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Schweizerische Bundesversammlung, (Vom 11. Oktober 1890.)

Die am 22. September eröffnete Herbstsession der gesetzgebenden Eäthe ist heute geschlossen worden.

Im Nationalrath hielt der Präsident, Herr August S u t e r , Kantonsrath, in St. Gallen, folgende Schlußansprache: Meine Herren Nationalräthe !

Wir sind am Schlüsse unserer Arbeiten und damit nicht nur am Ende der außerordentlichen Herbstsession der eidgenössischen Räthe, sondern auch am Ende der vierzehnten eidgenössischen Legislaturperiode angelangt.

Ein solcher Abschnitt im Staatsleben hat immer seine hohe Bedeutung, und Sie gestatten mir wohl um so eher einen Rückblick auf denselben, als wir dabei einer Reihe von interessanten und weittragenden Erscheinungen begegnen.

Es ist manches zur Erleichterung des Verkehrs mit dem A u s l a n d e und zur Ordnung und Befestigung unserer Rechtsverhältnisse zu den verschiedenen fremden Staaten geschehen.

Handelsverträge sind abgeschlossen worden mit Italien, Belgien, Griechenland, Ecuador; ein Auslieferungsvertrag ist mit Ecuador, ein Handels-, Niederlassungs- und Freundschftsvertrag mit dem unabhängigen Kongostaat, ein neuer Niederlassuugsvertrag mit dem Deutschen Reiche zu Stande gekommen. Dieser letztere Vertrag bildet den korrekten Abschluß einer vorübergehenden Störung, auf welche wir mit dem bescheidenen, aber befriedigenden Bewußtsein zurückblicken können, daß wir unser Recht gewahrt und unsere Pflicht gethan haben.

Für die Erhaltung und Förderung unserer n a t i o n a l e n Wehrk r a f t ist mit Ernst und Beflissenheit gesorgt worden, indem die für die Anschaffung einer neuen, auf der Höhe der Waffeutechnik stehenden Handfeuerwaffe und für die Sicherung exponirter Landesgrenzen erforderlichen, sehr erheblichen Geldmittel einmüthig bewilligt worden sind.

627 In der neuen Militärstrafgerichtsordnung sind Einrichtungen getroffen worden, welche eine einfachere und praktischere Ausübung der militärischen Strafrechtspflege möglich machen.

Manches ist geschehen zur Hebung des geistigen und materiellen V e r k e h r e s im Lande, zur Verbesserung der R e c h t s z u s t ä n d e und zur Förderung der R e c h t s e i n h e i t . Ich erinnere an die Gesetze über den Schutz der Erfindungen und der Muster und Modelle, welche in kurzer Zeit eine so intensive Anwendung gefunden haben, daß in dieser Thatsache die beste Rechtfertigung für die nicht unbestritten gebliebene Erlassung derselben liegt; an die Gesetze über die Telegraphen- und Telephonlinien und betreffend das Telephonwesen, diese wunderbaren Instrumente des geistigen Verkehrs der Menschen unter sich ; an den Anstoß zur Unifikation des Strafrechtes in der Schweiz und die bezüglichen werthvollen Vorarbeiten und insbesondere die Thatsache, daß das eidgenössische Konkurs- und Betreibungsgesetz vom Schweizervolke angenommen worden ist. -- Dieses Gesetzeswerk, enthusiastisch gepriesen und leidenschaftlich geschmäht, wird halten, was es verspricht: Erleichterung und Sicherung des Rechtsverkehrs im Lande, Erhöhung des Kredites nach innen und außen. Belebung des gemeinsamen Rechtsbewußtseins der Eidgenossen.

Der s o z i a l p o l i t i s c h e n G e s e t z g e b u n g ist der Hauptantheil zugefallen. Hat das neue Gesetz über die Auswanderungsagenturen bessern Schutz für diejenigen unserer Mitbürger, welche ferne vom Vaterlande ihre Existenz suchen, gebracht; ist durch die Ausführung der Alkoholgesetzgebung eine sichtlich erfolgreiche Bekämpfung eines sittlichen Uebels in unserm Volksleben in's Werk gesetzt worden, so hat die Gesetzgebung in der Frage der allgemeinen Versicherung der Arbeiter gegen die Gefahren der Arbeit und bei den Einleitungen zur Verstaatlichung der Eisenbahnen die Hand an die Lösung großer sozialpolitischer Probleme gelegt.

Beide Probleme drängen sich dem eidgenössischen Gesetzgeber unabweislich auf.

Die allgemeine Arbeiterversicherung gegen Unfälle ist dazu bestimmt, an die Stelle einer Ausnahmsgesetzgebung gemeines Recht zu setzen. Denn die bürgerliche Gesellschaft, welche in ihrer gegenwärtigen Gestalt und nach der dermaligen Form ihrer wirthschaftlichen Thätigkeit den Charakter
der Arbeit bestimmt, hat in ihrer Gesammtheit die Pflicht, für die Gefahren der Arbeit einzustehen, zumal sie in noch weit höherm Maße als der Arbeitgeber am Wohle des Arbeitervolkes interessili ist.

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Die Ueberwälzung der Last der Arbeiterunfallversicherung auf die Arbeitgeber allein war demnach im Grunde doch eine Ausnahmsmaßregel, welche ihrer Natur nach nur eine vorübergehende sein konnte.

Der öffentliche Weg gehört dem Staate, und wenn die Gestaltung des schweizerischen Bundesstaates, wenn politische und nationalökonomische Gebote es mit sich brachten, daß derselbe in Bezug auf die Eisenbahnen der Privatthätigkeit überlassen wurde, so darf dies nicht als eine definitive Veräußerung aufgefaßt werden, und es liegt demnach in der Natur der Dinge, daß der Staat, daß die Eidgenossenschaft bestrebt ist, zurückzunehmen, was unter Rechtsvorbehalt weggegeben worden ist.

Aber es bedarf in Bezug auf beide Probleme der höchsten Einsicht in der Konzeption und der größten Besonnenheit in der Ausführung.

Man wird sich die Frage allen Ernstes vorlegen müssen, ob die Eidgenossenschaft nach ihrer. gegenwärtigen politischen Grundlage und Struktur die Kraft besitzt, diese gewaltigen Aufgaben zu erfüllen, ohne ihren Staatszweck, die E r h a l t u n g der F r e i h e i t und U n a b h ä n g i g k e i t d e s L a n d e s , zu gefährden. Caveant consul es!

Das sind die hauptsächlichsten Erscheinungen der zu Ende gehenden Legislatur.

Die Signatur auch dieser Periode war, man darf es ohne Ueberhebung sagen: Arbeit, Fortschritt und vor Allem Liebe zum Vaterlande.

Ich kann, meine Herren Kollegen, nicht von Ihnen Abschied nehmen, ohne Ihnen für Ihr Wohlwollen und für Ihre Nachsicht für meine Person und meine Geschäftsleitung den aufrichtigsten und wärmsten Dank auszusprechen. Die Tage, während welchen es mir vergönnt war, von dieser Stelle aus an Ihrer Arbeit mitzuwirken, werden mir unvergeßlich sein !

Indem ich Ihnen, meine Herren Nationalräthe, glückliche Heimkehr zu Ihren Familien und zu Ihren Geschäften wünsche, erkläre ich die Session als geschlossen.

Die Uebersicht der Verhandlungen der beiden Käthe während der abgelaufenen Session wird als Beilage zum Schweiz. Bundesblatt nächstens folgen.

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