualen Systems der beruflichen Grundbildung in der Schweiz («Lehre») auf.

Die Unterschiede zwischen der Situation in der Schweiz und der Praxis des CEDS erklären sich durch die Besonderheiten des dualen Systems der beruflichen Grundbildung in der Schweiz, das Bestandteil des schweizerischen Bildungssystems ist.

Die Berufslernenden stehen in einem Ausbildungsverhältnis und nicht in einem Leistungsverhältnis zum Unternehmen, das sie beschäftigt. Der Lohn ist somit keine Gegenleistung für ihre Arbeit.

Die Schweizer Behörden haben diese Aspekte angesprochen und in den Mittelpunkt ihres Dialogs mit dem CEDS gestellt.

Der Meinungsaustausch mündete am 9. September 2013 in Bern in ein Treffen zwischen dem CEDS und Vertretern der direkt betroffenen Bundesämter: DV, SECO, SBFI, BSV und BJ. Ziel des Treffens war es, die Einigung über die Beurteilung des dualen Systems der beruflichen Grundbildung der Schweiz und dessen Vereinbarkeit mit der Sozialcharta, die sich in den vorangegangenen Gesprächen abgezeichnet hatte, in geeigneter Form zu formalisieren und dauerhaft zu sichern.

Die CEDS-Delegation anerkannte ausdrücklich den Mehrwert des dualen Systems der beruflichen Grundbildung in der Schweiz und dessen Besonderheiten, namentlich den höheren Stellenwert der Ausbildung gegenüber der Arbeit, und bekräftigte, dass es Bestandteil des Bildungssystems ist und folglich mit den anderen Arten der Schul- und Hochschulbildung vergleichbar ist. Die CEDS-Delegation betonte ausserdem, dass die Staaten bezüglich der praktischen Modalitäten zur Umsetzung der CSE über einen gewissen Ermessensspielraum verfügen, wenn sie wie in diesem Fall über ein leistungsfähiges Sozialsystem verfügen.

Der CEDS kam zum Schluss, dass das System der Schweiz zwar manchmal als «Lehre» bezeichnet wird, aber eigentlich zur Berufsbildung zählt und folglich unter Artikel 10 CSE (Recht auf berufliche Bildung) und nicht unter Artikel 7 fällt.

Konkret heisst das, dass die offenen Fragen im Zusammenhang mit dem dualen System der beruflichen Grundbildung gelöst sind. Sollte die Schweiz die Sozialcharta ratifizieren, würde dieses System aus Sicht von Artikel 10 Absatz 2 geprüft,
der nicht zum harten Kern, sondern zu den Zusatzbestimmungen gehört, die von der Schweiz anerkannt werden können (vgl. Ziff. 8.2). Zur Formalisierung und dauerhaften Festlegung ihrer Haltung hat die CEDS-Delegation diese Position in ihrem Bericht zum Treffen festgehalten, den sie der Plenarsitzung des CEDS von Ende Oktober 2013 in Strassburg vorlegte. Der Gesamtausschuss hat den Sitzungsbericht verabschiedet und damit akzeptiert, dass die darin enthaltene Beurteilung des dualen Systems der beruflichen Grundbildung der Schweiz seiner Sicht entspricht und langfristig gilt. Die Formalisierung dieser Einigung zwischen den beiden Seiten wird durch die Veröffentlichung des Berichts über das bilaterale Treffen vom 9. September 2013 auf der Website des Europarates bekräftigt.24 Die Situation junger Arbeitnehmender unter 18 Jahren, die nicht in einem Lehrverhältnis stehen, ist aus Sicht von Artikel 7 Absätze 4 und 5 unproblematisch. Wie weiter oben ausgeführt (vgl. Ausführungen zu Absatz 1), kommt es selten vor, dass 24

Vgl. Fussnote 8.

5636

Jugendliche unter 16 Jahren ausserhalb der dualen beruflichen Grundbildung oder eines Beschäftigungsprogramms auf den Arbeitsmarkt gelangen. Im Durchschnitt beträgt die wöchentliche Arbeitszeit 41,6 Stunden bzw. 40 Stunden in Industrieunternehmen einer bestimmten Grösse sowie bei Arbeitsverhältnissen, die einem Gesamtarbeitsvertrag unterstehen (in den Ländern der Europäischen Union sind es 40,4 Stunden), was sehr nahe beim CEDS-Standard liegt (40 Stunden für 16- und 17-Jährige) bzw. diesem entspricht. Weil der CEDS mit seinem neuen Ansatz alle relevanten Aspekte berücksichtigt und den Staaten viel Ermessensspielraum bei der Umsetzung der CSE gewährt, wenn sie über ein leistungsfähiges Sozialsystem verfügen, würde er im Falle der Schweiz den hohen Standards für junge Arbeitnehmende im Bereich der Arbeitssicherheit Rechnung tragen. Dazu kommt, dass das Schweizer Recht jungen Arbeitnehmenden unter 18 Jahren jährlich bezahlte Ferien gewährt, deren Dauer über dem Minimum gemäss CEDS-Praxis liegt (vgl. Ausführungen zu Absatz 7). Schliesslich entsprechen die Löhne von jugendlichen Arbeitnehmenden in der Schweiz den Anforderungen des CEDS, der für Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren eine Reduktion um bis zu 20 % gegenüber dem Lohn von Erwachsenen zu Beginn ihrer Berufslaufbahn akzeptiert.

Art. 7 Abs. 6 Absatz 6 sieht vor, dass die Zeit, die Jugendliche während der normalen Arbeitszeit mit Zustimmung des Arbeitgebers für die Berufsausbildung verwenden, als Teil der täglichen Arbeitszeit gilt.

Dieser Absatz stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht per se kein Problem dar. Wie weiter oben erläutert, würde das duale System der beruflichen Grundbildung aus Sicht von Artikel 7 sowieso nicht geprüft.

Art. 7 Abs. 7 Die Vertragsstaaten verpflichten sich gemäss Absatz 7, die Dauer der bezahlten Ferien pro Jahr für Arbeitnehmende unter 18 Jahren auf mindestens vier Wochen festzusetzen.

Dieser Absatz stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar, da mit einem festgelegten Mindestmass von fünf Wochen Ferien pro Jahr die Anforderung der CSE sogar übertroffen werden.

Art. 7 Abs. 8 Absatz 8 fordert ein Verbot für Nachtarbeit für Arbeitnehmende unter 18 Jahren. Er sieht eine Ausnahme vor für bestimmte im innerstaatlichen Recht festgelegte Arbeiten.

Dieser Absatz
stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

Art. 7 Abs. 9 Absatz 9 sieht vor, dass Arbeitnehmende unter 18 Jahren, die in bestimmten im innerstaatlichen Recht festgelegten Beschäftigungen tätig sind, einer regelmässigen ärztlichen Überwachung unterliegen.

5637

Dieser Absatz stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

Art. 7 Abs. 10 Die Vertragsstaaten verpflichten sich gemäss Absatz 10, einen besonderen Schutz gegen die körperlichen und sittlichen Gefahren sicherzustellen, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind, insbesondere gegen Gefahren, die sich unmittelbar oder mittelbar aus ihrer Arbeit ergeben. Diese Bestimmung gewährt ein Recht auf den Schutz gegen alle Formen der Ausbeutung einschliesslich der sexuellen Ausbeutung.

Sie richtet sich beispielsweise gegen Prostitution, Pornographie, Menschenhandel, Betteln, Taschendiebstahl, Unterdrückung, Organentfernung oder Ausbeutung im Haushalt. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, nicht nur jede Form von Ausbeutung zu verbieten, sondern auch entsprechende Massnahmen zur Prävention und zur Unterstützung von betroffenen Kindern und Jugendlichen zu treffen.

Der CEDS verlangt gestützt auf diesen Absatz, dass die Staaten eine nationale Strategie zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern verfolgen.

Im September 2006 ratifizierte die Schweiz das Fakultativprotokoll vom 25. Mai 200025 zum UNO-Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie. Ebenfalls im Jahre 2006 wurde der Straftatbestand des Menschenhandels (Art. 182 des Strafgesetzbuchs26, StGB) erweitert und geändert und das Strafmass für den Fall des Handels mit Kindern erhöht.

Mit der am 27. August 2008 verabschiedeten «Strategie für eine schweizerische Kinder- und Jugendpolitik» legte der Bundesrat den Grundstein für die Kinder- und Jugendpolitik der Schweiz. Die Schweizer Regierung hat darin Kinder- und Jugendpolitik auf der Grundlage der Bundesverfassung und der UNO-Kinderrechtskonvention als eine Politik des Schutzes, der Förderung und der Mitwirkung definiert. Die Strategie thematisiert unter anderem auch den Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung sowie anderen Gefährdungen einschliesslich physischer und psychischer Gewalt. Auf gesetzgeberischer Ebene ist 2010 die neue Verordnung vom 11. Juni 201027 über Massnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen sowie zur Stärkung der Kinderrechte in Kraft getreten. Diese Massnahmen sollen dazu beitragen, Kinder vor allen Formen von Gewalt und Misshandlung einschliesslich
sexueller Gewalt sowie gegen die Gefahren der neuen Medien zu schützen. Im Übrigen müssen der Bund und die Kantone gemäss dem neuen Kinder- und Jugendförderungsgesetz vom 30. September 201128, das 2013 in Kraft getreten ist, zusammenarbeiten und sich gegenseitig über Aktivitäten und Entwicklungen in diesem Bereich informieren. Zur Unterstützung des Informationsaustauschs sieht das Gesetz die Schaffung einer elektronischen Plattform mit einer systematischen Zusammenstellung der bestehenden Massnahmen und Instrumente, einschliesslich der rechtlichen Regelungen, zur Förderung von Kindern und Jugendlichen auf Kantons- und Bundesebene vor (Aufschaltung 2015).

25 26 27 28

SR 0.107.2 SR 311.0 SR 311.039.1 SR 446.1

5638

Seit 2011 setzt die Schweiz das gesamtschweizerische Präventionsprogramm Jugend und Gewalt um. Das Programm zur Gewaltprävention in den Bereichen Familie, Schule und Sozialraum wird vom Bund und den Kantonen, Städten und Gemeinden gemeinsam getragen. Ein zweites Programm zu Jugendmedienschutz und Medienkompetenzen, das ebenfalls 2011 lanciert wurde, soll in erster Linie dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche Medien auf eine sichere, altersgerechte und verantwortungsvolle Weise nutzen. Im Fokus stehen dabei Gefahren im Zusammenhang mit dem Internet, Pornografie, Prostitution, Grooming, Stalking und Gewalt.

Das Übereinkommen des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (Lanzarote-Konvention), das die Schweiz im Juni 2010 unterzeichnet hat, sollte nach der Ratifikation am 1. Juli 2014 gleichzeitig mit verschiedenen Änderungen des Strafgesetzbuchs in Kraft treten. Eine dieser Änderungen ermöglicht die Strafverfolgung von Personen, die gegen Entgelt sexuelle Dienste Minderjähriger zwischen 16 und 18 Jahren in Anspruch nehmen. Diese neue Bestimmung soll verhindern, das Kinder oder Jugendliche der Prostitution ausgeliefert sind. Ferner wird die Förderung der Prostitution Minderjähriger ebenfalls strafrechtlich verfolgt. Zuhälter, Bordellbetreiber oder Betreiber von EscortServices, welche die Ausübung der Prostitution zur Gewinnerzielung ermöglichen oder fördern, werden mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren bestraft.

Schlussfolgerung Das schweizerische Recht und die bestehende Praxis erfüllen die Absätze 1, 3, 6, 7, 8, 9 und 10 von Artikel 7.

Absatz 2 von Artikel 7 stellt auch kein Problem für die Vereinbarkeit mit dem heute geltenden schweizerischen Recht dar.

Die offenen Fragen bezüglich der Absätze 4 und 5 von Artikel 7 im Zusammenhang mit dem dualen System der beruflichen Grundbildung der Schweiz wurden gelöst.

Sollte die Schweiz die Sozialcharta ratifizieren, würde dieses System nämlich aus Sicht von Artikel 10 Absatz 2 geprüft. Die Situation junger Arbeitnehmender unter 18 Jahren, die nicht in einem Lehrverhältnis stehen, ist aus Sicht von Artikel 7 Absätze 4 und 5 unproblematisch. Folglich stellen die Absätze 4 und 5 bezüglich der Vereinbarkeit mit dem schweizerischem Recht kein Problem dar.

Art. 12

Recht auf soziale Sicherheit

Vereinbarkeitsanalyse Art. 12 Abs. 1 Ein System der sozialen Sicherheit ist mit Artikel 12 Absatz 1 vereinbar, wenn es die traditionellen Risiken abdeckt, kollektiv finanziert wird, einen bedeutenden Anteil der Bevölkerung in den Bereichen Gesundheitsversorgung und Familienleistungen schützt und für einen bedeutenden Teil der Erwerbsbevölkerung Krankentaggeld, Mutterschaftsleistungen, Arbeitslosenentschädigung, Renten und Leistungen bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten vorsieht. Ausserdem muss die Höhe der Leistungen in allen Branchen angemessen sein. Leistungen, die als Ersatz für ein Einkommen entrichtet werden, dürfen zum Beispiel die Armutsgrenze von 50 % des bereinigten Medianeinkommens auf der Grundlage der Armutsrisikogrenze von Eurostat nicht unterschreiten.

5639

Im Hinblick auf das schweizerische System könnte der CEDS die Ansicht vertreten, dass das Fehlen einer obligatorischen sozialen Krankentaggeldversicherung nicht mit Artikel 12 Absatz 1 vereinbar ist.

Art. 12 Abs. 2 Für Staaten, welche wie die Schweiz die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit vom 16. April 196429 (EOSS) ratifiziert haben, prüft der CEDS die Vereinbarkeit mit diesem Absatz unter Berücksichtigung der Resolutionen des Ministerkomitees zur EOSS. In der bisher letzten Resolution zur Anwendung der EOSS durch die Schweiz hielt das Ministerkomitee fest, dass die Schweiz mit ihrer Gesetzgebung und ihrer Praxis den Verpflichtungen im Zusammenhang mit den von ihr akzeptierten Teilen weiterhin vollständig nachkommt.

Art. 12 Abs. 3 Dieser Absatz verpflichtet die Staaten, ihr System der sozialen Sicherheit zu verbessern, zum Beispiel durch die Deckung neuer Risiken oder die Anpassung des Leistungsumfangs. Eine begrenzte Weiterentwicklung des Systems der sozialen Sicherheit bedeutet jedoch nicht automatisch einen Verstoss gegen Artikel 12 Absatz 3.

Seit 1996 prüft der CEDS nämlich systematisch die Reformen der Systeme der sozialen Sicherheit, um zu beurteilen, ob trotz der in den meisten Fällen vorhandenen Einschränkungen das Ziel besteht, das System der sozialen Sicherheit zu erhalten. Dazu berücksichtigt es namentlich folgende Elemente: Inhalt und Beweggründe von Änderungen, sozial- und wirtschaftspolitischer Rahmen, in dem diese vorgenommen werden, Notwendigkeit und Angemessenheit der Reform und Ergebnisse.

Die Reformen, die derzeit im Gange sind oder in den vergangenen Jahren im Bereich des Sozialversicherungsrechts vorgenommen wurden, dürften diese Kriterien erfüllen.

Art. 12 Abs. 4 Buchstabe a sieht vor, dass Staatsangehörige anderer Vertragsparteien hinsichtlich der Ansprüche aus der sozialen Sicherheit gleich zu behandeln sind wie eigene Staatsangehörige. Mit anderen Worten müssten die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen innerhalb der Schweiz für alle gleich sein, zudem wären Leistungen, auf die Schweizer Staatsangehörige ausserhalb der Schweiz Anspruch haben, auch an Staatsangehörige von Vertragsparteien auszurichten, die sich auf dem Hoheitsgebiet einer Vertragspartei niederlassen.

Buchstabe b sieht vor, dass die Ansprüche, die in einem System der sozialen Sicherheit
erworben wurden, bei einem Übergang in ein anderes System der sozialen Sicherheit zu erhalten sind, gegebenenfalls durch das Zusammenrechnen von Versicherungs- und Beschäftigungszeiten.

Der CEDS hat seine Praxis zu Absatz 4 wesentlich verschärft. Während es früher zur Erfüllung dieser Bestimmung reichte, wenn zwei Vertragsparteien der CSE ein Abkommen zur sozialen Sicherheit abschlossen, prüft der CEDS nun den Inhalt der Abkommen. Diese gelten nur dann als vereinbar mit Absatz 4, wenn sie das Niveau

29

SR 0.831.104

5640

des EU-Koordinationsrechts erreichen30. Wenn bi- oder multilaterale Abkommen zur sozialen Sicherheit fehlen, muss die Vertragspartei unilaterale gesetzgeberische oder administrative Massnahmen ergreifen. Ausserdem stützt sich die Anwendung von Absatz 4 nicht auf den Begriff der Gegenseitigkeit: Der CEDS verlangt von den Staaten, die diese Bestimmung akzeptiert haben, die Einhaltung der darin enthaltenen Grundsätze, auch gegenüber Staatsangehörigen von Ländern, die den Absatz nicht akzeptiert haben.

Gewisse schweizerische Sozialversicherungsgesetze sehen eine unterschiedliche Behandlung von schweizerischen und ausländischen Staatsangehörigen vor, allerdings nicht von Staatsangehörigen aus EU/EFTA-Ländern. Staatsangehörigen von Ländern ausserhalb der EU/EFTA, mit denen die Schweiz bilaterale Abkommen zur sozialen Sicherheit abgeschlossen hat, gewährt die Schweiz nicht Rechte, die dem EU-Koordinationsrecht entsprechen. Bleiben die Vertragsstaaten der CSE, mit denen die Schweiz keine Abkommen zur sozialen Sicherheit abgeschlossen hat (Albanien, Andorra, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, Russland und die Ukraine). Deren Staatsangehörigen müsste sie bei Anerkennung dieser Bestimmung die in Artikel 12 Absatz 4 vorgesehenen Rechte gewähren. Da individuelle unilaterale Massnahmen für die Staatsangehörigen dieser Länder nicht denkbar sind, wäre die Schweiz somit einem gewissen Druck ausgesetzt, weitere Abkommen abzuschliessen. Der Abschluss neuer Abkommen bedingt jedoch ein echtes Interesse beider Vertragsparteien. Dieses ist abhängig von der Zahl der betroffenen Personen, vom Ausmass der Migrationsflüsse, von den Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern und von den finanziellen Auswirkungen auf die Versicherungszweige. Für die meisten der erwähnten Staaten wäre aufgrund dieser Kriterien momentan kein Abkommen zur sozialen Sicherheit erforderlich.

Ausserdem ist zwar die Karenzfrist für ausländische Staatsangehörige im System der Ergänzungsleistungen zur AHV/IV (EL) an sich nicht unvereinbar mit Absatz 4 (im Anhang der revidierten CSE wird Vertragsstaaten das Recht eingeräumt, für Staatsangehörige anderer Vertragsstaaten eine bestimmte Mindestaufenthaltsdauer zu verlangen, bevor diese Anspruch auf beitragsunabhängige Leistungen haben). Der CEDS prüft jedoch die Verhältnismässigkeit
zwischen der verlangten Aufenthaltsdauer und dem verfolgten Ziel. In seinen Schlussfolgerungen 2004 zu Litauen hielt er fest, dass eine Aufenthaltsdauer von fünf Jahren übertrieben sei. Das schweizerische System der Ergänzungsleistungen zur AHV/IV sieht aber eine Dauer von zehn Jahren vor.

Schlussfolgerung Trotz gewisser positiver Entwicklungen ­ beispielsweise der Einführung eines bezahlten eidgenössischen Mutterschaftsurlaubs ­ entspricht das geltende schweizerische Recht nicht allen Anforderungen von Artikel 12 CSE, wie sie der CEDS in seinen Auslegungen der Absätze 1 und 4 festhält.

Weil eine Bestimmung des harten Kerns vollständig akzeptierbar sein muss, steht eine Anerkennung von Artikel 12 daher nicht zur Diskussion.

30

Die Koordination der Systeme im Bereich der sozialen Sicherheit ist in der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166 vom 30.4.2004, S. 1) und in deren Durchführungsverordnungen geregelt. Die Schweiz beteiligt sich an diesem Koordinationssystem im Rahmen des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU.

5641

Art. 13

Recht auf Fürsorge

Vereinbarkeitsanalyse Art. 13 Abs. 1 Gemäss Praxis des CEDS hat die ganze Bevölkerung Anspruch auf soziale und medizinische Fürsorge. Die Fürsorge muss als ein echtes individuelles Recht behandelt werden, das gesetzlich geregelt ist. Zudem sind ein Beschwerderecht und unentgeltliche Rechtspflege zu gewährleisten. Die Fürsorge muss «ausreichend» sein, das heisst genügen, um ein menschenwürdiges Leben zu führen und die Grundbedürfnisse der Betroffenen zu decken. Der CEDS vertritt die Ansicht, dass die Fürsorge ausreichend ist, wenn die Höhe der Fürsorgeleistungen offensichtlich nicht unter der Armutsgrenze liegt, die 50 % des bereinigten Medianeinkommens auf der Grundlage der Armutsrisikogrenze von Eurostat beträgt.

Staatsangehörige von Vertragsparteien der CSE, die ihren rechtmässigen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der betreffenden Vertragspartei haben oder dort ordnungsgemäss beschäftigt sind, haben Anspruch auf eine ausreichende Fürsorge, wobei sie gleich zu behandeln sind wie eigene Staatsangehörige, unabhängig von der Gegenseitigkeit im anderen Vertragsstaat. Wer sich im Land aufhalten darf, wird vom nationalen Gesetz bestimmt. Bei der Frage, wie lange sich jemand im Land aufhalten muss, bis er oder sie ein Aufenthaltsrecht hat, ist jedoch der Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten. Eine Aufenthaltsdauer von fünf Jahren als Voraussetzung dafür, als ansässig zu gelten, wurde als übertrieben beurteilt (Schlussfolgerungen XVIII-1 Band 2, Luxemburg).

In einer auslegenden Feststellung im Rahmen seiner Schlussfolgerungen 2013 hat der CEDS seine Praxis gegenüber Migranten, die sich unbefugt auf dem Hoheitsgebiet eines Staates aufhalten, geändert, so dass er künftig die Verpflichtungen der Vertragsstaaten gegenüber solchen Migranten gemäss Artikel 13 Absatz 1 und nicht mehr gemäss Absatz 4 prüfen wird. Absatz 4 sieht vor, dass ein Staat seine eigenen Staatsangehörigen und Staatsangehörige der anderen Vertragsparteien gleich behandeln muss (Allgemeine Einleitung zu den Schlussfolgerungen 2013, Januar 2014, Auslegende Feststellung Nr. 8, S. 7). Der CEDS erinnerte zudem daran, dass die Vertragsparteien gemäss Artikel 13 Absatz 1 verpflichtet sind, dafür zu sorgen, dass Migranten, die sich unbefugt auf dem Hoheitsgebiet eines Staates aufhalten, medizinische und soziale Nothilfe erhalten,
wenn diese zur Deckung ihrer unmittelbaren Bedürfnisse (Unterkunft, Essen, medizinische Nothilfe und Kleider) erforderlich ist.

Diese Bedingungen wären im schweizerischen Recht erfüllt (Art. 12 BV).

Gemäss CEDS ist aus Artikel 13 Absatz 1 abzuleiten, dass Staatsangehörige von Vertragsstaaten der CSE, die sich rechtmässig im Hoheitsgebiet eines anderen Vertragsstaats aufhalten, nicht nur deshalb ins Heimatland zurückgeschickt werden dürfen, weil sie Fürsorge benötigen. Nach schweizerischem Recht kann gemäss Artikel 62 Absatz 1 Buchstabe e des Ausländergesetzes vom 16. Dezember 200531 (AuG) eine Bewilligung, ausgenommen die Niederlassungsbewilligung, widerrufen werden, wenn die Ausländerin oder der Ausländer oder eine Person, für die sie oder er zu sorgen hat, auf Sozialhilfe angewiesen ist. Artikel 63 Absatz 1 Buchstabe c AuG regelt den Widerruf der Niederlassungsbewilligung bei Sozialhilfebedürftigkeit. Dieser ist bei Ausländerinnen und Ausländern möglich, die sich weniger als 31

SR 142.20

5642

15 Jahre ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufhalten, wenn sie oder eine Person, für die sie zu sorgen haben, dauerhaft und in erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen sind. Diese gesetzlichen Bestimmungen sind mit Artikel 13 Absatz 1, wie ihn der CEDS auslegt, nicht vereinbar.

Ein weiterer Problempunkt scheint die Höhe der Sozialhilfeleistungen zu sein, welche in der Schweiz den Asylsuchenden und den vorläufig aufgenommenen Personen gewährt werden. Diese liegen ca. 20 % unter dem für Inländerinnen und Inländer üblichen Niveau (vgl. Ziff. 10.1, Auswertung der fachtechnischen Befragung der Kantone). Während die Praxis des CEDS die Frage offen lässt, ob Asylsuchende unter den von Artikel 13 Absatz 1 begünstigten Personenkreis fallen, hat der CEDS diese Frage bei im Gebiet eines Vertragsstaates vorläufig aufgenommenen Personen bejaht. Somit wäre für diese Personen das unterschiedliche Unterstützungsniveau nicht kompatibel mit Artikel 13 Absatz 1.

Aus diesen Gründen steht das geltende Schweizer Recht nicht im Einklang mit der Auslegung von Artikel 13 Absatz 1 durch den Europäischen Ausschuss für soziale Rechte.

Art. 13 Abs. 2 Dieser Absatz garantiert Personen, die Fürsorge in Anspruch nehmen, dass sie dadurch nicht in ihren politischen oder sozialen Rechten beeinträchtigt werden.

Die Schweiz hat den Pakt I und den Pakt II der UNO ratifiziert und sich damit verpflichtet, die darin anerkannten Rechte zu achten und sie allen in ihrem Gebiet befindlichen und ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen ohne Unterschied wie insbesondere Vermögen zu gewährleisten. Die politischen Rechte sind in der Schweiz als Grundrecht verankert (Art. 34 Abs. 1 BV). Sie können nicht aufgrund des Bezugs von Fürsorgeleistungen eingeschränkt werden (siehe Art. 8 Abs. 2 und Art. 136 Abs. 1 BV).

Artikel 13 Absatz 2 stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht somit kein Problem dar.

Art. 13 Abs. 3 Artikel 13 Absatz 3 garantiert das Recht auf Inanspruchnahme zweckentsprechender öffentlicher oder privater Hilfs- und Beratungseinrichtungen für Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen oder Gefahr laufen, nicht über ausreichende Mittel zu verfügen. Die zuständigen Einrichtungen müssen zur Verhütung, Milderung und Behebung einer Notlage beitragen. Der Zugang muss kostenlos sein.
Das kantonale und kommunale Netz von Sozialdiensten scheint dieser Bestimmung zu genügen. Artikel 13 Absatz 3 stellt bezüglich Vereinbarkeit mit der Praxis der Schweiz somit kein Problem dar.

Art. 13 Abs. 4 Ein Staat, der Artikel 13 Absatz 4 anerkennt, muss seine eigenen Staatsangehörigen und die rechtmässig auf seinem Hoheitsgebiet befindlichen Staatsangehörigen der anderen Vertragsparteien bei der Anwendung der Absätze 1, 2 und 3 gleich behandeln. Wie der CEDS in einer auslegenden Feststellung im Rahmen seiner Schlussfolgerungen 2013 präzisierte, sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthalt 5643

auf dem Hoheitsgebiet des fraglichen Staates nicht als rechtmässig gelten kann, d. h.

Migranten, die sich unbefugt auf dem Hoheitsgebiet aufhalten, im Allgemeinen nicht durch die Bestimmungen von Artikel 13 Absatz 4 gedeckt. Migranten, die sich unbefugt auf dem Hoheitsgebiet eines Staates aufhalten, fallen hingegen mit gewissen Beschränkungen und ausnahmsweise in den Geltungsbereich von Artikel 13 Absatz 1 (Allgemeine Einleitung zu den Schlussfolgerungen 2013, Januar 2014, Auslegende Feststellung Nr. 8, S. 7).

Artikel 13 Absatz 4 garantiert gemäss CEDS ausländischen Staatsangehörigen, die sich vorübergehend im Land aufhalten, den Zugang zu sozialer und medizinischer Nothilfe. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, ausreichende kurzfristige Hilfe zur Deckung unmittelbarer Bedürfnisse zu leisten (Unterkunft, Essen, medizinische Nothilfe und Kleider). Anspruch auf dieses Recht auf soziale und medizinische Nothilfe haben ausländische Staatsangehörige, die sich rechtmässig auf dem Gebiet eines Vertragsstaates aufhalten, ohne aber dort den Wohnsitz zu haben (Schlussfolgerungen 2009, Band 1, Andorra). Diese Anforderungen erfüllt das schweizerische Recht (Art. 12 BV).

Bei den Voraussetzungen für eine Ausweisung ausländischer Staatsangehöriger verweist Artikel 13 Absatz 4 auf das Europäische Fürsorgeabkommen von 1953, das die Schweiz nicht ratifiziert hat (siehe Anhang zur revidierten CSE). Gemäss Praxis des CEDS verpflichten sich mit Artikel 13 Absatz 4 CSE auch Staaten, die nicht Vertragsparteien des Fürsorgeabkommens von 1953 sind, eine Behandlung zu gewähren, die mit dem Abkommen von 1953 im Einklang steht (Schlussfolgerungen 2006-1, Finnland). Daraus ergibt sich insbesondere, dass ein Staat ausländische Staatsangehörige, die sich rechtmässig seit mindestens fünf Jahren auf seinem Hoheitsgebiet aufhalten, nicht aus dem alleinigen Grund ausweisen kann, dass diese Sozialhilfe benötigen (Art. 7 Bst. a des Europäischen Abkommens von 1953). Gemäss CEDS sollte diese Bestimmung keine praktischen Auswirkungen haben, da die Situation von Personen, die sich seit mehr als fünf Jahren rechtmässig in einem Staat aufhalten, unter die Regelung von Artikel 13 Absatz 1 CSE fällt. Da jedoch für die Schweiz Artikel 13 Absatz 1 nicht akzeptabel wäre (siehe oben, zu Abs. 1), könnte auch der Artikel 13 Absatz 4 in gewissen
Ausnahmefällen bezüglich der fünfjährigen Wohnfrist Probleme bereiten. Die Schweizer Gesetzgebung ist folglich mit Artikel 13 Absatz 4 nicht vollständig vereinbar.

Schlussfolgerung Lediglich die Absätze 2 und 3 von Artikel 13 sind im Hinblick auf die Gesetzgebung und die Praxis der Schweiz unproblematisch. Nicht kompatibel mit dem schweizerischen Recht sind hingegen die Absätze 1 und 4 von Artikel 13, da die Schweiz Ausländerinnen und Ausländern die Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligung entziehen kann, wenn sie auf Sozialhilfe angewiesen sind, und die Sozialhilfeleistungen 20 % unter dem üblichen Niveau für die von der Schweiz vorläufig aufgenommenen Personen sind.

Ausserdem ist es fraglich, ob Artikel 121 Absatz 3 Buchstabe b BV, der in der Volksabstimmung vom 28. November 2010 angenommen wurde (erste Initiative über die Ausschaffung krimineller Ausländer) und der festhält, dass Ausländerinnen und Ausländer ihr Aufenthaltsrecht verlieren und ausgewiesen werden können,

5644

wenn sie missbräuchlich Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe bezogen haben, überhaupt mit der Praxis des CEDS vereinbar ist32.

Weil eine Bestimmung des harten Kerns vollständig akzeptierbar sein muss, wird eine Anerkennung von Artikel 13 daher nicht vorgeschlagen.

Art. 16

Das Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz

Vereinbarkeitsanalyse Im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit diesem Artikel sind gemäss dem CEDS die folgenden Massnahmen erforderlich: ­

Sozialer Schutz: Zugang zu einem ausreichenden Angebot an Wohnraum, bezahlbare, qualitativ gute Kinderbetreuungsstätten, Familienberatungsstellen und Beteiligung der Vereinigungen, die die Interessen der Familien vertreten, an der Ausarbeitung der Familienpolitik;

­

rechtlicher Schutz: Gleichstellung der Ehegatten hinsichtlich der Rechte und Pflichten innerhalb der Partnerschaft und gegenüber den Kindern, Familienmediation, Massnahmen zum Schutz der Frauen vor häuslicher Gewalt;

­

wirtschaftlicher Schutz: ausreichende Familienleistungen, steuerliche Erleichterungen.

Im Zusammenhang mit diesem Artikel befasst sich der CEDS insbesondere mit dem Schutz für gefährdete Familien, wie z. B. Roma und Fahrende, sowie für Alleinerziehende.

Die jüngsten Entwicklungen des Schweizer Rechts in den durch Artikel 16 abgedeckten Bereichen sind allgemein positiv zu werten.

Soziale Sicherheit Auf Bundesebene wurde 2003 ein zuerst auf acht Jahre befristetes Impulsprogramm zur Schaffung zusätzlicher Plätze für die Tagesbetreuung von Kindern lanciert, das später bis 2015 verlängert wurde. Der Gesamtkredit für dieses Programm beträgt 440 Millionen Franken.

Was die Beteiligung der Familienvereinigungen an der Ausarbeitung der Familienpolitik anbelangt, ist die Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen (EKFF) als beratendes Organ des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) zu erwähnen, die folgendes Mandat hat: Sie orientiert und sensibilisiert die Öffentlichkeit und die zuständigen Institutionen in Bezug auf die familialen Lebensbedingungen in der Schweiz (Information). Als Drehscheibe sorgt sie für fachlichen Austausch zwischen Verwaltung und privaten Organisationen sowie zwischen den verschiedenen familienpolitisch tätigen Institutionen (Koordination). Sie fördert, erfasst und evaluiert Forschungsarbeiten. Aus deren Ergebnissen entwickelt sie familienpolitische Perspektiven und regt die entsprechenden Umsetzungsmassnahmen an (Forschung). Sie fördert innovative Ideen, empfiehlt familienpolitische Massnahmen und nimmt zu familienpolitischen Vorlagen Stellung (Umsetzung).

32

Im Rahmen der Umsetzung dieser Bestimmung muss der Gesetzgeber noch die Tatbestände bestimmen, die einen Entzug des Aufenthaltsrechts und eine Ausweisung erlauben.

5645

Artikel 16 verpflichtet die Staaten, den Bau von familiengerechten Wohnungen durch finanzpolitische Anstrengungen zu fördern und ausreichend Sozialwohnungen bereitzustellen. Zudem müssen sie den Zugang zum Wohnungsmarkt erleichtern.

Das am 1. Oktober 2003 in Kraft getretene Wohnraumförderungsgesetz vom 21. März 200333 (WFG) hat laut Artikel 1 Absatz 1 den Zweck, Wohnraum für Haushalte mit geringem Einkommen zu fördern. Gemäss Absatz 2 sollen insbesondere die Interessen von Familien, alleinerziehenden Personen, Menschen mit Behinderungen, bedürftigen älteren Menschen und Personen in Ausbildung berücksichtigt werden. Für die Förderung sind direkte und indirekte Hilfen vorgesehen, wobei die Direktdarlehen des Bundes mit dem Entlastungsprogramm gestrichen wurden. Der Bau von familiengerechtem Wohnraum wird also gefördert, wenn auch nur begrenzt. Die Wohnungspolitik ist allerdings zurzeit ein Diskussionsthema zwischen dem Bund, den Kantonen und den grossen Städten, in denen der Wohnungsmarkt angespannt ist. Ziel ist es, dem Bundesrat einen Massnahmenkatalog zu unterbreiten.

Zu erwähnen ist auch das Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz vom 4. Oktober 197434 (WEG), das Mietzinsverbilligungen durch jährliche A-Fonds-perduBeiträge des Bundes vorsieht. Des Weiteren sind die Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 25. Juni 198235 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) zur Wohneigentumsförderung anzuführen, wonach versicherte Personen für den Erwerb von selbstbewohntem Wohneigentum oder für die Rückzahlung ausstehender Hypotheken auf diesem Wohneigentum Gelder aus der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (2. Säule) beziehen können.

Der Wohnraum muss von der versicherten Person oder ihrer Familie bewohnt werden und Hauptwohnsitz sein.

Nach der Praxis des CEDS steht das Recht der Familien auf ausreichenden und angemessenen Wohnraum, sei es temporär oder permanent, auch den Roma und den Fahrenden zu. Die Stand- und Durchgangsplätze für Fahrende, die eine nomadische Lebensweise pflegen, gelten als Wohnraum im Sinne von Artikel 16, wenn sie insbesondere von Familien genutzt werden. In seinen Schlussfolgerungen 2011 zu Frankreich (S. 20) war der CEDS der Auffassung, dass die Situation in diesem Land nicht mit Artikel 16 vereinbar ist, weil die Wohnverhältnisse
für Familien der Fahrenden nicht ausreichend waren.

Bei den Stand- und Durchgangsplätzen für Fahrende hat sich die Situation in der Schweiz während der letzten zehn Jahre nicht verbessert. Laut einem von der Stiftung «Zukunft für Schweizer Fahrende» im Dezember 2010 veröffentlichten Expertenbericht36 reicht die Anzahl Standplätze nur für 50 % der schweizerischen Fahrenden aus, die einen nomadischen Lebensstil bewahrt haben und die während der Wintermonate einen solchen Platz beanspruchen. Bei den Durchgangsplätzen, auf denen die Fahrenden während der Sommermonate leben und ihren Erwerbsaktivitäten nachgehen, stehen nur für sechs von zehn Personen Plätze zur Verfügung.

Als Fördermassnahme zur Schaffung von Stand- und Durchgangsplätzen für Fahrende stellt der Bund den Kantonen Teile seiner Liegenschaften zur Verfügung, namentlich nicht mehr benötigte Militärareale. Er ist bereit, bei der Festlegung der Preise die Nutzungsbeschränkungen von Stand- und Durchgangsplätzen zu berück33 34 35 36

SR 842 SR 843 SR 831.40 «Fahrende und Raumplanung. Standbericht 2010».

5646

sichtigen, sofern sich die Kantone an die vorgesehene Zweckbestimmung halten.

Das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) wurde vom Bundesrat beauftragt, bei Fragen der Umnutzung von militärischen Anlagen mit einer Arbeitsgruppe der Stiftung «Zukunft für Schweizer Fahrende» zusammenzuarbeiten. Der Bund konnte den Kantonen fünfzig Standorte anbieten, die sich als Stand- oder Durchgangsplätze für Fahrende eignen. Angesichts der Anforderungskriterien der Kantone sowie der Schwierigkeiten bei der Umnutzung der Standorte für Wohnzwecke, wurde bis jetzt nur eine einzige Liegenschaft (Kanton St. Gallen) ausgewählt. Die Gespräche dauern jedoch an, namentlich mit dem Kanton Jura. Im November 2013 hat der Bund über das Bundesamt für Strassen (ASTRA) eine innovative Lösung zugunsten der Fahrenden bekannt gegeben: Aufgrund einer Vereinbarung mit dem Kanton Freiburg lässt der Bund auf der Autobahn N12 einen multifunktionalen Rastplatz erstellen, der 40 Wohnwagen von Fahrenden Platz bietet.

Mehrere Kantone ­ darunter St. Gallen und Aargau ­ haben ihren Willen zur Schaffung von Stand- und Durchgangsplätzen bekräftigt und Konzepte erarbeitet, die auch von anderen Kantonen übernommen wurden. In mehreren Kantonen laufen zudem Anstrengungen zur Schaffung neuer oder zur Sanierung bestehender Stand- und Durchgangsplätze. Zu den kürzlich umgesetzten Projekten zählen beispielsweise ein im September 2012 vom Kanton Genf neu eröffneter Standplatz mit 46 Plätzen sowie ein im Juni 2013 in Winterthur, Kanton Zürich, eröffneter Durchgangsplatz mit 15 Plätzen. Im Kanton Waadt hat das Kantonsparlament im April 2013 eine von Familien der Waadtländer Jenischen eingereichte Petition einstimmig gutgeheissen, mit der sie die Zurverfügungstellung eines erschlossenen Standplatzes verlangten.

Auch der Kanton Solothurn plant die Erstellung von ein bis zwei neuen Standplätzen. Der Kanton Aargau hat vier Durchgangsplätze saniert.

In seinem im März 2013 verabschiedeten dritten Gutachten zur Schweiz empfiehlt der beratende Ausschuss des Rahmenübereinkommens des Europarates vom 1. Februar 199537 zum Schutz nationaler Minderheiten den Schweizer Behörden, ihre Anstrengungen zur raschen Behebung des Mangels an Stand- und Durchgangsplätzen für Fahrende zu verstärken.

Es ist nicht auszuschliessen,
dass der gegenwärtige Mangel an Stand- und Durchgangsplätzen für Fahrende ein Problem im Hinblick auf Artikel 16 CSE darstellt.

Die erheblichen Anstrengungen, die zurzeit von mehreren Kantonen unternommen werden, sowie die innovative Lösung des Bundes zur Erstellung eines Durchgangsplatzes auf einer Autobahnraststätte dürfte der CEDS, der die Gesamtsituation unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte beurteilt, durchaus zur Kenntnis nehmen.

Für die Annahme von Artikel 16 CSE sollte dies jedenfalls kein Problem darstellen, zumal eine negative Schlussfolgerung des CEDS nicht über die Empfehlung zur Verstärkung ihrer Anstrengungen hinausgehen würde, die der beratende Ausschuss des Rahmenübereinkommens des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten an die Schweizer Behörden gerichtet hat. Diese haben ihre Bemühungen wie erwähnt bereits verstärkt.

37

SR 0.441.1

5647

Rechtlicher Schutz In den letzten Jahren wurden auf verschiedenen Ebenen wichtige Massnahmen zur Bekämpfung der Gewalt in Paarbeziehungen ergriffen. Zu erwähnen sind die gesetzgeberischen Massnahmen auf Bundesebene (strafrechtliche Verfolgung von Gewalt in Paarbeziehungen von Amtes wegen, zivilrechtliche Gewaltschutznorm, Revision der Ausländergesetzgebung und des Opferhilfegesetzes) und auf Kantonsebene (Möglichkeit polizeilicher Intervention zum Schutz der Opfer, Wegweisungsbestimmungen für Täter). Zudem wurden die Vernetzungs-, Kooperations- und Koordinationsstrukturen auf Bundesebene und lokaler Ebene ausgebaut. Die Ausund Weiterbildung der Polizeikräfte wurde verbessert, und die Angebote für Opfer und Täter wurden erweitert. Seit 2010 werden die polizeilich registrierten Fälle von häuslicher Gewalt in die neue Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) aufgenommen, die jährlich veröffentlicht wird. Die zivilrechtliche Gewaltschutznorm (Art. 28b ZGB38) und die Bestimmung des Strafgesetzbuchs (Art. 55a StGB), wonach ein Verfahren wegen Gewalt in der Partnerschaft eingestellt werden kann, werden vom Bundesamt für Justiz evaluiert.

Ausserdem sei erwähnt, dass die Schweiz am 11. September 2013 die Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) unterzeichnet hat. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) wurde beauftragt, den Eidgenössischen Räten eine Botschaft zur Ratifikation vorzulegen. Die schweizerische Rechtsordnung scheint die materiellrechtlichen Anforderungen der Konvention grundsätzlich zu erfüllen. Auch die Kantone sollten im Prinzip über die erforderlichen Instrumente für Prävention und Opferschutz verfügen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen.

Wirtschaftlicher Schutz Mit dem am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Familienzulagengesetz vom 24. März 200639 wurden eine Reihe von Bestimmungen auf nationaler Ebene vereinheitlicht. Das Gesetz legt für die ganze Schweiz einen Mindestansatz für die Familienzulagen fest: mindestens 200 Franken im Monat für Kinder von 0 bis 16 Jahren und mindestens 250 Franken pro Monat für Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren, die eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren. Die Kantone können höhere Mindestansätze vorsehen. Gemäss dem FamZG, das für alle Erwerbstätigen
gilt, muss unabhängig vom Beschäftigungsgrad des Elternteils eine volle Zulage ausgerichtet werden. Das FamZG sieht auch Familienzulagen für Nichterwerbstätige vor, deren Einkommen einen gewissen Betrag nicht übersteigt. Seit dem 1. Januar 2013 sind auch Selbständigerwerbende dem FamZG unterstellt.

Wie es Artikel 16 CSE verlangt, trägt das Steuersystem in der Schweiz den Familien (Paare mit oder ohne Kinder, Alleinerziehende) besonders Rechnung. Damit die persönliche wirtschaftliche Situation der Steuerpflichten berücksichtigt werden kann, sieht die Steuergesetzgebung von Bund und Kantonen Abzüge und besondere Tarife vor, die den steuerpflichtigen Personen aufgrund ihres sozialen oder familiären Status (Familiensituation, Anzahl Kinder, Unterhaltskosten, Alter usw.) gewährt werden. Im Januar 2011 sind zusätzliche Steuererleichterungen in Kraft getreten, die im Bundesgesetz vom 25. September 200940 über die steuerliche Entlastung für 38 39 40

SR 210 SR 836.2 AS 2010 455; BBl 2009 6667

5648

Familien mit Kindern vorgesehen sind. Der neue Elterntarif der direkten Bundessteuer verbessert zum einen die Steuergerechtigkeit zwischen Personen mit Kindern und Personen ohne Kinder. Zum anderen wird mit der Einführung des Abzugs für die Fremdbetreuung von Kindern sichergestellt, dass erwerbstätige Eltern, die ihre Kinder fremdbetreuen lassen, und Haushalte, bei denen ein Elternteil die Kinder selbst betreut, von Bund und Kantonen nach Massgabe ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit steuerlich möglichst gleich behandelt werden.

Schlussfolgerung Die Situation hat sich seit dem Bericht 2002­2004 der Bundesverwaltung, gemäss dem Artikel 16 nicht angenommen werden konnte, verbessert. Das geltende Recht und die heutige Praxis der Schweiz sind vereinbar mit den Forderungen dieses Artikels. Dank den laufenden Verbesserungsbemühungen auf verschiedenen Ebenen sollte der Mangel an Stand- und Durchgangsplätzen für die Fahrenden abgefedert werden können. Die sich bessernde Situation, die von den Schweizer Behörden aufmerksam begleitet wird, sollte im Hinblick auf die Annahme von Artikel 16 kein Problem darstellen.

Die Schweiz könnte Artikel 16 somit anerkennen.

Art. 19

Das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand

Vereinbarkeitsanalyse Art. 19 Abs. 1­3 Diese Absätze stellen bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

Art. 19 Abs. 4 Bst. a Laut Artikel 19 Absatz 4 Buchstabe a verpflichten sich die Vertragsparteien, sicherzustellen, dass diese Arbeitnehmenden, soweit sie sich rechtmässig in ihrem Hoheitsgebiet befinden, in Bezug auf das Arbeitsentgelt und andere Beschäftigungsund Arbeitsbedingungen nicht weniger günstig behandelt werden als ihre eigenen Staatsangehörigen.

Gemäss der Praxis des CEDS muss Artikel 19 Absatz 4 Buchstabe a sowohl auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen wie auf die geographische und berufliche Mobilität angewendet werden.

Was in der Schweiz die Lohn- und Arbeitsbedingungen für Staatsangehörige aus Ländern betrifft, die nicht der EU oder der EFTA angehören, wird die Gleichbehandlung durch Artikel 22 AuG garantiert. Danach können Ausländerinnen und Ausländer zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit nur zugelassen werden, wenn die orts-, berufs- und branchenüblichen Bedingungen eingehalten werden.

Gemäss dem AuG und der Verordnung vom 24. Oktober 200741 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE) ist das Recht auf geographische und berufliche Mobilität in der Schweiz jedoch nicht für alle Ausländerinnen und Aus41

SR 142.201

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länder gewährleistet. Erwerbstätige Personen mit einer Kurzaufenthaltsbewilligung, Grenzgänger, Asylbewerber, vorläufig aufgenommene Personen, Schutzbedürftige und Flüchtlinge dürfen Anstellung, Beruf und Kanton nicht ohne vorherige Bewilligung der zuständigen kantonalen Behörde42 wechseln. Auch die geographische und berufliche Mobilität von Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung kann eingeschränkt werden.

Das geltende Schweizer Recht ist diesbezüglich also nicht vollumfänglich mit Artikel 19 Absatz 4 Buchstabe a vereinbar.

Art. 19 Abs. 4 Bst. b Dieser Absatz stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

Art. 19 Abs. 4 Bst. c Laut Artikel 19 Absatz 4 Buchstabe c verpflichten sich die Vertragsparteien, sicherzustellen, dass diese Arbeitnehmer, soweit sie sich rechtmässig in ihrem Hoheitsgebiet befinden, in Bezug auf die Unterkunft nicht weniger günstig behandelt werden als ihre eigenen Staatsangehörigen.

Wenn ein Staat die Ausstellung einer Bewilligung an Ausländerinnen und Ausländer davon abhängig macht, dass sie eine Unterkunft haben, so muss er gemäss der Praxis des CEDS dafür sorgen, dass sie ungehinderten Zugang zum Wohnungsmarkt haben, insbesondere dann, wenn Wohnungen von der öffentlichen Hand verwaltet werden.

Die Verordnung vom 6. Oktober 1986 über die Begrenzung der Zahl der Ausländer, die laut dem Bericht 2002 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit ein Problem im Hinblick auf die Ratifikation der CSE darstellte, wurde durch die VZAE aufgehoben. Das AuG sieht in Artikel 24 jedoch ebenfalls vor, dass Ausländerinnen und Ausländer zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit nur zugelassen werden können, wenn sie über eine bedarfsgerechte Wohnung verfügen. Dieser Sachverhalt wurde mit dem neuen Ausländerrecht also nicht geändert.

Artikel 1 WFG hat zum Ziel, Wohnraum für Haushalte mit geringem Einkommen zu fördern. Gemäss Artikel 5 WFG ist unter anderem darauf zu achten, dass eine ausgewogene soziale Durchmischung der Bewohnerschaft ermöglicht wird. Diese Bestimmungen können dazu beitragen, dass Ausländerinnen und Ausländer erleichterten Zugang zu Wohnungen haben, auch wenn sie nicht von der öffentlichen Hand verwaltet werden. Ausländische Mieter haben aufgrund des Prinzips der sozialen und intergenerationellen Durchmischung im subventionierten
Wohnungsbau genau dieselben Rechte wie schweizerische Mieter. In der Praxis kann eine Diskriminierung gegenüber Ausländerinnen und Ausländern aber nicht ausgeschlossen werden, da die Vermieter ihre Mieterinnen und Mieter in der Regel frei wählen können.

Dennoch scheint keine Rechtsungleichheit vorzuliegen (vgl. Ziff. 10.1, Auswertung der fachtechnischen Befragung der Kantone).

Es scheint also, dass In- und Ausländer hinsichtlich Zugang zu Wohnungen grundsätzlich gleich behandelt werden und dass das schweizerische Recht mit der Praxis des CEDS bezüglich Artikel 19 Absatz 4 Buchstabe c vereinbar ist.

42

Diese Frage stellt auch im Hinblick auf die Ratifizierung des Protokolls Nr. 4 von 1963 zur EMRK ein Hindernis dar.

5650

Art. 19 Abs. 5 Dieser Absatz stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

Art. 19 Abs. 6 Laut Artikel 19 Absatz 6 verpflichten sich die Vertragsparteien soweit möglich, die Zusammenführung eines zur Niederlassung im Hoheitsgebiet berechtigten Wanderarbeitnehmers mit seiner Familie zu erleichtern.

Beim Familiennachzug impliziert das von der Bundesverfassung und der EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 13 Abs. 1 BV; Art. 8 EMRK), dass die Behörden die verschiedenen Interessen eingehend gegeneinander abwägen43.

Der Begriff der Familienangehörigen wird in der revidierten CSE neu definiert. Als Altersgrenze der nachzugsberechtigten Kinder gilt neu das Volljährigkeitsalter des Aufnahmestaates und nicht mehr das Alter von 21 Jahren. Wie in den meisten anderen europäischen Staaten liegt in der Schweiz das Volljährigkeitsalter bei 18 Jahren.

Somit fällt eine der Hürden weg, welche bei der CSE von 1961 noch vorhanden war.

Seit dem Inkrafttreten des AuG besteht neu auch die Möglichkeit, Ehegatten und Kindern von Personen mit Kurzaufenthaltsbewilligung den Familiennachzug zu bewilligen (Art. 45 AuG). Auch wenn es sich hier nicht um einen Rechtsanspruch handelt, dürfte davon ausgegangen werden, dass diese neue Bestimmung den Anforderungen von Artikel 19 Absatz 6 genügen würde. Es bestehen beim Familiennachzug jedoch andere rechtliche Hindernisse, die mit dem Inkrafttreten des AuG entweder nicht aus dem Weg geräumt werden konnten oder sogar noch neu dazu gekommen sind.

Gemäss Praxis des CEDS darf das Nachzugsrecht u.a. nicht davon abhängig gemacht werden, dass die Wanderarbeitnehmerinnen und Wanderarbeitnehmer nicht sozialhilfebedürftig sind. Zudem sollen nachgezogene Familienangehörige sofort ein von der Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmerin oder des Wanderarbeitnehmers unabhängiges Aufenthaltsrecht erhalten. Diese beiden Voraussetzungen sind im AuG nicht klar gegeben.

Das AuG enthält noch zwei weitere Bestimmungen, welche den Anforderungen von Artikel 19 Absatz 6 nicht genügen. In erster Linie geht es um die Frist für den Familiennachzug. Gemäss Artikel 47 AuG muss der Anspruch auf Familiennachzug innerhalb von fünf Jahren geltend gemacht werden. Kinder über zwölf Jahre müssen innerhalb von zwölf Monaten nachgezogen werden. Die zweite
gesetzliche Hürde nach schweizerischem Recht betrifft das Erfordernis des Zusammenwohnens für Ehegatten und Kinder mit den nachzuziehenden Personen (Art. 42, 44 und 45 AuG).

Es ist davon auszugehen, dass der CEDS gemäss seiner Praxis diese beiden Bestimmungen des AuG als nicht mit Artikel 19 Absatz 6 konform einstufen würde.

Das geltende Schweizer Recht steht somit in mehrfacher Hinsicht nicht im Einklang mit Artikel 19 Absatz 6.

43

Siehe z. B. die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Fällen Gezginci gegen Schweiz (Urteil vom 9. Dezember 2010, Beschwerde Nr. 16327/05) und Hasanbasic gegen Schweiz (Urteil vom 11. Juni 2013, Beschwerde Nr. 52166/09).

5651

Art. 19 Abs. 7 Dieser Absatz stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

Art. 19 Abs. 8 Laut Artikel 19 Absatz 8 verpflichten sich die Vertragsparteien, sicherzustellen, dass Arbeitnehmer, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt rechtmässig auf ihrem Hoheitsgebiet haben, nur ausgewiesen werden können, wenn sie die Sicherheit des Staates gefährden oder gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die Sittlichkeit verstossen.

Der CEDS legt die Gründe für die Ausweisung eng aus. Namentlich die Fürsorgeabhängigkeit des Wanderarbeitnehmers und seiner Familie soll keinen Ausweisungsgrund darstellen.

In Artikel 68 AuG (Ausweisung) ist die Sozialhilfebedürftigkeit zwar nicht mehr als Ausweisungsgrund aufgeführt. Mit der in Artikel 62 Buchstabe e AuG (Aufenthaltsbewilligung, Kurzaufenthaltsbewilligung) und in Artikel 63 Buchstabe c AuG (Niederlassungsbewilligung) gegebenen Möglichkeit, Bewilligungen aus Gründen der Sozialhilfebedürftigkeit zu widerrufen, können Ausländerinnen und Ausländer aber weiterhin wegen Sozialhilfebedürftigkeit aus der Schweiz weggewiesen werden (vgl. weiter oben zu Art. 13 Abs. 1). Zudem können sie gestützt auf den neuen Artikel 121 der Bundesverfassung im Fall eines missbräuchlichen Bezugs von Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe das Aufenthaltsrecht verlieren und ausgewiesen werden44 (vgl. auch die Schlussfolgerung zu Art. 13).

Diese Bestimmungen wären eindeutig nicht kompatibel mit der Praxis des CEDS.

Das geltende schweizerische Recht steht folglich nicht im Einklang mit Artikel 19 Absatz 8.

Art. 19 Abs. 9 Dieser Absatz stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

Art. 19 Abs. 10 Laut Artikel 19 Absatz 10 verpflichten sich die Vertragsparteien, den in diesem Artikel vorgesehenen Schutz und Beistand auf die aus- oder einwandernden selbständig Erwerbstätigen zu erstrecken.

Gemäss Artikel 19 AuG können Wanderarbeitnehmerinnen und Wanderarbeitnehmer zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit zugelassen werden. In der Regel erhalten sie zuerst eine Kurzaufenthaltsbewilligung. Damit können sie jedoch die Anstellung, den Beruf oder den Kanton nicht ohne vorherige Bewilligung des zuständigen Kantons wechseln. Einschränkungen im Bereich der geographischen und beruflichen Mobilität können auch Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung treffen.

44

Im Zuge der Annahme der Initiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer. Bei der Umsetzung dieser Bestimmung muss der Gesetzgeber noch die Tatbestände für den Entzug der Aufenthaltsbewilligung und die Ausweisung näher umschreiben.

5652

Der in Artikel 19 Absatz 4 Buchstabe a CSE vorgesehene Schutz, das heisst die geographische und berufliche Mobilität für selbstständig erwerbstätige Wanderarbeitnehmerinnen und Wanderarbeitnehmer, ist in der Schweiz also nicht garantiert.

Das geltende Schweizer Recht steht somit nicht in vollem Einklang mit Artikel 19 Absatz 10.

Art. 19 Abs. 11 Laut Artikel 19 Absatz 11 verpflichten sich die Vertragsparteien, für Wanderarbeitnehmer und ihre Familienangehörigen den Unterricht zum Erlernen der Landessprache des Aufnahmestaates oder im Falle von mehreren Landessprachen einer dieser Landessprachen zu fördern und zu erleichtern.

Für den obligatorischen Schulbereich sind die Kantone zuständig. Der Unterricht der Landessprachen wird durch das HarmoS-Konkordat sowie Artikel 15 des Sprachengesetzes vom 5. Oktober 200745 (SpG) geregelt, das im Januar 2010 in Kraft trat.

In ihren Empfehlungen zur Schulung der fremdsprachigen Kinder bekräftigte die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) den Grundsatz, wonach alle in der Schweiz lebenden fremdsprachigen Kinder in die öffentlichen Schulen integriert werden sollen und jede Diskriminierung zu vermeiden ist. Die EDK empfiehlt den Kantonen, bereits im Vorschulalter einen unentgeltlichen Unterricht in der Umgangssprache anzubieten und eine Förderung in der heimatlichen Sprache zu unterstützen. Des Weiteren empfiehlt die EDK, die direkte Einweisung Neuzugewanderter in die der Vorbildung und dem Alter entsprechenden Schultypen und Klassen der öffentlichen Schulen anzustreben ­ unterstützt durch unentgeltliche Förder- und Sprachkurse ­ und in der Schülerbeurteilung sowie bei Promotions- und Selektionsentscheiden die Fremdsprachigkeit und das Mehrwissen in der heimatlichen Sprache und Kultur angemessen zu berücksichtigen. Vor allem ist zu vermeiden, dass fremdsprachige Schülerinnen und Schüler nur aufgrund mangelnder Kenntnisse in der Unterrichtssprache in Sonderklassen eingewiesen werden oder ein Schuljahr wiederholen müssen.

Gestützt auf Artikel 16 SpG sowie auf Artikel 10 der Sprachenverordnung vom 4. Juni 201046 kann der Bund bereits im Vorschulalter die Kenntnisse Anderssprachiger in der lokalen Landessprache fördern, und zwar durch die Unterstützung innovativer Projekte der Kantone.

Die Sprachkompetenzen von erwachsenen Migrantinnen und Migranten
werden vom Bundesamt für Migration (BFM) gefördert. Die Ziele der schweizerischen Integrationspolitik sind im AuG und in der revidierten Verordnung vom 24. Oktober 200747 über die Integration von Ausländerinnen und Ausländern (VIntA) verankert. Für die Umsetzung dieser Politik hat das EJPD gemeinsam mit den Kantonen und Gemeinden eine Strategie zur Förderung der Integration mittels kantonaler Integrationsprogramme (KIP) ausgearbeitet. Pfeiler 2 dieser KIP betrifft Bildung und Arbeit. Dazu gehört auch die Förderung der Landessprachen. Gemäss Artikel 53 Absatz 3 AuG fördern Bund, Kantone und Gemeinden insbesondere den Erwerb einer Landessprache sowie Bestrebungen, welche das gegenseitige Verständnis zwischen der schweizerischen und ausländischen Bevölkerung und das Zusammenleben erleichtern.

45 46 47

SR 441.1 SR 441.11 SR 142.205

5653

Die Erfahrung zeigt, dass nicht alle Gruppen von Migrantinnen und Migranten Zugang zu den bestehenden Angeboten der Sprachförderung haben, die von den Regelstrukturen wie Schulen, Berufsbildung, arbeitsmarktlichen Massnahmen usw.

erbracht werden. Das bedeutet, dass dadurch auch Chancen zur Verbesserung des gegenseitigen Verständnisses und damit des Zusammenlebens in Frage gestellt sind.

Der Förderbereich Sprache ist daher folgenden übergeordneten Zielen verpflichtet: ­

Es stehen geeignete Angebote für das Erlernen einer Landessprache zur Verfügung, welche die Migrantinnen und Migranten nutzen: Das heisst, die Migrantinnen und Migranten werden dabei unterstützt, so weit als möglich die vorhandenen Regelangebote wahrzunehmen. Lücken in den Regelangeboten werden durch bedarfsgerechte Angebote ergänzt.

­

Die gesellschaftliche Integration der Migrantinnen und Migranten wird durch Angebote unterstützt, die zielgerichtet die Kommunikation und die Verständigung zwischen Einheimischen und Migrantinnen und Migranten, aber auch die Kommunikation zwischen Migrantinnen und Migranten verschiedener Herkunftssprachen und die Motivation zum Erlernen einer Landessprache fördern (z.B. im Wohnumfeld, im Kontakt mit der Schule, durch Behördengänge, Arztbesuche usw.).

Das geltende Recht und die Praxis der Schweiz sind also mit Artikel 19 Absatz 11 vereinbar.

Art. 19 Abs. 12 Laut Artikel 19 Absatz 12 verpflichten sich die Vertragsparteien soweit durchführbar, den Unterricht zum Erlernen der Muttersprache des Wanderarbeitnehmers für dessen Kinder zu fördern und zu erleichtern.

Artikel 19 Absatz 12 wurde in der Schweiz durch die Einführung des Unterrichts in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) umgesetzt. Artikel 4 Absatz 4 des HarmoSKonkordats sieht für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund vor, dass die Kantone «durch organisatorische Massnahmen die von den Herkunftsländern und den verschiedenen Sprachgemeinschaften unter Beachtung der religiösen und politischen Neutralität durchgeführten Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK-Kurse)» unterstützen. Im Rahmen des Sprachengesetzes (Art. 16 Bst. c) und der Sprachenverordnung (Art. 11) kann der Bund die Kenntnisse Anderssprachiger in ihrer Erstsprache fördern, indem er innovative Projekte der Kantone zugunsten der Förderung von Konzepten für den integrierten Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur, der Weiterbildung der Lehrkräfte sowie der Entwicklung von Lehrmitteln unterstützt.

Schülerinnen und Schüler mit einer anderen Erstsprache als der in der Schule gelehrten lokalen Schulsprache (Deutsch, Französisch, Italienisch oder Romanisch) können an vielen Orten auf freiwilliger Basis Kurse in ihrer Herkunftssprache besuchen.

Dieser Unterricht wird durch staatliche oder nicht-staatliche Trägerschaften der Migrationsgemeinschaften (Botschaften und Konsulate, Vereine oder Privatpersonen) sowie vereinzelt auch durch Kantone bzw. Schulgemeinden und Hilfswerke angeboten. Er steht in der Regel Kindern offen, die in ihrer Familie diese Herkunftssprache sprechen oder das Staatsbürgerrecht des Herkunftsstaates besitzen. Diese Kurse tragen zur Identitätsbildung und zum Erwerb der Erstsprache bei, die nur innerhalb der Familie gesprochen wird. Die frühzeitige Förderung der Mehrspra5654

chigkeit und interkulturellen Kompetenz spielt eine wichtige Rolle für eine gelungene Integration. Gute Kenntnisse in der Erstsprache erleichtern den Migranten und Fremdsprachigen das Erlernen der lokalen Landessprache.

Das geltende Recht und die Praxis der Schweiz sind also mit Artikel 19 Absatz 12 vereinbar.

Schlussfolgerung Das geltende Recht und die Praxis der Schweiz werfen bezüglich Vereinbarkeit mit Absatz 4 Buchstabe a sowie mit den Absätzen 6, 8 und 10 von Artikel 19 teilweise schwerwiegende Probleme auf.

Weil eine Bestimmung des harten Kerns vollständig akzeptierbar sein muss, wird eine Anerkennung von Artikel 19 daher nicht vorgeschlagen.

Art. 20

Recht auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts

Vereinbarkeitsanalyse Im Bericht 2002­2004 der Bundesverwaltung wurde bereits vorgeschlagen, Artikel 20 anzunehmen.

Gewährung der Gleichbehandlung im Gesetz und in der Praxis Artikel 20 gewährt das Recht auf Gleichbehandlung in allen Phasen des Berufslebens. Er bezieht sich auf den Zugang zur Beschäftigung, den Kündigungsschutz, die Berufsberatung und die Berufsausbildung, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen sowie auf den beruflichen Werdegang. Jede Form der direkten oder indirekten Benachteiligung aufgrund des Geschlechts ist verboten. Die Gleichstellung muss für alle Beschäftigen des öffentlichen und des privaten Sektors gelten.

Gemäss CEDS muss das Recht von Frauen und Männern auf Gleichstellung im Berufsleben gesetzlich verankert sein. Die Vertragsstaaten müssen die Gleichbehandlung in all ihren Aspekten sicherstellen. Eine Verankerung des Grundsatzes in der Verfassung reicht nicht aus.

Das schweizerische Recht ist vereinbar mit dieser Forderung. Das Gleichstellungsgesetz vom 24. März 199548 (GlG) bezweckt die Förderung der tatsächlichen Gleichstellung von Frau und Mann.

Beschwerderecht Der CEDS präzisiert, dass das Landesrecht angemessene und wirksame Beschwerdeverfahren für Fälle von Diskriminierungsvorwürfen vorsehen muss. Alle Beschäftigten, die von einer Lohndiskriminierung betroffen sind, müssen die Möglichkeit haben, sich an eine unabhängige Stelle zu wenden.

Dies stellt bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar.

48

SR 151.1

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Beweislast Gemäss CEDS darf die Beweislast in den von der Europäischen Sozialcharta abgedeckten Streitfällen, bei denen eine Diskriminierung geltend gemacht wird, nicht ausschliesslich beim Kläger liegen. Sie muss angemessen ausgestaltet sein. Dies bedeutet im Prinzip, dass sichergestellt sein muss, dass die beklagte Person das Nichtvorhandensein einer Diskriminierung beweisen muss, wenn die Klägerin oder der Kläger das Vorliegen einer Diskriminierung glaubhaft dargelegt hat (Schlussfolgerungen 2008 Band 1, Andorra).

In der Schweiz sieht Artikel 6 des Bundesgesetzes über die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz, GlG) eine Beweislasterleichterung vor, das heisst, eine Diskriminierung wird vermutet, wenn sie von der betroffenen Person glaubhaft dargelegt wird. Diese Beweislasterleichterung kommt bei Diskriminierungen bezüglich Aufgabenzuteilung, Gestaltung der Arbeitsbedingungen, Entlöhnung, Aus- und Weiterbildung, Beförderung und Entlassung zur Anwendung. Bei einer Diskriminierung im Rahmen der Anstellung und bei sexueller Belästigung gilt für die Aufteilung der Beweislast die allgemeine Regel von Artikel 8 ZGB: Wer aus einer behaupteten Tatsache Rechte ableitet, hat das Vorhandensein dieser Tatsache zu beweisen.

Das Gericht klärt den Sachverhalt jedoch von Amtes wegen ab und würdigt die Beweise nach freiem Ermessen (Untersuchungsmaxime). Liegt eine Behauptung wegen Diskriminierung bei der Anstellung vor, kann die betroffene Person vom Arbeitgeber eine schriftliche Begründung verlangen, was zu einer Erleichterung der Beweislast beiträgt. Sexuelle Belästigung oder Mobbing kann auf der Grundlage einer konvergenten Indizienkette angenommen werden (siehe z.B. die Urteile des Schweizerischen Bundesgerichts 1C_418/2008 vom 27. Mai 2009, E. 2.2, und 4P.

214/2006 vom 19. Dezember 2006, E. 2.2).

Die Beweislast, wie sie das schweizerische Recht vorsieht, sollte den Anforderungen der CEDS-Praxis entsprechen und dürfte kein Problem bezüglich Vereinbarkeit mit Artikel 20 CSE darstellen.

Entschädigung im Fall einer Diskriminierung Damit die Chancengleichheit tatsächlich umgesetzt wird, muss das Landesrecht genügend abschreckende Sanktionen für den Arbeitgeber und eine angemessene Entschädigung im Verhältnis zum erlittenen Schaden für das Opfer vorsehen (Schlussfolgerungen 2006 Band 2, Moldawien). Eine ausreichende Entschädigung bedeutet: ­

Wiedereinstellung oder Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses im Falle einer widerrechtlichen oder missbräuchlichen Kündigung sowie Ausrichtung einer Entschädigung für den erlittenen wirtschaftlichen Schaden;

­

eine Entschädigung im Verhältnis zum erlittenen Schaden, d. h. eine Entschädigung, die den wirtschaftlichen und immateriellen Schaden deckt, wenn die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer nicht wieder eingestellt werden möchte oder wenn eine Weiterführung des Arbeitsverhältnisses nicht möglich ist;

­

in allen andern Fällen die Beendigung der Diskriminierung und die Gewährung einer Entschädigung im Verhältnis zum erlittenen materiellen und immateriellen Schaden.

5656

In seiner früheren Praxis war der CEDS ausserdem der Auffassung, dass eine Entschädigung nicht nach oben begrenzt werden dürfe, denn dadurch könnte nicht mehr sichergestellt werden, dass sie im Verhältnis zum erlittenen Schaden steht und folglich ausreichend ist (Schlussfolgerungen, 2008 Band 1, Georgien). Wie weiter oben zu Artikel 1 Absatz 2 bereits grundsätzlich erwähnt, hat der CEDS Ende 2011 seine Haltung bezüglich des Höchstbetrags für Entschädigungen bei missbräuchlicher Kündigung gelockert. Diese neue Praxis ist auch auf eine Entschädigung bei diskriminierender Kündigung im Rahmen von Artikel 20 anwendbar.

Im Schweizer Recht gilt Folgendes: Im Ausnahmefall im Privatrecht ist gemäss Artikel 10 GlG die Kündigung des Arbeitsvertrags durch den Arbeitgeber anfechtbar, wenn sie ohne begründeten Anlass auf eine innerbetriebliche Beschwerde über eine Diskriminierung oder auf die Anrufung der Schlichtungsstelle oder des Gerichts durch die Arbeitnehmerin oder den Arbeitnehmer folgt. Die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer ist während der Dauer des innerbetrieblichen Beschwerdeverfahrens oder des Gerichtsverfahrens sowie sechs Monate darüber hinaus gegen Rachekündigungen geschützt (Art. 10 Abs. 2 GlG). Sie oder er kann das Gericht bitten, bis zum Abschluss des Verfahrens die provisorische Wiedereinstellung anzuordnen (Art. 10 Abs. 3 GlG).

In anderen Diskriminierungsfällen, die in der Kündigung eines obligationenrechtlichen Arbeitsverhältnisses bestehen, hat die betroffene Person lediglich Anspruch auf eine Entschädigung (Art. 5 Abs. 2 GlG). Diese Entschädigung wird unter Berücksichtigung aller Umstände festgelegt. Grundsätzlich darf sie den Betrag von sechs Monatslöhnen (Art. 5 Abs. 4 GlG) nicht übersteigen. Das gleiche gilt für die Entschädigung im Fall sexueller Belästigung. Im Gegensatz dazu darf die Entschädigung bei einer Ablehnung einer Anstellung den Betrag nicht übersteigen, der drei Monatslöhnen entspricht. Die Gesamtsumme der Entschädigungen darf diesen Betrag auch dann nicht übersteigen, wenn mehrere Personen einen Anspruch auf eine Entschädigung wegen diskriminierender Ablehnung derselben Anstellung geltend machen (Art. 5 Abs. 4 GlG).

Diese Entschädigungen können durch Ansprüche auf Schadenersatz und Genugtuung sowie weitergehende vertragliche Ansprüche (Art 5 Abs. 5 GlG) ergänzt
werden. Diese Ansprüche auf Schadenersatz und Genugtuung sind nicht nach oben begrenzt und entsprechen folglich dem vom CEDS gewollten Charakter der Wiedergutmachung.

Anlässlich der Gespräche mit den Schweizer Behörden äusserte der CEDS, nachdem ihm die aktuelle Rechtslage der Schweiz bezüglich Höchstbetrag für Entschädigungen dargelegt worden war, die Auffassung, diese sei ausreichend, zumal nach seiner neuen Praxis ausschlaggebend sei, dass die Möglichkeit einer zusätzlichen Entschädigung nicht ausgeschlossen werde. Dies sei mit Artikel 5 Absatz 5 GlG gegeben, so dass folglich Artikel 20 grundsätzlich mit dem geltenden schweizerischen Recht vereinbar ist.

Lohngleichheit Gemäss CEDS-Praxis gewährt die CSE Frauen und Männern das Recht auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit. Die Lohngleichheit muss alle Aspekte der Entlöhnung umfassen, das heisst den Lohn, den Grundlohn oder den Mindestlohn sowie alle direkten oder indirekten Vorteile in Form von Geldleistungen oder von Natura-

5657

lien, die der Arbeitgeber der oder dem Beschäftigten aufgrund ihrer oder seiner Beschäftigung gewährt.

Der Begriff der Lohngleichheit stellt so, wie er vom CEDS ausgelegt wird, für die Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht kein Problem dar (Art. 8 Abs. 3 BV, Art. 3 GlG). In diesem Zusammenhang ist zudem darauf hinzuweisen, dass die Arbeitgeberverbände, die Gewerkschaften und die zuständigen Bundesstellen seit 2009 partnerschaftlich darauf hinarbeiten, die Unternehmen zu einer freiwilligen Überprüfung ihrer Löhne zu motivieren und auf diese Weise allfällige Diskriminierungen zwischen Mann und Frau möglichst rasch zu beseitigen.

Schlussfolgerung Insgesamt ist das geltende schweizerische Recht grundsätzlich mit allen Anforderungen gemäss Artikel 20 CSE vereinbar.

Die vorläufige Beurteilung der Situation in der Schweiz durch den CEDS fällt also positiv aus. Angesichts der jüngsten Lockerung der Praxis des CEDS ist die schweizerische Rechtsordnung bezüglich des Höchstbetrags für eine Entschädigung bei Diskriminierung mit der CSE vereinbar.

Auch die Forderungen des CEDS im Bereich der Beweislast sollten kein Problem bezüglich Vereinbarkeit mit dem schweizerischen Recht darstellen.

8.1.3

Zusammenfassender Überblick über die Kernbestimmungen, welche die Schweiz anerkennen kann

Artikel

Nummern der Absätze, mit denen das geltende schweizerischeRecht vollständig vereinbar sein sollte

Nummern der Absätze, mit denen das schweizerische Recht nicht vollständig vereinbar ist

Ganze Artikel, welche die Schweiz anerkennen könnte

1 5 6 7 12 13 16 19 20

1, 2, 3, 4 Gesamter Art. (1 Abs.)

1, 2, 3, 4 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 2, 3 2, 3 Gesamter Art. (1 Abs.)

1, 2, 3, 5, 7, 9, 11, 12 Gesamter Art. (1 Abs.)

­ ­ ­ ­ 1, 4 1, 4 4, 6, 8, 10 ­

ja ja ja ja nein nein ja nein ja

Total

33

8

6

5658

8.2

Überblick über die Vereinbarkeit des schweizerischen Rechts mit den Zusatzbestimmungen der CSE

Es sei daran erinnert, dass ein Staat für die Ratifikation der revidierten CSE neben sechs vollständigen Kernartikeln auch eine gewisse Zahl von «Zusatzbestimmungen» akzeptieren und somit einschliesslich der Kernartikel (und ihrer Absätze) gesamthaft 16 ganze Artikel oder 63 nummerierte Absätze annehmen muss.

Die folgende Prüfung der Zusatzbestimmungen beruht auf dem Bericht der Bundesverwaltung von 2002­2004. Aus verwaltungsökonomischen Gründen wurde die Analyse der Vereinbarkeit des schweizerischen Rechts mit den Zusatzbestimmungen für diesen Bericht nicht aufdatiert. Einerseits befasst sich der vorliegende Bericht in erster Linie mit der Vereinbarkeit des schweizerischen Rechts mit dem harten Kern der CSE, da dieser Punkt bei der Beurteilung der Zweckmässigkeit einer Unterzeichnung und Ratifizierung der CSE am stärksten ins Gewicht fällt. Andererseits zeigt die folgende Tabelle, die auf dem Bericht 2002­2004 der Bundesverwaltung beruht und mit den Ergebnissen der Prüfung des vorliegenden Berichts ergänzt wurde, dass die Gesamtzahl der Artikel und die Gesamtzahl der Absätze bei weitem erreicht ist (20 Artikel und 76 Absätze, verlangt wären 16 Artikel und 63 Absätze).

Die nachstehende Tabelle dient somit nur als Anhaltspunkt, vorbehalten bleibt eine ausführlichere Analyse der Entwicklung des schweizerischen Rechts und der CEDSPraxis (ausgehend von 2004).

Artikel

Anzahl nummerierte Absätze

Nummern der Absätze, mit denen das schweizerische Recht vereinbar ist

Anzahl Absätze, mit denen das schweizerische Recht vereinbar ist

Anzahl ganzer Artikel, mit denen das schweizerische Recht vereinbar ist

Übertrag harter Kern 2 3 4 8 9 10 11 14 15 17 18 21 22 23

­ 7 4 5 5 1 5 3 2 3 2 4 1 1 1

­ 1, 2, 3, 5, 7 1 3, 4, 5 1, 2, 3, 4, 5 1 1, 2, 3, 4 1, 2, 3 1, 2 1, 2, (3) 1, 2 2, 4 1 1 1

33 5 1 3 5 1 4 3 2 2 (3) 2 2 1 1 1

6 nein nein nein ja ja nein ja ja nein (ja)49 ja nein ja ja ja

49

Das schweizerische Recht scheint nun vollständig vereinbar zu sein mit dieser Bestimmung. Zu den seit 2004 erzielten einschlägigen Fortschritten gehören namentlich das neue Behindertengleichstellungsgesetz vom 13. Dezember 2002 (BeHiG; SR 151.3) sowie die Ratifikation durch die Schweiz vom 15. April 2014 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen .

5659

Artikel

Anzahl nummerierte Absätze

Nummern der Absätze, mit denen das schweizerische Recht vereinbar ist

Anzahl Absätze, mit denen das schweizerische Recht vereinbar ist

Anzahl ganzer Artikel, mit denen das schweizerische Recht vereinbar ist

24 25 26 27 28 29 30 31

1 1 2 3 1 1 1 3

­ ­ 1, 2 3 1 1 1 1, 2, 3

0 0 2 1 1 1 1 3

nein nein ja nein ja ja ja ja

43

14

76

20

Subtotal Total

9

98

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Zur Umsetzung der revidierten CSE muss eine Vertragspartei Jahresberichte über einen Teil der von ihr akzeptierten thematisch gegliederten Bestimmungen erstellen.

Das Gespräch mit dem CEDS, das der Verabschiedung von Schlussfolgerungen vorausgeht, kann dann in Form von punktuellen Treffen stattfinden (siehe Ziff. 7.1).

Ferner nehmen die Regierungssachverständigen der Vertragsstaaten zweimal jährlich (während mindestens je drei Tagen) an den Tagungen des Regierungsausschusses teil (siehe Ziff. 7.2). Grundsätzlich delegiert jeder Staat nur einen Regierungssachverständigen, der auf die kontrollierten Bereiche spezialisiert ist und für dessen Reise- und Unterkunftsspesen der Europarat aufkommt. Die Vorbereitungsarbeiten der nationalen Verwaltungen für die Tagungen des Regierungsausschusses hängen von der Anzahl nicht-konformer Verhältnisse und negativer Schlussfolgerungen betreffend ihr Land ab.

Die Erstellung der Jahresberichte, die nur einen Teil der akzeptierten Bestimmungen der CSE betreffen, die Gespräche mit dem CEDS, die Teilnahme an den zwei Tagungen des Regierungsausschusses und deren Vorbereitung würden einen zusätzlichen administrativen Aufwand verursachen, der sich aber in Grenzen halten würde.

Im September 2011 EDA den Bundesrat über seine Absicht informiert, den Bericht über die revidierte europäische Sozialcharta durch einen Wirtschaftsteil zu ergänzen.

Damals ging es darum, die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Änderung der Schweizer Gesetzgebung und Praxis zu prüfen. Die wirtschaftliche Analyse wurde vom SECO durchgeführt und in den Berichtsentwurf integriert. Aufgrund des Ausgangs des Dialogs mit dem CEDS, insbesondere der Einigung über das duale Berufsbildungssystem der Schweiz (siehe die Erläuterungen zu Art. 7 Abs. 4 und 5), änderte sich der Kontext massgebend. Die entsprechenden Bestimmungen der CSE können nun von der Schweiz akzeptiert werden, ohne dass Gesetzesänderungen erforderlich wären. Dadurch ist der ursprünglich vorgesehene Wirtschaftsteil hinfällig und nicht mehr aktuell. Deshalb ist er nicht mehr Teil des vorliegenden Berichts.

5660

10

Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden

10.1

Auswertung der fachtechnischen Befragung der Kantone

Die Ratifikation der CSE hätte in verschiedenen Punkten Auswirkungen auf die Zuständigkeiten der Kantone bzw. betrifft ihre wesentlichen Interessen. Aufgrund der Artikel 45 und 54 Absatz 3 BV sowie des Bundesgesetzes vom 22. Dezember 199950 über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik (BGMK) muss der Bund die Kantone über die wesentlichen Schritte bezüglich der Charta informieren (Art. 3 BGMK) und sie anhören (Art. 4 BGMK).

Vor der Verabschiedung dieses Berichts wurde bei den Kantonen eine Umfrage zwischen Dezember 2010 und März 2011 durchgeführt, die den Charakter einer rein fachtechnischen Befragung hatte und Fragen zum Anwendungsbereich der Gesetzgebung ganz ausklammerte. Im Rahmen dieser Umfrage wurden alle Kantone und Direktorenkonferenzen eingeladen, allgemeine Bemerkungen zum Berichtsentwurf zu machen. Zudem wurden ihnen spezifische Fragen unterbreitet, um einerseits festzustellen, welche Kernartikel am ehesten anerkannt würden und um andererseits den Bericht bezüglich technischen Fragen, die in den Kompetenzbereich der Kantone fallen, zu vervollständigen (Streikrecht, Recht auf Fürsorge, Gleichbehandlung der Wanderarbeitnehmer im Bereich Unterkunft).

Viele Kantone verwiesen auf den fachtechnischen Charakter der Befragung und behielten sich umfassendere Bemerkungen und Stellungnahmen für eine mögliche Vernehmlassung zu einem späteren Zeitpunkt vor. Unter jenen Kantonen, die sich in allgemeiner Art zur Zweckmässigkeit einer Ratifizierung der CSE äusserten, finden sich ungefähr gleich viele befürwortende wie zurückhaltende Stimmen. Positiv eingestellte Kantone verweisen auf die Verantwortung der Schweiz als einflussreicher Mitgliedstaat im Europarat, eine förderliche Wirkung auf die soziale Kohäsion sowie auf die Integration von Ausländern und die Prävention von Rassismus, und einen verbesserten Kindes- und Jugendschutz. Eine ablehnende Haltung zur Sozialcharta wird mit Hinweis auf die politischen Hürden, die einer Ratifizierung entgegen stehen würden, der evolutiven Auslegung des CEDS, der geringen Priorität einer Ratifizierung, des bereits gut funktionierenden Schweizer Sozialsystems, sowie befürchteten nachteiligen Folgen für das Bildungswesen und die Wirtschaft begründet. Grundsätzlich herrscht hingegen Einigkeit, dass eine Anerkennung der Artikel 13 und 19 CSE angesichts der
notwendigen gesetzlichen Anpassungen nicht zur Diskussion steht. Die meisten Kantone verweisen überdies darauf, dass die Frage der Zweckmässigkeit einer Ratifizierung nur über die üblichen politischen Prozesse geklärt werden kann.

Auf die Frage, welcher der Kernartikel (neben den Art. 1, 5, 6, 16 und 20) als sechster am ehesten Zustimmung finden würde, antwortete mehr als die Hälfte der Kantone. Die überwiegende Mehrheit derjenigen Kantone, die sich geäussert haben, erwähnten Artikel 7. Diese Auswahl wird einerseits mit den positiven Effekten auf den Kinder- und Jungendschutz und andererseits mit der bereits heute bestehenden weitgehenden Kompatibilität des Rechts und der Praxis der Schweiz mit der CSE begründet.

50

SR 138.1

5661

In Bezug auf das Streikrecht (siehe Art. 6 Abs. 4 CSE) wurde deutlich, dass die Kantone und Gemeinden Streiks zulassen. Rund die Hälfte unter ihnen hält sich strikt an die Bestimmungen von Artikel 28 Absatz 3 der Bundesverfassung; die übrigen Kantone haben die verfassungsmässigen Bestimmungen übernommen und eine gesetzliche Grundlage für eine rechtmässige Einschränkung des Streikrechts verankert. Einzig zwei Kantone bilden eine Ausnahme. Sie verbieten den öffentlichen Angestellten das Streikrecht und verstossen folglich gegen die Bundesverfassung, die EMRK, den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und die CSE (siehe weiter oben die Erläuterungen zu Art. 6 Abs. 4).

Was die Fürsorge anbelangt, stimmen die kantonalen Gesetzgebungen mit Artikel 13 CSE insofern überein, als dass sie «angemessene» Fürsorgeleistungen erbringen, die ein menschenwürdiges Leben und eine Deckung der Grundbedürfnisse der Betroffenen erlauben (siehe weiter oben die Erläuterungen zu Art. 13 Abs. 1). Zu erwähnen ist, dass die von den Kantonen eingesetzten Berechnungsmethoden von denjenigen des CEDS abweichen. Für den CEDS gilt die Fürsorge als angemessen, wenn die Höhe der Fürsorgeleistungen offensichtlich nicht unter der Armutsgrenze liegt, die bei 50 % des bereinigten Medianeinkommens auf der Grundlage der Armutsgefährdungsschwelle von Eurostat liegt. Die Kantone stützen sich hier vorzugsweise auf ein Bedarfskriterium. Sie handeln häufig auf der Grundlage der von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe festgelegten Richtlinien zur Ausgestaltung der Sozialhilfe. Die Kantone beurteilen diese als kompatibel mit der CSE.

Die fachtechnische Befragung hat bestätigt, dass ausländische Staatsangehörige im Allgemeinen im Fürsorgebereich gleich behandelt werden wie schweizerische Staatsangehörige (siehe weiter oben die Erläuterungen zu Art. 13 Abs. 4). Dennoch erhalten in etwa zehn Kantonen gewisse Ausländergruppen, namentlich solche, die nur provisorisch aufgenommen wurden, weniger Leistungen.

Nur 18 Kantone beantworteten die Frage bezüglich Widerruf der Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligung, wenn eine Person von der Fürsorge abhängig ist (siehe weiter die Erläuterungen zu Art. 13 Abs. 1). Sechs von ihnen gaben an, dass in ihrer Praxis Wegweisungen, die einzig auf den Umstand zurückzuführen
sind, dass die betroffene ausländische Person Fürsorge benötigt, nicht oder nur sehr selten vorkommen. Die Mehrheit der übrigen Kantone, die sich zu dieser Frage geäussert hat, scheint sich an das AuG zu halten.

Es scheint, dass das Recht und die Praxis der Schweiz mit Artikel 19 Absatz 4 Buchstabe c CSE vereinbar ist (siehe weiter oben die Erläuterungen zu Art. 19 Abs. 4 Bst. c). Die Kantone bestätigten, dass sie schweizerische und ausländische Staatsangehörige gleich behandeln und dass der Zugang zu Wohnraum nicht von der Nationalität abhängt. Ein Kanton meinte dazu, dass es trotz rechtlich verankerter Gleichbehandlung bezüglich Zugang zu Wohnraum tatsächlich eine ungleiche Behandlung geben kann aufgrund von Bestimmungen, wonach eine Person mindestens zwei Jahre in einem Kanton niedergelassen sein muss, um Anrecht auf Hilfe zu haben. Andere Kantone weisen zudem darauf hin, dass grundsätzlich nicht auszuschliessen sei, dass Ausländer de facto im Zugang zu Wohnraum benachteiligt werden.

5662

10.2

Finanzielle Auswirkungen

Eine Ratifikation der revidierten Sozialcharta wird vor allem im Rahmen der Folgearbeiten auf Seiten der Kantone gewisse Ressourcen erfordern. Mehrere Bereiche, die durch die Charta abgedeckt werden, fallen in die Zuständigkeit der Kantone, so dass diese bei der Zusammenstellung der Daten für die jährlichen Staatenberichte aufgefordert werden könnten mit der Bundesverwaltung zusammenzuarbeiten (siehe Ziff. 7.1 und 9). Die Neuausgaben, die den Kantonen aufgrund der Zusammenarbeit mit der Bundesverwaltung entstehen würden, wären aber angesichts der Praxis des CEDS, nicht die Umsetzung aller Verpflichtungen durch die Vertragsstaaten, sondern nur einer beschränkten Zahl von Bestimmungen der CSE zu prüfen, begrenzt.

11

Verfassungsmässigkeit

Der Bund ist gemäss Artikel 54 Absatz 1 BV im Rahmen seiner aussenpolitischen Kompetenz verfassungsmässig für den Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen wie der revidierten Sozialcharta zuständig. Unterzeichnung und Ratifikation obliegen dem Bundesrat (Art. 184 Abs. 2 erster Satz), wobei der Vertrag von der Bundesversammlung zu genehmigen ist, sofern der Bundesrat nicht exklusiv für den Abschluss zuständig ist (Art. 166 Abs. 2 und 184 Abs. 2 zweiter Satz BV, Art. 24 Abs. 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 200251). Eine solche Ausnahme liegt hier nicht vor, weshalb die Genehmigung durch das Parlament erforderlich ist.

Völkerrechtliche Verträge unterstehen aufgrund von Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d BV dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder wenn deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordern (siehe Ziff. 3).

Die revidierte Sozialcharta enthält rechtsetzende Bestimmungen, welche, würden sie innerstaatlich verabschiedet, als wichtig im Sinne von Artikel 164 Absatz 1 BV gelten würden52.

Ein allfälliger Bundesbeschluss über die Genehmigung der revidierten CSE müsste also gemäss Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV dem fakultativen Staatsvertragsreferendum unterstellt werden.

12

Schlussbemerkung

Damit ein Staat die revidierte Europäische Sozialcharta ratifizieren kann, muss er sechs der neun Kernartikel vollständig anerkennen können. Bei der rechtlichen Analyse der Möglichkeit einer Ratifizierung ist somit die wesentliche Frage, ob das nationale Recht mit den Bestimmungen des harten Kerns vereinbar ist.

Die Analyse der Vereinbarkeit des geltenden schweizerischen Rechts mit der CSE hat ergeben, dass die Schweiz die Artikel 12 «Das Recht auf Soziale Sicherheit», 13 «Das Recht auf Fürsorge» und 19 «Das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer 51 52

SR 171.10 Siehe dazu die überwiesene Motion 04.3203, «Fakultatives Staatsvertragsreferendum.

Parallelismus von staatsvertraglicher und innerstaatlicher Rechtsetzung», der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates.

5663

Familien auf Schutz und Beistand» nicht anerkennen könnte. Diese Bestimmungen können somit nicht berücksichtigt werden.

Die Artikel 1, 5, 6, und 20 des harten Kerns der CSE können hingegen von der Schweiz anerkannt werden, namentlich aufgrund der Lockerung der Praxis des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte.

Auch Artikel 7 des harten Kerns kann dank der Einigung mit dem Europäischen Ausschuss für soziale Rechte in Bezug auf das duale System der beruflichen Grundbildung der Schweiz anerkannt werden. Im Falle einer Ratifizierung würde der Ausschuss die duale berufliche Grundbildung als eigenständiges Bildungssystem beurteilen, d. h. aus der Sicht von Artikel 10 (berufliche Bildung) und nicht von Artikel 7. Somit stellt Artikel 7 CSE bezüglich Vereinbarkeit mit dem geltenden Recht und der Praxis der Schweiz kein Problem mehr dar.

Der sechste Kernartikel, der im Hinblick auf eine Ratifizierung akzeptabel wäre, ist Artikel 16. Das geltende Recht der Schweiz sowie die laufenden Massnahmen in den verschiedenen Anwendungsbereichen von Artikel 16 sind mit den Anforderungen des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte vereinbar.

Die Schweiz wäre folglich aus rechtlicher Sicht in der Lage, die geforderten sechs Artikel des harten Kerns anzuerkennen und somit die revidierte Europäische Sozialcharta zu ratifizieren. Darüber hinaus könnte die Schweiz auch die erforderliche Anzahl Zusatzbestimmungen anerkennen.

Sobald das Parlament vom vorliegenden Bericht Kenntnis genommen hat, wird der Bundesrat in einem nächsten Schritt zum Grundsatz einer Ratifizierung der CSE Stellung nehmen.

5664

Anhang I

Ablaufschema des Kontrollsystems Vertragsstaaten der CSE

Jahresberichte über die Umsetzung eines Teils der CSE-Bestimmungen

Arbeitgeber-/Arbeitnehmerorganisationen

Bemerkungen zu den Jahresberichten der Staaten

Kollektivbeschwerden (fakultatives Verfahren)

Europäischer Ausschuss für soziale Rechte (CEDS) ­ Besteht aus 15 unabhängigen, vom Ministerkomitee gewählten Sachverständigen.

­ Führt einen pragmatischen Dialog mit den Staaten.

­ Beurteilt die Übereinstimmung des Rechts und der Praxis der einzelnen Staaten mit der CSE anhand von Jahresberichten («Schlussfolgerungen») und gegebenenfalls aufgrund einer Kollektivbeschwerde («Entschliessungen»).

Regierungsausschuss ­ Besteht aus Vertretern der Vertragsstaaten des CSE.

­ Prüft die Schlussfolgerungen der CEDS bezüglich Nichtübereinstimmung und berücksichtigt dabei die Erläuterungen der Staaten und ihre Informationen über die geplanten oder eingeleiteten Massnahmen.

­ Kann dem Ministerkomitee empfehlen, eine Empfehlung an einen Staat zu richten.

Ministerkomitee ­ Besteht aus den Aussenministern der Vertragsstaaten des CSE.

­ Kann mit Zweidrittelmehrheit rechtlich unverbindliche Empfehlungen an einen Vertragsstaat abgeben.

Parlamentarische Versammlung Periodische Debatten über sozialpolitische Fragen ­ Kann mit Zweidrittelmehrheit rechtlich unverbindliche Empfehlungen an einen Vertragsstaat abgeben.

5665

Anhang II

Kernartikel der revidierten CSE53 Art. 1

Das Recht auf Arbeit

Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Arbeit zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien: 1.

im Hinblick auf die Verwirklichung der Vollbeschäftigung die Erreichung und Aufrechterhaltung eines möglichst hohen und stabilen Beschäftigungsstands zu einer ihrer wichtigsten Zielsetzungen und Aufgaben zu machen;

2.

das Recht des Arbeitnehmers wirksam zu schützen, seinen Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen;

3.

unentgeltliche Arbeitsvermittlungsdienste für alle Arbeitnehmer einzurichten oder aufrechtzuerhalten;

4.

eine geeignete Berufsberatung, Berufsausbildung und berufliche Wiedereingliederung sicherzustellen oder zu fördern.

(...)

Art. 5

Das Vereinigungsrecht

Um die Freiheit der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu gewährleisten oder zu fördern, örtliche, nationale oder internationale Organisationen zum Schutz ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu bilden und diesen Organisationen beizutreten, verpflichten sich die Vertragsparteien, diese Freiheit weder durch das innerstaatliche Recht noch durch dessen Anwendung zu beeinträchtigen. Inwieweit die in diesem Artikel vorgesehenen Garantien auf die Polizei Anwendung finden, bestimmt sich nach innerstaatlichem Recht. Das Prinzip und gegebenenfalls der Umfang der Anwendung dieser Garantien auf die Mitglieder der Streitkräfte bestimmen sich gleichfalls nach innerstaatlichem Recht.

Art. 6

Das Recht auf Kollektivverhandlungen

Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien:

53

1.

gemeinsame Beratungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu fördern;

2.

Verfahren für freiwillige Verhandlungen zwischen Arbeitgebern oder Arbeitgeberorganisationen einerseits und Arbeitnehmerorganisationen andererseits zu fördern, soweit dies notwendig und zweckmässig ist, mit dem Ziel, die Beschäftigungsbedingungen durch Gesamtarbeitsverträge zu regeln;

Nichtamtliche Übersetzung des Europarates. Quelle: http://conventions.coe.int/ > Europaratsverträge > Gesamtverzeichnis > Nr. 163

5666

3.

die Einrichtung und die Benutzung geeigneter Vermittlungs- und freiwilliger Schlichtungsverfahren zur Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten zu fördern: und anerkennen:

4.

Art. 7

das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Massnahmen einschliesslich des Streikrechts im Fall von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen.

Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz

Um die wirksame Ausübung des Rechts der Kinder und Jugendlichen auf Schutz zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien: 1.

das Mindestalter für die Zulassung zu einer Beschäftigung auf 15 Jahre festzusetzen, vorbehaltlich von Ausnahmen für Kinder, die mit bestimmten leichten Arbeiten beschäftigt werden, welche weder ihre Gesundheit noch ihre Moral noch ihre Erziehung gefährden;

2.

das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung in bestimmten Berufen, die als gefährlich oder gesundheitsschädlich gelten, auf 18 Jahre festzusetzen;

3.

die Beschäftigung Schulpflichtiger mit Arbeiten zu verbieten, die verhindern würden, dass sie aus ihrer Schulausbildung den vollen Nutzen ziehen;

4.

die Arbeitszeit von Jugendlichen unter 18 Jahren entsprechend den Erfordernissen ihrer Entwicklung und insbesondere ihrer Berufsausbildung zu begrenzen;

5.

das Recht der jugendlichen Arbeitnehmer und Lehrlinge auf ein gerechtes Arbeitsentgelt oder eine angemessene Beihilfe anzuerkennen;

6.

vorzusehen, dass die Zeit, die Jugendliche während der normalen Arbeitszeit mit Zustimmung des Arbeitgebers für die Berufsausbildung verwenden, als Teil der täglichen Arbeitszeit gilt;

7.

für Arbeitnehmer unter 18 Jahren die Dauer des bezahlten Jahresurlaubs auf mindestens vier Wochen festzusetzen;

8.

für Personen unter 18 Jahren Nachtarbeit zu verbieten, mit Ausnahme bestimmter, im innerstaatlichen Recht festgelegter Arbeiten;

9.

vorzusehen, dass Arbeitnehmer unter 18 Jahren, die in bestimmten, im innerstaatlichen Recht festgelegten Beschäftigungen tätig sind, einer regelmässigen ärztlichen Überwachung unterliegen;

10. einen besonderen Schutz gegen die körperlichen und sittlichen Gefahren sicherzustellen, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind, insbesondere gegen Gefahren, die sich unmittelbar oder mittelbar aus ihrer Arbeit ergeben.

(...)

Art. 12

Das Recht auf Soziale Sicherheit

Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Soziale Sicherheit zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien: 5667

1.

ein System der Sozialen Sicherheit einzuführen oder beizubehalten;

2.

das System der Sozialen Sicherheit auf einem befriedigenden Stand zu halten, der zumindest dem entspricht, der für die Ratifikation der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit erforderlich ist;

3.

sich zu bemühen, das System der Sozialen Sicherheit fortschreitend auf einen höheren Stand zu bringen;

4.

durch den Abschluss geeigneter zwei- oder mehrseitiger Übereinkünfte oder durch andere Mittel und nach Massgabe der in diesen Übereinkünften niedergelegten Bedingungen Massnahmen zu ergreifen, die folgendes gewährleisten: a. die Gleichbehandlung der Staatsangehörigen anderer Vertragsparteien mit ihren eigenen Staatsangehörigen hinsichtlich der Ansprüche aus der Sozialen Sicherheit einschliesslich der Wahrung der nach den Rechtsvorschriften der Sozialen Sicherheit erwachsenen Leistungsansprüche, gleichviel wo die geschützten Personen innerhalb der Hoheitsgebiete der Vertragsparteien ihren Aufenthalt nehmen, b. die Gewährung, die Erhaltung und das Wiederaufleben von Ansprüchen aus der Sozialen Sicherheit, beispielsweise durch die Zusammenrechnung von Versicherungs- und Beschäftigungszeiten, die nach den Rechtsvorschriften jeder der Vertragsparteien zurückgelegt wurden.

(...)

Art. 13

Das Recht auf Fürsorge

Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Fürsorge zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien: 1.

sicherzustellen, dass jedem, der nicht über ausreichende Mittel verfügt und sich diese auch nicht selbst oder von anderen, insbesondere durch Leistungen aus einem System der Sozialen Sicherheit, verschaffen kann, ausreichende Unterstützung und im Fall der Erkrankung die Betreuung, die seine Lage erfordert, gewährt werden;

2.

sicherzustellen, dass Personen, die diese Fürsorge in Anspruch nehmen, nicht in ihren politischen oder sozialen Rechten beeinträchtigt werden;

3.

dafür zu sorgen, dass jedermann durch zweckentsprechende öffentliche oder private Einrichtungen die zur Verhütung, Behebung oder Milderung einer persönlichen oder familiären Notlage erforderliche Beratung und persönliche Hilfe erhalten kann;

4.

die unter den Nummern 1, 2 und 3 genannten Bestimmungen auf die rechtmässig in ihrem Hoheitsgebiet befindlichen Staatsangehörigen der anderen Vertragsparteien anzuwenden, und zwar auf der Grundlage der Gleichbehandlung und in Übereinstimmung mit den Verpflichtungen aus dem am 11. Dezember 1953 zu Paris unterzeichneten Europäischen Fürsorgeabkommen.

(...)

5668

Art. 16

Das Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz

Um die erforderlichen Voraussetzungen für die Entfaltung der Familie als einer Grundeinheit der Gesellschaft zu schaffen, verpflichten sich die Vertragsparteien, den wirtschaftlichen, gesetzlichen und sozialen Schutz des Familienlebens zu fördern, insbesondere durch Sozial- und Familienleistungen, steuerliche Massnahmen, Förderung des Baus familiengerechter Wohnungen, Hilfen für junge Eheleute und andere geeignete Mittel jeglicher Art.

(...)

Art. 19

Das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand

Um die wirksame Ausübung des Rechts der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand im Hoheitsgebiet jeder anderen Vertragspartei zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien: 1.

geeignete Stellen zu unterhalten oder sich zu vergewissern, dass solche Stellen bestehen, die diese Arbeitnehmer unentgeltlich betreuen, insbesondere durch Erteilung genauer Auskünfte, sowie im Rahmen des innerstaatlichen Rechts geeignete Massnahmen gegen irreführende Werbung zur Auswanderung und Einwanderung zu treffen;

2.

in den Grenzen ihrer Zuständigkeit geeignete Massnahmen zur Erleichterung der Abreise, der Reise und der Aufnahme dieser Arbeitnehmer und ihrer Familien zu treffen und ihnen in den Grenzen ihrer Zuständigkeit während der Reise notwendige Gesundheitsdienste, ärztliche Betreuung und gute hygienische Bedingungen zu verschaffen;

3.

soweit erforderlich, die Zusammenarbeit zwischen den öffentlichen und privaten sozialen Diensten der Auswanderungs- und der Einwanderungsländer zu fördern;

4.

sicherzustellen, dass diese Arbeitnehmer, soweit sie sich rechtmässig in ihrem Hoheitsgebiet befinden, nicht weniger günstig behandelt werden als ihre eigenen Staatsangehörigen in bezug auf die folgenden Gegenstände, soweit diese durch Rechtsvorschriften geregelt oder der Überwachung durch die Verwaltungsbehörden unterstellt sind: a. das Arbeitsentgelt und andere Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, b. den Beitritt zu gewerkschaftlichen Organisationen und den Genuss der durch Gesamtarbeitsverträge gebotenen Vorteile, c. die Unterkunft;

5.

sicherzustellen, dass diese Arbeitnehmer, soweit sie sich rechtmässig in ihrem Hoheitsgebiet befinden, nicht weniger günstig behandelt werden als ihre eigenen Staatsangehörigen in bezug auf die Steuern, Abgaben und Beiträge, die für den Arbeitnehmer aufgrund der Beschäftigung zu zahlen sind;

6.

soweit möglich, die Zusammenführung eines zur Niederlassung im Hoheitsgebiet berechtigten Wanderarbeitnehmers mit seiner Familie zu erleichtern;

5669

7.

sicherzustellen, dass diese Arbeitnehmer, soweit sie sich rechtmässig in ihrem Hoheitsgebiet befinden, nicht weniger günstig behandelt werden als ihre eigenen Staatsangehörigen in bezug auf die Möglichkeit, hinsichtlich der in diesem Artikel behandelten Angelegenheiten den Rechtsweg zu beschreiten;

8.

sicherzustellen, dass diese Arbeitnehmer, soweit sie in ihrem Hoheitsgebiet ihren rechtmässigen gewöhnlichen Aufenthalt haben, nur ausgewiesen werden können, wenn sie die Sicherheit des Staates gefährden oder gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die Sittlichkeit verstossen;

9.

innerhalb der gesetzlichen Grenzen die Überweisung der Teile des Verdienstes und der Ersparnisse zuzulassen, die diese Arbeitnehmer zu überweisen wünschen;

10. den in diesem Artikel vorgesehenen Schutz und Beistand auf die aus- oder einwandernden selbständig Erwerbstätigen zu erstrecken, soweit solche Massnahmen auf diesen Personenkreis anwendbar sind; 11. für Wanderarbeitnehmer und ihre Familienangehörigen den Unterricht zum Erlernen der oder, sollte es mehrere geben, einer Landessprache des Aufnahmestaats zu fördern und zu erleichtern; 12. soweit durchführbar, den Unterricht zum Erlernen der Muttersprache des Wanderarbeitnehmers für dessen Kinder zu fördern und zu erleichtern.

(...)

Art. 20

Das Recht auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts

Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien, dieses Recht anzuerkennen und geeignete Massnahmen zu ergreifen, um dessen Anwendung in den folgenden Bereichen zu gewährleisten oder zu fördern: a.

Zugang zur Beschäftigung, Kündigungsschutz und berufliche Wiedereingliederung,

b.

Berufsberatung und berufliche Ausbildung, Umschulung und berufliche Rehabilitation,

c.

Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschliesslich des Entgelts,

d.

beruflicher Werdegang, einschliesslich des beruflichen Aufstiegs.

5670